9
Dr. Thomas Bruckner stand neben dem Rektor in der Aula der Universität. Der Rektor hatte seine große Amtskette umgehängt. Er trug Talar und Barett. Väterlich legte er seine Hand auf Dr. Bruckners Schulter, mit der anderen Hand machte er eine umfassende Bewegung über die versammelten Professoren.
»Wir sind gekommen, um uns für die Verleumdungen, die man gegen Sie ausgestreut hat, zu entschuldigen. Die Zeitungen nehmen alles zurück, was sie gegen Sie geschrieben haben.« Er deutete an die Wand, an der verschiedene Zeitungen in großen Rahmen ausgehängt waren. »Man hat versucht, Ihnen übel mitzuspielen. Wir sind alle fast das Opfer der Kampagne gegen Sie geworden. Heute jedoch ernennen wir Sie zum Honorarprofessor …«
Ein Geläute setzte ein. Es hörte sich an, als ob sämtliche Kirchenglocken der Stadt gleichzeitig zu läuten begännen. Der Lärm wurde unerträglich, tat den Ohren weh …
Bruckner richtete sich erschrocken auf und schaute um sich. Er befand sich nicht in der Aula, er hatte in seinem Bett gelegen. Das Telefon schellte ununterbrochen.
Er griff nach dem Hörer, hielt ihn zunächst verkehrt an das Ohr, drehte ihn um und meldete sich: »Bruckner!«
»Es tut mir leid, Sie wecken zu müssen. Können Sie sofort auf Station kommen? Ihrem Patienten geht es schlecht …«
»Ich komme!« Dr. Bruckner knallte den Hörer auf die Gabel knipste die Nachttischlampe an, schüttelte den Traum absprang aus dem Bett und ließ sich in dem kleinen Badezimmer kaltes Wasser über das Gesicht laufen. Er schaute auf die Uhr. Man hatte ihn aus dem ersten tiefen Schlaf geholt.
Als er in seine Kleidung schlüpfte, fuhr es ihm durch den Kopf, daß er von der Höhe plötzlich wieder in eine unendliche Tiefe herabgerissen wurde. Eben noch glaubte er sich nicht nur rehabilitiert, man hatte ihn sogar als Wiedergutmachung mit Ehren überhäuft. Nun trat genau das Gegenteil von dem ein, was er geträumt hatte!
Thomas Bruckner zog sich den weißen Kittel über, stürmte aus seinem Zimmer, lief den Flur hinunter und durchquerte den Garten. Ein feiner Sprühregen hatte eingesetzt und umgab die Lichter der Laternen mit einem Hof. Dr. Bruckner fröstelte. Er schlug den Kragen seines weißen Mantels hoch und ärgerte sich, daß er nicht eine wärmere Jacke übergezogen hatte. Die Apriltage waren noch trügerisch. Sie gaukelten zwar Frühling vor, hatten sich aber noch nicht vom Winter getrennt.
Kurz vor der Chirurgischen Klinik blieb Dr. Bruckner einen Augenblick lang stehen und schaute hinauf. Die Fenster der Flure waren schwach erleuchtet. Sie zogen sich wie Lichtbänder parallel über die ganze Mauer. Ein einziges Fenster war hell erleuchtet. Das war der Raum, in dem der vierte Patient, den er in letzter Zeit operiert hatte, um sein Leben rang.
Dr. Bruckner mußte sich einen Ruck geben, um sich von diesem Anblick loszureißen. Er betrat das Gebäude der Klinik, stürmte die Treppen hinauf in den dritten Stock, öffnete die Tür der Station und raste den Flur entlang. Vor dem Zimmer, in dem der Kranke lag, blieb er einen Augenblick stehen. Er wollte die Hände falten und ein Stoßgebet zum Himmel schicken …
Da wurde die Tür von innen aufgestoßen. Heidmann stand auf der Schwelle. Er faßte Dr. Bruckner am Arm und zog ihn in das Zimmer. Schweigend deutete er auf den Kranken.
Barbara Pellenz stand auf der anderen Seite des Bettes. Ihr weißer Kittel war grünlich verfärbt. Sie hielt eine Schale in der Hand, die mit Erbrochenem angefüllt war.
»Ich weiß nicht, was los war. Er fing plötzlich an zu brechen. Es schien nicht mehr aufhören zu wollen. Man hat das Gefühl, sein Magen läuft über. Und sein Puls ist …« Sie vollendete den Satz nicht.
Dr. Bruckner warf einen Blick auf den Kranken, der mit halb geschlossenen Augen im Bett lag und hechelnd atmete. Sein Gesicht sah grau aus. Feine Schweißtropfen standen auf der Stirn. Er schien bewußtlos zu sein, jedenfalls regte er sich nicht, als Bruckner nach seinem Puls griff.
Besorgt beobachtete die Studentin Dr. Bruckners Gesicht, das immer ernster wurde. »Der Puls jagt nur so. Er ist kaum zu palpieren.«
Dr. Bruckner nahm die Schale in die Hand. »Eine akute Atonie!« sagte er und erhob sich von der Bettkante. »Bringen Sie mir einen dünnen Schlauch – eine Nasensonde!«
»Habe ich schon besorgt.« Assistent Heidmann hielt ein in ein Leinentuch gehülltes Paket hoch. Er zog die Schleife auseinander, die es zusammenhielt, und öffnete es. Ein bleistiftdünner Schlauch lag zusammengerollt in dem Paket.
»Geben Sie her!« Bruckner nahm den Schlauch, führte ihn durch die Nase des Patienten ein, schob ihn tiefer und tiefer und tiefer …
»Jetzt dürfte er im Magen sein. Eine Spritze?«
Dr Heidmann reichte ihm eine kleine, zwei Kubikzentimeter fassende Glasspritze.
Der Oberarzt schüttelte den Kopf. »Die ist viel zu klein.« Er setzte sie trotzdem an das nach außen herausragende Ende des Schlauches und zog daran. »Viel zu klein! Wir brauchen eine große Spritze – so groß!« Er deutete mit zwei Händen die Größe der Spritze an, die er brauchte.
»Da hinten liegt eine.« Dr. Heidmann ging zum Fensterbrett. »Das ist die Spritze, die ich beim Pfleger Buhmann gesehen habe.«
»Die Spritze, die er angeblich zum Ohrausspritzen nehmen wollte. Ich verstehe nur nicht, was die dünne Kanüle hier vorn soll …« Dr. Bruckner zog eine Nadel von der Spritze, setzte den Konus auf den Gummischlauch und begann, den Stempel hochzuziehen.
Der Glaszylinder füllte sich bald mit einer grünen Flüssigkeit.
»Einen Eimer!« rief Bruckner und schaute Heidmann an. »Holen Sie rasch einen Eimer!«
Heidmann verließ das Zimmer. Bruckner entleerte die Spritze im Waschbecken, setzte sie wieder an und zog. Erneut füllte sich der Glaszylinder.
Johann Heidmann kam zurück. »Ich habe nur diesen Putzeimer gefunden.«
»Der reicht!« Bruckner spritzte den Inhalt der Spritze in den Eimer, setzte den Konus wieder an den Schlauch, zog am Stempel, spritzte aus – wiederholte das Manöver immer und immer wieder.
Staunend sah Barbara Pellenz zu, wie sich der Eimer immer mehr füllte. »Das ist ja furchtbar. Das hat er alles in seinem Magen gehabt?«
»Ja; bei einer Atonie befinden sich oft mehrere Liter Flüssigkeit im Magen. Die Magenwände sind vollkommen über dehnt.«
»Aber wie kommt so etwas zustande?« Durch Barbaras Stimme klang Mißtrauen. »Ich habe so etwas noch nie erlebt.«
»Diese Atonien kommen gelegentlich nach Bauchoperationen vor«, erklärte Dr. Bruckner, der immer noch Flüssigkeit aus dem Magen herausholte. »Niemand weiß, warum sich der Magen plötzlich überdehnt – wie es hier der Fall ist.«
Er zog weiter vorsichtig am Spritzenkolben. »Ich glaube, jetzt habe ich den Magen leer bekommen.«
»Hat der Patient jetzt Ruhe?« Barbara Pellenz nahm dem Oberarzt die Spritze aus der Hand und wollte den Schlauch aus der Nase herausziehen, jedoch Dr. Bruckner wehrte ab.
»Den Schlauch lassen wir liegen! Ruhe wird der arme Kerl vorläufig wohl noch nicht haben. Heimtückisch bei solchen Atonien ist es, daß sich der Magen immer wieder füllt. Sie werden alle halbe Stunde absaugen müssen. Deswegen lassen wir den Schlauch liegen. Vergessen Sie es aber nicht«, schärfte er der angehenden jungen Ärztin ein. »Wir müssen verhindern, daß sich der Magen noch einmal überdehnt. Denn dann besteht die Gefahr, daß er sich nie wieder erholt. Und Sie –«, er deutelt auf Dr. Heidmann, der neben dem Bett stand, »besorgen sofort mehrere Blutkonserven. Der Patient braucht jetzt jede Menge Flüssigkeit. Er ist ja –«, Dr. Bruckner zeigte auf den gefüllten Eimer, »durch den ungeheuren Flüssigkeitsverlust vollkommen ausgetrocknet. Unangenehm ist nur, daß die Flüssigkeit, die man ihm gibt, sofort wieder in den Magen hineinzulaufen scheint. Bis Sie die Blutkonserven besorgt haben, lassen Sie Kochsalz einlaufen.«
Dr. Bruckner hob die Bettdecke hoch, nahm eine Hautfarbe zwischen Daumen und Zeigefinger und hob sie an. Sie blieb lange stehen, bis sie sich ganz langsam glättete. »Sie sehen an diesem Zeichen, wie trocken das Gewebe ist. Wenn Sie bei normalern Gewebe eine Hautfalte anheben, dann sorgt der Flüssigkeitsdruck dafür, daß sie sich sofort wieder glättet. Hier aber –«, er zeigte auf die Falte, die noch immer nicht vollkommen verschwunden war, »dauert es sehr, sehr lange, bis die Haut erst wieder normal ist.«
Dr. Bruckner faßte nach dem Puls und nickte. »Der Kreislauf hat sich schon etwas erholt. Ich hoffe, er wird vollkommen normal, wenn der Körper jetzt Flüssigkeit zugeführt bekommt.« Er trat beiseite, um Heidmann Gelegenheit zu geben, den Irrigatorständer neben das Bett zu stellen.
Dr. Heidmann hing die Flasche mit der Kochsalzlösung an einem Haken auf und ließ aus dem Schlauch, der vom Flaschenhals abging, etwas Kochsalz auf den Boden laufen. Dann stach er die Spitze der Kanüle, aus der immer noch tropfenweise Kochsalzlösung lief, in die Vene des Armes ein.
»Sie können ruhig schneller laufen lassen«, ordnete Dr. Bruckner an. »Der Patient ist so ausgetrocknet, daß er jetzt so rasch wie möglich jede Menge Flüssigkeit braucht. So ist es recht!« Er nickte Heidmann zu, der am Quetschhahn des Schlauches drehte, bis die Lösung in rascher Folge durch das Sichtröhrchen in der Mitte des Schlauches tropfte. »Nun können wir nur noch beten, daß sich die Atonie so bald wie möglich zurückbildet.«
»Könnten die anderen Todesfälle vielleicht auch auf eine Atonie zurückzuführen gewesen sein?« versuchte es Dr. Heidmann mit einer klärenden Frage.
Bruckner schüttelte den Kopf. »Das ist ausgeschlossen. Denn dann hätten die Kranken erbrechen müssen. Es gibt keine Atonie ohne Erbrechen. Und das war bei den anderen Patienten nicht der Fall.«
Thomas Bruckners Stimme klang belegt. Die Aufregung über den neuen Fall hatte ihn den Kummer über die Todesfälle vergessen lassen, aber jetzt wurde er durch Dr. Heidmann daran erinnert.
»Wenn Herr Buhmann Sie ablöst, dann schärfen Sie ihm bitte ein, daß er auch alle halbe Stunde so viel wie möglich aus dem Magen absaugt. Das darf auf keinen Fall vergessen werden!«
»Er wird mich in einer Stunde ablösen.« Barbara Pellenz schaute auf die Uhr. »Er hat es jedenfalls versprochen, und bisher hat er sein Versprechen immer gehalten«, fügte sie hinzu.
»Sagen Sie ihm, wir seien ihm dankbar, daß er uns die Spritze bereitgelegt hatte. Das war fast eine prophetische Voraussicht!«
Der Oberarzt blieb einen Augenblick in der Tür stehen und schaute noch einmal auf den Kranken zurück, der jetzt die Augen aufgeschlagen hatte und verwirrt um sich blickte. Bruckner wandte sich an Heidmann: »Sie kümmern sich um die Bluttransfusion, nicht wahr?«
»Selbstverständlich, Herr Oberarzt. Ich komme gleich mit ins Labor.«
Thomas Bruckner hatte sich sofort hingelegt, als er von der Station kam, aber er konnte keinen Schlaf finden. Zwar sank er immer wieder in einen kurzen Schlummer, wachte aber sofort wieder auf. Schließlich schien der Morgen ins Fenster und erhellte das Zimmer. Dr. Bruckner schaute auf die Uhr. Es war sieben. Man hörte in der Ferne eine Glocke läuten. Der Arbeitstag hatte begonnen.
Dr. Bruckner stand auf und ging unter die Dusche. Das kalte Wasser prickelte auf seiner Haut. Es belebte ihn. Er frottierte seinen Körper mit einem Massagehandschuh. Die Durchblutung vertrieb die Reste der Müdigkeit.
Seine Gedanken waren bei dem vierten Patienten, dessen Leben an einem seidenen Faden hing. Sollte auch er sterben …
Zwar war die Ursache hier völlig anders als bei den vorhergegangenen Todesfällen, aber man würde ihm auch die Schuld anlasten. Dessen war er gewiß.
Auf dem Flur ertönten Schritte und hielten vor seiner Tür. Ein beklemmendes Gefühl packte ihn. Sollte man ihm kündigen wollen? Es klopfte. Auf sein »Herein« öffnete sich die Tür so langsam, wie es Türen in Kriminalfilmen tun, wenn ein Bösewicht den Tatort betritt. Es war die alte Beschließerin des Ärztehauses, Fräulein Marthe Schwertlein. Sie trug ein Tablett in der Hand.
»Ich dachte, Sie könnten einen guten Kaffee gebrauchen. Die ganze Nacht hatten Sie zu tun, Sie Armer!«
Dr. Bruckner tat die Fürsorge der sonst so gefürchteten und vielleicht auch gehaßten Beschließerin des Ärztehauses gut.
»Woher wissen Sie denn, daß ich auf bin?«
»Man hört doch das Rauschen der Dusche! Da konnte ich mir ausrechnen, wann Sie angezogen sein würden. Und wie ich sehe«, sie lächelte, »bin ich genau zur richtigen Zeit gekommen.«
Sie goß Kaffee in die Tasse. »Ich habe mir gedacht, daß Sie lieber allein frühstücken. Nach alledem, was vorgefallen ist …«
Dr. Bruckner nickte. »Sie haben völlig recht. Es ist irgendwie peinlich, sich zwischen Kollegen zu setzen, die einen mißtrauisch anschauen.«
»Sehen Sie – das habe ich mir doch gleich gedacht! Und nun wünsche ich Ihnen einen guten Appetit!« Sie verließ das Zimmer.
Dr Bruckner schnitt ein Brötchen durch, belegte es und biß hinein. Seltsam, dachte er, wie man sich doch in Menschen täuschen kann. Marthe Schwertlein wird eigentlich von keinem Mitglied des Ärztekollegiums so richtig geliebt. Sie paßt zu sehr auf, hat Moralvorstellungen einer vergangenen Zeit und handelt nach ihnen. Aber in solchen Augenblicken, wenn es einem schlechtgeht, kümmert sie sich um einen. Und das ohne viele Worte …
Er überlegte, was zu tun sei. Wenn man nur die Todesursache der drei Patienten wüßte, wäre schon viel geholfen.
Er nahm den Telefonhörer ab, öffnete sein Notizbuch und suchte nach der Nummer von Peter Schnell. Er mußte versuchen, die Erlaubnis zur Leichenöffnung zu erhalten. Es war die einzige Möglichkeit, sich zu rehabilitieren, die dummen Gerüchte aus der Welt zu schaffen, die ihm das Leben schwermachten.
Es dauerte lange, bis sich eine Stimme meldete. »Ja, bitte?«
»Spreche ich mit Herrn Schnell?«
»Ja!« Die Stimme klang nicht sehr einladend. Anscheinend hatte Dr. Bruckner ihn aus dem Bett geholt. Es war ja auch noch viel zu früh, aber Bruckner war es gewöhnt, einen Gedanken sofort auszuführen, wenn er ihn einmal gefaßt hatte.
»Entschuldigen Sie, daß ich so früh anrufe. Hier spricht Dr. Bruckner. Ich hätte eine große Bitte …«
Er wartete, aber auf der anderen Seite war nichts zu hören. Nur das Summen des elektrischen Stroms tönte monoton im Hörer.
Thomas Bruckner räusperte sich. »Es geht, wie Sie sich denken können, um Ihre Frau Mutter.« Es fiel ihm schwer, das Wort auszusprechen. Er hatte gehofft, daß Peter Schnell ihm vielleicht eine Hilfestellung geben würde. »Sie wissen, daß im Augenblick eine große Pressekampagne gegen mich läuft. Man verdächtigt mich, daß ich an ihrem Tod schuld sei. Nun gibt es eine Möglichkeit, die Wahrheit zu beweisen.«
Wieder wartete Dr. Bruckner, daß der andere etwas sagte, um ihm weiterzuhelfen, aber das Schweigen aus der Leitung war tödlich.
»Ich wollte Sie bitten, mir die Erlaubnis zu geben, eine Exhumierung durchführen zu lassen.«
Wieder wartete er. Er glaubte, das Atmen des Feindes zu hören, aber es war wohl nur sein eigener Atem.
Er hätte nicht sagen können, wie lange das Schweigen dauerte. Er war sich nicht einmal darüber klar, ob Peter Schnell nicht einfach aufgehängt hatte. Er räusperte sich und sagte: »Hallo – sind Sie noch da?«
Wieder kam keine Antwort. Bruckner bereute es schon, überhaupt angerufen zu haben. Er hätte es sich denken können, daß der andere so reagierte. Schließlich war er es ja, der ihn vernichten wollte …
»Bitte – helfen Sie mir!« Es fiel Dr. Bruckner unendlich schwer, in das Nichts hineinzureden, aber für ihn hing so viel davon ab, daß er bereit war, sich sogar zu demütigen.
»Nein!« Die Stimme klang scharf wie ein Peitschenknall. Dann klickte es im Telefon. Der andere hatte aufgelegt.
Bruckner hielt den Hörer in der Hand, schaute auf ihn, als könne er nicht verstehen, was geschehen war, als erwarte er immer noch, daß der andere sich doch noch eines Besseren besänne und seinem Vorschlag zustimme. Aber es blieb alles ruhig. Da hängte auch Dr. Bruckner ein. Er kehrte zum Tisch zurück, auf dem Marthe Schwertlein das Frühstück aufgebaut hatte, goß sich den Rest des Kaffees ein und trank die Tasse leer. Es schien ihm keine andere Wahl zu bleiben, als der Klinik den Rücken zu kehren, seine Kündigung dem Chef vorzutragen. Er konnte nicht länger an der Bergmann-Klinik arbeiten. Er faßte einen plötzlichen Entschluß, stand auf und ging zur Tür. Als er auf dem Flur stand, kam Marthe Schwertlein aus ihrem Zimmer heraus. »Hat es Ihnen geschmeckt, Herr Oberarzt?«
»Ja, es hat mir gut geschmeckt. Und ich danke Ihnen, daß Sie mir so geholfen haben.« Er reichte der alten Beschließerin bewegt die Hand.
»Sie tun ja so, als ob Sie für immer von mir Abschied nehmen wollten!«
Bruckner blieb auf der Schwelle stehen. Er schaute den langen Flur entlang, an dem rechts und links wie in einem Hotel die einzelnen Zimmer der Ärzte abgingen. Er dachte an die vielen Jahre, die er hier gewohnt, gelebt und gearbeitet hatte. Dieser nüchterne kahle Bau, der mehr einer Kaserne als einem Wohnhaus glich, war für ihn zur Heimat geworden. Es würde ihm sehr schwerfallen, alles dieses zu verlassen. Aber es ging hier um den Namen der Klinik – und es ging letztendlich auch um ihn selbst. Etwas von dem Schmutz, mit dem man ihn bewarf, würde hängenbleiben.
Unwillkürlich schaute er an sich hinunter. Die Friedhofsszene fiel ihm ein. Da hatte man angefangen, ihn mit Schmutz zu bewerfen. Aber der Schmutz war leicht abgefallen. Er hatte seinen Mantel nur schütteln brauchen. Der Schmutz aber, mit dem man ihn jetzt bewarf, haftete. Er klebte so fest, daß wohl kein Mittel der Welt imstande sein würde, ihn vollständig zu entfernen. Es würde immer ein häßlicher Rand bleiben …
»Sie träumen ja, Herr Oberarzt!« Die Stimme des alten Fräulein Schwertlein brachte ihn in die Gegenwart zurück. »Machen Sie doch kein so trauriges Gesicht. Wir stehen doch alle zu Ihnen, das wissen Sie doch!« Es sah aus, als ob die Beschließerin Dr. Bruckner ermunternd auf die Schulter klopfen wollte, aber dann ließ sie die bereits emporgehobene Hand wieder sinken. »Ich mache Ihnen gern jeden Morgen das Frühstück. Es macht mir Freude, für jemand sorgen zu können. Also –«, jetzt klopfte sie ihm doch auf die Schulter, »Kopf hoch und viel Freude bei der Arbeit.«
»Ich danke Ihnen.« Dr. Bruckner drehte sich auf dem Absatz um, verließ das Ärztehaus und ging den Kiesweg durch den Garten zur Klinik.
Der Sprühregen der vergangenen Tage hatte aufgehört. Die Sonne kam hinter den Wolken hervor und beleuchtete den Weg, auf dem Dr. Bruckner ging. Ihre Strahlen ließen die vielen Regentropfen, die an Blättern und Blüten hingen, aufblitzen. Sie funkelten, als beständen sie aus lauter Diamanten …
Es schien, als ob der Himmel selbst Dr. Bruckner trösten wollte, aber er sah die Schönheit nicht. Auch Sonnenstrahlen vermochten es nicht, die trüben Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben.