Nur dies

In dieser Nacht fiel starker Reif. Er bedeckte die Hecken und machte das Gras auf den Wiesen weiß, daß es fast aussah, als hätte es geschneit. Aber die Nacht war sternklar und schön, und der Mond war fast voll.

Das Häuschen stand allein in der Ecke einer großen Wiese. Von der Vordertür führte ein Pfad über das Feld zu einem Holztritt zum Übersteigen des Zaunes und von da über die nächste Wiese zu einem Tor, durch das man auf den Weg zum Dorf kam, das etwa viereinhalb Kilometer entfernt war. Es waren keine anderen Häuser zu sehen, und das Gelände in der Umgebung war offen und flach, und viele Wiesen waren unter den Pflug genommen wegen des Krieges.

Das Mondlicht fiel auf das Häuschen. Es schien durch das offene Fenster in die Schlafkammer, in der die Frau schlief. Sie lag auf dem Rücken, das Gesicht zur Decke emporgewandt, ihr langes Haar war um sie herum über das Kissen ausgebreitet, und obwohl sie schlief, war ihr Gesicht nicht das Gesicht eines ruhenden Menschen. Sie war einmal schön gewesen, aber jetzt zogen sich dünne Furchen über ihre Stirn, und die Haut war merkwürdig stramm über ihre Backenknochen gezogen. Aber ihr Mund war noch weich, und während sie schlief, hielt sie ihre Lippen nicht ganz geschlossen.

Die Schlafkammer war klein, mit niedriger Decke, und das Mobiliar bestand aus einem Toilettentisch und einem Sessel. Die Kleidung der Frau lag über der Rückenlehne des Sessels, wo sie sie beim Ausziehen hingelegt hatte. Ihre schwarzen Schuhe standen auf dem Fußboden neben dem Sessel. Auf dem Toilettentisch waren eine Haarbürste, ein Brief und eine große Fotografie eines jungen Burschen in Uniform, mit einem Schwingenpaar auf der linken Seite seiner Jacke. Es war ein lächelndes Foto von der Art, wie man es gern seiner Mutter schickt, und es hatte einen schmalen schwarzen Rahmen aus Holz.

Der Mond schien durch das offene Fenster, und die Frau schlief ihren unruhigen Schlaf. Es war kein Laut zu hören, außer dem weichen, regelmäßigen Atemgeräusch und dem Rascheln der Bettdecke, wenn sie sich im Schlaf bewegte.

Dann kam von ganz weit her ein tiefes, leises Brummen, das sich verstärkte und lauter und lauter wurde, bis bald der ganze Himmel von einem starken Geräusch ausgefüllt zu sein schien, das dröhnte und dröhnte und immer weiter dröhnte und nicht aufhörte.

Gleich zu Anfang, noch bevor es nahe war, hatte die Frau das Geräusch gehört. In ihrem Schlaf hatte sie darauf gewartet, hatte nach dem Geräusch gehorcht und den Augenblick gefürchtet, in dem es kommen würde. Als sie es hörte, öffnete sie die Augen und lag für eine Weile ganz still und lauschte. Dann setzte sie sich auf, schob die Bettdecke beiseite und stieg aus dem Bett. Sie ging hinüber zum Fenster, stützte ihre Hände auf den Sims und lehnte sich hinaus und sah zum Himmel hinauf; und ihr langes Haar fiel über die Schultern herab, über das dünne Baumwollnachthemd, das sie anhatte. Viele Minuten lang stand sie dort in der Kälte, lehnte sich aus dem Fenster, hörte das Geräusch und sah suchend zum Himmel hinauf; aber sie sah nur den hellen Mond und die Sterne.

«Gott behüte ihn», sagte sie laut. «O lieber Gott, behüte ihn!»

Dann wandte sie sich um und ging schnell zum Bett hinüber, zog die Decken herunter und wickelte sie sich um die Schultern wie einen Umhang. Sie schlüpfte mit ihren bloßen Füßen in ihre schwarzen Schuhe und ging hinüber zu dem Sessel und schob ihn weit vor, so daß er direkt vor dem Fenster stand. Dann setzte sie sich hin.

Das dröhnende Geräusch über ihr war sehr stark. Für eine lange Zeit hielt es an, während eine riesige Prozession von Bombern nach Süden flog. Die ganze Zeit saß die Frau in ihre Decken gewickelt da und sah durch das Fenster zum Himmel hinauf.

Dann war es vorbei. Die Nacht wurde wieder still. Der Reif lag schwer auf der Wiese und auf den Hecken, und es schien, als ob die ganze Landschaft den Atem anhielte. Eine Armee marschierte am Himmel. Überall entlang ihrer Marschroute hatten die Menschen das Geräusch gehört und wußten, was es bedeutete; sie wußten, daß bald, noch bevor sie eingeschlafen waren, eine Schlacht stattfinden würde. Männer, die in Gasthäusern beim Bier saßen, hatten aufgehört zu reden, um zu horchen. Familien in ihren Häusern hatten das Radio ausgeschaltet, waren in den Garten hinausgegangen, wo sie gestanden und zum Himmel hinauf gesehen hatten. Soldaten, die sich in ihren Zelten stritten, hatten aufgehört zu schreien, und Männer und Frauen, die abends von den Fabriken nach Hause gingen, waren auf der Straße stehengeblieben und hatten auf das Geräusch gelauscht.

Es ist immer dasselbe. Wenn die Bomber in der Nacht südwärts über das Land fliegen, werden die Menschen, die sie hören, merkwürdig still. Für die Frauen, deren Männer in den Flugzeugen sitzen, ist der Augenblick nicht leicht zu ertragen.

Jetzt waren sie vorbei, und die Frau lehnte sich in dem Sessel zurück und schloß die Augen, aber sie schlief nicht. Ihr Gesicht war weiß, und die Haut schien straff über die Wangen gezogen und in Falten um die Augen zusammengefaßt worden zu sein. Ihr Mund war nicht ganz geschlossen, und es sah aus, als ob sie jemandem zuhörte. Fast konnte sie seine Stimme hören, so wie er ihr immer unter dem Fenster zurief, wenn er von der Arbeit auf dem Feld kam. Sie hörte ihn sagen, er sei hungrig, und ihn fragen, was es zum Abendbrot gäbe, und wenn er dann hereinkam, legte er den Arm um ihre Schultern und erzählte ihr, was er den Tag über getan hatte. Sie brachte ihm dann das Abendessen, und er setzte sich hin und begann zu essen, und immer fragte er, warum sie nichts esse, und sie wußte nie eine Antwort, außer, daß sie keinen Hunger habe. Sie saß dann da und sah ihm zu und goß ihm Tee ein, und nach einer Weile nahm sie seinen Teller und ging damit in die Küche, um ihm noch mehr zu holen.

Es war nicht leicht, nur ein Kind zu haben. Die Leere, wenn er nicht da war, und das Gefühl die ganze Zeit über, daß etwas passieren könnte, das Bewußtsein, tief im Innern, daß da sonst nichts war, wofür man lebte; daß man, wenn wirklich etwas passieren sollte, selbst sterben würde. Es hätte keinen Sinn mehr, den Fußboden zu fegen oder das Geschirr abzuwaschen oder das Haus reinzumachen; es hätte keinen Sinn mehr, Holz für den Ofen zu sammeln oder die Hühner zu füttern; es hätte keinen Sinn mehr, zu leben.

Jetzt, als sie so am offenen Fenster saß, spürte sie die Kälte nicht; sie fühlte nur eine große Einsamkeit und eine große Angst. Die Angst erfaßte sie und wurde so stark, daß sie sie nicht ertragen konnte, und sie stand auf und lehnte sich wieder aus dem Fenster und sah zum Himmel hinauf. Und als sie hinaufsah, war die Nacht nicht mehr schön, sondern kalt und klar und ungeheuer gefährlich. Sie sah nicht die Wiesen oder die Hecken oder den Reifteppich auf der Landschaft; sie sah nur die Tiefe des Himmels und die Gefahr, die dort lauerte.

Langsam drehte sie sich um und sank in den Sessel zurück. Die Angst war jetzt groß. Sie konnte an sonst nichts denken als daran, daß sie ihn sehen und bei ihm sein mußte, daß sie ihn jetzt sehen mußte, weil es morgen zu spät sein würde. Sie legte den Kopf auf die Rückenlehne des Sessels, und als sie die Augen schloß, sah sie das Flugzeug; sie sah es deutlich im Mondlicht, wie es durch die Nacht dahinflog wie ein großer schwarzer Vogel. Sie war ganz nahe, und sie sah, wie der Bug der Maschine weit herausragte, so als ob ein Vogel im eiligen Fluge den Hals vorstreckte. Sie sah die Markierungen auf den Flügeln und am Rumpf, und da wußte sie, daß er drin war. Zweimal rief sie ihn, aber es kam keine Antwort; dann stiegen Angst und Sehnsucht so stark in ihr auf, daß sie es nicht länger aushalten konnte und es sie vorwärts trug, durch die Nacht und immer weiter, bis sie bei ihm war, neben ihm, so nahe, daß sie ihn hätte berühren können, wenn sie die Hand ausgestreckt hätte.

Er saß am Steuer, mit Handschuhen und einer großen, dicken Fliegerkombination, die seinen Körper massig und formlos und doppelt so groß wie normal erscheinen ließ. Er sah geradeaus auf die Instrumente vor sich, konzentrierte sich auf das, was er tat, und dachte an nichts anderes als an das Fliegen der Maschine.

Jetzt rief sie ihn wieder, und er hörte sie. Er blickte sich um, und als er sie sah, lächelte er und streckte eine Hand aus und berührte ihre Schulter. Da war alle Angst und Einsamkeit und Sehnsucht von ihr gewichen, und sie war glücklich.

Für eine lange Zeit stand sie neben ihm und sah ihm zu, wie er die Maschine flog. Von Zeit zu Zeit sah er sich um und lächelte ihr zu, und einmal sagte er etwas, aber sie hörte nicht, was es war wegen des Motorenlärms. Plötzlich zeigte er nach vorn, durch die gläserne Windschutzscheibe des Flugzeuges, und sie sah, daß der Himmel voll von Scheinwerferstrahlen war. Es waren viele Hunderte; lange weiße Lichtfinger, die träge über den Himmel wanderten. Sie schwenkten mal dahin und mal dorthin und arbeiteten zusammen, so daß manchmal mehrere von ihnen zusammenkamen und sich an derselben Stelle trafen, und nach einer Weile trennten sie sich wieder und trafen sich woanders wieder, und die ganze Zeit suchten sie in dem Dunkel nach den Bombern, die sich ihrem Ziel näherten.

Hinter den Scheinwerfern sah sie die Flak. Von der Stadt kam ein dichtes, vielfarbenes Sperrfeuer herauf, und die Blitze der krepierenden Granaten erhellten das Innere des Bombers.

Er sah jetzt geradeaus, konzentrierte sich auf das Fliegen, schlängelte sich zwischen den Scheinwerfern durch und flog direkt in diesen Flakvorhang, und sie sah zu und wartete und wagte nicht, sich zu rühren oder zu sprechen, aus Angst, sie könnte ihn damit von seiner Aufgabe ablenken.

Sie wußte, daß sie getroffen waren, als sie die Flammen aus dem linken Innenmotor schlagen sah. Sie beobachtete sie durch das Glas des Seitenfensters und sah, wie sie die Oberfläche des Flügels beleckten, während der Wind sie nach hinten blies, und sie sah, wie sie den Flügel erfaßten und über die schwarze Oberfläche herantanzten, bis sie direkt unter der Kabine selbst waren. Zuerst hatte sie keine Angst. Sie sah ihn, wie er dasaß, sehr kühl, wie er ständig nach der einen Seite sah und die Flammen beobachtete und die Maschine steuerte, und einmal sah er sich schnell um und lächelte ihr zu, und da wußte sie, daß keine Gefahr bestand. Ringsherum sah sie die Scheinwerfer und die Flak und die Explosionen der Flakgranaten und die Farben der Leuchtspurgeschosse, und der Himmel war kein Himmel, sondern nur ein enger Raum, der so mit Lichtern und Explosionen angefüllt war, daß es unmöglich schien, daß jemand da durchfliegen könnte.

Aber die Flammen am linken Flügel waren jetzt heller. Sie hatten sich über die ganze Oberfläche ausgebreitet. Sie waren lebendig und aktiv, nährten sich von dem Bespannstoff und lehnten sich zurück in dem Wind, der sie anfachte und ermunterte und sie nicht ausgehen ließ.

Dann kam die Explosion. Es gab einen blendenden weißen Blitz und ein hohles «Krumpf», als ob jemand eine aufgeblasene Papiertüte zum Platzen gebracht hätte; dann waren da nur noch Flammen und weißlichgrauer Rauch. Die Flammen kamen durch den Boden und durch die Wände der Kabine herein; der Qualm war so dick, daß es schwer war, etwas zu sehen, und fast unmöglich, zu atmen. Sie wurde von Angst und Panik erfaßt, weil er immer noch am Steuer saß, die Maschine noch immer flog, sich abmühte, sie geradezuhalten, das Rad zuerst nach der einen Seite und dann nach der anderen drehte, und plötzlich spürte sie einen kalten Luftzug und sah schemenhaft gebückte Gestalten, die hastig an ihr vorbeirannten und sich aus dem brennenden Flugzeug hinausstürzten.

Jetzt war alles nur noch eine einzige Flammenhölle, und durch den Rauch sah sie ihn immer noch dort sitzen und mit dem Steuerrad kämpfen, während die Besatzung ausstieg, und während er das tat, hielt er einen Arm vor sein Gesicht, weil die Hitze so groß war. Sie rannte hin und packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn und rief: «Komm, schnell! Du mußt aussteigen, schnell, schnell!»

Dann sah sie, daß sein Kopf vornüber auf seine Brust gefallen war und daß er kraftlos und ohne Bewußtsein war. Mit äußerster Anstrengung versuchte sie, ihn aus seinem Sitz und zur Tür zu zerren, aber er war zu schlaff und zu schwer. Der Qualm füllte ihre Lunge und ihren Rachen, so daß sie husten und nach Luft zu schnappen anfing. Sie war jetzt rasend vor Angst, kämpfte gegen den Tod und gegen alles, und es gelang ihr, die Hände unter seine Arme zu schieben und ihn ein kleines Stückchen in Richtung zur Tür zu zerren. Aber es war unmöglich, ihn weiterzubekommen. Seine Beine waren ums Steuerrad verschränkt, und da war auch irgendwo eine Schnalle, die sie nicht öffnen konnte. Da wußte sie, daß es nicht möglich war, daß keine Hoffnung bestand, wegen des Qualms und des Feuers, und weil sie keine Zeit hatte, und plötzlich verließen alle Kräfte ihren Körper. Sie fiel über ihn und begann zu weinen, wie sie in ihrem Leben noch nie geweint hatte.

Dann kam das Trudeln und der rasende Sturzflug, und sie wurde nach vorn ins Feuer geworfen, so daß sie als letztes nur noch das helle Gelb der Flammen und den Brandgeruch wahrnahm.

Ihre Augen waren geschlossen, und ihr Kopf ruhte auf der Sessellehne. Ihre Hände hielten die Ränder der Decken, als wollte sie sie enger um ihren Körper ziehen, und ihr langes Haar fiel über ihre Schultern.

Draußen hing der Mond niedrig am Himmel. Der Reif lag schwerer denn je auf den Wiesen und auf den Hecken, und kein Laut war zu hören. Dann kam von weit im Süden ein tiefes, leises Brummen, das anschwoll und immer lauter wurde, bis bald der ganze Himmel von dem Geräusch und dem Gesang der Zurückkehrenden erfüllt war.

Aber die Frau, die am Fenster saß, rührte sich nicht. Sie war schon seit geraumer Zeit tot.