26. Kapitel

Brenda stand auf. »Wir gehen. Sofort. Kommt schon.«

Jorge und Minho und Thomas kamen ebenfalls auf die Füße. Jetzt war klar, dass Brenda doch Recht gehabt hatte. Hans zu finden war das Allerwichtigste. Der Ortungsmechanismus musste raus aus ihren Köpfen, und wenn Hans auf der Abschussliste stand, dann mussten sie umgehend zu ihm, bevor es zu spät war. Thomas sagte: »Gally. Schwörst du, dass alles, was du uns erzählt hast, die reine Wahrheit ist?«

»Ja, alles.« Der Junge war auf dem Boden sitzen geblieben. »Der Rechte Arm will loslegen. Sie planen schon eine große Aktion. Aber sie brauchen mehr Informationen über ANGST, und wer kann uns da besser helfen als ihr? Wenn wir auch noch Teresa und die anderen hätten, wäre es noch besser. Wir brauchen jede Unterstützung, die wir kriegen können.«

Thomas beschloss, Gally zu vertrauen. Klar, sie hatten sich nie leiden können, aber jetzt hatten sie den gleichen Feind, und deswegen mussten sie als Team zusammenarbeiten. »Was müssen wir tun, wenn wir mitmachen wollen?«, fragte er. »Sollen wir wieder hierherkommen? Oder woandershin?«

Gally grinste. »Kommt wieder hierher. Eine Woche bin ich noch hier, jeden Tag vor neun Uhr morgens. Ich glaube, vorher werden wir nicht losschlagen.«

»Losschlagen?« Thomas konnte seine Neugier kaum zügeln.

»Ihr wisst schon mehr als genug. Wenn ihr mehr Infos wollt, kommt ihr wieder. Ich bin hier.«

Thomas nickte und streckte dann die Hand aus. Gally schüttelte sie.

»Ich gebe dir keine Schuld«, sagte Thomas. »Nachdem du die Verwandlung durchgemacht hattest, wusstest du darüber Bescheid, welche Rolle ich bei ANGST gespielt hatte. Ich hätte mir auch nicht über den Weg getraut. Und ich weiß jetzt, dass du Chuck nicht ermorden wolltest. Aber das heißt noch lange nicht, dass wir von jetzt an die besten Kumpel sind.«

»Beruht ganz auf Gegenseitigkeit.«

Brenda war schon an der Tür und wartete auf ihn. Doch bevor Thomas ging, hielt Gally ihn am Ellbogen fest. »Die Zeit läuft ab. Aber wir können etwas tun.«

»Ich komme wieder«, sagte Thomas und folgte seinen Freunden. Er hatte keine Angst mehr vor der unbekannten Zukunft. Es gab wieder Grund zur Hoffnung.

Erst am nächsten Tag fanden sie endlich Hans.

Jorge besorgte ihnen ein Zimmer in einer billigen Absteige, nachdem sie Kleidung und Essen gekauft hatten. Thomas und Minho setzten sich im Zimmer an den Computer und suchten im Netblock, während Jorge und Brenda bei Unmengen von Leuten anriefen, von denen Thomas noch nie gehört hatte. Nach mehrstündigen Bemühungen hatten sie endlich seine Adresse, vom »Freund eines Freundes eines Feindes eines Feindes«, wie Jorge sagte. Aber zu dem Zeitpunkt war es schon zu spät und sie legten sich alle schlafen; Thomas und Minho mussten auf dem Boden liegen, die anderen beiden bekamen die Betten.

Am nächsten Morgen duschten sie, aßen und zogen ihre neu gekauften Sachen an. Dann hielten sie wieder ein Taxi an und fuhren geradewegs zu der Adresse, an der Hans angeblich wohnte – ein Wohnblock, der in nur wenig besserem Zustand als der von Gally war. Sie gingen hinauf in den dritten Stock und klopften an eine graue Stahltür. Die Frau, die ihnen öffnete, wiederholte immer wieder, sie kenne keinen Hans, aber Jorge ließ nicht locker. Schließlich spähte ein grauhaariger Mann mit breitem Kinn über ihre Schulter.

»Lass sie rein«, sagte er mit heiserer Stimme.

Kurz darauf saßen Thomas und seine drei Freunde in der Küche um einen wackligen Esstisch und blickten den abweisend wirkenden Mann namens Hans erwartungsvoll an.

»Freut mich, dass es dir gut geht, Brenda«, sagte er. »Und dir, Jorge. Aber ich bin nicht in Plauderstimmung. Sagt einfach, was ihr wollt.«

»Ich vermute, du weißt, warum wir hier sind«, antwortete Brenda und nickte in Richtung Thomas und Minho. »Aber wir haben gerade erfahren, dass ANGST ein Kopfgeld auf dich ausgesetzt hat. Wir müssen die Prozedur schnell hinter uns bringen, und dann musst du von hier fliehen.«

Hans schien den letzten Teil mit einem Schulterzucken abzutun und wandte seine Aufmerksamkeit den beiden Patienten zu. »Die Implantate sind noch drin, was?«

Thomas nickte nervös. Aber es musste ja sein. »Ich will nur das Ding loswerden, mit dem wir kontrolliert werden. Mein Gedächtnis will ich nicht wiederhaben. Außerdem will ich vorher wissen, wie die Operation funktioniert.«

Hans verzog angewidert das Gesicht. »Was erzählst du da für einen Müll? Was ist das für ein Hasenfuß, den du mir hier angeschleppt hast, Brenda?«

»Ich bin kein Hasenfuß«, gab Thomas zurück, bevor Brenda etwas sagen konnte. »Mir haben einfach schon zu viele Leute im Hirn rumgemurkst.«

Hans nahm die Hände hoch und ließ die Handflächen auf den Tisch klatschen. »Und wer hat gesagt, dass ich die Operation mache? Wer hat gesagt, dass ich dich überhaupt leiden kann?«

»Gibt’s gar keine netten Leute in Denver?«, brummte Minho vor sich hin.

»Ihr Komiker steht ganz kurz davor, hochkant aus dieser Wohnung rauszufliegen.«

»Seid einfach mal alle still!«, schrie Brenda. Sie beugte sich zu Hans vor und redete leise und eindringlich auf ihn ein. »Bitte hör mir zu. Die Sache ist sehr wichtig. Thomas ist sehr wichtig, und ANGST wird keinerlei Mittel scheuen, ihn wieder in die Hände zu bekommen. Wir dürfen auf keinen Fall riskieren, dass sie ihm oder Minho so nahe kommen, dass sie ihn kontrollieren können.«

Hans sah Thomas abschätzig an und musterte ihn wie ein Wissenschaftler ein Versuchsobjekt. »Wichtig aussehen tut er nicht.« Kopfschüttelnd erhob er sich. »Gebt mir fünf Minuten Vorbereitungszeit«, sagte er und verschwand dann ohne weitere Erklärungen durch eine Tür. Thomas hatte keinen blassen Schimmer, ob der Mann ihn erkannte, ob er wusste, welche Rolle Thomas vor dem Labyrinth bei ANGST gespielt hatte.

Brenda lehnte sich auf dem Stuhl zurück und seufzte laut auf. »Na, das ist ja gar nicht so schlecht gelaufen.«

Ja, der richtig unangenehme Teil kommt jetzt, dachte Thomas. Er war erleichtert, dass Hans ihnen helfen wollte, aber je länger er sich umschaute, desto nervöser wurde er. Er wollte einem Fremden erlauben, in einer schmutzigen, alten Wohnung an seinem Gehirn rumzufuhrwerken?

Minho schmunzelte. »Hast du Muffensausen, Tommy?«

»Vergiss nicht, muchacho«, sagte Jorge zu ihm. »Du kommst auch unters Messer. Der nette Herr Doktor hat fünf Minuten gesagt, also mach dich bereit.«

»Je schneller, desto besser«, meinte Minho nur.

Thomas stützte die Ellbogen auf den Tisch und ließ den Kopf, der ihm schon wieder schrecklich wehtat, in die Hände sinken.

»Thomas?«, flüsterte ihm Brenda ins Ohr. »Ist alles in Ordnung?«

Er blickte auf. »Ich muss nur gerade –«

Er verschluckte sich, als ein durchdringender Schmerz wie ein Messerschnitt an seinem Rückgrat nach unten raste. Doch so schnell das Stechen aufgetaucht war, so schnell war es wieder verschwunden. Verschreckt richtete Thomas sich auf seinem Stuhl auf; dann erfasste ein Krampf seine Arme, die sich vor ihm waagerecht in die Luft streckten, seine Beine traten um sich, sein Körper verrenkte sich, so dass er vom Stuhl rutschte und zitternd zu Boden fiel. Er schrie auf, als sein Hinterkopf auf den harten Fliesen aufschlug, und versuchte verzweifelt, seine zuckenden Arme und Beine unter Kontrolle zu bekommen. Aber er schaffte es nicht. Seine Füße trampelten auf den Boden, seine Schienbeine schlugen gegen die Tischbeine.

»Thomas!«, schrie Brenda verzweifelt. »Was ist denn bloß?«

Obwohl Thomas seinen Körper nicht mehr unter Kontrolle hatte, war er geistig völlig da. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Minho neben ihm am Boden kniete und ihn zu beruhigen versuchte, während Jorge mit aufgerissenen Augen stocksteif dasaß.

Thomas versuchte etwas zu sagen, aber aus seinem Mund kam nur Spucke.

»Kannst du mich verstehen?«, schrie Brenda und beugte sich über ihn. »Thomas, was hast du denn?«

Dann erschlaffte er ganz plötzlich, seine Beine langgestreckt, seine Arme fielen kraftlos zur Seite. Er konnte sich nicht bewegen. Sosehr er sich auch anstrengte, nichts geschah. Wieder versuchte er etwas zu sagen, aber es kamen keine Worte heraus.

Brenda verzog voller Grauen das Gesicht. »Thomas.«

Er wusste nicht, wie, aber seine Arme und Beine bewegten sich jetzt einfach, ohne dass er das wollte. Sein Körper richtete sich wieder auf und stellte sich auf die Füße. Es war, als habe er sich in eine Marionette verwandelt. Er wollte schreien, konnte aber nicht.

»Und, alles klar?«, fragte Minho.

Panik erfasste Thomas. Sein Kopf zuckte und drehte sich dann in Richtung der Tür, durch die der Wohnungsbesitzer verschwunden war. Worte kamen ihm über die Lippen, ohne dass er wusste, woher sie stammten.

»Ich lasse … das … nicht zu.«