KAPITEL 18
Sofort wollte ich dem Impuls folgen, mich loszumachen, um klarzustellen, dass ich auch ohne ihn gut gelandet wäre – wäre ich ja auch – aber ein anderer weitaus fragwürdigerer Impuls unterdrückte den ersten. Plötzlich war alles so schön, so angenehm, so … daheim. Ich fühlte die Wärme, die er ausstrahlte, spürte seinen Herzschlag und den Arm, den er um mich gelegt hatte, um mich zu stabilisieren, und konnte mich beim besten Willen nicht davon losreißen. Außerdem waren meine Beine so wacklig, dass ich vermutlich ohnehin einfach umgefallen wäre, wenn ich mich nicht an ihn gelehnt hätte.
Obwohl mein Kopf unendlich schwer war, sah ich auf und las Erleichterung in Louis’ Augen. Und dann, einen Moment später, Traurigkeit. Sanft löste er sich von mir, und kurz erwog ein Teil von mir, sich zu widersetzen und sich einfach weiter an ihn zu klammern. Ein anderer Teil, der vielleicht schon ein bisschen ausgenüchterter war, untersagte das jedoch nachdrücklich, und so steuerte ich ein bisschen missmutig auf die Matten zu. Ich ließ mich wenig anmutig darauf fallen, legte mir mit schweren Armen eine der Pferdedecken über die Beine und lehnte meinen Kopf an die Rückwand der Hütte hinter mir.
Louis stand unschlüssig herum.
„Stück Kuchen?“, bot ich ihm an.
Er lächelte mit einem Mundwinkel und schüttelte den Kopf. „Gerade nicht, danke.“
Mir war auch die Lust darauf vergangen. „Teufelszeug. Met und Gras, alles Teufelszeug“, befand ich verdrossen.
Nach kurzem Zögern kam er näher und setzte sich links neben mir auf die Matte, ein Stückchen weg von mir.
„Met?“, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Frag nicht.“ Denn sonst müsste ich zur Sprache bringen, dass du mich aus unerfindlichen Gründen geküsst und dich dann aus dem Staub gemacht hast. Und dazu war ich gerade nicht in der Verfassung.
Er sah mich skeptisch an, hatte aber immer noch dieses Halblächeln im Gesicht. Mir war klar, dass er mich insgeheim auslachte, aber das war mir in meinem Zustand völlig egal.
Ich konnte nichts dagegen machen. Es hatte wieder irgendetwas mit der Schwerkraft oder mit meiner Interpretation derselben in berauschtem Zustand zu tun – irgendetwas zog mich ganz stark nach links. Und wenn ich schon nichts Drogenunverseuchtes zu essen bekam, wollte ich wenigstens schlafen dürfen. Oder zumindest dösen. Kurzerhand schloss ich die Augen, folgte meiner persönlichen Gravitation und ließ mich zur Seite sinken. Mein Ohr kam passgenau in Herzhöhe auf Louis’ Brust auf. Ich kuschelte mich an ihn, fädelte meinen seltsam elastischen linken Arm hinter seinem Rücken durch und schlang meinen rechten Arm um seine Taille.
Im ersten Augenblick schien er zu erstarren, ich hatte sogar das Gefühl, dass er den Atem anhielt. Doch dann zog er seinen Arm unter mir hervor und legte ihn behutsam um mich. Und nach einer weiteren Sekunde umschlang er mich auch mit dem anderen Arm, drückte mich fest an sich und legte sein Kinn auf meinen Kopf.
Ich murmelte: „Nicht gerettet!“ Alles andere war zweitrangig.
Fasziniert spürte ich, dass das Summen wieder einsetzte und sich angenehm durch meinen Körper bitzelte, fühlte wie sich seine Brust bei jedem Atemzug hob und senkte und lauschte andächtig seinem Herzschlag. Ich schmiegte mich an die etwas kratzige Wolle seines dicken Winterpullis und stellte erneut fest, dass ich mochte, wie Louis roch. Ein bisschen nach Sommer, obwohl es bitter kalt war. Ein bisschen nach Sonne, obwohl der Mond schien. Ein bisschen nach Freiheit, obwohl ich mich zu Hause fühlte.
Am liebsten hätte ich den Rest der Nacht so verbracht, in der Wärme von Louis’ Umarmung verbunden mit dem angenehm entspannten Gefühl, das der wundersame Kuchen in mir zurückgelassen hatte. Nachträglich fand ich ihn eigentlich doch ganz gut, immerhin hatte er mich in diese unerwartet erfreuliche Situation manövriert.
Aber plötzlich merkte ich, dass Louis sich versteifte, die Umarmung löste und mich vorsichtig auf die Matte gleiten ließ. Er schob mir sacht die andere Decke unter den Kopf und stand rasch auf. Ich wollte protestieren, aber alles, was herauskam, war wirres, leises Gebrabbel im Sinne von „… Kissenersatz, aber kein Louis-Ersatz …“.
Keine halbe Minute später war Kala zurück, mit Polly im Schlepptau. Ich bekam alles nur halb mit, aber ich glaube, meine Schwester war rechtschaffen entsetzt. Sie stürzte zu mir hin und tätschelte mein Gesicht – weitaus heftiger als nötig gewesen wäre. Da ich nicht bewusstlos, sondern nur entrückt war, öffnete ich unwillig meine Augen und bewegte mich angestrengt wieder in die Senkrechte.
„Hallo Polly.“
„Bei Artemis, was hast du dir nur gedacht.“ Sie schüttelte ihren Kopf, als könne sie nicht glauben, was sie sah.
„Stiefelparty!“, sagte ich nur und wollte nichts lieber, als mich wieder hinlegen. Notfalls auch nur mit Kissenersatz.
„Sie kann nix dafür“, warf Kala ein und klang tatsächlich ein bisschen schuldbewusst. „Es war der Kuchen.“
„Der Kuchen“, wiederholte Polly verständnislos.
„Ist ja auch egal“, fand ich. Ich hatte jetzt keine Lust über Kuchen zu diskutieren.
„Kala hat ihn mit bewusstseinserweiternden Substanzen versetzt, Ell wusste es nicht und hat zu viel davon erwischt“, meldete sich Louis von viel zu weit weg zu Wort. Ich konnte ihn im Dunkeln kaum erkennen.
Polly schien ihn erst jetzt wahrzunehmen. Sie wandte sich um und maß ihn mit einem langen misstrauischen Blick. „Und welche Rolle spielst du in diesem ganzen Durcheinander?“
„Er hat aufgepasst, während ich dich geholt habe“, erklärte Kala.
Aufgepasst. Auf mich! So ein Quatsch. Mühsam unterdrückte ich das Glucksen, das aus meinem Bauch aufsteigen wollte.
„Aha“, erwiderte Polly. Dann blickte sie zu Kala. „Wenn du nochmal so etwas abziehst, fliegst du hier sofort raus. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.“ Kala nickte nur stumm wie ein Wackeldackel. „Komm, Ell, wir gehen jetzt.“ Meine Schwester streckte mir die Hände entgegen und ich ließ mich brav von ihr hochziehen.
„Meine Stiefel!“, rief ich klagend.
Polly hob leise fluchend die Gummistiefel vom Boden auf. Dann legte sie mir einen Arm um die Schulter und wandte sich an Louis.
„Danke für deine Hilfe übrigens.“
„Gern geschehen“, gab Louis zurück, aber es klang ebenso kühl wie Pollys Dank. Ich konnte jetzt sehen, dass er wieder seinen neutralen Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte.
„Er hat nicht geholfen!“, protestierte ich. „Ich bin ganz allein vom Baum wieder heruntergestiegen.“
Pollys Kopf fuhr entsetzt zu mir herum. „Was für ein Baum? Dieser Baum? Du bist auf diesen morschen alten Baum gestiegen?“
Ich biss mir auf die Lippe. Fehler. Ganz schlecht. Vom Baum war anscheinend gar nicht die Rede gewesen. „Ich? Warum?“, fragte ich daher nur.
Polly schüttelte noch einmal den Kopf, diesmal resigniert. „Los jetzt.“ Sie schob mich vorwärts, aber ich drehte den Kopf, wollte Louis nochmal sehen, den anderen Louis, den von vorhin, nicht den emotionslosen. Und kurz verschmolzen unsere Blicke und kurz war die Traurigkeit in seinen Augen wieder da und kurz spürte ich durch den Nebel, der mich umgab, einen kleinen Stich im Herz.
Dann zog mich Polly mit einem energischen Ruck weiter und ich verlor den Kontakt.
Der Morgen danach war zunächst angenehmer als der nach dem Met. Ich hatte keine Kopfschmerzen und schien auch sonst an keinen Nachwirkungen zu leiden. Wohlig streckte ich mich in meinem Bett aus, fühlte mich pudelwohl und genoss es, noch ein bisschen liegenbleiben zu dürfen, bevor die Pflicht rief. Und dann kam Schlag auf Schlag die Erinnerung zurück.
Kala.
Kuchen.
Baum.
Louis.
Verdammt.
Ich schlug die Hände vors Gesicht. Die Information, wie ich auf den Baum hochgekommen war, fehlte noch immer, aber alles andere stand mir mit einem Mal allzu deutlich vor Augen. Ich hatte was genau gemacht? Mich einem ‘Shim im wahrsten Sinne des Wortes an den Hals geworfen. Göttin, war das peinlich. Ich überlegte fieberhaft, welche Fettnäpfe ich ausgelassen haben könnte. Am Ende waren Kala und Louis doch noch ein Paar und ich hatte mich noch mehr daneben benommen, als ich es vermutet hatte. Vielleicht hatte ich im Delirium alles völlig falsch verstanden?
Dann erinnerte ich mich, wie Louis mich an sich gedrückt hatte und fühlte leichte Aufregung in mir aufsteigen. Komplett einseitig war das gestern Abend jedenfalls nicht gewesen. Das reduzierte die Peinlichkeit vielleicht ein wenig, aber ich hatte nicht die geringste Lust, mich wieder in irgendeinen Unsinn hineinzusteigern. Die Situation verlangte dringend nach Klärung.
Ich setzte mich schwungvoll auf und bemerkte Pollys finsteren Blick, mit dem sie mich von ihrem Bett aus musterte. Mir war nicht bewusst gewesen, dass sie schon wach war.
„Morgen!“, sagte ich munter.
„Hmpf.“
„Was ist?“ Obwohl mir klar war, dass ich mich weitestgehend daneben benommen hatte, war mir schleierhaft, weshalb ich einen dermaßen missgelaunten Gutenmorgengruß verdienen sollte.
„Grmbl.“
„Mehr Vokale!“, rief ich.
„Pfff.“
„Bist du sauer, dass ich den Abend mit Kala verbracht habe?“
„Ich bin sauer“, brach es vorwurfsvoll aus ihr hervor, „weil du erstens den Abend mit Kala verbracht hast, mir zweitens nichts gesagt hast und dich drittens zugedröhnt hast. In Kombination ist das schon ein Grund, ziemlich sauer zu sein.“
„Erstens: Sie sagte, sie hätte eine Überraschung für mich und ich war neugierig. Zweitens: Es war spontan und ich wollte nur kurz bleiben. Drittens: Ich hatte keine Ahnung, nicht die geringste, dass sie Gras in den Kuchen eingebacken hatte. Und in Kombination hat es dazu geführt, dass ich mich zum totalen Trottel gemacht habe und mir jetzt sehr leid tut, was ich getan habe. Echt“, sagte ich zerknirscht.
„Du hast es wirklich nicht gewusst?“, fragte Polly abschätzig. „Hast du es nicht geschmeckt?“
Ich zuckte die Schultern. „Es hat gut geschmeckt. Nach Schokokuchen eben. Und ich hatte das Abendessen verpasst und war ziemlich hungrig.“
„Dennoch hättest du dir denken können, dass sie etwas im Schilde führt, die doofe Turnbeutelvergesserin.“ Das klang schon ein bisschen versöhnlicher.
„Ja, aber sie hat mir die Stiefel zurückgegeben, deswegen ist es jetzt trotzdem Essig mit Teeren und Federn.“
„Vorerst, liebe Ell, vorerst“, erwiderte meine Schwester, lachte teuflisch und schwang sich aus dem Bett.
Ich lief zu ihr und umarmte sie. „Sei mir nicht mehr böse. Und vielen Dank, dass du mich gerettet hast.“ Polly durfte mich nämlich retten. Immer.
Sie grunzte unwillig, erwiderte jedoch meine Umarmung. „Aber dass mir sowas nicht mehr vorkommt.“ Dann sah sie mich skeptisch an. „Bist du echt auf diesen Ahornbaum gestiegen?“
Ich räusperte mich, verzog mich auf meine Seite des Zimmers und begann umständlich, in meinem Schrank nach Kleidung zu wühlen.
„Also doch!“ Sie schüttelte den Kopf. „Keine Minute kann ich dich alleine lassen …“
Paz merkte, dass etwas nicht mit mir stimmte, und ich selbst merkte es auch. Wenn auch möglicherweise leicht verzögert. Anscheinend hatte ich doch mit den Nachwirkungen des Vorabends zu kämpfen – ich konnte mich partout nicht konzentrieren, lief dauernd von A nach B, vergaß aber unterwegs, was ich eigentlich wollte, und musste, manchmal mehrfach, wieder an meinen Ausgangsort zurückkehren, um mich zu erinnern. Und das lag ganz sicher nicht daran, dass ich im Kopf mögliche Dialoge mit Louis durchspielte.
„Du hast doch gestern bis tief in den Abend hinein gearbeitet“, sagte Paz schließlich, als sie das Elend nicht mehr mitansehen konnte.
„Ja?“, fragte ich, nicht sicher, worauf sie hinaus wollte.
„Dann kannst du dir ja jetzt mit gutem Gewissen freinehmen“, schlug sie vor.
„Ja, aber ich habe doch an meinen eigenen Sachen gearbeitet, das war ja sozusagen mein Freizeitvergnügen“, widersprach ich, obwohl ein freier Restnachmittag sehr verlockend klang.
„Du hast deine Abendstunden geopfert, um deine Fähigkeiten zu verbessern, die, sobald ausgereift, der Gemeinschaft zu Gute kommen werden“, formulierte sie meine Aussage um. „Also lauf.“
„Danke!“ Ich lächelte sie erleichtert an, zog meine Fellweste über und sah zu, dass ich hinauskam.
Mein erster Weg führte mich in den Stall, in der Hoffnung, Louis dort anzutreffen. Möglichst allein. Ich hatte keine Ahnung von seinem Dienstplan, aber ich wusste, dass er im Winter in den Stallungen mithalf, also musste er früher oder später hier auftauchen. Ihn bei den Arbeiterhütten zu suchen, schien mir zu riskant.
Eine ganze Weile lungerte ich bei Hekate herum, bürstete und kämmte sie und sah immer wieder den Gang entlang, aber von Louis war keine Spur zu sehen.
Vielleicht ist er wieder abgetaucht? bangte mein Herz. Das Männer-Ding, weißt du noch? Ell retten, Ell herzen, Ell nie wieder sehen?
Er hat mich nicht gerettet.
Als ich schon aufgeben wollte und mich umdrehte, stand er plötzlich vor mir. Er sah ernst und müde aus, aber das war wohl kein Wunder nach der kurzen Nacht. Gleichzeitig sahen wir uns um, ob jemand in der Nähe war, aber die Luft schien rein zu sein.
„Wir müssen reden“, flüsterte ich.
Er nickte. „Ich weiß. Wann? Und wo?“
„Nach dem Abendessen. Hier.“
„Okay.“ So schnell, wie er aufgetaucht war, war er wieder verschwunden.
Ich verabschiedete mich von Hekate und schlenderte in die Kardia, wo ich mich bis zum Abendessen auf die faule Haut legte. Eigentlich hatte ich vorgehabt, ein bisschen Schlaf nachzuholen, aber in meinem Kopf ging alles so durcheinander, dass ich keine Ruhe fand. Ich erinnerte mich an seine Rettungsaktion im alten Wasserkraftwerk, die Ernte, meine Eifersucht, das Glücksgefühl, das mich durchströmt hatte, als ich in seinen Armen gelegen war, und immer wieder den Kuss, aber ich wusste auch, dass das alles großer Käse war. Und im Grunde war ich damit ja auch schon durch gewesen, hatte das Höhlenweibchen bezwungen und meine Eifersucht. Das sollte jetzt nicht alles umsonst gewesen sein. Und deswegen muss ich das sofort alles in Ordnung bringen und dann frohen Herzens in die amazonische Zukunft blicken, dachte ich mir. Ich bin eine Amazone und kein Höhlenweibchen.
Nach dem Abendessen fand ich Louis bei Boreas im sonst verlassenen Stall vor. Sobald er hörte, dass ich mich näherte, verriegelte er die Box und drehte sich um.
„Hallo“, sagte ich und durchsuchte meine präparierten Dialogzeilen erfolglos nach einem passenden Einstieg. Es war nicht so, dass ich aus Nervosität meinen Text vergessen hätte, doch als ich so vor ihm stand, in seine Augen sah und ganz entfernt den speziellen Louis-Geruch erschnupperte, war ich mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich ihn wirklich sagen wollte.
„Hey“, erwiderte er.
Und jetzt?
„Hast du den Kuchen gut überstanden?“, fragte er schließlich.
„Schon, bis auf ein paar Aussetzer heute in der Schneiderei.“ Ich schnitt eine Grimasse. „Ich hatte wirklich keine Ahnung, was da drin war.“ Vielleicht schmälerte das das Ausmaß der Peinlichkeiten, vielleicht hielt er mich aber auch für total naiv.
„Ja, das war mal wieder eine Glanzleistung von Kala.“ Trotz der deutlichen Missbilligung, die in diesem Satz mitschwang, klang es, als wäre er mit anderen Leistungen Kalas durchaus vertraut.
Erneute Unsicherheit keimte in mir auf. Ich fasste mir ein Herz. „Seid ihr eigentlich, also du und Kala meine ich, seid ihr … zusammen?“
Er sah mich an, als hätte ich ihn gefragt, ob er mich kommenden Dienstag zum Synchronschwimmen begleiten würde. „Wieso denkst du das? Du hast gestern schon so komische Sachen gesagt.“
Ich versuchte, die Erleichterung, die mich durchströmte, vor Louis und meinem Verstand zu verbergen. „Es hatte den Anschein“, sagte ich leichthin. „Und die komischen Sachen, die ich gestern gesagt und getan habe – wobei ich mich an einen Großteil anscheinend nicht mehr erinnere – bitte ich zu entschuldigen.“ Weil ich ihm plötzlich nicht mehr in die Augen sehen konnte, begann ich hochkonzentriert, am Knopf meiner Weste herumzunesteln. Dennoch spürte ich seinen Blick auf mir lasten. Das war feige! Amnesie! Wie billig! Ich verachtete mich selbst.
„Du musst dich nicht entschuldigen“, erwiderte Louis nach einer kurzen Pause und seine Stimme klang rau, aber sehr sachlich. „Eigentlich wollte ich mich bei dir entschuldigen.“
Ich sah verwirrt auf. „Warum das denn?“ Du hast dir die halbe Nacht um die Ohren geschlagen, nur weil ich ein Stück Kuchen zu viel hatte – was gibt es da zu entschuldigen?
„Ich hätte deinen Zustand nicht ausnützen dürfen.“ Jetzt war er es, der wegsah.
Verständnislos schüttelte ich den Kopf. „Hast du nicht.“ Es war doch schön! Ich biss mir auf die Zunge. Sag jetzt nichts Falsches, Ell.
„Aber die Situation hätte dich in Schwierigkeiten bringen können. Das hätte ich nicht zulassen dürfen.“
„Hast du nicht“, wiederholte ich. „Ich hätte mich schon ganz alleine in Schwierigkeiten gebracht.“
„Ja, dafür hast du wohl wirklich Talent.“ Er blickte mich halb spöttisch, halb niedergeschlagen an. „Jedenfalls war es unpassend und unnötig und generell keine gute Idee und es tut mir leid, dass ich es so weit habe kommen lassen.“
Diese Formulierung gefiel mir nicht. Mein Herz fand, dass es, wenn vielleicht auch unpassend und unnötig, trotzdem eine total gute Idee gewesen war. Aber mein Verstand hatte jetzt die Regie übernommen und ich sagte fest: „Es gibt meiner Ansicht nach jedenfalls nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest. Danke, dass du mit mir auf Polly gewartet hast.“ Das klang unverbindlich. Beinhaltete aber das Geständnis, dass ich mich an diesen Teil des Abends sehr wohl erinnerte. Ist das jetzt gut oder schlecht? fragte ich mich.
Sein neutraler Gesichtsausdruck gab mir keine Antwort darauf. „Kein Problem.“
„Dann ist alles geklärt“, stellte ich fest. Ist es das?
„Genau.“
„Gut.“
„Gut.“
Wir starrten uns unschlüssig an. Ich hätte eine Umarmung nett gefunden, aber das wäre sehr kontraproduktiv gewesen und mein Verstand lief jetzt schon fast Amok, dass ich immer noch hier stand, anstatt mich auf den Rückweg zu machen. Also gab ich mir einen Ruck.
„Gut“, wiederholte ich. „Dann gute Nacht.“ … und ein schönes weiteres Leben, setzte ich im Geiste hinzu und der Gedanke tat mehr weh, als er sollte. Unsinn. Los jetzt.
„Gute Nacht“, sagte Louis mit unbewegter Stimme.
Da er an Ort und Stelle stehenblieb, war es wohl an mir, als erste zu gehen. Wie immer. Ich unterdrückte ein Seufzen und verließ den Stall.
Sehr gut, sagte ich mir auf dem Rückweg ins Hauptgebäude. Alles geklärt. Alles bestens.
Dieses neue Mantra wiederholte ich in den nächsten Wochen so lange, bis ich es fast glauben konnte. Es wechselte sich mit Louis’ Worten in meinem Kopf ab, unpassend und unnötig und generell keine gute Idee. Wobei sie gut klangen, wenn ich sie dachte. Wenn ich sie jedoch in meinem Kopf mit Louis’ Stimme hörte, hinterließen sie immer noch einen bitteren Nachgeschmack.
Wenn ich ihm begegnete, ignorierte ich ihn, so wie er mich ignorierte. Das mit dem freundlichen Grüßen schenkte ich mir. Dazu hätte ich ihm in die Augen sehen müssen, aber das hätte Wunden aufgerissen, die eigentlich gar nicht existieren sollten.
Langsam – zu langsam für meinen Geschmack – wich der kalte Westwind einem weicheren, der einen ersten Hauch von Frühling mit sich brachte. Der letzte Schnee schmolz und kam nicht wieder. Ich hatte den Dienst in der Lederverarbeitung hinter mich gebracht, und arbeitete nun in der Stoffherstellung. In den ersten vier Wochen wurde mir dort gezeigt, wie man aus Hanf-und Leinenfasern Textilien anfertigte, danach sollte ich beim Einfärben mithelfen.
Zawadi, eine wahrhaft walkürenhafte Amazone mittleren Alters mit langen roten Haaren, überwachte den gesamten Bereich. Sie erklärte mir an meinem ersten Tag in der Färberei mit knappen Worten, was ich zu tun hatte, bevor sie rasch wieder verschwand, um sich ihren Aufgaben in der Weberei zu widmen.
In der Textilfärberei war es, wo ich Dante kennenlernte. Versonnen rührte ich gerade mit einem Holzpaddel in den Bottichen und versuchte, eine Farbveränderung des Stoffes seit dem letzten Umrühren zu erkennen. Ich hatte niemanden hereinkommen hören und erschrak, als plötzlich neben mir ein weißhaariger Kopf auftauchte, der ebenfalls neugierig in die trübe Brühe starrte. Vor Schreck ließ ich den Rührstab fallen. Erst nachdem ich ihn mit Hilfe von Handschuhen und zweier weiterer Holzpaddel wieder herausgefischt hatte, konnte ich mich dem Besucher widmen, der mich so abrupt aus meiner meditativen Färbearbeit gerissen hatte.
„Entschuldige, dass ich nicht angeklopft habe“, sagte der weißbärtige Herr, der bestimmt schon auf die Achtzig zuging und wie ich eine dunkle Schürze trug, die vor Farbspritzern schützen sollte. „Ich wusste nicht, dass ich heute Hilfe bekomme, und dachte, ich wäre allein hier.“
„Kein Problem“, erwiderte ich, „mir ging es genauso. Ich bin Ell.“
Er wirkte überrascht, wohl darüber, dass ich mich vorgestellt hatte, vielleicht auch, weil ich überhaupt auf seine Entschuldigung eingegangen war. „Dante“, sagte er und erklärte: „In der Färberei finden sich nicht oft freiwillige Helfer ein, weißt du, die Damen schätzen den Geruch hier nicht so besonders. Man ist hier ziemlich weit ab vom Schuss in gewisser Weise.“
Ich fand es lustig, dass er von den Amazonen als Damen sprach, das Wort schien so gar nicht geeignet, die wehrhaften Amazonen zu beschreiben. Andererseits passte es gut in Dantes Wortschatz, wie ich feststellen sollte. Er war der Typ, den man sich gern als Opa vorstellte, zumindest, wenn man so wie ich seinen Großvater nie kennengelernt hat. Ich hätte ihn jedenfalls vom Fleck weg adoptiert. Seine Augen schienen stets zu lächeln, er hatte einen aufrechten Gang und sprach sehr gewählt. Auch die abgetragene Kleidung, die er trug, konnte seinem imposanten Erscheinungsbild keinen Abbruch tun.
„So besonders ist der Geruch ja auch nicht“, gab ich zu.
„Man gewöhnt sich auch nicht dran“, vertraute er mir an. „Wobei ich das noch nicht mit Sicherheit sagen kann. Ich arbeite erst seit zwei Jahren hier, seit mein Rücken die Arbeit auf dem Feld nicht mehr so richtig mitmacht. Vielleicht akklimatisiere ich mich noch.“
Nun war es an mir, mich darüber zu wundern, dass er einfach so mit mir sprach. Offenbar war er hier wirklich ein bisschen vereinsamt – und auf der anderen Seite: Falls die Amazonen die Färberei wirklich so verabscheuten, wie er sagte, würden sie uns auch nicht ertappen und zur Rechenschaft ziehen können, wenn wir uns die Arbeitszeit mit der einen oder anderen Unterhaltung vertrieben.
„Bist du denn schon lange hier?“, fragte ich und fing wieder an, die Stoffe zu wenden.
Dante war zu einem Leinensack in der Ecke gegangen und fing an, mit einer kleinen Schaufel Stücke von Erlenrinde in einen Holzeimer zu füllen. „Oh, schon über fünfzig Jahre“, sagte er. „Zweiundfünfzig, um genau zu sein.“
Dante schien mir ein weitaus angenehmerer Gesprächspartner als Louis zu sein, wenn es darum ging, das Los der Amazonenarbeiter zu verstehen, deswegen fragte ich weiter: „Und warum? Was hat dich dazu bewegt, für Themiskyra zu arbeiten?“
Er sah auf und ich konnte ein Funkeln in seinen hellen Augen erkennen. „Was ist es, was den Menschen bewegt? Die einzige Sklaverei, die als Vergnügen empfunden wird, wie Bernard Shaw sagte?“
Überfordert mit dieser plötzlichen literarischen Anwandlung schüttelte ich nur den Kopf.
„Die Liebe!“ rief Dante enthusiastisch und setzte sich auf einen Schemel, um die Rindenstücke mit der Handschaufel zu zerkleinern. Er schien vor sich hin zu sinnieren und ich überlegte schon, ob er überhaupt weiterreden würde, als er schließlich sagte: „Als ich noch jung war, so jung wie du“, er sah auf und warf mir einen prüfenden Blick zu, um dann seine Aussage zu relativieren, „nun, wenn man es genau nimmt, ein ganzes Stück älter als du, lernte ich eine wundervolle Frau kennen, ganz anders als die anderen Mädchen zu der Zeit. Sie zeigte nicht diese Hilflosigkeit, die den Frauen aus gutem Hause damals als Tugendhaftigkeit anerzogen worden war. Im Gegenteil, sie war selbstbewusst, klug und wusste, was sie wollte. Leider nicht mich, denn sie war eine Amazone, wie ich herausfand, als ich ihr heimlich folgte. Mein Herz war in Liebe zu ihr entbrannt, ich schwor ihr tausend Liebeseide und flehte sie an, bei mir zu bleiben.“
Mein Rührholz wäre mir fast ein weiteres Mal in den Bottich gefallen, so gebannt lauschte ich den Worten des alten Herrn.
„Aber ihr Sinn stand fest. Nie hätte sie ihr Wesen für einen Mashim, für mich geändert. Und ich begriff, dass ich sie genau aus diesem Grund liebte, auch wenn es mir fast das Herz brach. Doch mir war klar, dass ich ohne sie nicht mehr sein konnte, deswegen begann ich, mich als Arbeiter in Themiskyra zu verdingen. So konnte ich sie zumindest aus der Ferne sehen, wenn ich auch wusste, dass wir nie zusammen sein würden. Als Themiskyra hierher umzog, kam ich mit. Ich wäre ihr überall hin gefolgt.“
Die Erzählung schien ihn nicht traurig zu stimmen, aber mir entfuhr ein tiefer Seufzer.
„Das ist ja schrecklich“, sagte ich.
„Ist es das?“, fragte Dante und lächelte. „Ich kann mich wohl eher glücklich schätzen, dass ich die wahre Liebe kennenlernen durfte, das Glück wird nicht jedem zuteil. Philippa, der Amazone, von der ich sprach, war es nicht vergönnt und dafür bedauere ich sie.“
„Philippa?“, fragte ich nach. Es konnte ein Zufall sein, aber das Alter würde passen.
„Ja.“ Mit einem Mal sah er besorgt aus. „Geht es ihr gut? Ich weiß, dass sie in der Klinik ist, aber es ist doch alles in Ordnung?“
„Soweit ich weiß, ja“, beruhigte ich ihn. „Sie ist nur …“ Ich rang um Worte, wollte die Illusion des alten Herrn nicht zerstören, die er sich von der Angebeteten machen mochte. „Ich denke, das Alter hat sie verändert. Sie ist …“ Ich zögerte.
„Nun?“ Dante sah mich mit strengem Blick an und ich gab auf.
„Sie ist eine fiese alte Hexe.“
Zu meiner Überraschung lachte er auf. „Früher war sie eine fiese junge Hexe“, erklärte er und, als sei damit alles in bester Ordnung, setzte er seine Tätigkeit fort.
„Und du?“, fragte er nach einer Weile. „Dich habe ich noch nicht so oft gesehen. Kommst du aus einer der anderen Amazonenstädte?“
„Nein, ich bin erst seit …“ Ich musste nachrechnen. „… seit einem knappen Jahr hier. Davor wusste ich gar nicht, dass ich hierher gehöre.“
„Und jetzt weißt du, dass du hierher gehörst?“
„Naja, meine Mutter ist hier“, antwortete ich.
„Gehörst du dorthin, wo deine Mutter ist?“ Dante hatte eine Art, Fragen zu stellen, die einen manchmal ziemlich verwirrte, das würde ich noch öfter feststellen. Aber sie konnten einem helfen, die Welt aus einem etwas anderen Blickwinkel zu sehen, wenn man sich darauf einließ.
„Ich habe sonst niemanden und ich finde es schön, in der Nähe meiner Mutter und meiner Schwester zu sein“, sagte ich schlicht. „Außerdem gefällt es mir hier.“
Das schien er als Antwort zu akzeptieren. Nachdem die Rinde zerkleinert war, füllten wir sie in einen der Bottiche und gossen Wasser darauf.
„Das muss nun ein paar Tage einweichen“, erklärte Dante.
„Welche Farbe wird das?“, fragte ich, als ich über den Rand des Troges blickte.
„Schwarz. Aber eher ein helles Schwarz, wenn so etwas überhaupt existiert. Wenn wir den Stoff danach mit Indigo überfärben, wird er dunkler.“
Er begann, mir zu erzählen, wie die neuen Färbepflanzen in der Renaissance nach Europa kamen und wie wertvoll sie damals waren.
„Und nun, nach dem Verfall ist es wieder so. Dank der Verbindungen zu Amazonengemeinschaften in anderen Ländern ist es uns möglich, an die Pflanzen zu kommen, aber der Weg ist lang und gefährlich. Musst du nicht zum Abendessen?“, fragte Dante schließlich. Die Zeit war wie im Fluge vergangen.
„Äh, kann gut sein“, sagte ich und schaute aus dem kleinen Fenster nach draußen. Der Hof lag verlassen da, deswegen vermutete ich, dass der Gong tatsächlich bald ertönen würde. „Zawadi hätte mir ruhig Bescheid sagen können“, schimpfte ich.
„Sie meidet die Tröge und ihren Odeur“, bemerkte Dante. „Sollte ich dich zu lange von deinen anderen Pflichten abgehalten haben, bedaure ich dies.“
„Ach was, ich danke dir! Das war sehr interessant.“ Ich zog meinen Umhang über. „Schönen Feierabend“, wünschte ich und drehte mich vor der Tür nochmal um. „Du hast doch jetzt auch frei, oder etwa nicht? Musst du noch etwas machen? Soll ich dir helfen?“
Er winkte ab. „Lauf nur, kleine Amazone. Ich stelle nur die Temperatur noch herunter, damit uns die Farbe nicht über Nacht überkocht, und dann gehe ich auch.“
„Gut, dann bis morgen!“, rief ich und lief ins Haupthaus.
Das Gespräch mit Dante hatte mich irgendwie beflügelt. Ich mochte ihn und die alten Geschichten, die er mir erzählte, die so gar nicht amazonenhaft gefärbt waren. Außerdem lenkten mich die Gespräche ab: Ich kam gar nicht in die Verlegenheit, mir die Zeit mit Tagträumereien über einen gewissen Erntehelfer zu vertreiben. Und der Klang seiner sonoren Stimme war eine angenehme Abwechslung zu den mich sonst ständig umgebenden Frauenstimmen. Ich stellte fest, dass ich mich richtig auf den nächsten Tag freute.
„Ich habe über deine Geschichte nachgedacht“, gestand ich Dante am nächsten Tag.
„Welche?“, wollte er wissen. „Die über Karl I. von Spanien und seinen schwarz tapezierten Palast?“
Ich verneinte. „Die über dich und Philippa.“
Plötzlich kam ich mir sehr indiskret vor und schämte mich, in anderer Leute vergangenem Liebesleben herumzuwühlen, aber als Dante aufblickte, sah ich seine Augen amüsiert glitzern.
„Nun?“, fragte er.
„Wäre es nicht besser gewesen, sie ziehen zu lassen? Wärest du nicht irgendwann darüber weg gekommen und hättest ein neues Leben anfangen können, woanders, in Freiheit?“
Er lachte. „Das meint mein Sohn auch immer. Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut, sagt Perikles – und wäre es mutig gewesen, wieder nach Hause zu gehen und mein altes Leben wiederaufzunehmen?“
Ich übersprang den Perikles geistig, weil ein anderes Wort meine Aufmerksamkeit in Beschlag genommen hatte.
„Dein Sohn? Du hast einen Sohn mit Philippa?“, fragte ich verwundert. Das passte nicht zusammen.
„Nein, um Himmels Willen, hast du nicht zugehört gestern?“, rügte mich Dante. „Sie hätte doch ihre der Göttin gelobte Jungfräulichkeit nicht aufgegeben, schon gar nicht für mich!“
Ich entschuldigte mich eilig für meine unbedachte Äußerung.
„Schon gut“, sagte er milde. „Ich habe mich auch nicht korrekt ausgedrückt. Nicht mein leiblicher Sohn ist es, der meine Entscheidung in Frage stellt, sondern Louis, mein Pflegesohn.“
Dante – Pflegesohn – Louis – Großvater?
Entgeistert ließ ich mich auf den Schemel plumpsen. All diese Puzzlestücke purzelten durch mein Gehirn, weigerten sich aber hartnäckig, ein stimmiges Bild abzugeben.
„Alles in Ordnung?“, fragte Dante und sah mich prüfend an.
„Völlig“, versicherte ich und rieb meine Stirn, als ob ich die Puzzleteile damit an die richtigen Stellen hätte schieben können. „Woher … wie kommst du zu einem Pflegesohn?“, fragte ich ungeschickt.
„Hm, und ich hatte gehofft, wir könnten über den Freiheitsbegriff und seine Interpretation in den vergangenen zweitausend Jahren diskutieren“, brummelte er in seinen Bart, aber ich sah an seinen Augen, dass er sich über mich lustig machte.
„Später“, versprach ich.
„Er ist ein Findelkind. Ich habe ihn gefunden und quasi adoptiert“, sagte Dante schlicht.
„Wie das?“, wollte ich wissen.
„Das ist eine längere Geschichte“, meinte er zögerlich.
„Nun, Zeit haben wir genug.“ Ich würde mich jetzt nicht davon abbringen lassen. Ich wollte die Wahrheit wissen.
Er schritt langsam und nachdenklich die Tröge ab, bevor er endlich zu erzählen begann. „Es war im Frühling vor einundzwanzig Jahren. Ich war auf dem Weg zur Arbeit und ritt gerade durch ein Waldstück, da hörte ich plötzlich etwas ganz erbärmlich schreien, also stieg ich ab und ging dem Geräusch nach, bis ich einen Säugling hinter einem Gebüsch auf dem Boden fand. Einen kleinen Buben. Der Wildlederumhang, in den er eingewickelt war, und die Nähe zu Themiskyra legten den Verdacht nahe, dass er ein unerwünschter Amazonensohn war, der ausgesetzt worden war, anstatt ordnungsgemäß zu seinem Vater gebracht zu werden.“
Wut kochte so unvermittelt und grell in mir hoch, dass mein Hocker mit einem lauten Knall nach hinten umkippte, als ich aufsprang. „Nein.“
„Die Amazonen entledigen sich ihrer Söhne normalerweise ja nicht auf diese Weise“, versuchte Dante, mich zu beruhigen. „Ich wusste, dass er nicht überleben würde, wenn sich keiner um ihn kümmern würde – es war ohnehin ein Wunder, dass er noch keinem Wolfsrudel zum Opfer gefallen war – deswegen nahm ich mich seiner an.“
Zum Glück. Ohne meine Augen von Dante abzuwenden, stellte ich den Schemel wieder auf und nahm Platz.
„Er wuchs und gedieh und ich gewann ihn lieb. Vor den Amazonen verheimlichte ich den Kleinen. Ich fürchtete, dass die Frau, die ihn damals ausgesetzt hatte, sich rächen würde, falls bekannt würde, was ich – und vor allem, was sie getan hatte. Die anderen Arbeiter kannten natürlich die wahre Geschichte – sie halfen mir, wo sie konnten, den Kleinen aufzuziehen. Ich konnte ihnen vertrauen. Zu dieser Zeit waren wir nicht sehr viele und hielten zusammen, deshalb musste ich von ihrer Seite keinen Verrat fürchten. Irgendwann jedoch, als Louis anfing, herumzulaufen und das Gelände zu erkunden, flog die Geschichte auf, denn die Amazonen wunderten sich natürlich, wo der kleine Junge herkam. Ich erzählte ihnen, dass er das Kind einer Arbeiterin sei, das sie zurückgelassen habe und um das ich mich nun kümmere. Da es ja nur ein Junge war, konnten sie die Geschichte wohl nachvollziehen und glaubten sie. Die Bedingung, dass er bleiben durfte, war natürlich, dass auch er für Themiskyra arbeiten musste.“
„Und mir erzählst du das einfach so?“, fragte ich ungläubig.
„Du scheinst mir vertrauenswürdig zu sein. Außerdem: Louis ist volljährig und braucht mich nicht mehr. Warum sollte ich weiter Lügenmärchen erzählen? Das Beste wäre, wenn die ganze Geschichte herauskäme und sie ihn verbannen würden. Dann könnte, nein, müsste er endlich von hier weg. Das ist es, was er sich am sehnlichsten wünscht.“ Er klang traurig.
„Er würde dich nie verlassen“, sagte ich gedankenverloren. Mir wurde erst bewusst, dass ich mich verraten hatte, als ich Dantes überraschten wachsamen Blick wahrnahm.
„Du kennst ihn.“ Dann fiel der Groschen. „Du bist die kleine Amazone von der Apfelplantage mit der Heuschreckenphobie“, sagte er langsam.