Kapitel 5

Oh, nein, nicht die, dachten Nina und Leonie gleichzeitig, als Stella eine Woche später zur Schlüsselübergabe am Pappelstieg aufkreuzte.

»Dass sie auf diesen hohen Schuhen überhaupt gehen kann«, wunderte sich Leonie mit einem Blick auf die karamellfarbenen Slingpumps, bei deren bloßem Anblick ihr bereits schwindelig wurde.

»Lieber Gott, mach, dass sie aus einem anderen Grund hier ist«, flehte Nina und beäugte misstrauisch, wie Stella in ihrem engen wollweißen Kostüm und ihrer eleganten Krokoledertasche auf sie zugestöckelt kam.

»Die Floristin und die Katzenmama«, flötete sie gutgelaunt und gab beiden strahlend die Hand.

»Dann sind Sie wohl unsere künftige Bauleiterin«, entgegnete Nina schnippisch und überlegte, ob sie zu diesem Zeitpunkt noch aus dem Mietvertrag aussteigen konnte.

»Ich habe die Wohnung im ersten Stock«, sagte Stella etwas unvermittelt. Ninas und Leonies kühle Reserviertheit war ihr nicht entgangen. Okay, dann wohnt sie zumindest über mir und nicht gegenüber, das ist doch schon mal was. Nina war erleichtert.

»Guten Tag, die Damen«, rief Robert Behrendsen, der in diesem Moment in die Auffahrt fuhr. »Ich hoffe, Sie warten noch nicht lange.«

Verzückt beobachtete Leonie, wie er aus seinem Volvo-Kombi stieg und einen Sack Katzenstreu von der Rückbank nahm. Er war wirklich unverschämt gutaussehend! Und so ein netter Vater! Apropos, wo war eigentlich Moritz? Leonie blickte sich suchend um und stellte mit Bedauern fest, dass der kleine Junge mit den frechen Sommersprossen diesmal nicht mitgekommen war.

»Dann wollen wir mal. Hier sind Ihre Schlüssel. Der mit dem blauen Ring ist für die gemeinsame Eingangstür hier unten. Die sollten Sie immer abschließen, genauso wie das Sicherheitsschloss. Die drei sind jeweils für Ihre Wohnungen, und der hier«, mit diesen Worten wandte er sich an Leonie, der beim Anblick seiner tiefgründigen, dunkelbraunen Augen ganz schummrig wurde, »ist für den Wintergarten. Mit dem Schlüssel für die Eingangstür kommen Sie sowohl in den Keller als auch auf den Dachboden, wo jede von Ihnen einen separaten Raum hat. Die rechte Wohnung im ersten Stock gehört übrigens mir, falls ich das noch nicht erwähnt hatte. Ich nutze sie als Stadtwohnung, wenn ich etwas in Hamburg zu erledigen habe oder am Wochenende ins Theater oder in die Oper gehen möchte. Ich würde vorschlagen, dass wir jetzt einen Rundgang machen, falls Sie noch Fragen haben.«

»Ich habe eine«, rief Leonie eifrig dazwischen. »Wer kümmert sich bis zu unserem Umzug eigentlich um die Katzen? Sie können ja unmöglich einmal am Tag von Husum nach Hamburg und zurück fahren.«

»Das hat bislang Frau Petersen, die Bewohnerin des Nachbarhauses zu Ihrer Linken, erledigt und wird es auch noch bis zum ersten Oktober tun. Dann sollten Sie aber möglichst schnell das Regiment übernehmen, Frau Rohlfs, denn ich fürchte, dass Paul und Paula sonst vollkommen verwöhnt sind und nur noch Filet Mignon fressen. In diesem Punkt ist Frau Petersen wirklich unverbesserlich. Die Katzen bekommen immer das, was sie selbst isst. Ich bin nur froh, dass sie sich bislang wenigstens in Sachen Dessert zurückhält.«

»Ich sehe schon, ich werde die beiden als Erstes auf Diät setzen und zu Sport verdonnern«, lachte Leonie und sah sich nach dem Katzenpaar um. Aber von Paul und Paula war weit und breit nichts zu sehen. Vermutlich frönten sie in einer kuscheligen Ecke ihrem wohlverdienten Verdauungsschlaf.

Nach dem Rundgang und letzten Instruktionen bezüglich der Heizungsanlage verabschiedete sich Herr Behrendsen mit den Worten:

»Sie können mich jederzeit anrufen, wenn es ein Problem geben sollte. Ansonsten wünsche ich Ihnen viel Glück und Freude in Ihrem neuen Heim und hoffe, dass Sie sich hier wohl fühlen. Und halten Sie mich bitte auf dem Laufenden, was die Renovierung betrifft!«

Sehnsüchtig sah Leonie dem davonfahrenden Volvo hinterher. Husum war einfach zu weit weg. Und schüchtern, wie sie war, hatte sie bei ihrem Vermieter keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Er behandelte sie mit derselben höflichen Zurückhaltung wie die anderen beiden. Seufzend wandte sich Leonie ab.

Nina, die die Szene beobachtet hatte, lächelte still in sich hinein. Drei Frauen in einer Villa in Eimsbüttel. Das konnte ja spannend werden.

»Hat jemand Lust, noch ein Glas Wein zu trinken?«, erkundigte sie sich, neugierig zu erfahren, mit wem sie in Zukunft zusammenwohnen würde.

»Ich würde gern, aber ich habe noch einen Termin«, antwortete Stella und war bereits auf dem Weg zu ihrem BMW. »Wir sehen uns dann ja in ein paar Tagen, wenn wir mit der Renovierung beginnen. Bis dann!«

»Aber ich hätte Lust. Und ehrlich gesagt habe ich auch Hunger. Ich müsste allerdings mein Fahrrad mitnehmen«, sagte Leonie, und so gingen die beiden in gemächlichem Schritttempo zu dem gemütlichen Italiener um die Ecke, der die beste Pasta des Viertels zubereitete, wie Nina versicherte.

»Leider kenne ich mich hier noch nicht besonders gut aus«, sagte Leonie ein paar Minuten später, als beide auf die künftige Nachbarschaft anstießen. »Mein Terrain ist eher die Uni-Gegend und Eppendorf.« Dann erzählte sie von ihrer Wohnung im Grindelhochhaus und der Arbeit bei Traumreisen.

Das klang ein wenig einsam, fand Nina, während sie Leonie aufmerksam zuhörte. Die Rothaarige mit den lustigen Sommersprossen war ihr auf Anhieb sympathisch gewesen, schon bei der Wohnungsbesichtigung. Mit ihr würde sie sicher gut auskommen. Als Leonie ihr kurz darauf von ihrer Leidenschaft für frische Kräuter und das Kochen erzählte, waren die beiden bereits ein Herz und eine Seele.

»Auf unsere Villa!«, rief Nina bei ihrem zweiten halben Liter Wein. »Und darauf, dass diese Stella Alberti sich nicht als die verwöhnte Tussi erweist, für die ich sie momentan halte. Von der Sorte habe ich nämlich genug im Blumenladen. Das sind diese kapriziösen Frauen, denen man einfach nichts recht machen kann. Obwohl sie in Geld schwimmen, feilschen sie um jeden Cent, weil unsere Blumen angeblich so ›unverschämt teuer‹ sind. Dass ich nicht lache! Qualität hat nun mal ihren Preis.«

Leonie nickte zustimmend. Sie fand Nina nett, aber trotz ihrer zierlichen Gestalt hatte sie etwas Furchteinflößendes, besonders wenn sie ihre dunkle, wohlgeformte Augenbraue hochzog. Nina wusste offenbar ganz genau, was sie wollte, und war bestimmt nicht so konfliktscheu wie sie selbst.

Ich wünschte, ich hätte auch so ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, dachte Leonie seufzend, während sie fasziniert beobachtete, wie immer mehr Leben in Ninas Gesicht kam, je mehr sie sich in Rage redete.

»Diesen Typ Kundin kenne ich auch«, pflichtete sie ihr bei, »die benehmen sich im Reisebüro genauso. Am schlimmsten sind diejenigen, die denken, sie könnten dir erzählen, wie du deinen Job zu machen hast, aber dann behaupten, dass Bulgarien in der Karibik liegt!«

Es war schon beinahe Mitternacht, als die beiden beschlossen, nach Hause zu gehen.

»War nett mit dir«, rief Leonie in den frischen Nachtwind, als sie auf ihr Fahrrad stieg.

»Fand ich auch«, antwortete Nina und lächelte.

Als Nina nach Hause kam, blinkte der Anrufbeantworter. Fünf neue Nachrichten. Die ersten drei stammten von Gerald, der um Rückruf bat, die vierte von ihrer Schwester. Ungeduldig sprang Nina weiter zur letzten Nachricht.

»Hallo, Liebes«, hallte die Stimme von Rainer Korte blechern durch die Dunkelheit des Flurs. Nina zuckte zusammen. Was konnte ihr Vater von ihr wollen? »Ich würde dich gern zu Susannes und meiner Hochzeit im Mai nächsten Jahres einladen. Wir hoffen sehr, dass du kommst!«

Oh, nein, nicht auch das noch, dachte Nina, der jetzt klar war, weshalb ihre Schwester vorher angerufen hatte. Sicher hatte Clara mit ihr über die Tatsache sprechen wollen, dass ihr Vater nun bereits zum dritten Mal heiratete, während ihre Mutter immer noch ein einsames und vergrämtes Leben führte. Seitdem sich ihre Eltern getrennt hatten, hatte Nina den Kontakt zu ihrem Vater komplett abgebrochen. Sie hatte ihm nie verziehen, dass er, der renommierte Professor, so großen Gefallen an seinen Studentinnen gefunden hatte. Und vor allem hatte sie ihm die Lügen nicht verziehen, mit denen er seine Frau, seine Töchter und später auch noch seine zweite Ehefrau all die Jahre getäuscht hatte. Mit Rainer Kortes Auszug war der Grundstein für Ninas Misstrauen gegenüber Männern gelegt worden, ob sie wollte oder nicht.

Als sie im Bett lag und über ihre Vergangenheit nachdachte, überfiel sie mit einem Mal trotz des schönen Abends mit Leonie eine tiefe Traurigkeit darüber, dass ihre Familie nie so intakt gewesen war, wie sie es sich gewünscht hatte. Und sie war wütend, weil sie sich wieder auf Gerald eingelassen hatte. Gott sei Dank hatten sie nicht miteinander geschlafen. Nina war in letzter Sekunde zur Besinnung gekommen und hatte Gerald in hohem Bogen hinausgeworfen, und zwar mitsamt Hemd, Jeans und Slip, die quer über ihr Bett verstreut gelegen hatten. Sie würde nicht noch einmal den Fehler machen, sich auf eine so aussichtslose Geschichte einzulassen. Gerald liebte sie nicht, das wusste sie, und sie hatte keine Lust, Lückenbüßerin zu spielen, nur weil er mal wieder in Hamburg war und weder Freundin noch Wohnung hatte. Sollte er sich doch ein Hotel suchen und eine andere Frau, die dumm genug war, seine Spielchen mitzumachen. Nein, Nina würde in Zukunft vorsichtiger sein. Männer schienen ihr kein Glück zu bringen. Und eigentlich wollte sie nur eines: endlich wieder glücklich sein!

Entschlossen, die Tränen und alle Ängste zu verdrängen, stand Nina auf und verfasste eine Liste mit Materialien, die sie benötigte, um ihre Wohnung bis zum ersten Oktober bezugsfertig zu machen.


Eine Woche später war es schließlich so weit. Leonie, Nina und Stella waren mit Sack und Pack aus ihren alten Wohnungen ausgezogen, und dem Einzug in die Villa stand nichts mehr im Weg.

»Wo soll das hin?«, erkundigte sich einer der Möbelpacker und wartete auf Instruktionen von Stella, die soeben auf dem Parkplatz vorgefahren war.

»In die linke Wohnung im ersten Stock«, antwortete sie kurz angebunden, während sie am Display ihres Handys herumspielte. »Das kommt alles in die Küche. Und diese Kartons ins Bad. Ja, genau so, wie es da groß und breit draufsteht«, rief Stella ungeduldig.

Diese Umzugsleute sehen alle aus, als könnten sie nicht bis drei zählen, dachte sie genervt und massierte sich die pochenden Schläfen. Sie hatte kaum geschlafen, und obwohl sie sich so sehr auf diesen Tag gefreut hatte, wusste sie nicht, wie sie den Umzug überstehen sollte. Misstrauisch beobachtete sie, wie die stämmigen Männer ihre kostbaren Möbel nach oben trugen, und betete, dass nichts zu Bruch ging.

Verglichen mit ihrem riesigen Transporter wirkten die Autos der anderen beiden nahezu niedlich klein. Nina hatte sich den VW-Bully vom Blumenmeer ausgeliehen. Am Steuer saß Annette, die munter Kommandos in die Gegend rief, während ihr Mann Heiner und sein Freund Jörg bereits die ersten Kartons ausluden. Leonie kam mit einem alten Audi-Kombi, den Olli kurz vorher organisiert hatte. Zum Ab- und Aufbau ihrer IKEA-Möbel war Ollis Freund Chris mitgekommen, da Olli zwei linke Hände hatte und lieber dabei half, Leonies Küchenutensilien bruchsicher zu verpacken. Die Küchenkräuter hatte sie separat auf dem Beifahrersitz transportiert, ebenso wie eine alte Nachttischlampe von ihrer Urgroßmutter.


Warum hab ich mir das nur angetan? Stella war verzweifelt, als sie die gigantischen Kistenstapel erblickte, die sich um sie herum türmten. Wie gut, dass sie wenigstens die Zeit gehabt hatte, ein Team von Malern und Klempnern in die Wohnung zu schicken und das Gröbste vor dem Einzug erledigen zu lassen. In ihrem Kopf hämmerte es inzwischen so stark, dass sie glaubte, ohnmächtig zu werden. Instinktiv griff sie nach der halb leeren Paracetamol-Packung in ihrer Tasche.

In diesem Moment piepste das Handy. Eine SMS von Julian, der wissen wollte, wie es ihr ging und ob alles in Ordnung sei. Ach was, jetzt auf einmal meldet er sich, dachte Stella wütend und feuerte das Handy mit voller Wucht gegen die Wand. Scheppernd fiel es auf den harten Dielenboden und zersprang in tausend Teile. Na toll, auch das noch! Zitternd und mit angezogenen Beinen setzte sie sich auf den Boden und begann hemmungslos zu schluchzen. »Ich pfeife auf einen Mann, dessen Vorstellung von Liebe darin besteht, mir eine SMS zu schicken! Ich will einen Mann, der da ist, wenn ich ihn brauche!«, rief sie laut weinend, ohne Rücksicht auf die verlaufende Wimperntusche zu nehmen, die bereits auf ihren beigen Kaschmirpulli abfärbte. »Selbst schuld! Warum muss ich immer Miss Perfect mimen und mir teure Klamotten anschaffen, während sich Nina und Leonie in verschlissenen Jeans und dunklen Pullis ans Werk machen, so wie es jeder vernünftige Mensch tun würde. Und es ist meine eigene Schuld, wenn ich mich an den falschen Mann hänge!«

In diesem Moment klingelte es. Hastig wischte sich Stella die verschmierte Mascara aus dem Gesicht und öffnete die Tür. Draußen stand eine vergnügte, rotwangige Leonie, die fragte, ob Stella Lust auf eine kleine Pause habe.

»Wir können bei mir im Wintergarten essen, wenn Sie mögen. Wir dachten an Pizza. Sagen Sie, worauf Sie Appetit haben, und ich gebe Ihnen Bescheid, wenn der Bote da ist.«

»Danke, das ist sehr lieb von Ihnen«, antwortete Stella leise und hoffte, dass Leonie nichts von den Tränen bemerkt hatte. »Eine Pizza mit Tomate und Mozzarella wäre toll. Und vielleicht ein kleiner Salat mit Balsamico-Dressing.«

Sie hat geweint, stellte Leonie fest und fühlte Mitleid in sich aufsteigen.

»Wird gemacht. Wasser und Saft habe ich. Sie brauchen nur zu kommen, wenn ich klingle. Bis gleich also.«

»Bis gleich«, murmelte Stella und schloss die Tür.

Kurz darauf betrat sie Leonies Wohnung und war erstaunt, wie heimelig es hier schon aussah. Olli und Chris hatten alle Möbel zusammengebaut und die restlichen Kisten jeweils dort gestapelt, von wo aus Leonie sie bequem ausräumen konnte. Im Wintergarten standen zwei Kartons nebeneinander, auf denen eine rot-weiß karierte Papiertischdecke lag. Besteck und Gläser für fünf Personen standen bereit sowie eine Karaffe mit Apfelsaft und eine Flasche Mineralwasser. Leonie hatte bunte Windlichter mit orientalischen Fassungen aufgehängt, die den Raum in ein angenehm warmes Licht tauchten.

»Schön haben Sie’s hier«, meinte Stella anerkennend und betrachtete die Einrichtung, die in warmen Erdtönen gehalten war. Schlicht und dennoch sehr atmosphärisch. Sie beschloss, in die Offensive zu gehen. »Wenn Sie beide nichts dagegen haben, würde ich vorschlagen, dass wir uns duzen. Ich bin Stella.«

Nina, die gerade dabei war, die dampfenden Pizzen aus ihren Kartons zu holen, nickte zustimmend.

»Ich bin Nina«, stellte sie sich vor und gab Stella die Hand.

»Und ich Leonie«, ergänzte die Gastgeberin und lächelte. »Das sind mein Kollege Oliver Bogner aus dem Reisebüro und sein Freund Chris Mommsen.«

»Wo ist denn dein Anhang?«, fragte Stella und wandte sich an Nina.

»Ah, du meinst Annette und ihre zwei Männer? Die mussten leider wieder arbeiten, aber sie haben vorhin richtig mit angepackt. Bei mir in der Wohnung sieht es auch schon ganz akzeptabel aus.«

Ihr Glücklichen, dachte Stella seufzend, und wieder kam ihr Julian in den Sinn. Der war kein Mann zum »Anpacken«, eher zum »Anschauen«, und abgesehen davon hätte er sich nie freinehmen können (oder wollen?), um ihr beim Einzug behilflich zu sein.

Ein paar Minuten später saßen sie gemütlich um die gedeckten Pappkartons herum, teilten ihre Pizzen und besprachen, was noch erledigt werden musste. Nina musterte Stella während des Essens derart auffällig, dass die sonst zurückhaltende Leonie sie kurz mit dem Fuß anstieß. Sie hoffte inständig, dass es zwischen den beiden nicht zu einem Zickenkrieg kommen würde.

Doch Stella schien Ninas seltsames Verhalten nicht zu bemerken. In Gedanken war sie immer noch bei Julian. So konnte es nicht weitergehen. Sie musste mit ihm sprechen, ihn fragen, wo ihre Beziehung hinführen sollte! Wer weiß, wenn sie ihm ihre Ängste anvertraute, vielleicht würde das etwas in ihm bewirken? Schließlich kannte er sie nur als toughe, selbstbewusste Karrierefrau. Er konnte ja gar nicht wissen, wie sehr sie litt! Stella fühlte neue Hoffnung in sich aufkeimen, und mit einem Mal wurde das Pochen in ihrem Kopf schwächer. Hastig wandte sie sich an Leonie.

»Tut mir leid, aber könntest du mir vielleicht dein Handy borgen? Meins ist kaputt, und ich müsste dringend mal telefonieren.«

»Ich würde dir gern helfen, aber ich habe gar kein Handy«, antwortete Leonie, und Stella starrte sie ungläubig an. Kein Handy. Sie war fassungslos. Wie um alles in der Welt konnte man ohne Mobiltelefon existieren?

»Und wie telefonierst du dann?«

»Von meinem Festnetz aus. Oder vom Büro, wenn ich tagsüber etwas Dringendes zu regeln habe.«

»Aber wie machst du das, wenn du unterwegs bist? Wenn du zum Beispiel eine Autopanne hast, dich verspätest oder den Weg nicht kennst?«

»Erstens habe ich gar kein Auto, sondern nur ein Fahrrad. Zweitens komme ich grundsätzlich nicht zu spät, weil ich immer rechtzeitig losfahre. Und sollte wider Erwarten doch mal etwas dazwischenkommen, springe ich in ein Taxi oder ich bin in Gottes Namen etwas später dran. Das müssen die Leute aushalten können. Früher ging es doch auch. Und wenn ich den Weg nicht weiß, nützt mir ein Handy herzlich wenig. Dann muss man halt nachfragen.«

»Aber verschickst du denn gar keine SMS? Lässt du dich nicht von deinem Handy wecken? Oder dich an Termine erinnern?« Stella war immer noch maßlos irritiert.

»Wecken lasse ich mich von meinem Wecker, das hat bislang bestens funktioniert. Meine Termine stehen im Kalender und sind außerdem in meinem Kopf gespeichert. Mit beidem hatte ich bislang noch keine Probleme. Und was diese Unsitte mit den SMS betrifft, so kann ich nur sagen, dass ich das alles ziemlich nervig finde. Dauernd piepst, klingelt oder vibriert es irgendwo, und du kannst mit niemandem mehr ein normales Gespräch führen. Ständig tippen die auf diesen Dingern herum. Und außerdem: Wann hat es das jemals gegeben, dass man mit Freunden, oder noch schlimmer, mit dem eigenen Mann nur noch per Kurzmitteilung kommuniziert? Mittlerweile werden ganze Beziehungen auf diese Art beendet! Man macht sich nicht mal mehr die Mühe, mit dem Partner persönlich zu sprechen.«

Stella wurde rot. Konnte Leonie Gedanken lesen? Wusste sie, wie sehr sie unter Julians Unerreichbarkeit litt?

»Ich habe übrigens auch kein Handy«, setzte Nina noch eins drauf und sah Stella triumphierend an. »Wenn du also telefonieren willst, musst du dir wohl oder übel eine Telefonzelle suchen.«

»Du kannst dir meins leihen«, kam Chris der Bedrängten zu Hilfe. Dankbar lächelte Stella den gutaussehenden Mittzwanziger an. Er war ihr auf Anhieb sympathisch gewesen, und für einen Moment bedauerte sie es, um so vieles älter zu sein als er. Es war ganz offensichtlich, dass er seinerseits ebenfalls Gefallen an Stella gefunden hatte. Eigentlich hatte sie angenommen, dass er, genau wie sein Freund Olli, homosexuell war. Mit welchem Mann ihrer Generation hätte sie sich über Stoffe und Tapetenmuster unterhalten können? Aber die Männer zwischen zwanzig und dreißig waren irgendwie anders als noch vor fünfzehn Jahren. Ob der metrosexuelle Mann als neues Leitsymbol dazu beigetragen hatte oder eine Generation von Müttern, die mühevoll versuchte, die sensiblen und emotionalen Seiten ihrer männlichen Sprösslinge zu fördern, sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sich irgendwo zwischen Yin und Yang, zwischen »Biotherm Homme« und Brustrasur etwas ganz gewaltig geändert hatte. Seufzend dachte sie an Julians breite, behaarte Brust, sein markantes Kinn und die Knitterfältchen um seine Augen.

»Das ist lieb von dir, ich bezahl dir das Gespräch auch«, antwortete sie und kramte in ihrem Portemonnaie nach einem Zwanzigeuroschein. Sie wusste zwar nicht, ob sie Julian wirklich erreichen würde, doch falls es ihr gelang, wollte sie ungehindert mit ihm sprechen können, und zwar so lange, wie ihr danach war.

Nina sah Stella, die sich mit dem geliehenen Mobiltelefon eilig in ihre Wohnung zurückzog, spöttisch hinterher.

»Blöd, wenn man ohne das Ding nicht leben kann«, stichelte sie.

»Nun sei doch nicht so«, entgegnete Leonie. »Als ich vorhin bei ihr war, hatte sie geweint. Wer weiß, was da passiert ist. Also urteil nicht so hart!« Und vor allem nicht so vorschnell, fügte Leonie insgeheim hinzu. So nett sie Nina auch fand, so sehr störte sie deren Verhalten in Bezug auf Stella.

»Ich geh dann mal wieder, ich habe noch einiges zu erledigen«, sagte Nina. »Und danke für die nette Einladung, ich werde mich beizeiten revanchieren. Ich kann zwar nicht kochen, aber ich bin eine Weltmeisterin im Auftauen von Fertiggerichten. Oder ich hole uns was vom Asia-Mann um die Ecke.«

»Schon gut«, wiegelte Leonie ab. »Ich bin mir sicher, dass dir etwas Passendes einfällt!« Mit diesen Worten wandte sie sich Olli und Chris zu, die gerade dabei waren, das letzte Bücherregal zusammenzubauen. Bald hatte sie es geschafft und konnte sich ausruhen.

Eine Villa zum Verlieben: Roman
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