Süßes und Saures
Kate hatte sich selbst übertroffen. Auf dem runden Eichentisch, der die Grenze zwischen Kates Küche und Wohnzimmer absteckte, stand ein Durcheinander aus Tellern und Schüsseln, gefüllt mit kaltem Truthahn, Preiselbeersauce, Kürbiskuchen, Früchtebrot, sogar Äpfel mit Karamellüberzug, an denen Will sich als Kind schon regelmäßig den Magen verdorben hatte.
„Helen und ihre Freundin übernachten heute hier und gehen auf Tour“, erklärte Kate angesichts der Dekadenz, die sich da ausbreitete. „Außerdem“, lachte sie, „wollte ich dir eine Stärkung mit auf den Weg geben, wenn du schon am Sonntag arbeiten musst.“
„So wie’s aussieht, werd’ ich den Dienst schlafend verbringen“, sagte Will und lud sich eine großzügige Portion des Truthahns auf den Teller. „Ich kann’s kaum glauben, dass ich schon zum dritten Mal in dieser Woche hier bin.“
Kate beobachtete ihn, Kinn auf die Faust gestützt.
„Tatsächlich?“
Tatsächlich. Will genoss die kurze, aber erstaunlich intensive Freundschaft mit Kate – sogar mehr, als es seine Situation offiziell zuließ. Vielleicht, weil sie beide in einem Alter waren, in dem man keine Zeit mehr zu verschenken hatte. Bisher hatte er keinerlei sexuelles Verlangen nach Kate gehabt. Sein Bedürfnis beschränkte sich darauf, Zeit mit ihr zu verbringen. Kates schien ebenfalls mit nichts Eile zu haben. Gestern im Auto hatte sie es sogar geschafft, ihn nicht über seine angespannte Miene auszufragen.
Doch heute suchten ihre Augen nach Antworten. Schon wie sie ihre Lippen nach innen saugte und erwartungsvoll den Kiefer hob. Ihm war klar, worauf sie wirklich hinauswollte. Doch kampflos würde er nicht aufgeben.
„Hattest du Spaß gestern?“
Sie nickte.
„Ich hab den Nachmittag sehr genossen, und Helen mag dich auch.“
„Mit Junk-Food kriegt man doch jede Kinderseele.“
Sie lächelte, doch ihr Gesicht schlug Falten, während sie überlegte, wie sie ihre eigentliche Frage formulieren wollte.
„Ich dachte, dass du vielleicht sauer auf mich warst wegen irgendwas.“
Jetzt also die „Liegt’s an mir?“-Falle. Schwer, aus der wieder rauszukommen.
„Warum sollte ich böse auf dich sein?“
Kate nestelte in ihrem Pferdeschwanz und zuckte die Achseln.
„Weil ich dem Jungen Geld gegeben habe, vielleicht? Die Situation war so eigenartig, und dann hast du kein Wort gesprochen im Auto.“
Warum übertrieben Frauen eigentlich ständig? Sie hatten über das Wetter gesprochen und darüber, dass Will heute bei ihr vorbeikommen sollte.
„Ich hab dir doch schon gesagt, dass es ein Kerl ist, der mir bekannt vorkam von der Arbeit, das ist alles.“
„Ein Kollege?“
Trotz seiner wachsenden Ungeduld musste Will lachen.
„Ach was, irgend so ’n Republikaner eben, was weiß ich?“
Kate sah ihn an, als verfolge sie die Aufzeichnungen eines Lügendetektors.
Der Truthahn war staubtrocken. Vielleicht sollte er sich einen Karamell-Apfel genehmigen, bevor es zu spät war. Sein Dienst begann in einer Stunde.
„Er hat einen wohlerzogenen Sohn, das steht fest. Und der hatte es nicht verdient, leer auszugehen.“
„Hat er, in Gottes Namen. Können wir jetzt das Thema wechseln?“
Sie betrachtete bekümmert den Truthahn.
Will seufzte, hob die Schultern und versuchte, sich auf seinen Karamell-Apfel zu konzentrieren. Vielleicht der positive Höhepunkt seines Tages. Wenn alles nach Hughs Plan verlief, würde ihm Ferguson noch heute wiederbegegnen, wenn auch in einer etwas kontrollierteren Situation. Dann musste er seine Emotionen besser im Griff haben. Schon nach dem ersten Biss in das säuerliche Süß fiel ihm Kates unentschlossener Blick auf.
„Was ist los? Liegt dir was auf der Zunge?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Seit gestern Nachmittag spukt mir eine Frage im Kopf rum …“
Diese verdammte Neugier. Plötzlich fiel ihm wieder ein, warum sie sich schon bei ihrer ersten Begegnung in die Haare geraten waren.
„Also, wie der dich gestern angestarrt hat, ich weiß nicht …“, sie lachte nervös, „nenn mich verrückt, aber der Mann brachte was Schlimmes mit dir in Verbindung.“ Wills Schweigen trieb ihren Redefluss weiter an. „Er konnte nicht schnell genug wegkommen. Dabei war er vorher so freundlich.“
Am liebsten hätte er Kate jetzt ordentlich geschüttelt. Aber sie hatte recht. Bevor sein Blick dem von Will begegnet war, hatte Ferguson sympathisch ausgesehen. Mit einem schüchternen Lächeln und linkisch zärtlichen Gesten seinem Sohn gegenüber, als wüsste er nicht so recht, was er mit diesem Wunder der Schöpfung anfangen sollte. Will wischte den Gedanken beiseite.
„Was willst du von mir hören, Kate?“
Sie saugte wieder ihre Lippen nach innen.
„Ich weiß nicht … vielleicht nur, ob an meinem Gefühl was dran ist.“
Will nahm ihre fragile Hand und tätschelte sie.
„Glaub mir, es ist mehr dran, als uns beiden lieb ist.“ Dann erhob er sich.
„Isst du nichts mehr?“
„Ich muss los. Außerdem ist mir der Appetit vergangen.“
„Bitte, geh noch nicht. Das hatte ich nicht beabsichtigt. Ich wollte nur …“, sie machte eine hilflose Geste, „… an deinem Leben teilhaben und dir vielleicht ein wenig helfen. Aber wahrscheinlich vertreibe ich dich damit noch schneller als meinen Mann.“ Ihre Versuche der Schadensbegrenzung rührten Will und beschämten ihn zugleich. Einen Augenblick dachte er daran, ihr einen Kuss auf die Wange zu geben, entschied sich aber stattdessen für den dornigeren Weg.
„Nichts braucht dir leid zu tun. Jedes Mal, wenn wir zusammen sind, verwandle ich mich in einen unsagbaren Klotz. Ich sollte mich entschuldigen.“ Er ging in die Diele hinaus und griff nach seiner Jacke. „Am besten mit einem Essen. Wie wär’s mit Mittwoch?“
Sie nickte zögernd, öffnete ihm die Tür.
„Gerne.“
„Aber ich muss dich warnen. Ich bin kein begnadeter Koch.“
„Schlimmer als mein trockener Truthahn kann’s ja nicht sein“, lächelte sie und zwinkerte ihm noch zu, bevor er sich die Treppen nach unten auf die Straße machte.
Peinlich. Das hatte sie also auch noch mitgekriegt. Entweder diese Frau konnte Gedanken lesen, oder er war einfacher zu durchschauen als gedacht.
***
Wie oft sah er eigentlich noch aus dem Fenster seines Vorzimmers? Noch immer gab es nichts anderes zu beobachten als die verstaubten Seidenblumen im Wohnzimmerfenster von Derek Moran gegenüber und die vom Nordwestwind getriebenen Wolken. Um halb acht hatte Dally die Stille nicht mehr ausgehalten und war aufgestanden, hatte Ben seine Rice Crispies hingestellt und ihm beim bedächtigen Kauen zugesehen. Wie lange konnte man für gerade mal drei Löffel eigentlich brauchen?
Dann war Marie aufgetaucht. Die regengrauen Augen lebhaft glänzend, den Wagen ihrer Schwester noch mit laufendem Motor, hatte sie Ben vorausgeschickt und Dally dann zugeraunt, er und sie müssten reden, und zwar dringend. Worüber? Na, über alles.
Nach geschätzten zwei Stunden Schlaf hatte er zu wenig Energie, um ihr Konkreteres aus der Nase zu ziehen, und stimmte ihrem Vorschlag vom kommenden Mittwoch als Redezeitpunkt zu. Schönen Dank auch für die Zeit, sich auszumalen, was sie von ihm wollte. Viel Erfreuliches kam ohnehin nicht infrage.
Seitdem wanderte er ziellos durchs Haus. Sein Herz stolperte durch einen ständig wechselnden Rhythmus, sein Magen verweigerte bisher jede Nahrungsaufnahme. Er schaltete den Fernseher ein. Überall nur Sondersendungen zu diesem Massaker in Greysteel gestern Abend.
– vermutet, die drei Männer fielen in der maskierten Menge erst auf, als sie wahllos in die Menge der Partygäste feuerten. Obwohl die Rising Sun Bar der katholischen Gemeinde zugeordnet wird, waren unter den Toten auch zwei –
Er schaltete aus, wühlte durch das Musikregal. Doch schon der Gedanke an Jimi Hendrix nervte ihn. Ging nach oben ins Schlafzimmer, griff nach den seit Wochen unberührten „Tommyknockers“ von Stephen King, legte das Buch nach einer halben Seite wieder weg. Ihm graute schon vor genug. Außerdem erinnerte ihn einer der Charaktere an den Detective. Der hatte ihn ohnehin die ganze Nacht über beschäftigt. Also wieder nach unten.
Er öffnete die Tür von der Küche in den backsteingemauerten Hinterhof. Drehte den Schlüssel im eingerosteten Schloss der Tür, die seinen Hinterhof von der Seitenstraße trennte. Er hätte ihn nie stecken lassen sollen. Zwischen den Ritzen des Betonbodens zwängten sich magere Grasbüschel hervor. Marie hatte sich ein wenig Grün gewünscht, aber auf der von Dally frei gehackten Testfläche gedieh nichts außer Staub und Steinen. Also hatten sie die Außenmauer des ehemaligen Toilettenhäuschens mit einer Blumenwiese inklusive Streichelzoo bemalt. Was hatten sie über die Mutanten gelacht, zu denen Elefanten und Nashörner durch ihr mangelndes Talent verkommen waren. Das war kurz nach seiner Rückkehr aus dem Gefängnis gewesen. Als er noch geglaubt hatte, dass er bald einen Job finden und sich schon alles einrenken würde.
Vier Jahre später stand er wie der einzige Überlebende einer globalen Katastrophe vor dem abblätternden Gemälde und starrte seine Wäsche an, die halbnass im Wind wogte. Langsam begann er sie abzunehmen, umzusortieren, wieder aufzuhängen. Manuelle Arbeit – der einzig wahre Zeitvertreib vor einer Operation. Er mochte das Prickeln der Gänsehaut, die der Wind und die feucht-kalte Wäsche ihm verursachten. Fast wie Wasser. Schon lange wollte Kieran ihn überreden, einmal mit ihm ins Meer schwimmen zu gehen. Wenn Wasser, noch dazu so tief und dunkel, ihm nur nicht so unheimlich wäre.
Das Telefon klingelte. Vielleicht war es Liam. Die Operation wurde verschoben. Mit etwas Glück sogar abgesagt. Kopfkissenbezug in der Hand, spurtete er durch Küche und Wohnzimmer in den Vorraum, riss den Hörer an sich.
„Dally, bist du das?“
Die Stimme walzte seinen Namen wie mit dem Nudelholz platt.
„Sandra.“ Mehr fiel ihm erst nach einer Pause ein. „Mit dir hab ich nicht gerechnet.“
„Nicht schlecht für eine erste Entschuldigung.“ Er konnte ihr Grinsen hören, unverschämt und unwiderstehlich. „Hör mal, ich hab morgen einen Termin in Belfast und bin schon da. Ich glaub, du hast noch was, das mir gehört.“
Er brauchte einige Sekunden, bis er begriff.
„Das Hemd hängt noch an der Wäscheleine. Braucht dein neuer Freund was zum Anziehen?“
Sie kicherte. Vor seinem inneren Auge sah er sie, den Kopf leicht vornübergeneigt, die Finger einer Hand über den Lippen.
„Willst du’s mir persönlich vorbeibringen?“
„Ich kann heute nicht, aber morgen –“
„Da bin ich den ganzen Tag in Besprechungen, und am Abend laden sie mich immer zu Geschäftsessen ein.“ Sie seufzte, schien etwas abzuwägen, „Ich vermisse dich irgendwie. Das mit letzter Woche hab ich echt nicht gewollt. Hast du meinen Scheck bekommen?“
Sandra vermisste ihn. Zwar nur irgendwie, aber das reichte ihm schon.
„Danke. Trotzdem kann ich heute Abend nicht.“
„Macht es denn mehr Spaß, als mich zu treffen?“
Er schnaubte.
„Wahrscheinlich nicht.“
„Na also“, war für sie die Entscheidung gefallen.
Er sah auf seine Armbanduhr. Halb vier. Treffen mit Fintan und Rooster um sieben Uhr an der Ostseite des Stadtfriedhofs, wo Seamus sie abholte. Waffenübergabe, dann rüber auf die andere Seite der Peace Line. Noch vier Stunden.
Das tust du für Lucky, Theresa und den Kleinen.
„Wo bist du?“
„Ich wohne im York Hotel.“ Er hörte sie wieder lächeln. „Du weißt schon, wegen der Atmosphäre.“
Er holte Luft und schloss die Augen. Öffnete sie. Derek Morans Seidenblumen waren so staubig wie zuvor. Und Lucky war noch immer tot.
„Dann sehen wir uns in der Hotelbar. Ich brauch sicher ’ne halbe Stunde.“
„Ich werde warten. Bis gleich.“
Dally legte auf und stieß die angehaltene Luft aus, sein Herz einem aberwitzigen Tempo folgend. Eine Verabschiedung hatte er vergessen.
„Alter, uns ist beiden nicht mehr zu helfen“, eröffnete er seinem Spiegelbild, das den Kopf schüttelte. Er riss seine Jeansjacke von der Garderobe und verließ das Haus. Das Tempo seiner Schritte hielt er künstlich im Zaum. Zu viele Leute in dieser Straße hatten zu viel Zeit, zu beobachten und sich Gedanken zu machen.
Den direkten Weg durch Loyalistengebiet konnte er nicht nehmen. Also an der Falls Road ein Taxi in die Stadt nehmen und zu Fuß weiter. Er brauchte noch ein paar Blumen, Frauen mochten das immer. Außerdem musste er Liam Bescheid sagen. Was genau, würde ihm auf dem Weg in die Stadt schon einfallen. Ihm fiel immer was ein. Und wenn das hier auch ein Fehler sein sollte, dann war es zumindest kein Mord.
***
Sandra Baldauf sah aus, als hätte man sie gerade beim Biss in den Apfel der Erkenntnis ertappt. Erschrocken, aber eine für die Situation erstaunlich große Portion von Aufsässigkeit im Blick. Ihre Züge waren in einer Art amerikanisch, die Will nicht mochte: Breiter Mund, den sie beim Sprechen garantiert weiter als notwendig öffnete; die Zähne darin gerade und weiß. Ihr puppenhaftes Gesicht war von Make-up und Puder perfektioniert wie das der Darstellerinnen dieser amerikanischen TV-Serien, die er ständig miteinander verwechselte. Angenehm anzusehen, aber ohne Charakter.
„Was hältste von ihr?“ Hugh drehte sich auf seinem Stuhl hin und her und beobachtete Will über die Gipfel seiner Aktenstapel hinweg.
Will legte das Foto zurück in die Aktenmappe, die Hugh ihm gereicht hatte, blätterte dann durch die spärliche Einlage – ein Formular mit Sandra Baldaufs Reisepassdaten, Grund und kurzer Hergang der Anhaltung, ein Zettel mit Notizen vom kleinen Lou, der vergangene Woche nach Informationen über Fergusons Begleiterin gewühlt hatte.
„Wundert mich nicht, dass Ferguson scharf auf sie ist.“
Hugh ordnete seinen Bart mit Daumen und Zeigefinger.
„Man fragt sich bloß, warum es umgekehrt genauso ist. Die ist doch sicher von genügend Männern umgeben, die ihr auch das Wasser reichen können.“ Er sah kopfschüttelnd hinaus in den Nieselregen. Gerade mal vier Uhr und schon dämmrig.
„Vielleicht braucht sie Abwechslung.“
Hughs Gesichtsausdruck nach hielt er das für einen schlechten Scherz, also verlegte Will sich wieder auf Fragen.
„Glaubst du, sie hat irgendwas mit Waffengeschäften aus Amerika zu tun?“
Hugh prustete unschlüssig und erhob sich nach wiederholten Blicken auf die Uhr aus seinem Stuhl.
„War sogar überzeugt, dass sie irgendwas mit diesen Exil-Republikanern zu schaffen hat, aber du siehst ja selbst“, er machte eine flüchtige Geste in Richtung Akte, „keinerlei Verbindungen mit den Republikanern, hüben wie drüben. Nicht mal ihre Großeltern sind Iren.“
„Was ist mit dem Immobilieninvestor? Der klingt nach Auswanderern.“
„Ja, aber in dritter Generation. Alles sauber …“, Hugh zuckte die Achseln. „Nach außen gibt’s überhaupt keinen Grund, warum sie mit Ferguson ‚beruflich‘ zu tun haben sollte.“
„Aber trotz Adresse in Dublin gondelt sie mit ihm hier im Norden rum.“
„Und zündelt mit Kommentaren bei ’ner Straßenkontrolle.“ Hugh schüttelte mit gespielter Fassungslosigkeit den Kopf. „Hätten sie bloß irgendwas Brauchbares bei ihm gefunden, dann hätten wir ihn schon lange im Sack. Aber bis heute Abend können wir auch noch warten.“
„Hat schon jemand mit ihr geredet? Vielleicht macht Ferguson nicht nur die Hose, sondern auch den Mund für sie auf.“
Hugh sah von seiner Uhr auf.
„Meldest du dich grad freiwillig, Columbo?“ Sein Lächeln wechselte von anzüglich in zustimmend.
Will hielt sich noch einmal das Foto aus der Akte vor die Nase. Die gerunzelte Stirn, die marginal zusammengekniffenen Augen und Lippen. Nein, mit Sandra Baldauf war nicht zu spaßen, weder beruflich noch privat.
„Meinst du, dann wär’ sie noch bei ihm? Ich glaub eher, die hat keine Ahnung.“
„Was willste dann mit ihr? Wenn sie petzt, ist Ferguson über alle Berge.“
„Ich dachte, der wird heute mit seiner Einheit verhaftet?“
„Wird er auch“, sagte Hugh pikiert. „Wir kennen Namen und Adresse des Opfers, Kennzeichen des Fluchtfahrzeugs, Carl hat die Einheit eingeschworen. Alles fertig. Sie müssen nur noch auftauchen.“
„Na eben, dann wird Ferguson nirgendwohin abhauen, und wir brauchen jede Zeugenaussage, erst recht von ehemaligen Geliebten.“
Abwesend zog sich Hugh seinen Pullover aus und krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch. Der Stoff knisterte und lud seine wenigen Haare elektrisch auf.
„Spielt auch keine Rolle“, fuhr Will fort. „Die Frau hat doch offensichtlich Grips. Wenn sie die Wahrheit über ihren Romeo erfährt, wird sie zur Besinnung kommen und uns helfen. Glaub kaum, dass sie sich als Gangsterliebchen profilieren will.“
Endlich nickte Hugh.
„Wenn ihre Karriere ihr was bedeutet, ja“, stimmte er dem luftleeren Raum vor sich zu. „Meinetwegen sprich mit ihr. Damals hat sie zu Protokoll gegeben, dass sie im York Hotel wohnt. Der kleine Lou soll mal diskret rausfinden, ob sie öfter dort ist, wer die Rechnung bezahlt und so weiter.“ Er griff zu einem Ordner, dessen Inhalt bei Weitem seine Kapazitäten überstieg, klemmte ihn unter den Arm und nahm Will ins Visier. „Und nicht zu viel Vorwarnung, wenn’s geht. Ich will nicht, dass sie Zeit hat, sich Märchen zu überlegen. Also dann, ich muss jetzt zu Freeman“, er gähnte demonstrativ und verdrehte die Augen. „Er will den Fortschritt aller Fälle aller Einheiten besprechen. Dauert mindestens zwei Stunden, der Akt. Seit der MI5 hier rumkrebst, sitzt er uns viel mehr im Nacken als sonst.“
Im Zwielicht dieses trüben Nachmittags sah Hugh verbraucht aus, die Haltung zusammengesackt unter zu vielen Überstunden, zu vielen verschiedenen Interessen, zwischen denen er aufgerieben wurde, zu viel Karriere. Wenigstens ein Problem, das Will nicht hatte.
„Wir sehen uns später, wenn ich mehr über unseren Fall Bilson zu erzählen habe.“ Hugh zwinkerte ihm zu, nach einem Augenblick der Schwäche wieder sein dynamisches Selbst.
Als Will bei seinem Schreibtisch ein Stockwerk tiefer angekommen war, schaltete sich im Innenhof die automatische Beleuchtung ein. Eine Weile beobachtete er, wie sich Abenddunst um die Laternen im Innenhof sammelte.
Was Billy Bilson wohl machte, der keine Ahnung hatte, wie nahe er seinem Tod bereits war und wie viele Leute mehr darüber wussten als er selbst? Wahrscheinlich saß er bloß stumpfsinnig vor dem Fernseher, so wie Will und Jenny das getan hatten. Was für eine Verschwendung. Er griff nach dem Hörer seines Telefons. Vielleicht war Kate zu Hause. Er wollte sichergehen, dass er sie heute Mittag nicht schon wieder beleidigt hatte.
***
„Das ist nicht dein Ernst. Das kann ver-dammt-noch-mal nicht wahr sein.“
Liam lehnte die Stirn an das lackierte Holz des Küchenschranks, schloss die Augen. Kühl, aber nicht kühl genug. Die Schiebetür ins Wohnzimmer war zu, doch Ciaras und Cleos Kreischen bohrten sich trotzdem in seine Ohren. Rory sollte aufhören, sie so überdreht zu machen mit seinen Monster-Darbietungen.
Auch aus dem Telefonhörer lärmte es.
„Was hat JR gesagt, ich will es wörtlich hören!“
Chief Dohertys Stimme erinnerte an einen vorbeifahrenden Güterzug.
Liam fiel es schwer, das Telefonat mit JR zu rekonstruieren. Anfangs hatte er nur mit einem Ohr hingehört, wegen des infernalischen Geschreis der Mädchen. Danach war er perplex gewesen, und Dally hatte die Gunst seiner Schrecksekunde sofort genutzt und mit einem schlichten Tut mir leid und Viel Glück aufgelegt. Er hatte zu langsam reagiert, und seine Rückrufe waren wie erwartet ins Leere gegangen. Diese Version war angesichts von Dohertys Laune aber keine Option.
„Nicht viel. Hatte extreme Magenschmerzen und wollte ins Krankenhaus, um sich das ansehen zu lassen. Deshalb hat er Jaffa Street abgesagt.“
Liam verkniff die Augen in Erwartung einer weiteren Salve aus dem Hörer, doch Doherty gab nur blutrünstige Laute von sich.
„Und du glaubst ihm?“, fragte er schließlich.
Liam hatte JR und seinen lakonischen Humor immer gemocht. Wie einfach wäre es gewesen, Hanlons Verdacht gegen ihn weiter zu schüren. Aber er hatte sich entschieden, JR sein Gesicht wahren zu lassen. Besser ehrenvoll im Gefängnis als ein Verhör mit Hanlon. Besser lebendig als tot. Und wie dankte er ihm? Ließ ihn einfach hängen.
„Er hatte ’ne Operation, also ist es gut möglich. Vielleicht ist ihm auch die Sache mit Lucky auf den Magen geschlagen.“
Doherty grunzte unwillig.
„Mir scheißegal, was sich dem wohin schlägt. Brian soll ihn wieder auf Schiene bringen. Wer springt für ihn ein?“
„Sollten … sollten wir die Sache nicht besser verschieben?“
Einen Augenblick verstummte jedes Geräusch in der Leitung. Nur im Wohnzimmer polterte und brüllte und gluckste es immer noch.
„Ver-schie-ben?“
Es war kein gutes Zeichen, wenn Doherty begann, einzelne Silben zu betonen. Trotzdem – lieber vorerst seinen Weg weitergehen.
Hugh sei in einer Besprechung und nicht erreichbar, hatte die jungmännliche Stimme an der Leitung ihm mitgeteilt, werde aber schnellstmöglich zurückrufen.
Nach zehn endlosen Minuten hatte er sich durchgerungen, Doherty auch ohne Hughs Rat anzurufen. Er konnte sich keine Verzögerungen leisten. In zweieinhalb Stunden erwartete Seamus eine Einheit am Friedhof. Dann musste die Mannschaft stehen oder die Sache abgeblasen sein.
„Ich weiß nicht, Pat, ich hab plötzlich kein gutes Gefühl bei der Sache …“
„Unter welchem Stein haste eigentlich die letzten zwei Wochen verbracht, hä? Schon mal ferngesehen seit gestern? Greysteel, sagt dir das was?“
„Pat, ich –“
„Wir müssen hart und schnell reagieren, Liam, die Leute brauchen ein Zeichen, dass wir handlungsfähig sind, trotz allem. Wir werden nicht verschieben. Dieses Schwein Bilson ist heute dran.“
„Was sagt Brian dazu?“
„Dein Job ist es, Ersatz für JR aufzutreiben, nicht, dir meinen Kopf zu zerbrechen“, Doherty klang inzwischen verdächtig gefasst, wie immer, wenn seine Geduld am Ende war. Liam konnte seinen nächsten Satz schon meilenweit riechen.
„Was ist mit Sullivan II? Ich hör ihn die ganze Zeit rumkrakeelen. Der soll lieber seinen Hintern zum Treffpunkt schwingen.“
Eine logische Entscheidung. Rory war trainiert, kurzfristig verfügbar und mehr als heiß darauf, sich als besserer JR zu beweisen. Er hatte erste Erfahrung gesammelt, und der Bilson-Fall war eine Routine-Operation. Aus Dohertys Sicht sprach nichts dagegen. Jetzt aufzubegehren würde Verdacht erregen.
„Was ist, haste die Sprache verloren? Wer wollte denn Lucky schon lange austauschen? Und jetzt willste Rory nicht mal die Chance geben? Bei so ’nem Bruder braucht man keine Feinde mehr.“
Liam presste die Lippen aufeinander und ging noch einmal die Liste seiner Optionen durch. Sie war eine Zeile lang.
„Gut, ich werde mit ihm sprechen.“
„Tu mir doch bitte den Gefallen.“ Wieder der kalte Spott von vorhin. „Und morgen um Punkt neun Uhr will ich dich bei mir sehen. Wir müssen uns ’ne neue Aufstellung für die Einheiten überlegen. Sieht aus, als hätten wir nicht nur Lucky verloren.“
Nach dem Auflegen war es still. Langsam presste Liam seine Faust gegen den Türrahmen, ließ locker, presste wieder, ließ locker.
Mist. Mist. Mist. Bisher hatte er Rory immer aus der Schusslinie des Special Branchs gehalten, Hugh nie über Operationen informiert, an denen er teilgenommen hatte. Hugh wusste nicht einmal, dass Rory zu den West-Belfaster Einheiten gehörte. Wenn Hugh die Sache nicht abblies, dann würde Rory in den Knast gehen, und das für eine zweistellige Zahl von Jahren. Er wählte noch einmal Hughs Nummer.
Dieser gottverdammte JR. Es war es ein Fehler gewesen, sein verrücktes Benehmen als Einzelfall abzutun. Dann noch die Bemerkung damals während des Trainings, von wegen Liam sei sein Hauptverdächtiger als Informant. Vielleicht hatte Lucky ihm tatsächlich von ihrer Begegnung erzählt, und JR spielte sein Wissen gerade gegen ihn aus, während der gute, alte, nostalgische Liam seine Feinde in Schach hielt.
„Was heißt das, nicht erreichbar? Das hier ist dringend, verdammt!“
„Mäßigen Sie sich mal, Sir.“ Der Typ am Apparat blieb unbeeindruckt. „Ich schick ihm noch eine Nachricht über den Pager, Sie anzurufen.“
„Hören Sie“, er senkte die Stimme, „ich bin hier nicht alleine, das ist zu viel Risiko für mich.“
Ein Schnaufen am anderen Ende der Leitung.
„Ich lasse ihm eine kurze Textnachricht zukommen. Schneller geht’s nicht mal, wenn ich ihn selbst suche.“
„Okay …“, Liam zwang sich, tief ein- und auszuatmen. Dann beruhigte sich das Flattern in seinem Brustkorb. „Okay. Dann schreiben Sie ihm Folgendes: Jaffa Street abbrechen, Erklärung später. Paul. Ich werde versuchen, ihn von einem neutralen Ort aus anzurufen.“
Er legte auf und ging in der Küche auf und ab. Wie lange wollte er dieses Risiko noch eingehen? Mit einem etwas bescheideneren Leben würde er sich Maureens Medikamente auch ohne Finanzspritze des Special Branch leisten können. Seine Position in den höheren Rängen von West-Belfast war ihm sicher. Was wollte er noch?
Das Jauchzen der Mädchen, wenn sie neue Sachen bekamen, so wie ihre Schmetterlingskostüme heute. Das Leuchten in Maureens Augen angesichts ihrer Kette. Das süchtig machende Gefühl, mehr zu wissen als alle Seiten gemeinsam. Mitzuspielen, anstatt nur eine Figur zu sein. All das wollte er. Andere machten Extremsport. Er handelte mit Informationen. Solange er das konnte, würde ihm nichts passieren. Also Nerven bewahren. Das war Teil des Spiels.
„Rory!“, schrie er in das anschwellende Kreischen seiner Töchter. „Rory, komm her, ich muss was mit dir besprechen!“
***
Bevor er in die Bar des York Hotels getreten war, hatte Dally sich zur Zurückhaltung gemahnt und sarkastische Antworten auf alle von Sandras möglichen Fragen nach seinem Befinden geprobt.
Stattdessen hatte Sandra an der Bar gewartet, die bestrumpften Beine in hohen Stiefeln, und gar nichts gesagt; nur die zartrosa Rosen in seiner Hand angelächelt, dann ihn, seine Hand genommen und ihn durch die Verbindungstür in die Lobby, zum Lift, in ihr Zimmer geführt. Ihr Rock kletterte bei jedem ihrer Schritte ein wenig weiter über die Knie nach oben. Eine unfaire Methode, genauso wie das Schweigen, fand er.
„Ich würd’ alles geben, wenn ich deine Gedanken lesen könnte“, sagte sie jetzt, Dally wusste nicht, wie viel später.
Er hörte eine Weile seinem abflauenden Herzschlag zu, bevor er antwortete.
„Warum sagt ihr Frauen so was?“
Eine Zigarette zwischen den Lippen, legte sich Sandra in seine Armbeuge.
„Weil wir wissen wollen, was wir in euch bewegen“, sagte sie zwischen erstem und zweitem Zug. Sogar Rauchen sah bei ihr sexy aus.
„Ich denke an nichts.“ Er nahm einen Zug von der Zigarette, die sie ihm entgegenhielt. Strich eine ihrer Haarsträhnen glatt und beobachtete, wie sie sich wieder wellte. Im gedämpften Licht des Lampenschirms glänzte sie in dunklem Bronze. „Es gibt nichts Schöneres, als an nichts zu denken.“
Sie stieß den Rauch amüsiert schnaubend aus.
„Nicht mal eine Sauftour mit deinen Kumpels?“
„Die Jungs müssen es alleine durchziehen.“ Er reckte den Kopf nach dem Radiowecker am Nachttisch. Bald sechs. In einer Stunde trafen sie sich. Liam hatte kaum etwas zu seiner Ausrede gesagt, aber trotzdem sauer gewirkt. Dabei hatte Dally sich an die Regeln gehalten und Bescheid gegeben, genau wie gewünscht. Liam sollte sich lieber für Rory freuen. Der war schließlich der Mann mit den Ambitionen, und jetzt stand Dally ihm nicht mehr im Weg.
Die Erleichterung nach seinem Anruf aus einer Telefonzelle in der Stadt war inzwischen zu etwas Stärkerem, Euphorischerem geworden. Dallas Ferguson hatte eine richtige Entscheidung getroffen. Hatte sein Schicksal zur Abwechslung mal in der Hand, und im Augenblick sah es so aus, als wollte es für immer da bleiben. Genau wie Sandra. Fast hätte er laut gelacht, einfach so.
Stattdessen rauchten sie abwechselnd und verfolgten die hektischen Schnitte der Musikvideos.
„Ich war kindisch letzte Woche“, sagte Sandra, den Blick auf MTV fixiert. „Aber ich war so wütend, weil ich das Gefühl hatte, dass ich ständig mein Leben vor dir ausbreite und du gar nichts sagst …“ Sie verlor den Faden, zog an ihrer Zigarette. „Aber ich hab meine Lektion gelernt. Der Typ von der Tankstelle hat mir die Kleider vom Leib gestarrt. Ich dachte schon, er hätte gar kein Taxi gerufen, sondern seine Freunde.“
„Tut mir leid, das zu hören.“
Sandra hustete empört Rauch.
„Du grinst auch noch? Du hast vielleicht Nerven. Das Kraut da ist das Mindeste, was du zur Wiedergutmachung tun kannst.“ Sie machte eine wegwerfende Handbewegung in Richtung des Ohrensessels in der Ecke. Begraben von Dallys Jeans, lugten zwei von der eigenen Schwerkraft gezeichnete Rosenköpfe hervor.
Das Kraut da hatte ihn den Wochenlohn für seine Dienste im Namen der republikanischen Bewegung gekostet. Aber wozu mit diesem nutzlosen Hinweis den Augenblick zerstören?
„Weißt du, was ich dich fragen wollte?“ Sie rollte sich auf den Bauch und sah ihn an, ihre Pfirsichbrust an seine haarige gepresst.
„Warum ’n Weichei wie der mit ’nem Model am Strand rummachen darf?“
Sie sah über ihre Schulter und kicherte.
„Halt die Klappe, ich find Chris Isaak klasse! Genialer Song.“
„Geniales Video, wenn er nicht mit dabei wär. Sieh mal“, er zog die Stirn in Falten, „wie er leidet unter seinem Leben.“
„Lenk nicht ab. Ich hab noch ein paar Fragen gut bei dir.“
Im Augenblick fühlte er sich fähig, ihr alles zu erzählen, sogar das, was sie garantiert nicht wissen wollte.
„Ich höre.“
„Warum heißt du Dallas, Dally?“
Er musste lachen. Wirklich alles an diesem Tag verlief anders als erwartet.
„Meine Mutter war ’n riesiger Fan von John F. Kennedy, hat alles von ihm gesammelt. In der Nacht, in der sie mich gekriegt hat, haben sie ihn erschossen. Die Leute im Krankenhaus haben’s ihr zwischen den Wehen gesagt. Ich war ’n langsames Baby, vielleicht wollten sie, dass sie fester presst. Hat gewirkt – ’ne halbe Stunde später war ich da. Eigentlich waren ‚Seán Patrick‘ oder ‚Bridget‘ für mich vorgesehen, aber sie wollte JFK mit mir ein Denkmal setzen. Mein Dad hat’s erst vom Band an meinem Arm erfahren und tagelang nicht mit Ma geredet.“
Sie kicherten wieder gemeinsam. Sandras lange Haare strichen über seine Schulter und verursachten ihm Schauer. Schwer zu sagen, ob er das angenehm fand oder nicht. Durch das geschlossene Fenster drang sporadisch das Knallen von Halloween-Feuerwerk.
Er betrachtete ihr Gesicht. Ihre Augen waren groß und blau und erwartungsvoll.
„Ich liebe dich.“
Sandra sah ihn mit einer Mischung aus Zufriedenheit und Langeweile an, als lese sie in einem Buch, das sie in- und auswendig kannte, streichelte ihn an der Grenze zwischen Kinn und Wange. Plötzlich glänzten ihre Augen übermütig, und sie kletterte weiter auf ihn.
„Na dann lieb mich, wenn du noch kannst“, sagte sie. Ihre seltsam raue Katzenzunge berührte flüchtig seine Operationsnarbe und arbeitete sich langsam nach unten, zu seinem Nabel und noch weiter.
***
Superintendent Freemans Büro glich einem Hindernisparcours. Jeder Stuhl, jeder Aktenschrank, jede Lampe schien platziert worden zu sein, um den Zugang zu seinem Schreibtisch zu erschweren. Freeman selbst war selten dort anzutreffen. Wenn, dann bei einem Tee, ein Memo diktierend oder den Blick auf den Bildschirm seines Computers fixiert.
Jetzt fixierte er Hugh.
„Die Operation abbrechen?“ Sein Gesicht war fahl vom Widerschein des Monitors. „Ist es nicht etwas spät dafür? Wenn ich mich nachmittags nicht verhört habe, soll der Zugriff innerhalb der nächsten 90 Minuten sein.“
„Agent Paul hat sich erst vorhin bei mir gemeldet, um seine Nachricht zu erklären. Aus irgend’nem Grund ist sein Bruder bei der Einheit mit dabei.“
Freemans Augenbrauen zogen sich bis zu seinem Haaransatz.
„Warum hat er das nicht schon früher mitgeteilt?“
Hugh ballte die Hände in seinen Hosentaschen und wechselte vom linken auf den rechten Fuß.
„Anscheinend ist er Ersatzmann für einen ausgefallenen Schützen.“
Freemans hm-hm darauf hatte einen eindeutig sarkastischen Unterton.
„Und was denkst du darüber?“
Wenn er nur an sein Gespräch mit Paul dachte, kam Hugh schon die Galle hoch. Hätte der verdammte Bastard seinen Bruder nicht vor ihm verheimlicht, müsste Hugh sich jetzt nicht diese anklagenden Fragen seines Vorgesetzten anhören.
„Er verlangt viel für die Tatsache, dass er uns eine so wichtige Information unterschlagen hat.“
Freeman nickte zustimmend, als rezitierte Hugh gerade aus einem von ihm verfassten Text. „Tatsache ist aber auch, dass wir abhängig von ihm sind, wenn wir Hanlon in absehbarer Zeit festnageln wollen. Er ist der Einzige unserer Informanten, der clever und angesehen genug ist, um Hanlons Nachfolge anzutreten. Wenn wir seinen Bruder jetzt in den Knast stecken, überlegt er es sich vielleicht anders.“
„Paul muss seinen Job machen, wir unseren“, sagte Freeman nach einem ungeduldigen Schmatzen. „Solange wir wegsehen können, wenn er Operationen plant, sehen wir weg. Wenn wir ihn dabei erwischen, ist er fällig wie jeder andere auch. Und seine Verwandtschaft erst recht. Berufsrisiko.“
Hugh fuhr sich über seinen Bart. Freeman hatte recht. Außerdem hatte er große Lust, Paul einen Denkzettel zu verpassen. Trotzdem, er musste langfristig denken. Und Freemans Kommentare konnten sowohl ernst gemeint als auch bloß ein Test seines Denkvermögens sein.
„Wir können den Bilson-Anschlag auch verhindern, ohne die Einheit zu exponieren“, sagte er.
Freemans klobiges Gesicht hatte ein äußerst beschränktes Repertoire an Mienenspiel, doch eine Warnung brachte er zustande.
„Ich weiß, du hast viel in Paul investiert und ich habe dir dabei jede Freiheit gelassen. Nur Hanlon zählt. Meinetwegen lässt du die kleinen Fische ziehen, solange uns das weiterbringt.“ Sein Blick schien Hugh von Kopf bis Fuß zu durchleuchten. „Und das tut es, nicht wahr?“
Hugh nickte. Die Operation heute war vielleicht verloren. Dadurch öffnete sich jedoch unverhofft ein anderes Tor. Zurück von Plan B zu Plan A.
Freeman schien zufrieden und wandte sich wieder dem Bildschirm zu.
„Und denk dran, deine Arbeit mit Paul hat bei unserem Häuptling Erwartungen geweckt. Er schaut uns über die Schulter und damit auch die MI5-Fritzen. Unser Erfolg in West-Belfast steht und fällt mittelfristig mit Paul.“
„Ist mir klar, Rob.“
„Gut, dann viel Glück“, sagte Superintendent Freeman in seinen Computer. „Genieß den unverhofft freien Abend. Hat auch was für sich.“
Hugh sah auf die Uhr. Ein paar Minuten nach halb sieben. Carl von der mobilen Einheit verständigen, die Streife auch, Paul beruhigen. Das konnte er noch schaffen.
***
Liam hatte nicht zu viel versprochen. Seamus war ein hervorragender Fahrer. Ihr Mitsubishi segelte mühelos durch Seitenstraßen, die Rory noch nie gesehen hatte. Außerdem war er ein cooler Typ.
Hast dich ganz schön verändert, JR, hatte Seamus gegrinst, Rory über seine Schulter hinweg die Hand gereicht und war dann zur Tagesordnung übergegangen. Im Gegensatz zu Rooster, der nach einer Fluchtirade bei ihrem Treffen am Stadtfriedhof schmollte. Hatte Rory nie leiden können, die Arschgeige. Legendär für seine schlechte Laune und schien ständig zu schwitzen.
„Wie lange fahren wir noch?“, fragte Rory.
„Schätze mal zehn Minuten“, Seamus’ Blick begegnete ihm im Rückspiegel. „Die Peace Line ist schon zu, ich muss ’nen Umweg machen.“
Hinter Rorys Adamsapfel pochte es. Zwanzig Minuten und Billy Bilson war Vergangenheit. Sullivan II würde einen neuen Spitznamen brauchen.
Er wog seine Pistole zuerst in der rechten, dann in der linken Hand. Bei der Übergabe hatte die Eiseskälte ihres Metalls durch die Handschuhe geschmerzt, so als hätte sie tagelang im Freien gelegen.
JR hat die sonst immer. Nütze sie, das Magazin ist voll, hatte der Quartiermeister zu ihm gesagt.
Zwei zur Pflicht, elf zum Spaß, hatte er entgegnet.
„Kannste mal das Radio anmachen? Ist ja wie in ’ner Gruft hier.“
Seamus drehte am Sucher. Schnulze, Werbung, Werbung, Guns’n’Roses, „You could be mine“. Na endlich. Rory begann mit dem Fuß mitzuwippen.
„Stell das ab, Mann, das nervt“, erhob Fintan postwendend die Stimme. „Ich kann mich nicht konzentrieren.“
Seamus verzog das Gesicht zu einer Grimasse und stellte leiser.
„Worauf denn?“, fragte Rory. „Dass sich der Zeigefinger auch schön krümmt?“
„Halt die Schnauze“, fauchte Fintan. „JR hätte auftauchen sollen. Der kann wenigstens schießen, und das blöde Gelaber bliebe uns auch erspart.“
„Was bildest du Jungschwanz dir eigentlich ein?“
„Beweis zuerst mal, dassde selbst schießen kannst, bevor du die Klappe aufreißt! Bisher warste ja auch bloß Nummer zweieinhalb.“
Dieses kleine Arschloch. Konnte es wohl nicht ertragen, dass jetzt Rory verdientermaßen am Ruder war.
„Jungs, kriegt euch ein“, ging ausgerechnet Rooster dazwischen, „konzentriert euch lieber auf die Operation.“
Seamus nickte, stellte das Radio ab und öffnete sein Fenster einen Spalt.
Kühle Luft wirbelte durch Rorys Haare.
Er freute sich auf Liams Gesicht, wenn er ihm von dem erfolgreichen Auftrag erzählte. Dann würde er nicht mehr so nervös sein wie bei ihrem Gespräch in der Küche heute. Manchmal schien ihn sogar sein Bruder für eine Null zu halten. Heute würde sich das ändern. Zuerst aber mal raus aus diesem Auto.
Direkt an der Einfahrt in die benachbarte Straße der Jaffa Street begegnete ihnen ein gepanzertes Polizeifahrzeug. Es bog in die Hauptstraße ein, aus der sie kamen. Der Fahrer war damit beschäftigt zu prüfen, ob der Weg frei war, doch der Bulle daneben sah genau in ihre Richtung.
Rorys Herz trommelte noch energischer. Neben ihm rutschte Fintan tiefer in den Sitz.
„Ganz ruhig“, murmelte Rooster. „Der kann nichts sehen.“
Der Scheinwerfer blendete Rory. Dann rollte der Wagen in die Kreuzung, und auch Seamus fuhr los. An der Mitte der Kreuzung passierten sie einander. Langsam schoben sich die Fassaden der ersten Häuser an der Jaffa Street zwischen sie und die Rücklichter des Polizeiwagens. Jemand auf den Vordersitzen atmete geräuschvoll aus.
„Das nenn ich Adrenalin, Leute“, sagte Seamus und hielt im Rückspiegel wieder Rorys Blick fest. Er musste Seamus mal fragen, wo man diese Ohrringe mit dem Kreuz bekam. Der von Seamus gefiel ihm.
„Kannste wohl sagen.“ In Rorys Handschuhen fühlte es sich feucht an. „Dachte schon, die sind der wahre Grund, warum JR nicht aufgetaucht ist.“
Einen Augenblick war es still in allen Sitzreihen.
„Ach, halt doch die Klappe“, sagte Rooster. Es klang verächtlich, aber nicht nur. Seine Fäuste um die Henkel seines Rammbocks lösten und ballten sich.
„An der übernächsten Kreuzung lass ich euch raus“, sagte Seamus. „Dann links in die Jaffa Street. Bilsons Haus ist das zweite von rechts, Nummer vier. Ich warte an Nummer acht, dann geht’s zum sicheren Haus.“
Die Aussicht auf mehrere Stunden in Fintans Gesellschaft ließ Rory sich sogar JRs Wand des Schweigens zurückwünschen, doch er nickte. Als Nummer eins der Einheit musste er professionell bleiben.
„Das gibt’s doch nicht, schon wieder Bullen“, zischte Rooster.
Tatsächlich – da bog soeben eine Fußpatrouille aus der Jaffa Street. Sogar mit Militär im Schlepptau, die ihnen den Rücken freihielten. Auf ihren Tornistern wippten bei jedem Schritt Funkantennen.
„Dreh um, hier ist zu viel los. Wir müssen abbrechen.“ Die Enttäuschung lag bleiern auf Roosters Stimme.
„Was?“ Fintan setzte sich auf. „Warum warten wir nicht einfach ’n bisschen? Vielleicht hauen sie ab.“
„Zu riskant“, holte Rooster nicht einmal Luft vor seiner Antwort. „Abbruch ist die einzig richtige Entscheidung.“
Zum ersten Mal suchte Fintans Blick Zustimmung bei Rory. Rooster glaubte wohl, hier den Boss spielen zu können, nur weil er schon mehr Einsätze hinter sich hatte.
„Da ist doch was faul oder?“ Rory umklammerte seine Waffe mit beiden Händen. „Da hat uns jemand verpfiffen. Warum sind da sonst so viele Bullen?“
Niemand sagte etwas, aber das Auto war voll Frustration. Und Zustimmung.
„Warte, umdrehen ist zu verdächtig“, korrigierte Rooster, als Seamus stehen bleiben wollte. „Fahr über die Jaffa Street, dann sind wir wieder auf der Hauptstraße.“
„Und wenn das ’ne Falle ist und die wegen uns hier sind?“ Fintan hörte sich so nervös an, wie Rory sich fühlte. „Vielleicht hat JR uns wirklich –“
„Verlier’ jetzt nicht die Nerven, okay?“, sagte Rooster, die Stimme gepresst von der Gewalt, mit der er sich unter Kontrolle hielt. „Die sind zu Fuß, wir im Auto – wir sind auf jeden Fall schneller.“
Langsam rollten sie an der Fußpatrouille vorbei. Die Soldaten blieben nicht stehen. Nur ihre Augäpfel schienen ihnen zu folgen.
Seamus bog in die Jaffa Street, passierte das Haus von Billy Bilson. An der Eingangstür baumelte ein Plastikskelett, Arme und Beine wehten im Wind.
„Du verdammter Bastard von Glückspilz“, Roosters Zeigefinger stocherte in Richtung Haus. „Du kriegst auch noch Saures, warte nur.“
Alle lachten, doch ohne Überzeugung.
An der Kreuzung der nächsten Seitenstraße stand wieder ein gepanzertes Polizeifahrzeug. Wenn Rory nicht alles täuschte, dasselbe von vorhin. Ein Typ von der Fußpatrouille, zugepflastert mit schusssicherer Ausrüstung, stand da und sprach mit dem Fahrer. Rooster stöhnte.
„Jetzt kontrollieren die uns auch noch!“
Rory fühlte sich wie unter Wasser. So sah also sein erster Einsatz als erster Schütze aus. Verhaftung – Verhör – Verurteilung für Verschwörung zum Mord – lebenslänglich. Abgetreten vor dem ersten Schuss.
„Und wenn wir einfach durchbrechen?“, sagte er auf gut Glück. „Vielleicht haben wir ’ne Chance, es sind nicht viele Bullen. Fintan und ich können sie mit ’n paar Kugeln beschäftigen. Bis die anderen zu Fuß nachgestiefelt sind, ist Seamus über alle Berge.“
Niemand antwortete, nur Rooster zischte abfällig und schüttelte den Kopf. Jede Idee ablehnen, nur weil er sich ins Hemd machte.
„Ich bin dafür“, sagte Seamus langsam. „Rory hat recht. Ich kann das schaffen.“ Im Rückspiegel sah Rory ihn schmunzeln.
Roosters Kopf flog nach rechts, ein Schweißfilm auf der Oberlippe.
„Spinnst du? Vielleicht kontrollieren sie uns gar nicht.“
„Bin auch dafür“, sagte Fintan. Die Sicherung seiner Waffe klickte, und er begann, langsam das Fenster runterzukurbeln. „Sich ergeben ist was für Feiglinge und Verräter.“
Rory fühlte sich lebendig wie noch nie. Er hatte schneller einen Plan aufgestellt als der ach so erfahrene Rooster. Dieser Schwächling. Zeit für einen Generationswechsel in den West-Belfaster Einheiten.
„Sorry, Rooster, drei gegen einen“, sagte er und registrierte Fintans Grinsen neben sich. Er hob seine Waffe, rutschte weiter hinüber zu Fintan. Das hier würde in die Geschichte eingehen, egal wie.
Seamus wechselte in den ersten Gang.
„Ihr Vollidioten, macht das nicht!“ Roosters Augen weiteten sich, und er machte Anstalten, Seamus ins Lenkrad zu greifen, doch da war noch der Rammbock in seinen Händen, und da ließ Seamus schon die Kupplung los.
Der Wagen machte einen Sprung nach vorne, auf die Kreuzung zu. Die Gesichter der Bullen waren weiße Kreise des Schreckens. Fintan feuerte und er feuerte, beide auf das schussgesicherte Männchen vor und jetzt auf gleicher Höhe mit ihnen, und da taumelte es und fiel hin.
Getroffen, Mann! Er wusste nicht, ob er das schrie oder Fintan oder sie beide. Blüten aus gesprungenem Glas übersäten die Windschutzscheibe des gepanzerten Polizeiwagens. Verdammt, hätten sie noch ein paar Sekunden mehr, sie würden durchbrechen.
Ein Scheinwerfer flammte auf, eine blecherne Stimme dahinter, die Unverständliches rief. Genauso hatte er sich immer das Jüngste Gericht vorgestellt. Wo waren sie? Sie mussten schon fast an der Hauptstraße sein.
Glas barst, ganz nahe. Der Mitsubishi schlingerte wie ein entgleisender Zug. Hatte Rooster das Lenkrad nun doch an sich gerissen? Er wandte sich weg vom Fenster, sah Seamus’ Kopf mal auf die linke, mal auf die rechte Schulter kullern. Eine gallertartige Masse klebte an dem Fenster neben ihm, grau und rot.
Ein Rumpeln, die Mauer eines Vorgartens holperte auf sie zu, und trotz des ganzen Lärms hörte er plötzlich ein feines Pfeifen an seinem Ohr, so als würde eine Kugel ganz knapp –