KAPITEL 15

„Woher bekommt ihr eigentlich das Essen?“, rang ich mich am nächsten Vormittag durch zu fragen.

„Für unsere Arbeit erhalten wir Marken. Die können wir dann umtauschen in Nahrung, Getränke, Kleidung und so weiter“, erklärte Louis.

„Und ist es fair?“, bohrte ich weiter. „Reicht das, was ihr bekommt?“

Deutlicher wollte ich auf seine kärgliche Mittagsration nicht anspielen.

„Fair!“ Er lachte sarkastisch, besann sich dann aber auf meine Frage. „Ja, im Grunde genommen reicht es. Die Rationen, die wir erhalten, sind aber auch abhängig davon, wie viel insgesamt da ist. Wenn die Ernten schlecht sind, bekommen wir auch weniger.“ Er sah sich zu mir um. „Du fragst das alles, weil du Angst hast, dass ich verhungere und du den Rest alleine pflücken musst, stimmt’s?“

„So ungefähr“, gab ich zu und betrachtete den Apfel in meiner Hand ganz genau, weil ich Louis nicht in die Augen sehen wollte. „Vielleicht solltest du ab und zu auch etwas Obst essen. Vitamine sind wichtig!“ Ich warf ihm den Apfel zu.

Er fing ihn. „Wir dürfen uns nicht einfach was davon nehmen“, und warf ihn mir zurück.

„Warum?“, fragte ich verständnislos.

„Sonst würde von der Ernte nicht viel überbleiben, weil sich alle mit Vorräten eindecken und den Rest im Umland gegen andere Dinge eintauschen würden.“

„Dann schenke ich ihn dir“, beharrte ich und pfefferte den Apfel wieder zurück.

„Das darfst du nicht.“ Der Apfel landete wieder bei mir.

„Es wird keiner erfahren“, sagte ich verschwörerisch und schmiss den Apfel zurück.

Louis legte den Apfel entschieden in seinen Korb und nahm die Arbeit wieder auf.

„Mann“, schnaubte ich und begann zu pflücken – und aus Protest mein gestriges Selbstgespräch wieder aufzunehmen: „Ell, manchmal frage ich mich, warum manche Leute wider Sinn und Verstand so stolz sein müssen. – Ja, ist mir auch ein Rätsel. Aber wenn dann der Skorbut um sich greift, ist das Geschrei groß.“

„Was weißt du denn über Skorbut?“, unterbrach Louis mein Gebrabbel.

Ich blickte mich nochmal um. „Oh, ich weiß einiges über Skorbut. Noch mehr weiß ich allerdings über Cholera und Typhus. Aber das ist eine traurige Geschichte, mit der ich dein vitaminarmes Obstpflückergehirn nicht belasten möchte.“

Das war die Retourkutsche dafür, wie er mich gestern abgefertigt hatte. Er sagte nichts dazu. Ich sah ihn zwar nur von hinten, aber ich bemerkte, dass sich sein Ohr ein paar Millimeter nach oben schob, was gemeinhin passiert, wenn Leute grinsen. Oder wenn sie Grimassen schneiden, weil sie tödlich genervt sind. Naja.

Es gelang uns an diesem Tag tatsächlich, mit den Äpfeln fertig zu werden, und gegen die Mittagszeit brachten wir die Erntemaschine und unsere Pferde auf die andere Plantage hinüber. Anschließend machten wir Pause und ich drückte Louis erneut mein am Morgen zubereitetes Zweitsandwich aufs Auge. Diesmal blieb ich bei ihm und den Pferden stehen. Wahrscheinlich war das auch mal wieder unpassend, aber ich hatte wohl das Recht, meinen Proviant dort zu verzehren, wo ich es wollte. Ich betrachtete unsere friedlich grasenden Aspahet.

„Wie heißt er?“, fragte ich zwischen zwei Bissen und nickte in Richtung des großen Jütländers.

„Boreas“, sagte er und setzte nach einer Weile hinzu: „Ihr würdet gut zusammenpassen – vom Namen her, meine ich.“

„Wieso?“

„Boreas ist der Nordwind in der griechischen Mythologie, einer der vier Windgötter“, erklärte er. „Der Name passt, denn er wurde in der Kunst oft als Pferd dargestellt. Und woher dein Name kommt, wirst du wohl wissen.“

Ich nickte. Soviel hatte ich mir immerhin schon angelesen. Aella war eine der Amazonen gewesen, die mit Herakles um den Gürtel der Basilissa Hippolyta gekämpft hatte, aber unterlegen war – angeblich! Ihr Name bedeutete Wirbelwind. Insofern hatte Louis recht. Nordwind und Wirbelwind wären bestimmt ein gutes Team.

„Aber woher weißt du das alles?“, fragte ich Louis. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Amazonen ihn am Unterricht hatten teilnehmen lassen.

Er zuckte die Schultern.

„Wo bist du in die Schule gegangen?“, fragte ich präziser.

„In Goldvelt, ein paar Kilometer weiter. Dort ging die Schule bis zur sechsten Klasse, danach unterrichtete mich mein Großvater, weil alle weiterführenden Schulen zu weit entfernt gewesen wären.“

Das schien mir ein sehr gebildeter Großvater zu sein, zumindest für einen Mann, der Hilfsarbeiter bei den Amazonen war. „Wie lange ist dein Großvater schon hier?“

„Sehr lang. Ich weiß es nicht genau.“ Er seufzte. „Du bist ganz schön anstrengend.“

„Pff, wenn du dir nicht alles so aus der Nase ziehen lassen würdest, müsste ich nicht dauernd nachfragen“, erwiderte ich empört.

„Ich verstehe gar nicht, warum du das überhaupt alles wissen willst“, sagte er halb widerwillig, halb ungläubig und schüttelte den Kopf.

Das fragte ich mich auch selbst manchmal. Für mich hing es einerseits mit der ersten, rätselhaften Begegnung zusammen und andererseits mit dem Interesse daran, was in Themiskyra wirklich geschah, aber das konnte ich ihm natürlich so nicht sagen. Definitiv nichts hatte es auf jeden Fall damit zu tun, dass er mir das Leben gerettet hatte, und das war das Wichtigste.

„Ich interessiere mich eben für die Menschen um mich herum. Außerdem ist hier immer noch alles ziemlich neu für mich. Ich quäle auch alle anderen mit meiner Neugier, frag nur Polly, die kann ein Lied davon singen.“

Er sah mich vielsagend an, denn natürlich würde er sie nicht fragen, das gehörte sich ja nicht. Ich hatte keine Lust auf eine Grundsatzdiskussion, deswegen kam ich auf das ursprüngliche Thema zurück.

„Gehört Boreas dir?“ Ich vermutete, nicht, denn Louis hätte ihm bestimmt keinen antiken Namen gegeben. Das war mehr so ein Amazonen-Ding.

„Anfangs nicht, da war er nur eine Dauer-Leihgabe, damit ich meine Arbeit machen kann. Aber inzwischen gehört er mir.“

„Wie das?“

„Eingetauscht gegen Arbeit“, antwortete er knapp.

Das kam mir irgendwie sinnlos vor, er hätte das Pferd ohnehin für die Arbeit verwenden können – warum also mehr arbeiten, damit es pro forma ihm gehörte? Aber das hatte wohl etwas mit Stolz zu tun und dem Wunsch danach, zumindest ein kleines bisschen Eigentum zu haben und unabhängiger zu sein. Da das Gespräch gerade einigermaßen gut lief, wollte ich das Eisen schmieden, solange es heiß war, und wagte beiläufig die Frage: „Wieso hast du mich so angesehen, damals, auf dem Hof?“

„Wann?“

„An meinem ersten Morgen in Themiskyra.“

„Keine Ahnung, wann das war. Ich erinnere mich nicht“, behauptete er und betrachtete eingehend seinen linken Stiefel.

„Doch, tust du. Wir haben kürzlich darüber gesprochen.“

„Ach das“, sagte er lahm und zögerte. „Wie habe ich dich denn angesehen?“

„Sauer. Mindestens. Eher wütend“, versuchte ich, den Eindruck in Worte zu packen, ohne ihn dabei zu beleidigen.

„Glaube ich nicht.“

„Doch.“

„Das bildest du dir ein.“

„Nein.“

„Ich kannte dich doch gar nicht, warum sollte ich das also tun?“

„Eben! Warum also hast du es getan?“

„Habe ich ja gar nicht.“

Frustriert suchte ich nach irgendwelchen Argumenten, um meine Sicht der Dinge zu beweisen, aber meine Gedanken wurden von einer berittenen Gestalt unterbrochen, die sich auf dem Feldweg unserem Pausenplatz näherte. Als sie auf ein paar Meter herangekommen war, erkannte ich Juri, den blonden Arbeiter.

„Hi“, begrüßte er Louis – nicht mich natürlich, ich wurde ignoriert, aber das kannte ich ja schon – und schwang sich vom Pferd, um ihm die Hand zu geben.

„Hi! Was machst du hier?“, fragte Louis und ich hatte das Gefühl, Erleichterung in seiner Stimme zu hören. Immerhin war er so um die Fortsetzung meines Verhörs herumgekommen.

„Ich muss zurück nach Themiskyra, Werkzeug holen. Die Erbsenerntemaschine ist hin“, erklärte der andere.

„Mal wieder“, merkte Louis an und grinste. „Das kenne ich vom letzten Jahr. Nervig.“

„Es wäre nicht so schlimm, wenn ich nicht von gestern noch so einen Kater hätte“, Juri wischte sich den Schweiß von der Stirn und besah sich den hiesigen Baumbestand. „Außerdem sind wir ohnehin schon im Rückstand.“

Bevor ich einen weiteren Wortwechsel über Obst und Gemüse – oder schlimmer noch: Erntemaschinen über mich ergehen lassen musste, machte ich durch ein dezentes Räuspern auf mich aufmerksam und sagte: „Hallo.“

Die beiden sahen mich an, Louis eher zweifelnd und sein Kumpel erstaunt. Ja, ich bin auch da. Und ich kann sprechen.

„Hi“, sagte er etwas überrumpelt und blickte mir neugierig entgegen, so als hätte er mich tatsächlich erst jetzt wahrgenommen. Vermutlich war er jedoch einfach überrascht, dass eine Amazone freiwillig mit ihm sprach.

„Ell, Juri. Juri, Ell“, stellte Louis uns unwillig vor.

Juri wandte sich mir ganz zu, zog einen imaginären Hut und deutete eine kleine Verbeugung an. „Ich bin hocherfreut. Wir hatten ja bereits vor geraumer Zeit im Wald das Vergnügen. Leider habe ich Euren Pfeil nicht ausfindig machen können.“

Überfordert mit so viel Höflichkeit nach all den eher zähen Gesprächen mit Louis nickte ich gemessen und brachte hervor: „Ich auch nicht. Leider.“ Nicht, dass ich noch danach gesucht hätte …

Louis sah so aus, als würde er sich unbehaglich fühlen. Er stopfte das Butterbrotpapier in seine Satteltaschen, seine Hände in die Hosentaschen und räusperte sich demonstrativ, so als wolle er jetzt gerne mit der Arbeit weitermachen.

Juri ignorierte ihn. „Und wie gefällt Euch die einfache Bauernarbeit, wertes Fräulein?“

„Oh, ausgesprochen gut.“ Ich konnte nicht verhindern, dass in meinen Worten eine gewisse Ironie mitschwang. „Es ist ein enorm interessantes Betätigungsfeld. Gestern noch Äpfel, heute schon Birnen – täglich neue Herausforderungen.“

„Nun, Ihr habt ja kompetente Hilfe, falls Ihr doch einmal überfordert sein solltet“, sagte Juri verbindlich und klopfte Louis anerkennend auf den Rücken, der eine gequälte Grimasse schnitt.

„Zweifelsohne“, stimmte ich zu.

„Wolltest du nicht Werkzeug holen?“, erinnerte Louis seinen Freund.

„In der Tat. Die verfluchte Erbsenerntemaschine – vergebt mir meine Ausdrucksweise. Sosehr ich es bedaure dieses Gespräch vorzeitig abzubrechen – Reparaturen von höchster Wichtigkeit verlangen meine Anwesenheit.“ Er stieg auf sein Pferd. „Die Begegnung mit Euch hat mir einmal mehr den Tag versüßt, Fräulein Ell.“

„Die Freude ist ganz auf meiner Seite“, erwiderte ich höflich. Zumal ich es mir diesmal gelungen ist, mich nicht wieder mit peinlichen Kommentaren lächerlich zu machen.

Er ritt Richtung Themiskyra davon und Louis schüttelte den Kopf.

„Entschuldige.“

„Was denn?“

„Ihn.“

„Wieso? Er war doch ganz reizend.“ Ich steckte immer noch im Vokabular aus dem vergangenen Jahrtausend fest.

Er gab einen unverständlichen Laut von sich und machte sich auf den Weg Richtung Erntemaschine.

„Louis?“, fragte ich, übermütig geworden.

„Was.“

„Warum hattest du es denn so eilig, Juri wieder loszuwerden?“ Ich lief im Schweinsgalopp neben ihm her, um mit seinen großen Schritten mithalten zu können.

„Hatte ich doch nicht.“

„Doch. Du hast mit den Hufen gescharrt.“

„Unsinn.“

„Du wolltest lieber wieder mit mir allein sein, stimmt’s?“ Das sagte ich nur aus Spaß, deswegen war ich auch nicht beleidigt, als Louis erneut knurrte:

„Unsinn.“

Ich musste lachen. „Seit wann ist er hier?“

„Juri? Er kam kurz nach dem Verfall nach Themiskyra.“

„Alleine?“ Inzwischen waren wir bei der Erntemaschine angekommen

„Er kommt ursprünglich aus Urba, siedelte aber nach dem Verfall in diese Gegend um. Sein Bruder und dessen Familie wohnen hier irgendwo in der Nähe. Aber denen wollte er nicht zur Last fallen, deswegen hat er hier angefangen.“

„Hast du Geschwister?“, fragte ich, ohne lang nachzudenken.

Falsche Frage. Sein Blick verdunkelte sich. „Nein“, erwiderte er schroff, sah weg und setzte einen Fuß auf die Leiter, um sich an den Aufstieg zu machen.

Ich seufzte innerlich und kraxelte auf meine Plattform. Als ich dort ankam, bemerkte ich, dass Louis immer noch unten stand und mich beobachtete. Allerdings ohne Groll, sondern hochkonzentriert. Ich begann, mich unbehaglich zu fühlen. Sein Blick glitt über mein Gesicht, wanderte über meinen Körper und gelangte schließlich wieder zum Ausgangspunkt, meinen Augen. Ich ignorierte das Gefühl dabei, das Ziehen in meiner Brust, nahe dem Herzen oder der Seele oder was auch immer dort sein mochte, und hob fragend die Augenbrauen. Das riss ihn aus seiner Betrachtung. Rasch kletterte er auf die Hebebühne und begann wieder mit der Arbeit.

Ich tat es ihm gleich, konnte mir aber ein gemurmeltes „Da frag ich mich schon, wer hier seltsam ist!“ nicht verkneifen.

 

Die Tage vergingen und als ich eines Abends am Wochenende im Bett lag, stellte ich fest, dass ich mich auf den nächsten Arbeitstag freute. Oder vielmehr, dass ich mich auf Louis freute.

Ach du lieber Himmel, kommentierte mein Verstand.

Es ist nicht so, wie du denkst. Und das stimmte. Was mich mit Vorfreude erfüllte, glich nicht den Schmetterlingen in meinem Bauch, die vor ein paar Monaten über ein Lächeln in Aufruhr geraten waren. Es war viel weniger als das. Und gleichzeitig viel mehr. Und dennoch viel harmloser. Mein Herz war nicht aufgewühlt, es hatte lediglich eine gewisse Grundwärme entwickelt, was Louis betraf.

Stimmt, bezeugte mein Herz. Bin null aufgeregt. Aber bin auch nicht mehr sauer.

 

Wenn ich einen Kalender gehabt hätte – und wenn ich gewusst hätte, welches Datum genau war – hätte ich mir diesen Tag mit Sicherheit angestrichen und mit einem roten Ausrufezeichen versehen: Der Tag, an dem Louis lachte.

Wir ernteten gerade den zweiten Tag Pflaumen, als mir ein schriller Schreckensschrei entwich. Ich ließ meinen Korb fallen, machte einen Satz zurück und kletterte rückwärts ein Stück die Brüstung meiner Hebebühne hoch, um möglichst viel Abstand zwischen den Korb und mich zu bringen. Trotz der Hitze war mir plötzlich eiskalt und ich kämpfte mit Übelkeit.

„Was ist denn los?“, ertönte Louis’ völlig erstaunte Stimme hinter mir.

Ich zeigte mit zitterndem Finger auf meinen Korb und rutschte noch ein bisschen weiter weg davon.

„Das ist ein Korb“, teilte er mir verständnislos mit. „Dein Korb. Mit dem arbeitest du jetzt schon drei Wochen zusammen.“ Er sah nach oben, wie um die Intensität der Sonne und die Möglichkeit eines Sonnenstichs zu überprüfen.

„Nein, da drin!“, brachte ich mühsam hervor.

„Pflaumen?“

Ich schüttelte panisch den Kopf. Er murmelte etwas von Hysterie und Wahnsinn und kletterte auf meine Plattform, um den Inhalt meines Korbes zu überprüfen. Ich konnte nicht hinsehen und kletterte meinerseits auf seine Hebebühne.

„Also, hier befinden sich Pflaumen, Pflaumen, Pflaumen, ein Blatt! Nicht sauber gepflückt!“, rügte er.

Ich schüttelte wieder den Kopf. Ein Blatt warf mich nicht so aus der Bahn. Dazu brauchte es schon einen –

„Grashüpfer?“, fragte er und hielt die entsprechende Pflaume mit dem ekligen kleinen grünen Tier in die Höhe.

„Uäääh, mach’s weg!“, schrie ich.

Und das war der Moment, in dem Louis loslachte, das erste Mal in meiner Gegenwart, laut, ehrlich und ohne Sarkasmus. Und eigentlich sehr sympathisch, nur dass ich mich in dem Moment nicht darauf konzentrieren konnte, weil ich von der Hebebühne absprang, um mich möglichst weit von dem Untier zu entfernen. Unten wartete ich in gebührender Entfernung missgelaunt die Lachsalve ab. Dass eine Amazone vor einem so kleinen Insekt Angst haben konnte, war ihm anscheinend ein Rätsel und gab Anlass für extreme Heiterkeit.

„Jetzt tu dieses Ding endlich weg!“, rief ich genervt nach oben, während er die Heuschrecke zu überzeugen versuchte, von der Pflaume auf seinen Zeigefinger umzuziehen. Jedoch – wie es nun mal bei Grashüpfern der Fall ist und weswegen ich die Biester auch so hasse – dieser zog es vor, mit einem plötzlichen Riesensatz davon zu springen. Zum Glück hüpfte er nicht in meine Richtung, aber ich erschrak trotzdem.

„Jetzt ist er weg“, teilte Louis mir überflüssigerweise mit und bemühte sich, sein Grinsen in den Griff zu bekommen.

Einen entsetzlichen, zauberhaften Augenblick lang fühlte ich mich in die Vergangenheit versetzt, an diesen Frühlingstag im Morgengrauen, an dem sein Lächeln mir gegolten hatte, an dem er mich an-und nicht ausgelacht hatte, und mein Herz geriet für eine Sekunde lang aus dem Takt. Mit Mühe löste ich mich aus meiner nostalgischen Erstarrung und zwang meine Augen und Beine dazu, sich in Bewegung zu setzen.

„Ja, danke“, grummelte ich grantiger, als nötig gewesen wäre, aber ich hatte das dringende Bedürfnis, meinen schwachen Moment zu kompensieren. Doch Louis schien ihn ohnehin auf meine Heuschreckenangst zu schieben und winkte ab.

„Jetzt hast du mich schon zum zweiten Mal gerettet“, sagte ich unvermittelt, als ich wieder auf die Hebebühne stieg, und bereute meine Worte schon, während ich sie aussprach. Die Ereignisse damals im Wasserkraftwerk und ihre Folgen waren so schön eingetütet und luftdicht verstaut und ich hatte im Grunde überhaupt keine Lust, darüber zu reden.

Warum tust du es dann? Warum kommst du jetzt mit der alten Geschichte an? Erwartest du, dass er dir erklärt, warum er so unfreundlich reagiert hat, nachdem du ihm die Vorräte zurückgegeben hast? Ich war mit seiner Schroffheit klar gekommen, so lange ich mir einreden konnte, dass ich ihn nicht mochte. Aber jetzt, da wir Arbeitskollegen, vielleicht sogar so etwas wie Freunde waren, hatte ich das Bedürfnis, die Sache von damals aufzuklären. Aber das war auf keinen Fall eine gute Idee, denn seine Unfreundlichkeit damals war der Schlüssel, der das Höhlenweibchen einsperrte – und es sollte hinter Schloss und Riegel bleiben. Ich bin eine Amazone!

Ich schlug meinen Kopf gedanklich mehrfach gegen das Metallgeländer der Plattform, als Bestrafung für die Idiotie, das Thema überhaupt anzusprechen, da erwiderte er: „Ja. Aber dieses Mal war es lustiger.“ In seiner Stimme war immer noch der leichte Nachhall der vorigen Lachsalve zu hören.

„Jedenfalls …“ Ich kämpfte kurz mit mir. „Ich bin dir wirklich dankbar.“

Er drehte sich um. „Jederzeit wieder. Aber versuch, solche Situationen zukünftig trotzdem zu vermeiden.“

„Definitiv“, erwiderte ich triumphierend. „Ich sollte wirklich nichts mehr pflücken. Das Risiko weiterer Begegnungen mit Heuschrecken ist viel zu hoch. Ich glaube, es ist weitaus sicherer, wenn ich mich unter den Baum dort in den Schatten lege und einen kleinen Nachmittagsschlaf halte.“ Ich liebe Bezugsfehler.

„Das könnte dir so passen.“ Immer noch sah ich leichten Spott in seinen Augen glitzern, als er mir meinen jetzt grashüpferfreien Korb in die Hand drückte. „Wir haben es ja bald geschafft.“

 

Louis und ich sprachen nach wie vor nicht besonders viel mit einander, wenn es auch jeden Tag ein bisschen mehr wurde und mir unsere Gespräche jeden Tag ein bisschen weniger mühsam vorkamen.

Manche meiner Fragen, die seine Vergangenheit betrafen, beantwortete er. So erfuhr ich, dass er die letzten fünfzehn Jahre nicht nur als Feld-und Waldarbeiter verbracht, sondern auch in anderen Bereichen mitgeholfen hatte, in der Schreinerei, der Schmiede, der Gerberei, im Solarkraftwerk, je nach dem, wo gerade Unterstützung benötigt wurde. Alles, was ich über seine Kindheit herausbekam, war, dass er als kleiner Junge stundenlang durch den Wald gestreift war und die Gegend wie seine Westentasche kannte. Wohingegen ihm der Rest der Welt völlig fremd war. Zumindest hatte er nichts davon mit eigenen Augen gesehen. Das, was er darüber wusste – und das war oft mehr als ich von mir behaupten konnte – hatte er aus den Erzählungen und Büchern seines Großvaters und der Leihbücherei von Goldvelt.

Als ich nach einigen Tagen das Gefühl hatte, alles erzählt zu haben, was mir zum Citey meiner Kindheit einfiel, ging ich auch auf das postapokalyptische Citey ein, darauf, wie die blühende Stadt sich seit dem Verfall verwandelt hatte. Ich wollte, dass er begriff, wie die Zustände dort wirklich waren und auf was er sich einließ, wenn er tatsächlich dorthin wollte. Doch auch die detailreichsten, grausamsten Schilderungen schienen ihn nicht schockieren zu können; sein Plan stand fest.

„Du willst da nicht hin“, sagte ich heftig.

„Doch“, erwiderte er trocken.

„Und dann? Wo willst du leben?“

„Ich finde schon was.“

Seine Sturheit ärgerte mich und seine Ignoranz dessen, was mein ursprüngliches Leben zerstört hatte, tat mir weh. „Klar findest du was. Irgendein dreckiges, verseuchtes Loch wird schon noch frei sein.“ Ich begann, mich in Rage zu reden. „Trotzdem wirst du spätestens am nächsten Tag vertrieben oder von Marodeuren totgeschlagen, wenn du nicht schon an der Cholera eingegangen bist, weil es kein sauberes Trinkwasser gibt, wie all die anderen, deren Leichen in zerstörten Häusern oder auf den Straßen verfaulen, oder weil du verhungert bist, weil du nichts, aber auch gar nichts besitzt, was du auf dem Schwarzmarkt für Lebensmittel eintauschen kannst, und selbst, wenn du all das überlebst und einen Ort gefunden hast, an dem du dich einigermaßen sicher fühlst, kommst du eines Tages nach Hause und findest Tod und Zerstörung vor, aber das ist noch nicht genug, denn so lange du noch atmest, ist es nie genug, und dann kommen sie wieder und …“

Erst mein schluckaufartiges Schluchzen stoppte meinen verzweifelten Redeschwall und riss mich in die Realität zurück. Mir wurde bewusst, dass ich nicht mehr dastand und pflückte, wie zu Beginn meiner Schilderung, sondern auf der Hebebühne kauerte, das kühle Geländer an den Schulterblättern. Meine Wirbelsäule schmerzte, wo sie an den Gitterstäben entlanggerutscht war und Tränen verschleierten meine Sicht. Nur schemenhaft sah ich, dass Louis mich von seiner Plattform aus anstarrte, aber ich konnte mir seine Miene auch so lebhaft vorstellen. Unbeeindruckt, weil er mir nicht glaubte, wütend, weil ich ihm seinen Traum schlechtredete, und vielleicht sogar etwas überheblich, weil er meinen Ausbruch völlig übertrieben fand.

War er ja auch. „Entschuldigung“, murmelte ich verlegen und wischte mir über die Augen. War es nur meine Vergangenheit, die sich so quälend wieder an die Oberfläche gewühlt hatte, oder war es die Angst vor der Zukunft? Louis’ Zukunft?

Langsam ließ er sich auf die Knie herab und begab sich auf Augenhöhe mit mir. „Was ist passiert?“, fragte er ruhig. Keine Arroganz weit und breit. Er wirkte einfach nur betroffen und teilnahmsvoll.

Ich winkte ab, aber er griff mit einer schnellen Bewegung zwischen den Gitterstäben hindurch und hielt meine Hand fest, so wie sein Blick den meinen festhielt. Mit der anderen wischte er mir sanft ein paar Tränen aus dem Gesicht.

„Ell?“

Ich klappte ein paar Mal den Mund auf und zu, weil ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich etwas sagen sollte oder nicht. Sein dunkler, warmer Blick, der an meiner Seele zog und mir das Gefühl gab, dass ich ihm vertrauen konnte, war es, der mich schließlich überzeugte.

Nach den ersten stockenden Worten strömten alle weiteren wie von selbst aus mir heraus. Ohne die vorherige Aufgebrachtheit erzählte ich fast nüchtern von den Geschehnissen, die mich dazu gebracht hatten, meine Heimatstadt zu verlassen. Ich berichtete davon, wie ich meinen Vater tot aufgefunden hatte, von den Kaiman und wie ich ihnen entkommen konnte, und dass Tetra mich nach Themiskyra gebracht hatte. Kein Wort über die Begegnung mit Lenno, die ging niemanden etwas an, schon gar nicht Louis.

Er unterbrach mich nicht und schien nicht zu bemerken, dass er mich immer noch berührte, obwohl er den Körperkontakt mit mir sonst immer vermied, wo er nur konnte. Sein Handgriff war fest und stark und tröstlich. Ungewohnt. Nicht unangenehm. Geborgen. Summend. Und meine Hand fühlte sich überraschend klein in seiner an, obwohl sie durch die Arbeit und das Training im vergangen halben Jahr stärker und sehniger geworden war.

„Jetzt weißt du, warum ich die Stadt so hasse. Citey“, schloss ich.

Er nickte langsam. Sein Blick wanderte zu unseren Händen, kehrte aber zurück zu meinen Augen, als er sagte: „Ja. Ich kann dich verstehen.“

Ich sah ihm das große Aber an, auch wenn er es nicht aussprach. Also tat ich es für ihn. „Aber du wirst dich trotzdem nicht davon abbringen lassen, habe ich recht?“

Er schloss die Augen und drückte meine Hand. „Du weißt nicht, warum ich diese Stadt so hasse. Themiskyra.“

„Nein. Das weiß ich nicht.“ Aber ich hatte es satt, keine Antworten auf meine Fragen zu erhalten. Ich wollte ihn nicht mehr drängen.

Er öffnete die Augen wieder, ließ seinen Blick in die Ferne schweifen und atmete ein, als wolle er zu einer Erwiderung ansetzen. Vor Spannung hielt ich die Luft an, weil ich dachte, dass er mir endlich offenbaren würde, wofür sich mein hochwohlgeborener Kopf nun womöglich doch als würdig erwiesen haben mochte. Doch dazu kam es nicht.

Unvermittelt entriss er mir seine Hand und zischte mir leise zu: „Da kommt jemand“, bevor er aufsprang, die Leiter hinabstieg und die Maschine bis zu der Stelle zurückfahren ließ, an der wir wegen meiner drastischen Darstellung der urbanen Apokalypse zu pflücken aufgehört hatten.

Währenddessen rutschte ich zu meinem Korb und beugte mich darüber, als sortiere ich das Obst. Sobald der Wagen den ersten ungeernteten Baum erreicht hatte, begann ich hastig zu arbeiten. Mit einem halben Auge suchte ich dabei den Horizont ab und erkannte eine berittene Frauengestalt, die inzwischen den Rand der Plantage erreicht hatte. Louis nahm die Arbeit ebenfalls wieder auf, aber in aller Ruhe. Ich unterdrückte den Zwang, mich nach der Reiterin umzuschauen, konzentrierte mich nur auf das Obst und bemühte mich, Puls und Hände zu beruhigen

„Aella?“

Ich wandte den Kopf, aber ich hätte nicht hinsehen müssen, um zu wissen, wer sich unten aufgebaut hatte.

„Hallo, Areto“, grüßte ich sie und zwang mich zu einem höflichen Lächeln. Was macht sie hier? Spioniert sie mir hinterher? War meine Freude, mit Louis weiterarbeiten zu dürfen, doch zu offensichtlich?

„Ich wollte nach dir sehen.“ Die Süße in ihrer Stimme biss sich wie Säure durch meine Gehörgänge. „Du warst ja über die Teamkonstellation sehr unglücklich. Da dachte ich mir, ich überzeuge mich selbst davon, dass es dir gut geht.“

Hallo? Wie kann sie so was sagen? Louis steht direkt hinter mir? Aber ich konnte meiner Empörung keinen Ausdruck verleihen. Ich steckte in der Zwickmühle. Wenn ich Areto berichtigte, verriet ich Louis. Wenn ich sie nicht berichtigte, verriet ich Louis.

Ich schluckte und sagte nur: „Das ist sehr nett, danke.“

Sie musterte mein Gesicht. Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine steile Falte.

Sie sieht, dass du geweint hast, flüsterte mein Verstand.

Ich unterdrückte den Drang, mir nochmal Tränen aus dem Gesicht zu wischen, die der warme Herbstwind schon lang getrocknet hatte. „Inzwischen sind wir ein ganz gutes Team, denke ich“, versuchte ich, die Situation irgendwie zu retten.

An ihrem Gesichtsausdruck erkannte ich, dass sie mir kein Wort glaubte. Sie musste davon ausgehen, dass ich die Tapfere spielte, obgleich ich mit der Situation kreuzunglücklich war – was sie anscheinend nicht im Geringsten bedauerte. Die optimale Lösung, begriff ich.

„Dann ist es ja gut. Unter dieser Voraussetzung wirst du sicher nichts dagegen haben, auch in der nächsten Woche noch so weiterzumachen.“

Obwohl ich völlig aufgewühlt war, konnte ich nur unter großer Anstrengung ein Grinsen unterdrücken. „Okay“, sagte ich stimmlos, bemühte mich, mit angemessener Erschütterung zu nicken und schickte einen schweren Seufzer hinterher.

„Nun, ich möchte dich nicht länger von der Arbeit abhalten. Wenn du etwas auf dem Herzen hast, kannst du selbstverständlich jederzeit zu mir kommen.“

Eher hänge ich mich an dem Zwetschgenbaum da drüben auf. „Vielen Dank, Areto.“

Sie nickte mir hoheitsvoll zu, bevor sie sich umwandte und zu ihrem Pferd zurück schritt.

Dann kippte mein Triumph in Niedergeschlagenheit um.

„Louis?“, fragte ich nach einer Weile leise. Obwohl Areto mittlerweile schon über alle Berge sein musste, saß mir der Schreck über ihr plötzliches Auftauchen noch zu sehr in den Knochen, als dass ich es gewagt hätte, lauter zu reden.

„Hm?“

„Es tut mir leid, dass sie das gesagt hat.“

„Sie wird ihre Gründe haben“, erwiderte er kühl.

Ich fühlte mich elend. Ich wollte nicht, dass er dachte, ich hätte mich über ihn beschwert. Das schlimme war nur, dass ich das ja tatsächlich getan hatte. Und ich wollte ihn nicht anlügen. Aber die Gründe dafür konnte ich ihm auch unmöglich nennen. Ich war mal kurzzeitig total verknallt in dich und mit deiner Schweigsamkeit zu Erntebeginn hast du mich fast in den Wahnsinn getrieben? Nie im Leben würden diese Worte über meine Lippen kommen. Alles, was ich hervorbrachte, war: „Was ich gesagt habe, war ernst gemeint. Dass wir ein gutes Team sind. Der Rest war nur Theater. Ich …“ Ich zögerte, denn mein Verstand belauerte in höchster Alarmbereitschaft jedes einzelne meiner Worte. „Ich arbeite gern mit dir zusammen.“

Er schwieg, aber an seiner Haltung sah ich, wie angespannt er war.

Mann, was für eine verkorkste Situation! Die plötzliche Welle von Wut, die in mir hochkochte, ließ mich meinen Korb auf den Boden der Plattform schmeißen. Er kam mit einem lauten Poltern auf, Zwetschgen hüpften empört in die Höhe. Aber ich war nicht wütend auf Louis. Ich war wütend auf das gesamte, verdammte System.

„Das ist doch völliger Irrsinn. Total lächerlich. Was machen wir denn schon? Wir reden! Zwei Menschen, die sich unterhalten! Wir sind doch einfach nur …“ Ich zuckte hilflos mit den Schultern. „… Freunde!“

Louis drehte sich mit einem Ruck zu mir herum und warf aufgebracht die Hände in die Luft. „Freunde? Wir dürfen keine Freunde sein. Und nach der Ernte sind wir das auch nicht mehr. Wach endlich auf! Das hier ist nicht das Land, wo Milch und Honig fließen. Das ist Themiskyra. Du hast dich für dieses Leben entschieden, also finde dich damit ab“, fuhr er mich an. Dann schüttelte er den Kopf als könne er nicht begreifen, dass ich nicht begriff, sprang von seiner Plattform und ging mit großen schnellen Schritten den Weg entlang, bis er zwischen den Baumreihen verschwand. Einen Moment lang starrte ich ihm mit offenem Mund hinterher. Dann fasste ich mich wieder.

„Ach scheiß drauf“, knurrte ich, packte meinen Korb und pflückte alleine weiter.

Erst nach etwa zwei Stunden tauchte Louis wieder auf. Sicherheitshalber hatte ich den automatischen Vorschub der Maschine abgestellt und sowohl auf Louis’ als auch auf meiner Seite geerntet. Ich hatte befürchtet, dass Areto noch einmal auftauchen würde, und nicht gewollt, dass ihr seine Abwesenheit auffiel.

Wortlos drückte ich ihm seinen Korb in die Hände und kletterte wieder auf meine Seite hinüber.

„Danke.“ Mehr kam nicht.

Und mehr kam auch in den nächsten Tagen nicht. Auch nicht von mir.

 

Dank unserer erneuten schweigsamen Effektivität hatten wir unser Erntesoll früher erfüllt als gedacht und ich konnte nach dreieinhalb Wochen zu meinem üblichen Stundenplan zurückkehren. Als wir unsere letzten Pflaumen geerntet hatten, hätte ich tanzen und singen können, weil ich wusste, dass ich jetzt erst einmal ein Jahr lang Ruhe hatte, bevor ich wieder irgendetwas würde pflücken müssen. Andererseits …

Gemeinsam trugen wir die letzte Kiste auf den Hauptweg. Danach entstand kurz ein peinliches Schweigen, weil wir wohl beide nicht wussten, wie wir uns voneinander verabschieden sollten.

Schließlich sagte Louis: „Danke für die Brote.“

Ich erwiderte: „Danke für die Rettung vor dem grünen Untier.“

Und das war das erste Mal seit Tagen, dass er – zumindest mit einem Mundwinkel – lächelte. Wie immer überließ er es mir, als erste nach Hause zu reiten, und als ich, langsamer als sonst, dahintrabte, kam ich nicht umhin, eine gewisse Niedergeschlagenheit in meinem Herzen zu diagnostizieren.

Mach dich nicht lächerlich, fuhr mich mein Verstand an. Du hast die üble Erntezeit überstanden! Muskelkaterlose, entspannte Schultage liegen vor dir! Du siehst deine Mädels wieder! Abendliche Treffen mit Corazon und Victoria! Ausritte mit Polly, Tetra und Atalante! Waldspaziergänge!

Ich atmete tief durch und hob den Kopf. Der immer noch sonnenwarme Wind blies mir mit einem plötzlichen Stoß die Haare aus dem Gesicht und die Traurigkeit aus dem Herzen. Jenseits des Waldes verschwand die Sonne als glutroter Ball hinter schwarzen Baumwipfeln und verwandelte den Himmel – nur kurz – in ein flammendes Meer, durch das sich Wolkenbänder wie leuchtende Gischtkämme zogen. Niemals hatte ich in der Stadt solche Sonnenuntergänge gesehen; der Himmel war dort stets eng gewesen, begrenzt durch die hohen Gebäude der Metropole. Obwohl ich nicht mit allem einverstanden war, liebte ich es, hier zu sein. Und ich gelobte, das nie zu vergessen. Alle trüben Gedanken in die hintersten Ecken meiner Seele verbannend trieb ich mit neu entfachter Lebenslust Hekate an und galoppierte zurück nach Themiskyra.

 

In den folgenden vier Wochen arbeitete ich in der Klinik, die, soweit ich das beurteilen konnte, nach dem neuesten Stand der Technik ausgestattet war und von Deianeira und Sevishta geführt wurde, zwei studierten Medizinerinnen. Aufgrund der gesunden Lebensweise der Amazonen war das kleine Krankenhaus kaum belegt, aber es wurden dort zwei ältere Frauen versorgt, die dauerhaft gepflegt werden mussten.

Anfangs erhielt ich eine Führung durch sämtliche Räume, von der Wachstation voll mit intensivmedizinischen Geräten und Monitoren bis zum Labor. Im Endeffekt verrichtete ich jedoch nur Hilfsdienste, half den alten Damen beim Essen, verabreichte ihnen die verschriebenen Medikamente und brachte sie zur Toilette. Die rundlichere von den beiden, Taminee, war dement und hielt mich für ihre Tochter. Nach einer Weile gab ich es einfach auf, sie eines Besseren zu belehren – das war für uns beide einfacher. Die andere, Philippa, war klapprig dürr und wusste zwar genau, was um sie herum geschah, sagte aber nicht viel und wenn doch, war es bösartig. Ich lernte, die Gemeinheiten der alten Amazone zu ignorieren, auch wenn es mich bisweilen außerordentlich gereizt hätte, sie zu erwidern.

Zu dieser Zeit begann ich, die Welt um mich mit anderen Augen, mit mehr Sinnen wahrzunehmen. Eines späten Nachmittages war ich nach dem Dienst alleine im Wald unterwegs. Es hatte mich danach gedrängt hatte, nach draußen zu kommen und der typischen Krankenhausluft zu entfliehen, die sich auch in Themiskyra in keinster Weise vom Geruch der städtischen Kliniken unterschied. Ziellos streifte ich umher, bis ich an die Gumpe kam, in der wir im Sommer mal mehr, mal weniger freiwillig gebadet hatten. Obwohl es schon kühl war, ließ ich mich entspannt ins Gras fallen und genoss die Ruhe abseits Themiskyras beständiger Geschäftigkeit.

Ich roch den würzigen Waldduft, fühlte das weiche Moos, Blätter und Tannennadeln unter meinen Händen, hörte das sanfte Rauschen in den Baumwipfeln und das Plätschern des Flusses, sah am Himmel vom Abendlicht rotgefärbte Wölkchen vorüberziehen. Ohne Vorwarnung verschob sich die Welt ein bisschen und rastete mit einem leisen Klick ein, das nur ich hören konnte. Oder ich rastete ein.

Alles war auf einmal ein bisschen anders. So, als hätte sich meine Weltsicht ein kleines bisschen weitergedreht, als könnte ich erst jetzt das wahre Grün des Grases und der Baumkronen in all seinen Nuancen sehen oder im Vogelgezwitscher Töne vernehmen, die vorher für mich im nichthörbaren Bereich gelegen hatten, so als könnte ich mich auf einmal als Teil eines größeren Ganzen sehen und meine genaue Position, meine Bedeutung, mein Sein darin.

All das trifft es nicht ganz und kann nur vage das Gefühl beschreiben, das fast wie eine Eingebung war, die mich zwar nicht schlauer gemacht hatte, aber vielleicht ein Stückchen dem näher gebracht hatte, was ich eigentlich war – und was ich in der Stadt nie lernen oder erfahren hatte können.

Mit der Zeit spürte ich Wetterveränderungen, bevor sie eintraten, ich konnte Wind und Wolken lesen, fühlte den ersten Schnee kommen, aber nicht auf Basis wissenschaftlicher Analyse von Wolkenbildern, sondern einfach aus dem Bauch heraus. Ich konnte mich mehr als zuvor auf mein Zeitgefühl verlassen, wusste, wann die Sonne auf-und der Mond unterging. Hatte ich anfangs noch Bedenken gehabt, ob ich nach meinen Waldausflügen wieder nach Hause finden würde, konnte ich mir nun sicher sein, dass ich die Orientierung nicht verlor, weil ich mich und meinen Standort wie auf einer Landkarte vor meinem geistigen Auge sah. Außerdem fühlte ich mich meinem Pferd näher, so, als wüsste ich immer, was Hekate von mir wollte, und sie, was ich von ihr erwartete. Auch in einer Herde von tausend schwarzen Pferden hätte ich sie inzwischen mühelos erkannt, und ich vertraute ihr mittlerweile so, dass ich zu üben begann, wie Polly ohne Sattel und nur mit einem Seil zu reiten, das lose um Hekates Hals lag. Und wenn wir durch den herbstlichen Wald galoppierten, verschmolzen wir zu einer Einheit, schnell, stark, lebendig und voller Energie, eine Wolke aus goldenem Laub hinter uns aufwirbelnd.

Polly konnte meine kleine Erleuchtung nicht nachvollziehen.

„Ich weiß genau, wann und wo ich bin!“, teilte ich ihr begeistert mit.

„Aha.“

„Ich bin mittendrin.“

„Hm.“

„Ich kann das Grün sehen!“

„Grün.“

„Nein, weißt du, es ist mehr als nur sehen. Ich kann es irgendwie fühlen.“

„Das Grün?“

„Ja!

„Na und?“

Wie ich es auch zu erklären versuchte, sie verstand einfach nicht, worauf ich hinauswollte oder was daran für mich besonders war. Ich weiß nicht, ob sie ohnehin von Geburt an erleuchtet war oder einfach keinen Sinn für so etwas hatte. Bei Atalante war es sogar noch schlimmer. Es war das zweite Mal, dass ich richtig sauer auf sie war, weil sie mich nur pseudointeressiert belächelte und gar nicht richtig zuhörte, als ich ihr von meinem Erlebnis erzählte. Also gab ich es bald auf, die Anderen für meinen neuentdeckten Zustand begeistern zu wollen.

Ihm verdankte ich jedoch, dass ich eines Morgens wenige Tage nach Yaztri, dem Herbstfest, mit einem bestimmten Gefühl aufwachte. Erst wusste ich nicht, was es war, aber dann erinnerte ich mich, wann ich es zuletzt verspürt hatte. Ich setzte mich mit Schwung auf und sagte feierlich zu meiner Schwester: „Ich glaube, ich habe heute Geburtstag.“

„Häääh?“ Sie lag noch im Bett und gab diesen unglaublich unintelligenten gedehnten Laut von sich, der mich schon öfter zur Weißglut gebracht hatte, sich bei den jüngeren Amazonen aber anscheinend derzeit großer Beliebtheit erfreute.

„Geburtstag!“ Ich rollte genervt die Augen und warf ihr mein Kissen ins Gesicht. „Ich. Heute.“

„Aha. Und?“ Polly stopfte sich mein Kissen in den Rücken, machte es sich bequem und schien unbeeindruckt. Das Prinzip Geburtstagsfeier war bei den Amazonen unbekannt, da sie alle traditionellerweise im Feuer-oder Honigmond gezeugt und dementsprechend zehn Monde später geboren wurden. Man hätte also zwei Monate durchfeiern können, was aber leider nicht getan wurde – wahrscheinlich, weil das System sonst zusammengebrochen wäre.

So oder so – ich war mir sicher, dass heute mein siebzehnter Geburtstag war und ich dachte nicht daran, ihn einfach so verstreichen zu lassen. Leider wusste hier nur außer meiner Mutter, Tetra, Polly und mir niemand davon, und das musste auch so bleiben.

„Da wo ich herkomme, also aus der Zivilisation“, – manchmal machte es mir Spaß, Polly damit zu ärgern, obwohl ich wusste, dass es eine hohle Phrase war, da meine angeblich zivilisierte Welt zusammengebrochen war, wohingegen ihre schon Jahrtausende überdauerte, – „da wird ordentlich gefeiert, wenn jemand Geburtstag hat“, erklärte ich ihr, während ich den Kleiderschrank nach extra schönen Kleidungsstücken durchforstete.

Sie ignorierte meine Gemeinheit und fragte gähnend: „Und das heißt?“

„Das heißt: Musik und Tanz und gute Freunde und Obstbowle und eine Geburtstagstorte mit Kerzen. Und Geschenke.“ Polly schaute ziemlich überfordert drein und so zusammengefasst fiel mir auch auf, dass die Realisierung unter den gegebenen Umständen doch ein bisschen schwierig werden könnte. „Naja, also … Einohrmusik über GemPlayer und eine liebe Schwester tun es aber auch“, versicherte ich ihr und ihre Miene hellte sich ein wenig auf.

„Alles klar. Dann also heute Abend Geburtstagsparty?“

„Genau. Nach dem Abendessen.“ Ich wusste, dass es eine vergleichsweise magere Feier werden würde, aber ich würde einfach das Beste daraus machen.

 

Als ich abends in unser Zimmer zurückkehrte, glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen. Ich hatte Tischdienst gehabt, und während ich Geschirr, Gläser und Besteck abgeräumt und den Tisch sauber gewischt hatte, war Polly schon vorgegangen – offenbar um all das vorzubereiten, was mich nun erwartete: Der Tisch am Fenster war mit einem bunt gemusterten Tuch bedeckt, darauf standen unzählige dicke weiße Kerzen, ein Mini-Apfelkuchen, eine große Flasche, die eine goldene Flüssigkeit enthielt, Gläser und Teller sowie ein kleiner Leinenbeutel, der mit einer Schnur zugebunden war. Polly saß auf ihrem Bett und sah mich erwartungsvoll an.

„Boah!“, sagte ich, obwohl ich wusste, dass das auch ein ziemlich unintelligenter Laut war. „Du bist ja der Wahnsinn!“

Sie strahlte, sprang auf und streckte mir einen der beiden Ohrstöpsel entgegen, die mit ihrem Player verbunden waren. „Musik!“

Zu den feierlichen Klängen von Die die die my darling setzten wir uns an die Geburtstagstafel und während ich nur staunend dasaß, erklärte Polly: „Die Kerzen haben nicht auf den Kuchen gepasst, aber es sind siebzehn Stück. Erdbeerbowle war nicht aufzutreiben – nicht zu dieser Jahreszeit, aber dafür habe ich einen Honigmet aus der Vorratskammer mitgehen lassen. Und das ist dein Geschenk.“ Sie überreichte mir das Säckchen, das schwerer war, als es aussah. „Alles Gute zum Geburtstag!“

Ich drückte sie gerührt an mich und kämpfte tatsächlich einen kurzen Moment mit den Tränen. „Mach doch mal auf!“, sagte meine Schwester, nicht empfänglich für eine derartige Gefühlsduselei, und schenkte uns großzügig Met in die Gläser ein.

Ich öffnete die Schleife des Beutels und förderte einen breiten schwarzen Wildledergürtel mit einer Metallschließe zutage, die mit floralen Mustern verziert war.

„Polly, der ist toll! Wo hast du den nur her?“, rief ich begeistert und begann sofort, ihn durch die Schlaufen meiner Hose zu fädeln. Früher wäre ich vermutlich enttäuscht gewesen, wenn ich nur einen Gürtel zum Geburtstag bekommen hätte, aber hier, wo man so wenig eigenen Besitz hatte, war ein Geschenk eine unglaublich tolle Sache. Sie zuckte nur mit den Schultern.

„Ein paar Leute haben mir noch einen Gefallen geschuldet“, sagte sie cool, aber als ich sie skeptisch ansah, grinste sie. „Nichts, weswegen du dir Sorgen machen müsstest.“

Ich umarmte sie nochmal. „Vielen Dank.“

„Prost!“ Sie hielt mir ihr Glas entgegen, wir stießen an und tranken. Ich hatte noch nie zuvor Met getrunken, aber er schmeckte mir ausgesprochen gut. Vielleicht zu gut, denn in kürzester Zeit war die halbe Flasche leer. Trotz der Süße des Getränks hatten wir auch den Großteil des Kuchens vertilgt.

„Und das hast du alles aus der Vorratskammer geklaut?“, fragte ich, immer noch ungläubig, dass sie so ein Spektakel für mich veranstaltete, und meine Zunge war schon ein wenig schwer.

„Klar. Wenn du eine Party willst, dann kriegst du auch eine. Cheers, Geburtstags-Ell!“

„Prost, beste Schwester der Welt.“ Wir stießen wieder an.

„Und jetzt: Der Tanz!“, kommandierte sie, wobei sich das etwas schwierig gestaltete, da wir durch den GemPlayer miteinander verbunden waren und auf Kabellänge bleiben mussten. Aber der Met war mir zu Kopf gestiegen und ich fühlte mich so leicht und frei, dass ich froh um das Kabel war, das mich auf der Erde festzuhalten schien.

Irgendwann sagte Polly „One bourbon, one scotch, one beer“, und dann bekümmert: „Leer.“ Sie zeigte auf die Flasche und unsere Gläser.

„Schade.“ Ich teilte ihren Kummer.

„Ich hol uns noch einen!“ Sie lief auf die Tür zu und ich beeilte mich, hinterherzukommen, damit es mir den Kopfhörer nicht aus dem Ohr riss. Da fiel mir auf, dass das Zimmer ziemlich schwankte, und beim Versuch, es gerade zu stellen und dabei den Anschluss nicht zu verlieren, stolperte ich über die Teppichkante. Polly bemühte sich, meinen Sturz mit immer noch schneller Reaktionsfähigkeit abzufangen, aber ich hatte zu viel Schwung und so landeten wir beide auf dem Boden. Beeindruckenderweise hatten wir jedoch immer noch beide Musik im Ohr, was uns unglaublich amüsierte.

Ich streckte mich auf dem Teppich aus und starrte eine ganze Weile stumm an die Zimmerdecke, an der Kerzenschein und Schatten psychedelische Muster bildeten, was dadurch, dass sich das Zimmer beständig drehte, besonders hübsch anzusehen war. Ich war glücklich. Komplett glücklich.

Fast komplett glücklich. Irgendetwas war da, ein kleiner Stachel, der mir ins perfekte Glück piekste.

„Fast“, sagte ich laut und schmeckte das Wort, als hätte ich es gerade erfunden.

„Was?“ Polly drehte mir träge den Kopf zu und versuchte, mich zu fokussieren.

„Ich vermisse Louisch“, stellte ich fest. „Äh, Louis.“

„Wersndes?“

„Mein Erntehelfer“, Ich wunderte mich. Wie konnte denn meine Schwester, die mir die beste Geburtstagsfeier ever organisiert hatte, nicht wissen, wer Louis war? Aber sie sah mich so glasig verständnislos an, dass ich es wohl erklären musste: „Der ist cool und heiß und hat mich vor dem Ertrinken und einem Grashüpfer gerettet.“

„Reschpekt!“ Sie nickte anerkennend, runzelte dann aber die Stirn. „Vor einem Grashüpfer?“

„Ja! Voll mutig.“ Plötzlich hatte ich eine fabelhafte Idee und setzte mich auf. „Komm mit, ich zeige ihn dir!“

Viel zu lange hatte ich Louis nicht mehr gesehen und ich hatte das Gefühl, dass ich auf der Stelle eingehen würde, wenn ich nicht einen klitzekleinen Blick auf ihn werfen würde.

„Ich habe eine viel bessere Idee!“, rief sie und setzte sich ebenfalls auf. „Zeig mir lieber Steve!“

„Steve?“ Polly hatte definitiv zu viel getrunken.

„Bonanno.“

Natürlich. Es gab nur einen Steve. Aber … „Wie denn? Der wohnt doch in Hollywood. Und Filme haben wir auch keine.“

Sie grinste und wirkte mit einem Mal sehr viel nüchterner. „Nicht hier. Aber ich weiß, wo es welche gibt.“ Polly nabelte uns abrupt vom GemPlayer ab und rappelte sich auf.

„Und wo?“ Lag es am Alkoholpegel, dass ich so wahnsinnig begriffsstutzig war, oder war es Polly, die der Met unzurechnungsfähig gemacht hatte?

„In Goldvelt. Da gibt es eine Cinemathek.“

„Ich dachte, Goldvelt sei verlassen?“

„Klar. Verlassen, geplündert und stromlos.“ Sie zog das Solarladegerät aus dem Blumentopf und verstaute es in ihrem Rucksack. „Aber wer sollte schon die Filme eines zweitklassigen Stars plündern?“

„Zweitklassig?“, echote ich drohend. Jetzt ging sie zu weit.

„Ob er so erstklassig ist, wie du sagst, musst du mir erst mal beweisen. Ell, komm schon. Das wird das Tüpfelchen auf dem i für deine Geburtstagsfeier. Pack deine Taschenlampe ein.“

„Hast du das schon öfter gemacht?“

„Nö. Ainia hat mir von dem Laden erzählt. Die, von der ich den GemPlayer habe.“

„Warte, warte, warte.“ Ich griff mir an die Nasenwurzel und versuchte, mich zu konzentrieren. „Die Wachen! Was willst du denen erzählen? Es ist schon spät.“

„Es ist gerade mal neun oder so. Um diese Zeit wird uns keine aufhalten. Im Zweifelsfall erzählen wir, du hättest deine Naturkunde-Aufzeichnungen im Wald vergessen und dass wir sie holen wollen, bevor der nächste Regenguss sie davonspült.“

Langsam begann ich, mich für Pollys Plan zu erwärmen. Und die Aussicht, Steve noch einmal zu sehen, ließ mein Herz schneller schlagen.

Als ich aufstand, wechselte das Zimmer auf einmal seine Umlaufbahn und ich musste mich am Schrank festhalten. Kurz wunderte ich mich, warum dieser nicht denselben Naturgesetzen unterworfen war wie ich, aber die Thematik schien mir im Augenblick für eine ausgiebige Kontemplation zu verkopft. In einem kurzen lichten Moment, blies ich alle meine Geburtstagskerzen mit einem einzigen langen Atemzug aus, dann folgte ich Polly mit etwas schwammigen Beinen.

Sie organisierte eine weitere Flasche Met, während ich die Pferde sattelte. Wir rissen uns arg zusammen, strafften unsere Haltung und unterdrückten jedes Gekicher beim Durchreiten des Tors und tatsächlich ließen uns Johanna und Tawia durch, ohne Fragen zu stellen. Schon preschten wir über die Felder. Die frische Luft ließ mich den Alkohol ziemlich deutlich spüren, der alle restlichen Bedenken davonspülte und mich mit Abenteuerlust erfüllte.

Wir hatten etwa zwei Kilometer zurückgelegt, da kam uns jemand entgegen. Im ersten Moment verspürte ich ein vages Gefühl von Sorge – Was, wenn es eine unserer Schwestern ist? Naturkunde-Aufzeichnungen hin oder her, sie braucht lediglich einen Halbsatz mit uns zu wechseln um festzustellen, dass wir beide ziemlich einen im Tee haben … – dann sah ich, dass es nur Louis war, der von der Arbeit oder vom geheimen Lager zurückritt.

„Hallö!“, rief ich ihm leichthin zu. Er sah mich zweifelnd an. Für einen Moment wirkte er, als wolle er etwas sagen, doch nach einem kurzen Blick auf Polly wandte er den Kopf ab und ritt kommentarlos vorbei. Es war mir egal. Ich war auf dem Weg zu Steve, was kümmerte mich Louis! Polly schien die Begegnung gar nicht registriert zu haben, sondern stierte nur leer auf den Weg vor sich.

Goldvelt war eine blühende, hübsche Kleinstadt gewesen, bevor zuerst die Abwanderung, dann der Verfall sie verkommen ließen. Sie lag eingebettet zwischen ein paar Hügeln, leblos, lichtlos. Auf ihr ruhte eine andere Finsternis als auf der ebenfalls dunklen Natur rundum, so als würden die Schatten der Vergangenheit das Mondlicht vollkommen absorbieren, das hier und da zwischen Wolkenbänken hervorbrach.

Es war das erste Mal, dass ich mit der realen, kaputten Welt dort draußen in Berührung kam, seitdem ich bei den Amazonen lebte. Ein Schaudern schlüpfte durch den Alkoholnebel und glitt mir die Wirbelsäule entlang. Als wir auf der Hauptstraße einritten, verlassene Häuser und ein ausgebranntes Bürogebäude passierten, wurde ich plötzlich das Gefühl nicht los, dass das Ganze doch eher eine Schnapsidee gewesen war.

„Du, Polly …“

„Da drüben ist es!“, unterbrach sie mich triumphierend und zeigte auf ein zweistöckiges Haus mit den Überresten einer nicht mehr lesbaren, da zerschossenen Leuchtschrift über der Eingangstür.

Na gut.

Die Schaufenster im Erdgeschoss waren durch Holzplatten ersetzt worden, tapeziert mit Filmplakaten einer anderen, sorglosen Welt.

A sequel of decay …“, murmelte Polly, als Glasscherben bei jedem Schritt unter unseren Füßen knackten, während wir die Pferde um das Haus herumführten und am Zaun des etwa handtuchgroßen Gartens festbanden. Durch die unversperrte Hintertür gelangten wir in einen kurzen Flur und von dort in ein mit Pizzakartons und Fastfood-Tüten vermülltes Hinterzimmer. Ein altmodischer Flachbild-Fernseher stand auf einem Tisch vor einer speckigen Couch; Polly machte sich unverzüglich daran, ihn im Licht meiner Taschenlampe mit dem Akku ihres Solarladegeräts zu verkabeln.

„Passt!“, sagte sie zufrieden. „Jetzt lass uns den Film suchen.“

Wir traten in den Verkaufsraum und ich erschrak beinahe zu Tode, als ich vor der Glastheke die breitschultrige Silhouette eines Zweimetermannes erkannte, der ein riesiges Maschinengewehr in den Händen hielt.

„Ist er das?“, fragte Polly und leuchtete der ausgeblichenen Pappfigur ins Gesicht.

„Nein“, atmete ich auf. „Das ist Diddy Moustache, einer seiner Gegenspieler in der Flammenmeer-Trilogie.“

„Hey, wäre es nicht phantastisch, wenn wir hier noch einen Papp-Steve fänden? Das wäre wirklich ein tolles Geburtstagsgeschenk!“, zog mich Polly auf.

„Und wie erkläre ich Atalante seine Anwesenheit in unserem Zimmer?“

„Wir könnten ihn als Zielscheibe tarnen.“

„Pff.“

Die meterlangen Regaldisplays, die früher die GreenRay-Cover und Zusatzinformationen gezeigt hatten, waren natürlich tot, hinter der Theke fanden wir jedoch einen Aktenordner – und mit seiner Hilfe den Standort des Steve Bonanno-Klassikers Polaris Revenge.

„Siehst du, ist noch da“, rief Polly und zog die Disk aus einem breiten Ausziehschrank.

 

Es war absolut absurd. Ich saß auf einem muffigen Sofa in einer verlassenen Stadt am Ende der Welt neben meiner Schwester, die sich systematisch mit Met betrank, und sah Steve über den Monitor flimmern. Perplex über diese seltsame Situation dauerte es ein bisschen, bis ich mich wirklich ins Filmgeschehen ziehen lassen konnte. Sobald Polly ihre Aufregung darüber in den Griff bekommen hatte, zum ersten Mal in ihrem Leben eine GreenRay zu sehen, begann sie, sich hingebungsvoll, aber mit schwerer Zunge über meinen Traumschauspieler lustig zu machen – bis sie schließlich einschlief. Ich ließ sie schlafen. So konnte ich wenigstens ungestört mit seligem Tunnelblick vor mich hin schmachten …

Ungestört, bis mich ein Rumpeln in der Cinemathek aufschrecken ließ. Schlagartig war ich wieder nüchtern. Mit einem Satz war ich beim Fernseher und schaltete ihn ab. Der Ton brach ab, der Raum versank im Dunkeln, nur das Display des GreenRay-Players überzog die Möbel mit einem kalten, blauen Schein. Mit hämmerndem Herzen lauschte ich in die Stille.

Von wegen verlassen.

Ich kroch zu Polly und schüttelte sie.

„Polly!“, zischte ich verzweifelt. „Wach auf! Da ist wer!“ Sie reagierte nicht. „Du kannst dich doch nicht ins Koma saufen und mich hier allein lassen!“ Ich zwickte sie sogar in den Arm, aber sie gab nur ein müdes Grunzen von sich und verkroch sich tiefer in den Sofakissen.

Verdammt. Was jetzt?

Weißt du, du musst nicht alles mitmachen, was deine kleine, betrunkene Schwester dir vorschlägt! machte sich mein Verstand auf einmal bemerkbar. Mitten in der Nacht in eine Geisterstadt reiten, um Videos zu schauen, wie dämlich ist das denn?

Ziemlich? Jetzt hilf mir lieber, statt zu schimpfen.

Ganz ruhig. Sondier erst mal die Lage. Vielleicht sind nur ein paar Disks im Schrank umgefallen.

Lautlos glitt ich in den Hauptraum, schlich bis zur Theke und versteckte mich hinter Diddy Moustaches massiger Pappgestalt. Ich linste an seinem linken Bizeps vorbei – und sah den Lichtkegel einer Taschenlampe, der durch die Reihen der Regaldisplays wanderte.

Adrenalin schoss mir durch den Körper. Okay, Rückzug. Polly wecken und schleunigst fliehen. Doch ehe ich herumwirbeln konnte, spürte ich, wie ein Arm meinen Oberkörper von hinten in eisernem Griff umschloss, und fühlte kaltes, scharfes Metall an meinem Hals.

Dani Aquitaine - Themiskyra 01 – Die Begegnung
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