Sechster Teil

 

PHILIPP

1987

 

Als Philipp die Schiffstickets für die Überfahrt nach Magali kaufte und er erfuhr, dass es sich beim Elf-Uhr-Boot um die JOVEN MARIA handelte, beschlossen sie, bis elf Uhr zu warten. Sie waren morgens um sechs ab Frankfurt zu Magalis größerer Nachbarinsel geflogen, und es war jetzt erst kurz nach neun und so setzten sie sich mit ihrem Gepäck in eine Kneipe am Hafen.

Sie tranken Kaffee. Guten, starken Kaffee mit einer dicken Schicht schaumig aufgeschlagener Milch. Und genossen die Lebendigkeit eines südlichen Hafens mitten in der Hauptsaison. Marineros, Skipper, Hafenarbeiter und Touristen in buntem Durcheinander. Ausflugsboote, Segeljachten und Fischerboote, deren schwarz verbrannte Besatzung die Netze in langen Bahnen zum Trocknen auf dem Kai auslegte. Magere, nervöse Katzen, die sich an silbrig glänzende Fischreste in den Netzen heranpirschten. Und auf der anderen Seite der Mole die großen Fähren, die zum Festland hinübergingen. Alles überragend der weiße riesige Rumpf der Fähre nach Barcelona, deren Ladeluke wie ein weit aufgerissenes Fischmaul aussah. Philipp und Bobby genossen die Atmosphäre, obwohl sie das alles nicht zum ersten Mal sahen, aber auch Karen schien es zu genießen. Vicky und Alex, Bobbys Kinder, die nicht lange still sitzen konnten, rannten auf die Mole hinaus, um einigen einheimischen Jungens, die dort angelten, aus der Nähe zuzusehen.

Es hatte lange gedauert, ehe diese Reise zustande kam. Immer wieder war sie, hauptsächlich aus beruflichen Gründen, verschoben worden. Dass sie nun doch endlich wahr geworden war, lag vor allem an Bobbys Hartnäckigkeit. Bereits im Frühjahr hatte sie angekündigt, sie lasse diesmal absolut keine Ausrede gelten. Dieses Jahr würden sie alle zusammen ihre Ferien auf Magali verbringen.

Und jetzt, nur etwa zwei Schiffsstunden von Magali entfernt, den hohen, blauen Himmel über sich und den guten, kräftigen Geruch der See in der Nase, war Philipp froh über Bobbys Hartnäckigkeit. Es war allerhöchste Zeit für ihn, mal wieder nach Magali zurückzukehren.

Als sich die JOVEN MARIA endlich durch die Hafeneinfahrt schob und sich ihr klobiger Rumpf der Mole näherte, kam sie ihm kleiner vor als in seiner Erinnerung. Verglichen mit den anderen Fähren, modernen, windschnittigen Booten, wirkte sie wie eine behäbige alte Glucke. Philipp lachte, als Karen wegen des alten Kahns protestierte und tröstete sie mit dem alt bekannten Spruch, dass ihre dicke Farbschicht den Schiffsrumpf wohl noch eine Weile zusammenhielt.

Bobby sammelte die Kinder ein, und Philipp schaffte schon mal das Gepäck an Bord. Er konnte sogar noch eine freie Holzbank im Heck des Schiffes ergattern, ehe eine Busladung Touristen, die eben vom Flughafen angekarrt wurde, die JOVEN MARIA stürmte.

Das Schiff war danach derart überfüllt, wie Philipp es noch niemals erlebt hatte. Entlang der Reling und zwischen den Bänken standen die Leute, die keinen Sitzplatz gefunden hatten. Vorne am Bug, wo einmal sein alter 2 CV vertäut gewesen war, stapelte sich jetzt das Reisegepäck der Passagiere. Einer der Marineros schlang ein Tau um den Kofferberg.

Sie saßen in der prallen Sonne, die jetzt schon kräftig zu spüren war. Bobby nahm ein erstes Sonnenbad, aber Karen stöhnte über die Hitze und über den Gestank nach Abgasen und Diesel, der sie als warmer Luftstrom traf. Philipp tröstete sie damit, dass der Fahrtwind für ein wenig Abkühlung sorgen würde, sobald sie abgelegt hatten. Er wartete noch, bis sie die Hafeneinfahrt passiert hatten und stieg dann ins Passagierdeck hinunter und besorgte kalte Getränke. Als er jedoch seine Cola- und Bierdosen verteilte, fiel ihm auf, wie blass Karen aussah.

„Ist dir nicht gut?“

„Doch, doch. Geht schon“, sagte sie tapfer lächelnd.

„Ich kann dir einen Veterano holen, einen Brandy. Vielleicht hilft das.“

Aber Karen wollte nichts trinken. Philipp vermutete, dass ihr die Hitze zu schaffen machte. Seekrankheit schloss er aus, sie waren noch nicht einmal auf offener See.

Dass Karen keine Hitze vertrug, war von Anfang an ein kritischer Punkt in ihrer Reiseplanung gewesen. Aber Alex, Bobbys Ältester, ging seit dem letzten Jahr zur Schule und deshalb waren nur seine Sommerferien für eine gemeinsame Reise in Frage gekommen.

Sie hatten noch immer nicht das offene Wasser erreicht, fuhren jetzt die Küstenlinie entlang, an den Beton- und Bettenburgen vorüber, welche die Küste der Nachbarinsel säumten. Dann jedoch entfernten sie sich davon und kamen nun durch ein Gebiet, wo es von winzigen Felseninseln, die bizarr aus dem Wasser ragten, nur so wimmelte. Ein beeindruckendes Bild, aber Karen nahm kaum Notiz davon. Philipp sah, dass sie mit Übelkeit zu kämpfen hatte und bereute es jetzt, dass sie nicht doch das frühere Boot, ein modernes Schnellboot, genommen hatten, das die Fahrtzeit verkürzte.

Als nach etwa zwei Stunden Magali in der Ferne zu sehen war, stand Philipp auf und ging nach vorne und stellte sich an die Reling. Die Kinder folgten ihm, und er nahm Vicky aus Sicherheitsgründen auf den Arm. Froh darüber, die Kinder neben sich zu haben, da durch ihr unaufhörliches Geplapper keine Sentimentalität aufkommen konnte – was er im Stillen befürchtet hatte. Er sah die Hafengebäude von Port Nou auftauchen, die windzerzausten Palmen und die Rundbögen des kleinen Hotels, wo er in seiner ersten Zeit auf Magali einige Tage gewohnt hatte.

Als die JOVEN MARIA die Hafenmole ansteuerte, tauchten auch Bobby und Karen bei ihnen auf. Karen sah noch immer reichlich elend aus, aber die Erleichterung über das Ende der Schiffsreise war ihr anzumerken. Auch nachdem sie angelegt hatten, kam bei Philipp keinerlei Sentimentalität auf. Dazu war die Hektik, das Gedränge und Menschengewühl zu groß.

Bobby und Philipp kümmerten sich um das Gepäck, aber Philipp hatte ziemliche Mühe, zwei Taxen zu organisieren. Denn dank Karen war ihr Gepäck mehr als umfangreich. Erst als sie im Taxi das Hafengelände verließen, kam Philipp dazu, einen Blick auf seine Umgebung zu werfen. Auf den früher so stillen Fischerhafen, nun ein lebhafter kleiner Ort mit ausgesprochen modern wirkenden Häusern und Promenaden. Bei nächster Gelegenheit wollte er noch einmal herfahren und sich alles in Ruhe anschauen.

Nachdem sie auf der Cala Dragonera angekommen waren, legte Karen sich erst einmal hin. Damit sie ein bisschen Ruhe fand, ging Bobby mit den Kindern, die reichlich aufgedreht waren, an den Strand hinunter. Philipp versprach, später nachzukommen und schaffte erst einmal alle Koffer und Taschen ins Haus. Dann stand er auf der schattigen Veranda und blickte über das Land. Über sein Land. Über das leicht hügelige Tal, das er vor Jahren auf seinen Streifzügen über die Insel entdeckt hatte. Dank Salvador war der Standort des Hauses gut gewählt. Es veränderte das Tal nicht, bedeutete keinen wirklichen Eingriff in die Landschaft.

Hinter dem Streifen niedrigen Gebüschs, der im Süden sein Land zum Strand hin abgrenzte, schimmerte an manchen Stellen ein Stück Steinmauer durch. Die Mauer war nun also doch fertig geworden. Auch ohne ihn. Bobby hatte einige Arbeiter mit ihrer Fertigstellung beauftragt. Mit ihrer Höhe von etwa anderthalb Metern bot sie keinen wirklichen Schutz vor Eindringlingen, aber sie signalisierte doch Privatbesitz und hielt ihnen wenigstens die Mietautos vom Hals.

Bobby und natürlich auch Frank, Bobbys Mann, hatten ohnehin einiges getan während ihrer Ferien, die sie regelmäßig in der Cala Dragonera verbrachten. Hatten das Haus und das Land in Ordnung gehalten und sich um anfallende Instandsetzungsarbeiten gekümmert. Philipp fielen ein paar neue Büsche rund ums Haus auf, die Bobby gepflanzt hatte. Auch ein Hibiskus mit einer Unzahl Knospen war darunter – ein wenig Wasser jeden Tag und sie würden bald aufgehen. Außerdem eine neue Bougainvillea. Jene, die Philipp noch gepflanzt hatte, war mittlerweile eingegangen. Ihr Stamm war noch dünn, aber die ersten Zweige mit violettfarbenen Blüten wuchsen bereits an einer der Säulen bis zum Verandadach hoch. Eine smaragdgrüne Eidechse flitzte über die Veranda und verschwand zwischen den Steinen der Verandamauer, hinter der sich die Zweige baumhoher Oleanderbüsche tief unter der Fülle schwerer zartroter Blütentrauben neigten.

Danach prüfte Philipp den Wasserstand in der Zisterne, wie er das immer nach seiner Ankunft getan hatte und schöpfte dann einen Eimer Wasser für den Hibiskus. Er war erst kaum eine Stunde da, aber er fühlte sich bereits wieder verantwortlich für das, was er so lange vernachlässigt hatte.

Und noch etwas blühte. Drüben auf der Ostseite seines Landes, dort wo der Pinienwald begann, waren die Rosmarinbüsche voller zartlila Blüten. Sobald Karen sich erholt hatte, wollte er mit ihr das ganze Land abgehen und sich alles in Ruhe ansehen. Und dann erinnerte er sich an die Flasche Wein, die er auf dem Tisch in der Sala gesehen hatte. Ein Willkommensgruß von Desiree. Er schenkte sich ein Glas davon ein und stellte dann die Korbsessel auf die Veranda und setzte sich mit dem Rücken zur Hauswand, so dass er das ganze Tal überblicken konnte.

Da bin ich also doch wieder, ging es ihm durch den Kopf. Trotz all der vielen Ausflüchte und Ausreden ... aber es wurde wohl auch langsam Zeit. Schließlich machte es keinen Sinn, den Kopf in den Sand zu stecken und sich einzubilden, wichtige Dinge seien unwichtig, solange sie sich nur irgendwie verdrängen ließen.

Er trank von dem Wein und bereits beim ersten Schluck wurde ihm klar, dass es Wein von der Insel war. Kein Spitzenwein, das war der Wein von der Insel nie gewesen. Er war schwer und schmeckte ein wenig mehlig, so als ob man den Staub mittrank, der hier über allem und jedem lag. Philipp liebte den Wein dennoch und freute sich darüber, dass Desiree daran gedacht hatte und darüber, dass es überhaupt noch welchen gab und also die eine oder andere Tradition doch überlebt hatte.

Nach und nach kehrte Ruhe in ihm ein und Erinnerungen stiegen auf. Er dachte an die Zeit, als er wochenlang hier in der Cala Dragonera unter einem improvisierten Sonnendach geschlafen hatte. Wo er sich mit dem elend harten, ausgedörrten Boden abgeschunden hatte, bis sich die Innenhaut seiner Hände blasig aufwarf. Er dachte an Salvador und an diejenigen, die ebenfalls zu jener Zeit gehörten, und es kam ihm so vor, als ob es nicht die unwichtigste Zeit in seinem Leben gewesen war.

Nicht lange danach kam Bobby mit den Kindern vom Strand zurück. In Badeanzügen und mit nassen Haaren. Die Kinder stürzten halb verdurstet ins Haus und an den Kühlschrank. Bobby setzte sich zu ihm und Philipp schenkte ihr ebenfalls ein Glas Wein ein.

„Tut gut, wieder hier zu sein, was?“, sagte sie und strich sich die nassen Haare zurück.

„Tut gut. Ja. Ich kann dir nicht sagen wie sehr.“

„Wie geht es Karen?“

„Karen? Ach so, ja. Ich war im Moment ganz woanders.“

„Lass uns jetzt nicht damit anfangen, WEISST DU NOCH, DAMALS? Bitte Philipp.“

„Okay. Obwohl mir im Moment danach wirklich zumute ist.“

„Das seh ich dir an. Aber jetzt, wo du dich endlich dazu aufgerafft hast, Karen herzubringen, lass besser die alten Geschichten. Schon Karen zuliebe.“

Philipp war klar, worauf Bobby anspielte. Dabei grenzte er nicht nur Karens wegen sondern auch sich selbst zuliebe ohnehin manches in seiner Erinnerung aus. „Du hast Recht, manchmal bin ich ein sentimentaler alter Esel.“

„Komm mit runter an den Strand, du alter Esel. Das Wasser ist herrlich. Und der Strand ist wunderbar leer. Zum Glück.“

„Gott sei Dank. Aber ich warte besser auf Karen.“

Danach schwiegen sie. Die Zikaden sangen, die Luft war voll vom Geruch nach trockener, staubiger Erde, jedoch mischte sich eine leichte Brise vom Wasser her in den Geruch. Philipp erkannte ihn wieder, den typischen Sommergeruch auf der Insel, den er schon fast vergessen hatte. Allein dafür, sagte er sich, müsste er Bobby dankbar sein, dass sie so hartnäckig darauf bestanden hatte, dass er über seinen Schatten sprang. Gute, alte Bobby. Immer und all die Jahre lang hatte sie sich nie wirklich von ihm entfernt, war sie eine Art Fixpunkt in seinem Leben gewesen. Auch dann und besonders dann, als er auf die andere feste Komponente in seinem Leben, und das war Magali zweifellos eine lange Zeit gewesen, verzichtet hatte.

Die Stille hielt jedoch nicht lange an. Die Kinder stürmten mit Geschrei auf die Veranda.

„Gehst du jetzt mit runter zum Strand?“, wollte Alex wissen.

„Ja bitte, Onkel Phil. Komm doch mit, das Wasser ist toll. Ganz warm“, sagte Vicky. Ihre kleine, noch sandige Hand auf seinem Knie, sah sie ihn an. Beide Kinder hatten dieselben hellen Haare und blauen Augen wie Bobby und er. Vicky erinnerte ihn manchmal an Bobby, wie sie früher gewesen war. Auch sie hatte oft Tränen in den Augen gehabt, wenn nicht alles nach ihrem Kopf gegangen war. Aber vielleicht war das bei allen kleinen Mädchen so, Philipp kannte sich nicht sonderlich damit aus. Vicky war letzten Monat fünf geworden. Alex war sieben und Philipp wunderte sich oft, wie viel er schon wusste. Aber die Kinder heute wuchsen eben anders auf, jedenfalls fand er, dass beide, Alex wie Vicky, ausgesprochen gut geratene Kinder waren, und er war häufig so stolz auf sie, als ob es seine eigenen wären.

„Ich komm ganz bestimmt. Aber erst später. Ich will auf Tante Karen warten. Sie ruht sich erst noch ein bisschen aus.“

„Ich warte auch“, beschloss Alex. „Ich muss mein Schiff auspacken. Und nachschauen, ob es noch ganz ist.“

„Lassen wir es heute noch fahren?“, erkundigte sich Vicky.

„’türlich. Was denkst denn du?“, antwortete Alex ziemlich von oben herab.

Bobby ermahnte die Kinder, leise zu sein. Was aber völlig unterging, da sie bereits lärmend im Haus verschwunden waren. Und nicht lange danach tauchte dann auch Karen auf. Es schien ihr jetzt besser zu gehen, sie war nicht mehr so blass wie noch vorhin auf dem Schiff.

„Die Kinder haben dich geweckt, was?“, fragte Bobby. „Tut mir leid.“

„Ach, lass sie. Der erste Ferientag. Natürlich sind sie aufgeregt.“

„Wie geht’s dir?“, erkundigte sich Philipp. Er stand auf und holte für Karen ebenfalls ein Glas. „Hast du ein bisschen geschlafen?“

„Nein. Nur ausgeruht. Aber mir geht es wieder einigermaßen. Ich weiß nicht, was vorhin mit mir los war. Vielleicht war es die Hitze oder wegen der ganzen Leute auf dem Schiff. Ich fand es ziemlich schlimm.“

„Es war auch wirklich schlimm.“ Philipp zog eine Grimasse, als er an das überfüllte Schiff dachte. „Lass uns zum Wasser runter gehen, da spürst du die Hitze nicht so. Aber versuch erst mal den Wein. Desiree, du weißt doch, die Holländerin, von der ich dir erzählt habe, hat ihn uns als Begrüßungsschluck hingestellt. Wein von der Insel.“

Karen nahm das Glas, aber sie wollte sich nicht setzen. Sie ging auf der Veranda auf und ab und sah sich um.

„Du kennst ja alles schon von den ganzen Fotos, die Bobby immer mitgebracht hat“, sagte Philipp.

„Ich erkenne es höchstens wieder. Aber jetzt, wo ich es wirklich vor mir sehe, finde ich, kein Foto wird dem Tal wirklich gerecht. Wahrscheinlich würde das nicht einmal eine Panoramaaufnahme schaffen. Philipp, es ist wirklich wunderschön hier. Mir ist jetzt klar, weshalb du hier ein Haus haben wolltest.“

Philipp strahlte. Er sagte sich, dass vieles einfacher werden würde, wenn sie gerne hier war. Aber er warnte sie dennoch. „Aber alles ist schrecklich primitiv hier. Kein Strom, kein Telefon, rein gar nichts. Nur Wasser und Strand und Natur.“

„Nur? Klingt doch ganz danach, als ob das genug sei. Jedenfalls um auszuspannen, um Urlaub zu machen.“

„Hoffentlich wird das Haus nicht zu klein für uns alle“, mischte sich jetzt Bobby ein. „Falls es dir zu viel wird mit den Kindern, dann sag es ruhig, Karen. Wir ziehen dann um zu Desiree. Sie hat es uns ohnehin angeboten.“

„Für die Kinder wäre es aber nicht dasselbe“, sagte Philipp. „Bei Desiree haben sie den Strand nicht direkt vor der Tür.“

„Und für dich wäre es auch nicht dasselbe“, sagte Karen lächelnd. „Keine Angst, es wird schon gehen. Wir sind doch wahrscheinlich die meiste Zeit draußen am Strand oder so, meint ihr nicht?“

„Also ich bestimmt“, sagte Philipp.

Nachdem sie die Flasche geleert hatten, ging Philipp ins Haus, um sich kurze Hosen anzuziehen. Ein wenig ratlos blickte er auf die ganzen Koffer und Taschen in seinem Schlafzimmer, das er nun mit Karen teilte. Der schmale Gang zwischen Betten und Wand war nahezu vollgestellt. Er war auch früher schon mit umfangreichem Gepäck zur Cala Dragonera gekommen. Damals hatte es sich allerdings um Bücher oder Dinge fürs Haus gehandelt, aber Karen hatte sich nicht ausreden lassen, einen Großteil ihrer und seiner Sommergarderobe mitzuschleppen.

Er öffnete seinen Koffer, nahm ein T-Shirt heraus und suchte im Schrank nach seinen alten verwaschenen Jeans.

Durch das offene Fenster konnte er Bobby und Karen reden hören. Sie sprachen über das Haus, was nahe liegend war, da Karen Architektur studiert hatte. Die beiden sahen sich das Haus von allen Seiten an.

„Phil wollte das Haus so und nicht anders“, hörte er Bobby sagen. „Mein Gott, was haben wir mal gestritten an einem Abend – wegen diesem Haus. Ich wollte etwas ganz anderes. Aber gut, schließlich war es sein Haus. Und hat er nicht recht gehabt? Passt sein Haus nicht perfekt zur Cala Dragonera und umgekehrt auch?“

„Das stimmt. Es dominiert nicht das Tal, was eine wirkliche Sünde gewesen wäre. Mich stört höchstens, dass die Schlafzimmerfenster keinen Blick aufs Meer haben und so klein sind. Ich weiß, das klingt vermutlich bescheuert, aber am Meer erwartet man wohl immer Zimmer mit Meerblick.“

Philipp musste grinsen. Und weil er sich plötzlich an die Zeit erinnerte, als hier alles noch eine einzige Baustelle war, stellte er sich vor, wie es wohl wäre, noch einmal Mauern hochzuziehen und Steine aufeinander zu setzen. Die Familie war größer geworden, ein Anbau wäre vielleicht gar nicht so übel. Ein, zwei Zimmer vielleicht. Viele Häuser hier auf der Insel hatten anfangs auch nicht mehr als zwei Schlafzimmer und wurden erst später allmählich vergrößert. Wenn er zum Beispiel seitlich anbaute und die Anbauten nach hinten verlängerte, würde eine Art Patio, ein Innenhof, entstehen, der Schutz bot an stürmischen Tagen. Aber wenn er ganz ehrlich war, reizte ihn vor allem der Gedanke, mal wieder Steine und Werkzeug in der Hand zu haben. Und körperlich zu arbeiten, bis er jeden Muskel spürte. Er beschloss, vorerst noch mit niemand darüber zu reden. Zumindest nicht heute, nicht an ihrem ersten Tag auf der Insel.

Während Bobby Karen das System erklärte, mit dem sie das Zisternenwasser ins Haus bekamen, ließ Philipp sich von Alex sein neues Boot zeigen, ein Modell, das sich durch eine Fernsteuerung lenken ließ. Alex war sehr stolz darauf und wollte es auf der Stelle im Wasser ausprobieren. Gemeinsam zogen sie dann kurz danach hinunter an den Strand. Die Kinder beschäftigten sich mit dem Boot, die Erwachsenen gingen schwimmen.

Karen war überrascht über das seichte Wasser. Was Philipp allerdings weniger mochte. Er beeilte sich, in tieferes Wasser zu kommen, das nicht diese Badewannentemperatur hatte. Bobby blieb neben ihm, aber als das Wasser dann tief genug zum Schwimmen war, tobten sie erst eine Weile herum, tauchten untereinander weg und jagten sich gegenseitig, bis Bobby mit kräftigen Zügen weiter hinaus schwamm. Philipp folgte ihr. Aber sie hielten beide das Tempo nicht lange durch und drehten sich danach auf den Rücken und ließen sich treiben und winkten Karen zu, die im flachen Wasser bei den Kindern geblieben war.

„Ich hab ein richtig gutes Gefühl, du auch?“, rief Bobby Philipp zu.

„Wegen Karen?“

„Genau.“

„Ich auch. Wird ihr schon gefallen hier, denke ich.“

„Bestimmt hat sie sich in ein paar Tagen eingewöhnt und dann macht ihr die Hitze auch nichts mehr aus. Ich werde mir jedenfalls Mühe geben, dass sie gerne hier ist.“

„Ich weiß, Bobby. Danke.“

Bobby schlug mit der flachen Hand aufs Wasser, sodass Philipp einen Schwall Wasser ins Gesicht bekam. Dabei lachte sie. „Du musst dich nicht bedanken, Dummkopf. Ich tu das hauptsächlich meinetwegen. Wenn Karen gerne hier ist, kommt ihr nämlich bald wieder und genau so stelle ich es mir vor.“

Danach schwammen sie in gemütlichem Tempo zurück und legten sich zum Trocknen auf den warmen Sand. Ein Stück entfernt lagen jetzt ein paar junge Leute. Auch wenn Philipp in die Ferne über den kilometerlangen Strand schaute, war kaum jemand zu sehen. Philipp vermutete, dass es im Moment wohl zu heiß war für Ausflüge und die Touristen deshalb lieber am Pool oder an den Stränden in Hotelnähe blieben. Er blickte noch eine Weile auf das in der Sonne glitzernde Wasser und machte dann, schläfrig geworden vom ruhigen Rauschen kleiner Wellen, ein Nickerchen.

Am Abend kam Desiree vorbei. Sie saßen gerade rund um den großen Holztisch auf der Veranda und aßen Spaghetti. Vicky und Alex war anzusehen, wie müde sie waren, aber sie hielten sich tapfer und verdrückten riesige Portionen. Seeluft und Sonne hatten sie alle hungrig gemacht.

Als die Kinder Desiree kommen sahen, liefen sie ihr entgegen und begrüßten sie stürmisch. Auch Philipp ging ihr entgegen. Als er sie in die Arme schloss, roch er ihren guten Duft nach Sonne und Erde und in seiner Kehle bildete sich so etwas wie ein Kloß und er schämte sich wegen seiner Treulosigkeit in den Jahren davor.

Desiree erwähnte jedoch mit keinem einzigen Wort seine lange Abwesenheit von der Insel. Und in Wahrheit hatten sie sich auch nie ganz aus den Augen verloren. Bobby hatte Philipp, was Desiree betraf, all die Jahre über auf dem Laufenden gehalten. Und umgekehrt vermutlich ebenso.

Mit Desiree in der Mitte, kehrten Philipp und die Kinder auf die Veranda zurück und überließen sie erst einmal Bobby. Die beiden begrüßten sich herzlich. Und danach war Karen an der Reihe.

Sie war als einzige sitzen geblieben. Und noch etwas unterschied sie von den übrigen. Sie wirkte ausgesprochen städtisch in ihrer Bluse und den langen Hosen, die sie der Mosquitos wegen angezogen hatte. Alle anderen waren in T-Shirts und Badehosen. Und sie hatte nicht die Spur Farbe abbekommen, da sie sich den ganzen Nachmittag über nicht vom Sonnenschirm weggerührt hatte, den Bobby angeschafft hatte, als die Kinder noch sehr klein waren.

„Das ist also deine Frau, Philipp. Wird auch langsam Zeit, dass ich sie kennen lerne.“ Desiree küsste Karen rechts und links auf die Wange. „Willkommen auf Magali.“

„Danke“, sagte Karen, offensichtlich überrascht.

„Mein Gott, Philipp. Sie ist eine Schönheit. Jetzt versteh ich dich. Ja, ich versteh jetzt wirklich einiges.“

Karen wehrte das Kompliment verlegen ab.

„Jetzt weiß ich, wieso Philipp nicht mich geheiratet hat. Dabei war ich mal heftig hinter dir her, stimmt’s Philipp?“ Durch ihr Augenzwinkern verriet Desiree jedoch, dass sie nur Spaß machte. Philipp zog einen Stuhl für Desiree an den Tisch und als sie neben ihm saß, fragte er sich, wie alt sie mittlerweile wohl sein mochte. Soweit er sich erinnerte, hatte er immer vermutet, sie sei zehn, fünfzehn Jahre älter als er. Jetzt war er sich dessen nicht mehr so sicher. Es kam ihm eher so vor, als ob sie sich altersmäßig allmählich näherten. Jedenfalls schien Desiree das Leben hier auf der Insel zu bekommen. Sie sah ausgesprochen gut aus. Gesund und kräftig. Auf ihrer braunen Haut lag ein seidiger Schimmer.

„Lasst euch nicht stören, danke, ich habe schon gegessen“, sagte sie, als Bobby ihr einen Teller holen wollte. „Ich wollte nur mal schnell Hallo sagen und sehen, ob ihr alles habt, was ihr braucht.“

„Das haben wir nun wirklich. Danke, dass du daran gedacht hast, uns den Kühlschrank zu füllen. Du weißt ja, wie ich es hasse, gleich nach der Ankunft einkaufen zu gehen“, sagte Bobby und schickte dann Alex das Geschenk zu holen, das sie für Desiree mitgebracht hatte.

„Und danke auch für den Wein, Desiree. Ich komm dieser Tage mal bei dir vorbei und wir rechnen ab.“ Philipp zahlte Desiree jeden Monat eine kleine Summe dafür, dass sie nach dem Haus sah, wenn es leer stand. Es gelegentlich durchlüftete, die Büsche goss und ähnliches.

„Komm, wann immer du magst, Philipp. Aber das mit dem Geld, das eilt nicht.“

Alex kam mit dem Päckchen zurück und gab es Desiree. „Du musst es aber gleich auspacken. Wir wollen doch sehen, ob du dich freust“, sagte er.

„Alex!“, mahnte Bobby ihn lachend.

Aber Desiree sagte, dass sie das sowieso getan hätte, weil sie ein neugieriger Mensch sei. Das Päckchen enthielt einen ziemlich verrückten lilafarbenen Rock aus sehr viel Stoff, der am Saum in geschwungenen Zipfeln endete. Bobby wusste, dass Desiree solche Sachen liebte und ihre Freude darüber war ihr anzusehen.

„Toll“, fand auch Alex, „kannst du sicher gut gebrauchen, wenn du in die Disco gehst, stimmt’s?“

Alle lachten. Alex machte ein verständnisloses Gesicht.

„Und sonst?“, erkundigte sich Philipp. „Was machen deine ganzen Aktivitäten?“. Er öffnete eine neue Flasche Wein und holte auch für Desiree ein Glas. 

„Nicht heute Abend, Philipp, okay? Dazu ist die Nacht zu schön und außerdem sind gute Freunde angekommen. Was will man mehr?“. Sie wandte sich an Karen. „Du musst mich mal besuchen. Meine Finca anschauen. Normalerweise verlange ich ja Eintritt, aber bei dir mache ich eine Ausnahme.“

„Danke. Ich komme gerne.“

Philipp war erleichtert, dass Karen nicht einmal zusammengezuckt war bei der vertraulichen Anrede.

Bobby sah, dass Vicky, die auf Desirees Schoß saß, die Augen zufielen. Sie stand auf, nahm Vicky auf den Arm und warf dabei Alex einen Blick zu. Der verstand auch ohne Worte und schob sich von seinem Stuhl hoch. Bevor er jedoch seiner Mutter folgte, sagte er zu Desiree: „Das ist aber nicht wahr, dass du Eintritt verlangst, falls jemand dein Haus ansehen will.“

„Im Moment noch nicht. Aber ich hab es mir geschworen, sobald die nächsten Touristen bei mir reingaffen.“

„Ja, das mach mal“, sagte Alex. „Dein Haus ist ja auch kein Museum, das jeder einfach anschauen kann.“

Auch Karen sagte bald darauf gute Nacht. Im Licht der Petroleumfunzel, die sie nun angezündet hatten, wirkte ihr schmales, schönes Gesicht ziemlich blass und unter den Augen hatte sie tiefe Schatten.

„Nimm ruhig die Lampe mit“, sagte Philipp.

„Nein, lass nur. Ihr sitzt sonst im Dunkeln“, antwortete sie.

„Nimm sie ruhig. Wir haben noch mehr von den Dingern, falls wir Licht brauchen.“

Schatten tanzten über die Hauswand, als Karen, die Petroleumlampe vorsichtig am Drahtbügel haltend, ins Haus ging.

„Dann geh ich jetzt besser auch“, sagte Desiree.

„Nein, bleib doch noch“, bat Philipp.

„Wirklich, bleib doch noch da“, sagte auch Bobby, die eben auf die Veranda zurückkehrte. „Leiste uns noch ein bisschen Gesellschaft an unserem ersten Abend. Wir gehen ja doch noch nicht schlafen. Ich bin richtig aufgekratzt. Es ist so wahnsinnig schön, endlich wieder hier zu sein.“

„Und du?“ Desiree wandte sich an Philipp.

„Ich hab eben festgestellt, dass es wohl nirgends auf der Welt einen besseren Platz gibt, um mit euch zusammenzusitzen und zu reden. Aber komm jetzt nicht auf die Idee, mich zu fragen, wieso ich so lange damit gewartet habe.“

„Du bist hier, das genügt. Forget all the other shit.”

Philipp lehnte sich in seinen Korbsessel zurück und zündete sich eine Zigarette an und dann legte er den Kopf zurück und sah hinauf in den hohen Himmel. Und wie an jedem ersten Abend, wenn er auf die Insel zurückgekehrt war, hatte er das Gefühl, niemals vorher eine so hohe Kuppel über sich gesehen zu haben. Anscheinend vergaß er in der Zwischenzeit, wie ein Nachthimmel aussehen konnte. Denn wann kam man zuhause, in der Stadt, schon dazu, in den Himmel zu schauen. Und überhaupt war der Himmel über Magali sowieso anders. Weiter und höher und klarer.

 

Am nächsten Morgen fuhren sie alle zusammen in den neuen Supermarkt in Monforte und deckten sich mit einem größeren Vorrat an Lebensmitteln ein. Anschließend setzten sich die Erwachsenen in ein Café an der Strandpromenade, die Kinder liefen hinunter an den Strand. Alex hatte sein Boot mitgenommen und wollte es heute noch einmal ausprobieren. Am Tag davor hatte er nicht viel Glück gehabt, das Wasser war zwar ziemlich ruhig gewesen, aber nicht ruhig genug für das leichte Boot. Eine Menge Leute sahen ihm zu, als er sein Boot ins Wasser setzte, da der Strand hier – mitten im Tourismuszentrum – so überfüllt war, dass die Leute fast wie die sprichwörtlichen Heringe in der Dose dalagen. Aber auch heute kenterte das Boot immer wieder. Außerdem waren ständig Leute im Weg.

„Na, das geht nicht mehr lang und er wirft das Boot in eine Ecke“, sagte Philipp. Von ihren Plätzen aus hatten sie einen guten Blick über den Strand.

„Oder ich werfe es in eine Ecke. Langsam nervt mich das blöde Ding“, sagte Bobby.

Karens wegen saßen sie unter einem Sonnenschirm. Sie tranken Kaffee. Spanischen Kaffee, den Philipp ausdrücklich bestellt hatte, da hier unten in Monforte fast an jeder Kneipe Tafeln hingen, auf denen deutscher Filterkaffee angeboten wurde. Eine scheußlich schmeckende, hellbraune Brühe, die das Wort Kaffee nun wirklich nicht verdiente.

Auffallend waren auch die vielen Kneipen und Läden längs der Strandpromenade, in denen fast überall gähnende Leere herrschte.

„Dieses Überangebot. Wie soll da ein Laden noch Umsatz machen? Ich versteh das einfach nicht“, sagte Philipp.

„Ich auch nicht“, Bobby schüttelte den Kopf. „Letztes Jahr gab es hier unten in Monforte zweiunddreißig Kneipen. Und jetzt? Ich weiß nicht. Eher noch mehr.“

„Zweiunddreißig Kneipen? Das darf doch nicht wahr sein“, sagte Karen.

„Doch. Frank und ich haben sie letzten Sommer mal gezählt. Nur so zum Spaß. Und sobald eine Kneipe dicht macht, ist kurz danach der nächste Besitzer drin. Neuer Besitzer, neuer Namen, das Spiel geht weiter.“

„Eine gewisse Spielermentalität gehört wohl schon dazu“, sagte Philipp. „Und ich kann nicht verstehen, dass niemand versucht, sich wenigstens ein bisschen von der Konkurrenz abzuheben. Alle bieten doch mehr oder weniger dasselbe. Also genau genommen ziemlich wenig.“ Philipp seufzte. „Aber das ist schon wieder dieses blöde Überlegenheitsgefühl, diese Besserwisserei, was ich im Grunde wirklich hasse. Sie machen es eben auf ihre Art und das ist schon in Ordnung so.“

„Klingt ziemlich fatalistisch“, sagte Karen.

„Nein. Ich denke eher, Kritik zu üben steht mir nicht zu. Wer bin ich denn? Doch nur ein Fremder.“

„So kenn ich dich gar nicht. Da stecken ja geradezu philosophische Ansätze drin.“ Bobby lachte. „Und das an einem Tag wie heute. Und mitten zwischen Softeis-Buden und diesem ekligen Gestank nach Kokossonnenöl.“

„Stimmt.“ Philipp lachte ebenfalls. „Von allen Sonnenölen der Welt ist es weiß Gott das Fürchterlichste.“

„Und was ist eigentlich mit Desiree?“, fragte Karen.

„Was soll mit ihr sein?“

„Hast du nicht erzählt, sie hätte eine Gruppe ins Leben gerufen, die versucht, die landschaftliche Zerstörung so gering wie möglich zu halten?“

„Ja. Das versuchen sie. Aber Desiree ist nur eine Art Organisator, ein Koordinator oder wie du das nennen willst. Die ökologische Idee wird schon auch von Einheimischen getragen. Sagen wir so, Desiree arbeitet mit ihnen zusammen.“

„Find ich gut.“

„Ich auch. Aber das Schlimmste haben auch sie nicht verhindern können.“

„So ähnlich wie bei unseren Bürgerinitiativen.“

„Ja, so ähnlich ... Aber jetzt mal was anderes, haben die Damen irgendwelche Pläne für heute? Karen, hättest du Lust auf eine Inselrundfahrt?“

„Ich weiß nicht ... können wir uns die ganzen Sehenswürdigkeiten nicht anschauen, wenn es nicht ganz so heiß ist wie heute?“

„Da wirst du eventuell lange warten müssen. Bis Ende September, Anfang Oktober vermutlich. Und welche Sehenswürdigkeiten übrigens? Es gibt eigentlich keine. Nur Landschaft und Strand und Wasser und Himmel.“

„Auch gut. Dann bleiben wir doch gleich in der Cala Dragonera. Bestellst du mir bitte noch ein Wasser, Philipp? Ich bin am Verdursten.“

Philipp war ein wenig enttäuscht, aber er bestand nicht weiter auf seinem Vorschlag. Zu seinem Glück kann man niemand zwingen, meinte er im Stillen, und so verbrachten sie den Nachmittag wieder am Strand. Bobby und er lagen in der Sonne, Karen hatte ihr Strandtuch wieder unter dem Sonnenschirm ausgebreitet. Sie beschäftigte sich mit einem Buch über moderne Architektur, von denen sie eine ziemliche Menge mitgebracht hatte.

Nicht weit entfernt von ihnen lagerte eine spanische Familie. Philipp, die Augen mit einem Arm gegen die Sonne abgeschirmt, vertrieb sich eine Weile die Zeit damit zu beobachten, wie sich die beiden Jungen der Familie allmählich an Vicky und Alex heranpirschten, die wieder mit dem Boot beschäftigt waren. Alex am Strand, Vicky bis zu den Knien im Wasser, um das Boot umzudrehen, falls die Dünung es umwarf. Die spanischen Jungen waren ein wenig älter als Alex, dennoch zog das Boot sie fast magisch an, und es dauerte nicht lange und der erste Kontakt zwischen den Kindern war da.

Bobby lag lang ausgestreckt neben ihm und ließ sich mit geschlossenen Augen von der Sonne rösten Ihre glatten kurzen Haare waren noch nass vom Schwimmen und lagen ihr wie eine Kappe eng am Kopf.

Philipp drehte sich und hatte jetzt Karen im Blick. Nur verdeckte ihr breitkrempiger Strohhut den größten Teil ihres Gesichts und er sah nicht viel mehr als ihr Kinn über ihren sehr geraden Schultern. Sie schien seinen Blick zu spüren, denn sie hob den Kopf, und er sah die dunklen Gläser ihrer Sonnenbrille auf sich gerichtet.

„An was denkst du?“

„An nichts“, antwortete Philipp.

„Geht es dir gut?“

„Hm. Sehr gut.“

Philipp legte die Arme unter den Kopf und blickte hinauf zu den zarten, fast durchsichtigen kleinen Wolkenknäueln über ihm. Und versuchte, an wirklich nichts zu denken. Einfach faul dazuliegen und zu dösen und sich von der Sonne den Pelz verbrennen zu lassen.

Gegen Abend, als Bobby und Karen das Abendessen vorbereiteten, beschloss Philipp, zu Desiree hinüber zu fahren. Als die Kinder das hörten, wollten sie mitkommen, aber Bobby vertröstete sie auf ein anderes Mal. Was Philipp ganz recht war, da er mit Desiree abrechnen wollte. Desiree schwamm nicht gerade in Geld und sie hatte doch einiges für ihn ausgelegt.

Er traf Desiree jedoch nicht an. Die blau gestrichene Haustür war geschlossen. Ein sicheres Zeichen, dass die Finca verwaist war. Philipp stieg dennoch aus dem Auto, um sich ein wenig umzuschauen.

Unter den hohen Geranienbüschen vor der Veranda saßen ein paar Katzen und beobachteten ihn misstrauisch. Er zählte vier Stück. Möglicherweise war also noch eine dazu gekommen, aber Philipp erinnerte sich nicht mehr so genau, wie viele Katzen Desiree gehabt hatte. Er versuchte, eine der Katzen anzulocken, aber als er sich ihr näherte, flüchtete sie in langen Sätzen.

Er blieb vor der Veranda stehen und sah sich das kleine alte Bauernhaus an. Das schmale, tief gezogene Vordach über der Tür, das niedrige Gartentor in der völlig mit Grünzeug überwucherten Verandamauer. Den ganzen Kram, der überall herumlag oder an der Hauswand hing. Alte Konservendosen und Farbeimer mit blühendem Zeug bepflanzt, brüchige alte Körbe und Strohtaschen, glatt poliertes Schwemmholz, auf das Desiree mit Ölfarbe Gesichter gemalt hatte. Tomaten und Zwiebeln zu Strängen gebunden und jede Menge mehr. Und neben dem Haus eine Gruppe kräftiger Opuntien, die es fast überragten. Ein Zitronenbaum mit leuchtend gelben Früchten. Welch phantastisches Fotomotiv für Touristen, schoss Philipp durch den Kopf.

Er spürte ein Kitzeln an seinen nackten Beinen. Eine der Katzen, gelb und fett, hatte sich angeschlichen und rieb ihre Flanke an seinen Beinen. Als er sie jedoch streicheln wollte, wich sie mit durchgedrücktem Rücken aus und ging dann mit wiegendem Gang über die Veranda und streckte sich dort zwischen den Pflanzenkübeln aus.

Er schrieb einen Gruß für Desiree auf die Schiefertafel, die zu diesem Zweck neben der Haustür hing und fuhr dann wieder zur Cala Dragonera zurück.

 

Als Philipp erwachte, schien die Morgensonne durchs offene Fenster. Kleine Staubfäden tanzten im Licht. Leise stand er auf und zog seine kurzen Hosen an. Karen schlief noch. Sie lag auf der Seite, einen Arm über die Augen gelegt und atmete ruhig. Er schloss leise den Fensterladen, damit sich der Raum nicht zu sehr aufheizte und ging dann in die Küche, um Wasser für den Kaffee aufzustellen. Danach ging er hinaus auf die Veranda.

Der Himmel war mit einem diesigen Schleier überzogen, ein Zeichen für relativ hohe Luftfeuchtigkeit, die sie im Laufe des Tages ganz schön ins Schwitzen bringen würde. Sie hatten Ende Juli, die Hundstage also – auf Magali Nonnenfeuer genannt, das bis zum zwanzigsten August, dem Tag des Heiligen Bernhards, brennen würde. Noch war die Temperatur allerdings angenehm, die Sonne hatte noch nicht ihre spätere Kraft. Ein schwacher Luftzug kam aus Nordost, also vom Land her, sodass der Geruch des nahen Wassers heute kaum wahr zu nehmen war.

Er ging mit bloßen Füßen hinter das Haus zur Zisterne und sah sich den Zustand der beiden Rohre an, die zur Zisterne führten. Durch das eine lief das auf dem Dach aufgefangene Regenwasser in die Zisterne, das andere führte zu dem kleinen Wasserreservoir auf dem Dach, das Bad und Küche mit fließendem Wasser versorgte. Die Rohre waren in Ordnung, die Schrauben der Halterung, mit der sie am Haus befestigt waren, zeigten jedoch Spuren von Rost. Philipp beschloss, sie gelegentlich zu erneuern. Und dann auch gleich die Zisterne und die eiserne Platte, die sie abdeckte, zu streichen. An einigen Stellen blätterte die Farbe ab. Er setzte seinen Inspektionsgang fort und dabei entdeckte er eine Menge Unkraut in den Fugen der Steinplatten auf der Veranda.

Vergangenen Abend war er mit Vicky und Alex sein Land abgegangen, um Müll und Abfälle einzusammeln, auch die ganzen Bier- und Coladosen, die irgendwelche Vandalen über die Mauer geworfen hatten. Und dabei hatten sie in dem kleinen Pinienwald eine Menge Fallholz entdeckt. Irgendwann in den nächsten Tagen wollte er es einsammeln und zum Haus hinauf schaffen, da es sich wunderbar zum Feuer anmachen im Kamin oder zum Grillen eignete.

Der Gedanke an Kaminfeuer erinnerte Philipp an frühere Wintertage auf der Insel, wo er abends bei Desiree am Feuer gesessen hatte und an lange Spaziergänge bei stürmischem Wetter über menschenleere Strände. Und an Einsamkeit und Stille. Und er nahm sich vor, bald einmal festzustellen, ob es sich noch immer lohnte, Wintertage auf Magali zu verbringen. Jetzt, da die erste Hürde genommen war – und es hatte Philipp einiges an Überwindung gekostet wieder herzukommen, brauchte er weiß Gott nicht mehr länger so tun, als ob Magali und die Cala Dragonera ihn nicht mehr interessierten. Zumindest so zu tun, als ob es sie gar nicht gebe. Und der Gedanke, demnächst wieder herzukommen, gefiel ihm so gut, dass er hätte Bäume ausreißen können vor lauter überschüssiger Kraft und Energie.

Vor sich hin pfeifend ging er ins Haus, nahm das Wasser von der Gasflamme und goss Kaffee auf. Und nachdem er die erste Tasse getrunken hatte, begann er, die Veranda und die Stufen, die zur Veranda führten, von Gras und Unkraut zu säubern.

Philipp hatte noch nicht lange gearbeitet, als Vicky auftauchte. Ihre bloßen Füße patschten auf den Steinboden, und ihre kurze Hose war ihr über den kleinen runden Bauch gerutscht, aber sie war hellwach und interessierte sich sehr dafür, was er machte. Und schon kurz danach bohrte sie mit ihren kleinen Fingern eifrig in den Ritzen zwischen den Steinplatten und holte noch die kleinsten Grasbüschel hervor, die Philipp übersehen hatte.

„Wir machen alles ganz schön, nicht Onkel Philipp? Dann wird die Mama aber staunen.“

„Machen wir.“

„Und nachher waschen wir uns die Hände und dann gehen wir schwimmen.“

Philipp amüsierte sich im Stillen darüber, dass sie nur mit gewaschenen Händen schwimmen gehen wollte. Im Übrigen konnte Vicky noch gar nicht schwimmen, sie paddelte nur mit ihren Schwimmflügeln im Wasser herum.

„Aber erst nach dem Frühstück.“

„Ja, erst nach dem Frühstück.“

„Weißt du was?“, sagte Vicky nach einer Weile angestrengter Arbeit.

„Nein, sag es mir.“

„Ich will gar nicht wieder nach Hause. Hier ist es viel schöner. Ich kann jeden Tag schwimmen und Burgen bauen und muss nicht in den doofen Kindergarten.“

„Ich finde es hier ja auch viel schöner als zuhause.“

„Dann bleib doch einfach hier, Onkel Philipp.“

„Als ob das so einfach wäre.“

„Ganz einfach ist das. Du bleibst hier und fertig.“

Sicher, mit fünf Jahren erschien einem vieles noch ganz einfach. Philipp überlegte, was er darauf sagen sollte, ohne es allzu kompliziert zu machen. Schließlich sagte er, schon deshalb sei es absolut nicht einfach, weil er zuhause eine Menge Arbeit hätte.

„So wie mein Papa?“

„Ja, so wie dein Papa.“

„Aber wenn er fertig gearbeitet hat, dann kommt er.“

„Ganz bestimmt.“

Vicky nickte und arbeitete weiter, aber für Philipp war das Thema noch nicht erledigt. Sicher, Vicky hatte sich mit seiner Antwort zufrieden gegeben, aber die ganze Wahrheit war es nicht. Zwar hatte es schon eine Zeit gegeben, wo ihm seine Arbeit furchtbar wichtig gewesen war. Vor allem damals, als es noch darum ging, sich selbst und anderen etwas zu beweisen. Als er sich mit seiner Werbeagentur selbständig gemacht hatte und das in einem Alter, als andere gerade erst begannen, in abhängiger Position zu arbeiten. Es war eine gute und spannende Zeit gewesen damals, keine Frage. Aber mehr und mehr war dann Routine aufgekommen, selbst gelegentliche Rückschläge hatten nichts daran geändert. Es war also höchstens die halbe Wahrheit, wenn er so tat, als ob allein seine Arbeit ihn für etliche Jahre von Magali fern gehalten hatte. So weit, so gut. Nur machte es im Moment keinen Sinn, darüber nachzugrübeln. Besser, er konzentrierte sich jetzt darauf, eine saubere Veranda zu haben und außerdem zu überlegen, was er heute unternehmen könnte.

Dennoch waren Vicky und er noch nicht ganz fertig mit der Arbeit, als Bobby auftauchte. Sie war noch im Nachthemd und setzte sich mit einem Becher Kaffee auf die Verandamauer und sah ihnen zu. Im Haus war Alex wohl beim Frühstück machen. Durch die offenen Fenster war zu hören, wie er Schranktüren öffnete und mit Geschirr herum klapperte. Philipp kannte das schon. Wenn er gelegentlich die Kinder übers Wochenende bei sich hatte, rührte Alex für alle Kakao an und bestrich eine Menge Brote mit Schokoladenaufstrich.

Ein zufällig Vorübergehender hätte das Ganze für ein wunderbares Familienidyll halten können. Vater, Mutter, Kinder. Eine ganz und gar unkomplizierte Geschichte also. Allerdings nur für einen zufällig vorüber gehenden Fremden. Philipp spürte, wie er beim Arbeiten allmählich ins Schwitzen geriet und machte für heute Schluss. Nachdem er noch die Veranda mit einem Besen sauber gemacht hatte, setzte er sich zu Bobby auf die Mauer und trank seine zweite Tasse Kaffee und erkundigte sich, ob sie mitkomme nach San Lorenzo. Er hatte vor, die Schrauben und die Farbe für die Zisterne gleich heute noch zu besorgen.

„Ich komm mit“, sagte Vicky.

„Ich auch.“ Alex streckte seinen Kopf zum Küchenfenster heraus.

„Also schön. Abfahrt gleich nach dem Frühstück. Und du, Bobby, was ist mit dir? Kommst du mit?“

„Du lieber Gott, nein. Ich werde mich hüten. Ich kenne den Trubel morgens in San Lorenzo.“

„Ich werde es überleben“, sagte Philipp. „Solange wir nur hier unsere Ruhe haben.“

„Okay. Aber sag nachher bloß nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Du warst eine Weile nicht da im Sommer. Und mir kam es schon letztes Jahr so vor, als ob San Lorenzo aus allen Nähten platze.“

Philipp grinste. „Lass doch ruhig jeden seine schlechten Erfahrungen selber machen.“

„Mach mal. Und viel Spaß dabei.“ Bobby lachte.

Auch Karen zog es vor dazubleiben, nachdem sie von den vollen Ausflugsbussen mit Tagestouristen von der Nachbarinsel gehört hatte, die auf ihren Inselrundfahrten morgens in San Lorenzo Halt machten. Und so lud Philipp nur die Kinder ins Auto und alle drei stellten sie fest, dass die Menschenmassen, die sich durch die schmale Hauptstraße schoben, wirklich so enorm waren wie Bobby prophezeit hatte. Dazu war es fast unglaublich heiß, heißer als bei ihnen unten an der Cala Dragonera. In der schmalen Straße staute sich die Hitze geradezu.

Trotz des Trubels kam es Philipp nicht so vor, als ob sich viel verändert hätte. Die Zeiten eines geradezu hektischen Baubooms, des Goldfiebers, waren auf Magali wohl allmählich vorbei. Einzig am Ortsrand war ein neues Mietshaus mit Läden im Erdgeschoss dazu gekommen, aber einige der Läden standen leer und an einigen Fenstern der Wohnungen hingen Schilder. „Se alquila“ oder „Se vende“. Zu vermieten oder zu verkaufen also. Aber Philipp erschien die Bauruine daneben, wo zwischen Steinen und Bauschutt Unkraut wucherte, eher als Zeichen dafür, dass die Insel an ihre Grenzen gestoßen war.

Er schlenderte mit den Kindern die Straße hinauf, die zum Marktplatz führte, zur Plaza Consistorial. Da es dort nicht viel Sehenswertes gab – die baufällige Kirche war noch immer nicht renoviert, und abgesehen davon fehlte dem eher plumpen Bau die Schönheit maurischer Bauten, die Philipp auf dem Festland gesehen hatte – drängten sich die Leute um einige Verkaufsstände auf dem Platz. Wo Souvenir-Artikel, Plastikspielzeug, neonfarbene T-Shirts, Modeschmuck und ähnliches angeboten wurde. Philipp entgingen Vickys begehrliche Blicke nicht, er ging dennoch weiter bis zum letzten Verkaufsstand. Ausschau haltend nach etwas ganz Bestimmtem. Er suchte jene geradezu voluminöse Frau, die Palomas handgestrickte Pullover aus Schafswolle verkauft hatte. Aber er konnte den kleinen, mit Pullovern überladenen Tisch nirgends entdecken. Und während die Kinder sich die Verkaufsstände ansahen, stand er da und rauchte und fragte sich, was das wohl zu bedeuten hatte. Die Saison war kurz und wenn Paloma ihre Pullover nicht jetzt anbot, wann dann? Irgendetwas schien da nicht zu stimmen. Alex riss ihn aus seinen Gedanken.

„Na, nichts gefunden?“

„Nö. Ist ja alles nur Kram.“

„Ja. Ziemlicher Kram sogar.“

„Glaubst du, wir bekommen in der Eisenwarenhandlung, wo du hinwillst, eine Angelschnur und Haken, Onkel Philipp?“

„Du willst also angeln?“

„Ich könnte es ja mal versuchen.“

„Ja, versuch es. Ich denke, jeder sollte es mal versuchen. Jeder Junge meine ich.“

Alex nickte. Sie sahen sich dabei an. Und Philipp liebte den Jungen in diesem Moment sehr und war froh, dass sie sich so gut verstanden. Aber da war noch immer die Sache mit Paloma, Philipp sorgte sich um sie. Weshalb er auch übersah, dass Vicky wieder aufgetaucht war. Sie musste ihn erst am Hosenbein zupfen und schleppte ihn dann zu einem der Stände, wo sie auf einen winzigen Schwimmring aus giftgrünem Gummi deutete, auf dem eine Palme aufgemalt war und die Aufschrift „Happy Holidays“. Außerdem war eine Kette mit Schlüsselring daran befestigt. Es war so ziemlich das Scheußlichste, das Philipp je gesehen hatte, aber Vicky hatte offenbar ihr Herz daran gehängt.

„Das ist ein Schlüsselanhänger, ist dir das klar?“, erkundigte Philipp sich vorsichtshalber.

Vicky nickte. „Glaubst du, du kannst die Kette abmachen?“

„Warum denn das um Himmelswillen?“

„Weil Klara, du weißt schon, meine Puppe, dann einen Schwimmring hat und dann kann sie mit mir ins Wasser gehen und schwimmen.“

Philipp war sich nicht sicher, ob er die Kette wirklich abbekommen würde, aber er wollte es versuchen und so zahlte er die hundert Peseten für den Schlüsselanhänger. Danach gingen sie zur Eisenwarenhandlung, wo er einige starke Schrauben kaufte. Außerdem einen Kübel blauer Ölfarbe und Haken und Angelschnur für Alex. Anschließend schlenderten sie zur Bar El Centro, wo jedoch alle Tische besetzt waren und so dauerte es eine Weile, ehe sie ein paar freie Stühle fanden.

Philipp hielt dabei Ausschau nach Miguel, dem Besitzer der Kneipe, aber er war nirgends zu sehen. Schließlich bestellte er bei einem jungen Kellner, der ziemlich lustlos versuchte, mit dem Ansturm von Gästen fertig zu werden, ein San Miguel-Bier und Fanta limón für die Kinder.

„Miguel heute nicht da?“, erkundigte er sich bei ihm.

„Si, claro“, sagte der junge Mann und deutete mit dem Kinn zum Eingang der Kneipe.

„Gracias“, sagte Philipp und schärfte dann den Kindern ein, sich nicht von der Stelle zu rühren solange er in der Kneipe war. Auch dort war Hochbetrieb, der Durst trieb das Vieh zur Tränke. Und der Lärm war unbeschreiblich, da der Fernseher in der Ecke mit voller Lautstärke lief und alle taten ihr Bestes, ihn zu übertönen. Es war schrecklich und einzigartig zugleich. Dieser Lärm, dieses Durcheinander, die Kippen und der Dreck auf dem Boden und die Menge an benutzten Gläsern und Tassen auf dem langen Holztresen. Und die dumpfe Hitze, die einem fast den Atem nahm.

Am Bierhahn arbeitete ein junger Mann und ein zweiter stand an der Kaffeemaschine, aber Miguel war auch hier nirgends zu sehen. Schließlich ging Philipp an der Theke vorbei und stieß die Tür auf, die zur Küche führte und dort stand Miguel an der Plancha und wendete gerade ein paar Fleischstücke.

Als Philipp ihn ansprach, drehte er sich um und hob abwehrend die Arme, wohl in der Annahme, ein Gast habe sich in der Tür geirrt. Dann erkannte er Philipp jedoch und er ließ ihn seine harten Schnurrbarthaare spüren, als er ihn umarmte.

„Sieh mal einer an. Wieder von den Toten auferstanden, was?“, rief er. „Lass dich anschauen. Dafür dass dir irgendwas Schreckliches passiert ist, und dir muss was Schreckliches passiert sein, sonst hättest du dich ja wohl schon eher wieder blicken lassen, also dafür siehst du nicht übel aus.“

Es klang barsch, aber so war Miguel eben. Er hatte sich auch sonst nicht viel verändert. Sein Hemd spannte noch immer über dem Bauch, und er hatte auch noch denselben mürrischen Blick.

„Komm, trinken wir einen. Wie sich das gehört unter Freunden.“

„Aber immer“, sagte Philipp. „Lass mal sehen, was du hast.“

Sie verließen die Küche und Philipp stellte sich ans Ende des Tresens, während Miguel eine Flasche holte und ihm ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit hinstellte, das stark nach grünen Äpfeln duftete. Licor de Manzana Verde.

“Also, was war los mit dir, hombre? Es hat tolle Gerüchte gegeben. Es hieß, du wollest die Cala Dragonera verkaufen und solches Zeug. Also ich hab das ja nicht geglaubt und ich hab recht gehabt, was?“

„Hundertprozentig. Ich verkauf mein Land nicht, keinen Meter. Ich hab ein bisschen zu viel Arbeit gehabt und dann noch so dieses und jenes. Deshalb konnte ich nicht kommen.“

„Man sucht es sich nicht aus.“

„Nein.“

Philipp deutete mit dem Kopf auf die vollbesetzte Terrasse. „Aber du kannst dich auch nicht über Mangel an Arbeit beklagen, weiß Gott nicht.“

Aber Miguel winkte ab. „In einer Stunde sind die Busse wieder weg und dann ist hier alles wie tot. Aber du hast Recht, ich kann nicht klagen. Besser zwei Stunden ein gutes Geschäft als gar keins. Und dann hab ich auch noch oben im Haus die Fremdenzimmer.“

„Ach deshalb kam mir dein Haus so verändert vor. Du hast aufgestockt.“

„Ja, war aber vermutlich ein Fehler. Ach was, eine Riesendummheit war das.“

„Wieso? Läuft es nicht?“

„Nicht besonders. Alles will nur ans Meer.“

„Du hättest nach Monforte gehen sollen mit deinen Fremdenzimmern.“

„Ich weiß.“

Philipp blickte durch die offene Tür nach den Kindern. Die beiden saßen vergnügt im Schatten der blauen Markise, und er fand es schön, sie da sitzen zu sehen, bereits ein wenig braun gebrannt, wodurch ihre Haare noch heller wirkten und zu wissen, dass sie zu ihm gehörten. Aber er musste auch daran denken, dass es da noch etwas anderes gab. Etwas, das ihm ebenso wichtig war und das ihm im Moment nicht in Ruhe ließ.

Er wandte sich wieder Miguel zu. „Eine Frage. Was macht übrigens Paloma? Paloma Torres, du weißt schon, die von Porto Saler.“

Miguel sah ihn überrascht an. „Ich weiß, wer Paloma Torres ist. Aber was hat sie mit meinen Fremdenzimmern zu tun?“

„Nichts. Mir fiel das nur eben ein. Die dicke Alte ist gar nicht mehr da, die immer ihre Pullover verkauft hat.“

„Vermutlich waren diese dicken Winterpullover kein Geschäft mehr. Aber soweit ich weiß, geht es Paloma ganz gut. Sie hat wohl eine Menge zu tun mit ihrem ganzen Salat und Gemüse. Erst hat ja keiner geglaubt, dass das was wird mit ihrem Bewässerungssystem. Aber es scheint wohl zu klappen und die Hotels nehmen ihr ja bis zur letzten Tomate alles ab, um die Frachtkosten zu sparen.“

Philipp hatte nicht die geringste Ahnung, worüber Miguel redete. Aber es klang gut und passte so ganz zu Paloma. Deshalb unterbrach er Miguel auch nicht.

„Und die alte Antonia, na ja, es erwischt uns alle mal. Zwei Jahre ist das jetzt her. Ich Dummkopf, ich hätte auf sie hören sollen.“

„Wieso?“

„Sie hat mir abgeraten. Sie fand, das mit den Fremdenzimmern sei keine gute Idee. Und recht hat sie gehabt. Ein gescheites Frauenzimmer. Die hat gewusst, wie man Geld macht.“ Miguel legte Philipp eine Hand auf den Arm. „Komm mal am Nachmittag vorbei oder am Abend. Dann ist es ruhig hier und wir können ausführlich reden ... was ich dich fragen wollte, du machst doch noch Werbung, oder? Und ich hab vor, da mal was anzukurbeln, einen Prospekt oder so. Und du kannst mir vielleicht dabei helfen.“

„Sicher. Warum nicht?“

„Nichts Großartiges. Ein Foto von der Bar vielleicht und links und rechts vielleicht ein paar Palmen. Macht sich immer gut, oder? Was meinst du?“

„Mach dir keine Gedanken. Ich lass mir was einfallen“, sagte Philipp, obwohl er im Stillen so seine Zweifel hatte, ob ein noch so gut aufgemachter Werbeprospekt das Geschäft mit Miguels Fremdenzimmern wirklich ankurbeln würde. Aber der alten Zeiten wegen konnte er schlecht nein sagen.

Sein Bier draußen auf der Terrasse war schal geworden und er ließ es stehen. Paloma! Es ging ihr also gut. Für den Moment genügte ihm das.

 

Für den Abend hatten sie ursprünglich geplant, auswärts essen zu gehen. Da aber Vicky sich nicht wohl fühlte, wurde doch nichts daraus. Bereits am Nachmittag war sie immer stiller geworden, wollte nicht ins Wasser und saß nur unter dem Sonnenschirm. Als ihre Stirn sich dann auch noch glühend heiß anfühlte, steckte Bobby sie ins Bett, wo sie bis in den Abend hinein schlief. Und Bobby wollte sie natürlich nicht allein lassen.

„Macht ihr beide euch einen schönen Abend“, sagte sie zu Philipp und Karen. „Wir müssen ja auch nicht immer alles zusammen unternehmen.“

Aber Philipp machte sich Sorgen um Vicky und bot sich an, den neuen jungen Arzt auf der Insel zu holen.

„Ach was, Kinder fiebern leicht mal. Du wirst sehen, morgen ist die Geschichte ausgestanden“, sagte Bobby.

„Na gut, wenn du meinst. Aber ist überhaupt noch was zum Essen da für euch?“

„Kein Problem. Von gestern sind noch ein paar Koteletts da und Gemüse, wir verhungern schon nicht.“

Philipp überlegte und sagte dann: „Reicht das eventuell für uns alle?“

„Ich denk schon. Aber ich will nicht, dass ihr wegen Vicky zuhause bleibt. Geht und amüsiert euch. Zeig Karen mal das Nachtleben auf Magali.“

„Hast du Lust, Philipp?“, fragte Karen.

„Nicht besonders, ehrlich gesagt. Verschieben wir die ganze Sache doch einfach auf morgen. Ich für meinen Teil würde auch gerne mal früh ins Bett gehen. So was gehört zum Urlaub ja schließlich auch dazu.“

„Ja, gut. Gehen wir eben morgen“, stimmte ihm Karen zu. Falls sie enttäuscht war, ließ sie es sich nicht anmerken.

Philipp bot sich an, beim Kochen zu helfen, aber Bobby lehnte sein Angebot ab und so ging er hinunter zum Strand, um vor dem Essen noch ein wenig zu schwimmen. Da niemand Lust hatte, ihn zu begleiten, ging er allein. Karen hatte sich die Haare gewaschen und wollte sich ihre Frisur nicht verderben und auch Alex hatte im Moment genug vom Wasser. Nach dem Desaster mit seinem Boot, hatte er auch mit der Angelschnur kein Glück gehabt. Er wollte es jedoch auf alle Fälle am nächsten Tag noch einmal versuchen.

Philipp fand es unbeschreiblich herrlich unten am Wasser. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und die Luft war schwer von dem feuchten, modrigen Geruch des Wassers, das jetzt still und schwer dalag. Nur ab und zu leckte die Dünung mit leisem Schmatzen am Ufer. Hinter ihm zeichneten sich die Pinien wie eine dunkle Wand zwischen ihm und dem Rest der Welt ab, und er kam sich so einsam vor wie damals, als er zum ersten Mal auf Magali gewesen war. Aber jetzt und auch damals hatte er dieses Gefühl ausgesprochen gern gehabt.

Langsam watete er ins Wasser, das immer noch sehr warm war. Fast zu warm. Um rascher in tieferes, kühles Wasser zu kommen, begann er bereits zu schwimmen, als das Wasser ihm erst bis zu den Oberschenkeln ging. Er kraulte ein Stück weit und ließ sich dann treiben. Sich und seine Gedanken. Er dachte an Alex und daran, wie leicht sich sein ferngesteuertes Boot jetzt in dem ruhigen Wasser lenken lassen würde und an Vicky, die sich hoffentlich gesund schlief. Nach einer Weile machte er jedoch Schluss damit, seine Gedanken ziellos umher irren zu lassen. Wenn er ganz ehrlich sich selbst gegenüber war, musste er zugeben, ganz bewusst eine bestimmte Richtung eingeschlagen zu haben. Waren die Schrauben und der Farbkübel, die heute Morgen so ungeheuer dringend waren, nicht der beste Beweis dafür? Wie weit er noch gehen würde oder was genau daraus werden sollte, wusste er selbst nicht so genau. Soviel stand jedoch fest, da er einmal angefangen hatte, würde er sicherlich weitermachen.

Der Gedanke daran kam ihm so groß und ungeheuerlich vor, dass ihm fast schwindlig wurde. Um wieder klar im Kopf zu werden, tauchte er bis zum Grund hinunter, wo das Wasser herrlich erfrischend war. Aber auch so dunkel, dass er befürchtete, die Orientierung zu verlieren, ja er kam sich fast wie betrunken vor. Ohnehin musste er schon bald aufgeben und ließ sich tief Luft holend erneut an der Oberfläche treiben.

Nach dem Abendessen, Vicky verschlief es, bot er Alex an, noch einmal mit ihm zusammen das Boot auszuprobieren, aber Alex hatte keine Lust. Er saß neben der Petroleumlampe und blätterte in einem Buch über Seefische, das Philipp gekauft hatte, als er selber noch Ambitionen in Richtung Angeln hatte.

Karen räumte den Tisch ab, während er mit Bobby den Rest Wein austrank, der vom Abendessen übrig war. Nicht lange danach schickte Bobby Alex ins Bett und da sie alle ziemlich müde waren, sagte auch sie kurz danach Gute Nacht.

Philipp rauchte noch eine letzte Zigarette und stand dann ebenfalls auf. Er nahm an, dass Karen noch unter der Dusche war. Als er jedoch in ihr gemeinsames Zimmer kam, lag sie bereits im Bett und las. Sie löschte jedoch die Lampe, nachdem auch Philipp im Bett war und griff dann im Dunkeln nach seiner Hand. Er spürte, dass sie feucht war.

„Ist dir noch immer so heiß?“

„Ja, schrecklich. Ich frage mich, wie ein Mensch schlafen soll bei dieser Hitze. Letzte Nacht bin ich erst gegen Morgen eingeschlafen.“

Philipp hatte nichts davon gemerkt, er hatte fest und tief geschlafen.

„In ein paar Tagen hast du dich daran gewöhnt“, tröstete er sie. Dann gab er ihr einen Kuss auf die Wange, drehte sich auf die Seite und schloss die Augen. Er hielt sie auch geschlossen und rührte sich nicht, als Karen zu ihm herüber rutschte und sich an ihn kuschelte.

„Was ist los?“, fragte sie leise.

„Nichts. Ich bin einfach nur müde.“

„Kann es sein, dass deine Müdigkeit mit mir zu tun hat? Vielleicht wäre es dir lieber, ich wäre nicht hier.“

Das überraschte Philipp. Er hatte nicht das Gefühl, dass er irgendwie lieblos oder anders als sonst Karen gegenüber gewesen wäre und sagte deshalb: „Aber wieso das denn?“

„Ich weiß auch nicht. Aber du und Bobby und die Kinder, ihr seid eine solche Einheit, ihr gehört irgendwie fest zusammen. Ich komme mir manchmal wie ein Fremdkörper, wie ein Eindringling vor. Das Gefühl hatte ich übrigens schon früher manchmal, aber noch nie so stark wie jetzt.“

Philipp drehte sich zu Karen um und blickte sie an, aber es war zu dunkel, nur Umrisse ließen sich erkennen.

„Du bist doch hoffentlich nicht eifersüchtig auf Bobby oder die Kinder?“

„Nein, eifersüchtig bin ich nicht. Es ist was anderes ... und ich denke, ich weiß jetzt auch, weshalb du bisher nie mit mir hierher gefahren bist.“

Philipp versuchte, so ruhig wie möglich zu antworten, aber es gelang ihm nicht besonders gut. „Moment mal, wir sind deshalb nicht hergekommen, weil du dir nicht viel aus südlichen Ländern machst ... hast du jedenfalls gesagt. Vermutlich ist dieser verunglückte Italienurlaub daran schuld, von dem du mal erzählt hast. Und weil du die Hitze nicht besonders gut verträgst. Mach also bitte nicht alles komplizierter als nötig.“

„Mach ich auch nicht. Ich denke nur, ich weiß jetzt, weshalb du noch nicht mal versucht hast, mich hierher zu bringen.

„Karen, bitte.“

„Du bist nie mit mir hierher gefahren, weil du Magali für dich alleine haben wolltest.

Philipp spürte ihren Körper, dort wo sie sich berührten. Er spürte ihn, aber er reagierte nicht darauf. „Und warum sind wir dann jetzt hier? Kannst du mir das sagen?“

„Ich weiß es nicht. Aber es wird wohl einen Grund geben.“

Philipp strich ihr über die Haare, die sich seidig anfühlten und nach einem guten Shampoo rochen.

„Lass uns morgen über all diese komplizierten Dinge reden, ja? Jetzt bin ich einfach zu müde.“ Philipp küsste Karen erneut auf die Wange, nahm dann ihren Arm und schob ihn sanft beiseite. Dann drehte er sich erneut um und schloss endgültig die Augen. Kurz danach war er eingeschlafen.

 

Vicky war, wie Bobby prophezeit hatte, am nächsten Morgen wieder in Ordnung. Sie half Philipp, der auch heute wieder als erster aufgestanden war, den Frühstückstisch auf der Veranda zu decken, während die übrigen sich noch unter der Dusche abwechselten.

Als sie schließlich alle am Tisch saßen, sagte er: „Rechnet heute besser nicht mit mir. Ich will ein bisschen rumkutschieren. Ohne festen Plan, einfach so. Wo es mich eben hin verschlägt.“

Zu seiner Überraschung erkundigte sich Karen, ob es ihm etwas ausmachte, wenn sie mitkäme.

„Bestimmt nicht. Es wird sowieso langsam Zeit, dass du ein bisschen was von Magali siehst. Aber mach dich darauf gefasst, mein Auto hat keine Klimaanlage.“

„Ach, ich werde mir einfach sagen, wenn du es aushältst, schaff ich es auch.“

Bobby wollte nicht mitkommen, um Vicky heute noch nicht zu viel zuzumuten.

„Vielleicht schau ich nachher mal bei Carmen rein. Sie sollte sich vielleicht mal das Haus vornehmen.“

Carmen und Carlos, ihr Mann, waren ihre nächsten Nachbarn. Sie hatten sich vor ein paar Jahren, dort wo die Straße zur Cala Dragonera in einem Sandweg endete, ein Häuschen gebaut. Und Bobby hatte Carmen darauf angesprochen, ob sie nicht jemand wüsste, der bei ihnen sauber machte, wenn sie auf der Insel waren. Worauf Carmen angeboten hatte, die Arbeit selber zu übernehmen. Unter der Bedingung, dass sie ihre beiden kleinen Buben mitbringen durfte.

Alex wollte ebenfalls dableiben. Er hatte vor, gleich nach dem Frühstück zum Strand hinunter zu gehen, angeblich hatte er sich mit den beiden spanischen Jungen verabredet. Was allgemein wegen seiner mangelhaften Sprachkenntnisse bezweifelt wurde.

Karen zog eines der neuen Kleider an, die sie für den Urlaub gekauft hatte. Ein weißes Leinenkostüm. Philipp war klar, dass sie erwartete, auch er würde sich umziehen. Aber den Gefallen konnte und wollte er ihr nicht tun. Auf Magali lief er immer in seinen bequemen Baumwollhosen herum, und er hatte keine Lust, das jetzt plötzlich zu ändern. Auch nicht der eleganten Karen zuliebe, die vermutlich in einem der großen Hotels besser aufgehoben wäre, wo sie ihre umfangreiche Garderobe im Speisesaal oder an der Bar hätte vorführen können.

Seinen ursprünglichen Plan, ohne ein bestimmtes Ziel herumzufahren, gab Philipp Karens wegen aber auf. Stattdessen überlegte er sich, was er ihr zeigen könnte. Da er jedoch die Gegenden meiden wollte, wo der Tourismus sich breit gemacht hatte, blieb ihnen nur das Innere der Insel und so entschied er sich für den vierten und kleinsten Ort der Insel, Nostra Señora del Mar. Der Einfachheit halber Del Mar genannt. Zehn, fünfzehn kleine Häuser, weiß gestrichen und mit grünen, meist geschlossenen Fensterläden, dazu eine winzige Kirche mit dickem, stumpfen Turm. Nach einem kurzen Rundgang durch den Ort, setzten sie sich in eine der beiden Kneipen gegenüber der Kirche und nahmen ein zweites Frühstück. Tranken Wein und Mineralwasser und aßen Jamón Serrano und albóndigas. Fleischklößchen in Tomatensoße und dazu Brot und Zwiebeln. Zwischen den Stühlen pickten Hennen mit glänzendem braunem Gefieder und eine dicke schwarz-weiße Katze rollte sich im Staub. Am Nachbarhaus zog eine alte Frau, im weiten, langen Rock der Inseltracht, über eine primitive Seilwinde einen Eimer Wasser aus ihrer Zisterne und trug ihn ins Haus.

„Schön hier“, sagte Karen. „Noch richtig ländlich. Wundert mich, mitten in der Hauptsaison noch einen so ruhigen Ort zu finden.“

„Ja, hier findest du noch das alte, ursprüngliche Magali. Wo ich mich wohl gefühlt habe. Dasitzen, ein Glas Wein von der Insel trinken und am Abend in die untergehende Sonne schauen. Und innerlich völlig ruhig werden“, sagte Philipp. „Aber die Zeiten sind längst vorbei.“

„Wegen mir? Ich meine, weil wir geheiratet haben?“

„Aber nein.“

„Weil der Tourismus die Insel überrollt hat?“

„Ja. Vor allem deshalb.“

„Glaubst du, sie haben hier noch Wein von der Insel?“

„Wir könnten es ja mal versuchen.“

Philipp ging zu dem Alten, der drinnen an der Theke stand und fragte nach Vino Pagès. Er schüttelte jedoch den Kopf und erklärte wortreich den Grund dafür. Sein Weinfeld habe er bereits vor Jahren verkauft, wie andere auch. Und die wenigen, die sich jetzt noch die Arbeit mit dem Wein machten, würden ihn natürlich selber trinken. Aber er könne ihm eine Flasche von seinem ganz speziellen Wein geben, den er sich vom Festland kommen ließe. Aber als Philipp ihn probierte, stellte er sich als ziemlich durchschnittlicher Wein heraus, wie man ihn überall bekam. Philipp hatte nichts anderes erwartet.

„Und wohin jetzt?“, erkundigte sich Karen.

„Wo möchtest du hin? Zum Leuchtturm am Cabo del Cruz? Das ist nicht weit von hier. Aber ich kann dich eigentlich nur davor warnen, kann nämlich sein, dass du vor lauter Ausflugsbussen weder Kreuz noch Leuchtturm siehst. Oder willst du dir einen der Wehrtürme anschauen? Es gibt noch ein paar, die ganz gut erhalten sind.“

Philipp überlegte, was Magali sonst noch zu bieten hatte. Für Strandwanderungen oder Spaziergänge irgendwo oben auf den Klippen war es im Moment zu heiß, außerdem hatte Karen mit ihren hochhackigen Sandalen auch nicht die richtigen Schuhe dafür an. Und zum Kap Berberia oder zur Mühle oberhalb von San Lorenzo wollte er jetzt nicht hin. Irgendwann würde er mit Sicherheit allein unterwegs sein und dann wollte er noch einmal all die Orte aufsuchen, wo er und Paloma gewesen waren. Das hatte er ernsthaft vor, obwohl es natürlich eine absolut verrückte, sinnlose Idee war, die sich da in seinem Kopf festgesetzt hatte. Ein Nachjagen glücklicherer Zeiten und sentimentaler Erinnerungen.

Schließlich fuhren sie zur Mola hinauf, einem sanften Hügel, der einen guten Blick über die Insel bot und obwohl der typische Dunstschleier des Sommers über Magali hing, fand Karen die Aussicht beeindruckend. Fast bis zum Inselende lag Magali einem zu Füßen und man bekam ein Gefühl dafür, wie klein die Insel war. Nicht zu übersehen waren allerdings auch die touristischen Gebiete, die Hotel- und Apartmentanlagen, die teilweise von größerer Ausdehnung waren als San Lorenzo, die Hauptstadt der Insel.

„Lass uns das mal aus der Nähe anschauen“, sagte Karen.

„Muss das unbedingt sein?“

„Ach komm. Mir zuliebe. Ich war noch nie in Gegenden mit Massentourismus.“

„Wahrscheinlich aus gutem Grund.“

„Kann schon sein. Möglicherweise bin ich deshalb nie in die Mittelmeergebiete gefahren.“

„Ich denke, es war wegen der Hitze.“

„Natürlich, das auch.“

Philipp spürte Karens Gereiztheit. Und auch er hatte schon bessere Momente gehabt hier oben. Irgendwie kam er sich wie betrogen vor. Es enttäuschte ihn, dass Karen sich jetzt, wo die Insel sich unter ihr ausbreitete, nur für die Touristenghettos interessierte. Die spröde Schönheit der Insel, diese fast afrikanisch anmutende Landschaft, die es ihm vom ersten Augenblick angetan hatte, entging ihr wohl. Vermutlich hatte sie weder Blick noch Gefühl dafür. Er versuchte deshalb mit ihren Augen zu sehen, versuchte zu sehen, was sie sah. Die vom Staub wie gepudert aussehenden Nadeln der Pinien, die Mastixsträucher mit ihrem säuerlichen Geruch. Das karge, steinige, ausgedörrte Land, von allen Seiten vom Wasser umgeben. Aber er spürte nur, wie sehr er das alles liebte und fand deshalb auch kein Verständnis für Karen. Um sich und ihr den Ausflug nicht ganz zu verderben, lenkte er ein.

„Gut, gehen wir. Stürzen wir uns ins „Eisbein mit Sauerkraut“.“

„Wie bitte?“

„“Wiener Schnitzel“ kriegst du da unten bestimmt auch. Und deutsches Bier. Das vor allem.“

„Ach komm, Philipp. Wir fahren da runter und schauen uns alles an und amüsieren uns darüber, ja?“

„So lustig find ich das nicht.“

Sie waren jetzt wieder beim Auto. Philipp hatte es in den Schatten eines Johannisbrotbaumes gestellt. Der Boden darunter war bedeckt mit den rotbraunen länglichen Früchten.

„Ich glaube, du bist einfach zu empfindlich“, sagte Karen.

„Findest du?“

„Ja. Ich weiß, damals als du dein Haus gebaut hast, sah es auf Magali noch anders aus. Glaub mir, ich kann mir vorstellen, wie dir zumute war, als der ganze Rummel hier losging. Aber was du jetzt machst, grenzt ja schon an Totalverweigerung. Erst kaufst du hier Land, baust mit viel Liebe ein Haus und weil dir nicht passt, was in deiner Nähe passiert, gibst du das Haus praktisch auf und kommst jahrelang nicht mehr her.“

Philipp war klar, dass Karen ihn herausfordern wollte. Dass sie es schon seit vergangener Nacht darauf anlegte. Um dem ein Ende zu machen, sagte er: „Das allein war es nicht.“

Karen wandte ihm ihr Gesicht zu, das vor Hitze gerötet war. Er sah ihren Blick trotz der dunklen Sonnenbrille.

„Genau das hab ich befürchtet.“

Sie stiegen ein, und Philipp sah wie zerknittert Karens weißes Leinenkostüm war und den Staub auf ihren schwarzen Sandalen.

Ohne zu antworten, fuhr er los, damit sie rasch wieder auf die Landstraße kamen, wo der Fahrtwind ein wenig Abkühlung bringen würde.

Karen stützte sich am Handschuhfach auf, um die Stöße des unebenen Weges aufzufangen. Sie blickte ihn nicht an, als sie weitersprach.

„Es ging um das Mädchen. All die Jahre lang. Um nichts anderes. Du hast sie wiedergesehen, damals, kurz nachdem wir geheiratet hatten und wir unsere Flitterwochen um ein paar Tage aufschieben mussten. Und wahrscheinlich hast du es damals schon bereut, dass du mich geheiratet hast. Gib es ruhig zu.“

„Was erwartest du jetzt?“, antwortete Philipp. „Soll ich sagen, ja, du hast Recht? Nur damit du fragen kannst, warum wir uns dann nicht schon längst getrennt haben?“

Es war das erste Mal während all der Jahre, dass sie über Paloma redeten. Philipp vermutete, dass Bobby irgendwann einmal eine Bemerkung darüber hatte fallen lassen, möglicherweise hatte sie Paloma seine unglückliche Liebe genannt. Er hatte Bobby von Paloma erzählt, wenn auch nicht alles.

„Weich mir nicht aus.“

„Ich weich dir nicht aus. Ich halte es nur für sinnlos, darüber zu reden. Das ist alles.“

„Sag mir wenigstens, warum du mich geheiratet hast und nicht dieses Mädchen.“

„Karen, bitte ...“

„Die Umstände, was? Sie war weit weg und ich war da.“ Karen klang verbittert. „Hast du vor sie wiederzusehen?“

Jetzt, da Karen so direkt fragte, wurde Philipp klar, dass er sich längst entschieden hatte.

„Ja.“

Karen nahm sich eine Zigarette aus der Schachtel auf dem Armaturenbrett und zündete sie an. Philipp hatte sie noch niemals mit einer Zigarette in der Hand gesehen.

 

Sie waren hinunter zur Cala des Mortes gefahren. Kaum dort angekommen, wusste Philipp, dass er recht gehabt hatte. Es war nicht sehr lustig. Noch nicht einmal beeindruckend. Er jedenfalls konnte in einer überdimensionalen Ansammlung von Betonklötzen nichts Beeindruckendes sehen. Die Hotelanlage, mit der hier alles einmal begonnen hatte, war mittlerweile kaum noch auszumachen. Die vielen neu dazu gekommenen Hotelbauten hatten sie geschluckt.

„Erinnert mich an das Märkische Viertel in Berlin. Was meint die Fachfrau dazu?“, sagte er.

„Die rät zu Dynamit. Mindestens eine Tonne. Wenn das noch reicht, ich kenn mich mit den Mengen nicht so aus. Aber wenigstens wäre das eine schnelle und saubere Lösung.“

Sie setzten sich in eines der Eiscafés mit Blick auf den Strand. Der jedoch mehr oder weniger verstellt war durch die Straße vor ihnen. Unaufhörlich donnerten Busse vorüber, die Hotelgäste herankarrten oder abtransportierten. Mofas knatterten vorbei und die Schlange der Leihwägen riss nicht ab. Der Strand dahinter erinnerte an den „Teutonengrill“ in Rimini. Aus einem Lautsprecher dröhnten ihnen die „Nordseewellen“ und ähnliches die Ohren voll.

„Grauenvoll“, sagte Philipp.

Karen feixte. „Wer Ruhe will, sollte ins Kloster gehen.“

Philipp war froh, dass der Nepp, der Lärm und der ganze Zirkus um sie herum, Karen anscheinend auf andere Gedanken gebracht hatte, aber wie aus heiterem Himmel sagte sie plötzlich: „Wenn du zu diesem Mädchen gehst, komm ich mit.“

„Was soll das?“, antwortete Philipp gereizt.

„Sag, was du willst. Ich hab mich dafür entschieden.“

„Wann?“

„Schon länger her. Damals an dem Abend, als du ankamst und erzählt hast, Bobby liege dir mal wieder in den Ohren wegen eines gemeinsamen Urlaubs auf Magali. Schon damals hatte ich das Gefühl, du würdest gerne wieder hinfahren ... aber nicht meinetwegen. Und deshalb war ich auch dafür, dass wir fuhren. Einmal muss es ja ausgestanden sein, oder? Einmal muss ich mich der Sache stellen. Oder du. Je nachdem.“

„Karen, verdirb uns nicht den ganzen Tag.“

„Wenn ich über dieses Mädchen rede, verderbe ich dir den Tag?“

„Schau dich lieber um. Dafür sind wir ja schließlich hergekommen. Ich kann dir auch noch ein Eis bestellen, wenn du willst.“

„Ich will kein Eis mehr.“

„Gut, dann lass uns gehen.“

Philipp nahm die Rechnungs-Coupons für Karens Eis und sein Vichy Catalan-Wasser und suchte das passende Kleingeld zusammen.

Auf dem Weg zum Auto kaufte er ein paar Zeitungen. Zwei deutsche und die EL PAIS und die PRENSA DE MAGALI, die wöchentlich erscheinende hiesige Zeitung. Den Rest des Nachmittags verbrachte er in einem Liegestuhl im Schatten und las die Zeitungen und döste vor sich hin.

 

Als Philipp am nächsten Morgen auf die Veranda kam, war leichter Westwind zu spüren. Der Himmel war klar und von zartem Blau und Philipp nahm an, es würde später zwar wieder heiß werden, aber nicht ganz so schwül wie in den vergangenen Tagen. Und da noch ein Rest Morgenkühle in der Luft lag, beschloss er, einen Spaziergang zu Desiree hinüber zu machen. Da Alex schon wach war, trug er ihm auf, Bobby und Karen Bescheid zu sagen.

Ein Stück weit ging er den Sandweg entlang, stieg dann über eine Mauer und kürzte den Weg ab, indem er querfeldein lief. Hier und da sah er Mandel- und Feigenbäume, deren Blätter, noch feucht vom Tau, in sattem Grün glänzten. Der Boden darunter lag offensichtlich bereits seit Jahren brach. Unter seinen Füßen raschelte verdorrtes Unkraut und dürre Roggenhalme, die sich Jahr für Jahr von alleine aussäten. Dabei ging ihm durch den Kopf, was eine achtlos weggeworfene Zigarettenkippe hier anrichten konnte. Manchmal genügten auch schon Glasscherben, um eine Brandkatastrophe anzurichten. Selten verging ein Sommer, ohne dass es irgendwo auf der Insel brannte.

Desiree war bereits auf und nutzte die noch laue Luft zur Hausarbeit. Sie wischte gerade die Veranda, als Philipp eintraf. Die rötlichen Steine glänzten vor Nässe und rochen nach Rosmarin, da Desiree immer einen Zweig davon ins Wischwasser tat.

„Komme ich ungelegen?“, fragte Philipp und setzte sich von außen auf die Verandamauer.

„Du kommst nie ungelegen. Aber warte bis der Boden trocken ist. Es dauert nicht lange.“

Es dauerte wirklich nicht lange. Dort wo die Sonne bereits auf die Veranda traf, verdampfte die Feuchtigkeit geradezu.

„Wie geht es euch? Wenn du nicht gekommen wärst, hätte ich heute oder morgen sowieso bei euch reingesehen. Ich will euch nämlich zum Essen einladen.“

„Vielen Dank. Das wird Bobby freuen. Du weißt ja, wie sehr wir beide von deinen Kochkünsten angetan sind. Aber denk dran, wir sind zu fünft. Ich an deiner Stelle würde mir das nicht antun.“

„Ach was, ich hab schon mehr als fünf Leute zum Essen dagehabt“, antwortete Desiree und erkundigte sich dann, ob sie ihm Zitronenlimonade anbieten könne. „Ich hab dieses Jahr so viele Zitronen, ich weiß gar nicht, wohin damit. Ihr könnt welche haben, wenn du willst.“

„Aber immer. Meine beiden Damen werden sich freuen über frische Zitronen für ihren Gin-Tonic.“

Desiree ging ins Haus. Sie trug ein grau verwaschenes Leibchen, das vermutlich einmal schwarz gewesen war und einen weiten Rock mit schwarz-roten Blüten darauf. Philipp schwang seine Beine über die Verandamauer, da der Boden jetzt trocken war, blieb aber auf der Mauer sitzen.

„Was ich dich fragen wollte“, sagte er, als Desiree mit zwei Gläsern und einer Flasche mit ihrer selbst gemachten Zitronenlimonade zurückkehrte. „Was genau heißt eigentlich GON?“

„Du hast die Plakate gesehen?“

„Ja. Und gestern hab ich darüber in der Magali-Zeitung gelesen.“

„GON ist die Abkürzung von „Grup d’ Ornitologia y Defensa de la Naturalesa“.“ Desiree reichte ihm ein Glas mit der Zitronenlimonade. Sie war höllisch sauer, aber gut und erfrischend.

„Umweltschutz also. Der Kampf geht also weiter, was?“

„Der Kampf fängt erst an. Tausende Touristen bedeuten tausende Kilo Scheiße und im Moment werden erst knapp vierzig Prozent der Abwässer geklärt.“

„Na, dann fröhliches Baden“, sagte Philipp.

„Ja. Das Meer verkraftet viel, aber nicht alles. Es wird Zeit, dass da endlich was geschieht. Und auch mit den Müllbergen, die tausende Touristen zurücklassen. Die Touris reisen ab, ihr Dreck bleibt hier.“

„Der ganze Mist wird also immer noch zum Kap gekarrt so wie früher? Moment, was heißt wie früher? Was hatten die Bauern damals schon groß an Müll? Was nicht organisch war, wurde vergraben oder verbrannt, daran erinnere ich mich noch gut.“

„Sicher. Und heute verschandeln tausende Tonnen Müll die Landschaft am Kap. Schau dir die Müllberge da draußen mal an, du glaubst es nicht.“ Desiree nahm sich einen kleinen Hocker aus Korbgeflecht und suchte sich einen schattigen Platz auf der Veranda.

„Schade um das Kap. Ich bin früher oft dort gewesen.“

„Natürlich ist es schade. Sie sollten Ausflugsfahrten dahin organisieren, damit die Touristen mal das ganz ANDERE Magali kennen lernen.

„Aber ich habe die Container für Altglas in San Lorenzo gesehen. Ein Anfang ist also gemacht.“

„Nichts ist gemacht. Die Flaschen werden getrennt gesammelt und landen zusammen mit dem anderen Müll auf dem Kap. Ganze Halden von Flaschen liegen da rum. Die Glascontainer kannst du vergessen.“

„Das darf doch nicht wahr sein.“

„Ist aber so.“

„Und ich dachte, auch hier entwickelt sich langsam so was wie Umweltbewusstsein. Gestern in der Zeitung das Interview mit Louis Valle, hast du das gelesen?“

„Valle? Der Direktor vom Club Marivent? Auch so ein typischer Fall.“

„Aber ihm scheint wenigstens klar zu sein, dass Touristen allmählich auf eine intakte Umwelt achten. Jedenfalls hat er aufgezählt, was sie so alles dafür unternehmen. Gerade in puncto Müllvermeidung zum Beispiel.“

Desiree lachte. „Du meinst die Marmeladentöpfe, die sie im Marivent auf dem Frühstücksbüffet haben? Klar, damit geht er überall hausieren.“

„Aber wenigstens erspart er sich dadurch den ganzen Verpackungsmüll, der bei den Portionspäckchen anfällt.“ Die Sonne hatte Philipp jetzt erreicht, er musste ein Stück weiter rücken auf der Mauer, um wieder im Schatten zu sein. 

„Ja, aber nur, weil er erkannt hat, dass die Touristen neuerdings darauf achten, kauft er jetzt ganze Eimer voll Marmelade. Ohnehin sind die billiger. Und damit die Butter offen auf dem Büffet liegt, lässt er sie von einer Küchenhilfe jeden Morgen aus dem Stanniolpapier schälen. Päckchen für Päckchen. Der Verpackungsmüll bleibt zwar der gleiche, nur sieht ihn der Tourist jetzt nicht mehr.“

Philipp schüttelte fassungslos den Kopf.

„Wenn solche Geschichten nicht so traurig wären, müsste man eigentlich darüber lachen. Nimm die Strände zum Beispiel. Magali hat angeblich die schönsten Strände im Mittelmeer. Jedenfalls behaupten das die Reisekataloge. Und wo keine Strände sind oder nur kümmerliche, werden eben künstliche Strände geschaffen. Aufschütten nennen sie das. Ein Spezialschiff pumpt Sand vom Meeresboden und schafft ihn an Land. Was glaubst du, was das für den vorher vielleicht noch intakten Meeresboden bedeutet? – Oder was hältst du davon? Endlich ist fest geschrieben, dass ein Drittel der Insel vor intensiver Bebauung geschützt werden soll. Klingt gut, aber nur auf den ersten Blick. In Wirklichkeit bedeutet das nur, dass Müllhalden wie auf dem Kap oder ähnlich unattraktive Gegenden vor der Bebauung geschützt sind. Landschaftlich oder auch ökologisch wertvolle Gegenden gehen aber dank Korruption und Vetternwirtschaft in der Verwaltung und dank der Baufirmen, die überall das Sagen haben, weiterhin verloren.“

„Mir scheint, du hast so was wie eine Lebensaufgabe gefunden.“ Philipps Glas war leer. Desiree stand auf und reichte ihm die Flasche.

„Manchmal steht es mir bis hier oben, glaub mir das“, seufzte sie. „Manchmal denke ich, sollen sie doch machen, diese blöden Quadratschädel. Was geht mich das an?“ Ihre Stimme klang müde, aber ihr Blick war wach und kämpferisch.

„Wir planen eine große Geschichte im Moment. Wir wollen die Gemeinde so weit bringen, dass sie ein paar Grundstücke aufkauft in der Gegend von Es Trenc. Du weißt ja, die Dünenlandschaft im Osten, damit die nicht auch noch verloren geht. Diverse Immobilienhaie sind gerade dabei, ihre Krallen danach auszustrecken.“

„Klingt gut. Ich hoffe, ihr schafft es. Wenn ich irgendwie helfen kann, sag es.“

„Tu ich hiermit. Schau, dass du wieder ein paar Artikel in deutsche Zeitungen reinbringst. Du weißt ja, wie panisch sie hier auf eine schlechte ausländische Presse reagieren. Und kleine Geldspenden für die GON-Kasse sind auch immer willkommen. Die Handzettel und Info-Broschüren kriegen wir ja nicht umsonst.“

Desiree wollte in den nächsten Tagen geeignetes Material für Philipps Zeitungsartikel zusammenstellen.

„Eigentlich bin ich hier, um endlich abzurechnen“, sagte Philipp. „Sag mir, was du ausgelegt hast an Müllgebühren, ach ja und die Steuern fürs Haus. Und für den vollen Kühlschrank bei unserer Ankunft. Und wenn ich richtig gerechnet habe, hast du noch Geld für sechs Monate Housekeeping zu kriegen.“

„Warte, ich hab es mir aufgeschrieben.“

Desiree holte einen Zettel aus dem Haus. Aber Philipp warf kaum einen Blick darauf. Er schob ihr den Scheck zu, den er vorbereitet hatte.

„Das dürfte wohl reichen.“

Desiree sah sich den Scheck an und fand, dass es zu viel sei. Aber Philipp winkte ab. „Wer wird denn kleinlich sein unter Freunden?“

Desiree überlegte kurz. „Gut, dann zahl ich den Rest auf das Konto der GON ein.“

„Das lass mal bleiben. Gib mir lieber die Kontonummer. Zu einer kleinen Spende wird es wohl auch noch reichen.“

Desiree lachte und bedankte sich dann.

„Schade ... wirklich schade, dass du dich so rar gemacht hast in letzter Zeit. Ich hätte dich wirklich brauchen können. Von den ganzen Ausländern, die hier ihre Häuser haben, interessiert sich kaum jemand für das, was so vor sich geht. Schwimmen und surfen und fertig.“

„Erzähl mal Genaueres, was die Baulöwen eigentlich vorhaben mit Es Trenc. Was soll dort hin? Noch weitere Hotels oder was?“

„Was denn sonst?“

„Ich denke, sie haben hier schon längst eine Überkapazität, was Hotelbetten angeht.“

„Haben sie auch. Sie kriegen die Hotels gerade so mit Ach und Krach und mit Sonderangeboten voll. Aber genau dadurch kommen Leute, die nicht viel Geld ausgeben. Und deshalb wollen sie jetzt quasi die Touristen austauschen.“

„Was wollen sie?“

„Du hast schon richtig gehört. Im Moment setzt alles auf gehobeneren Tourismus. „Qualitätstourismus“ ist das Schlagwort. Und deshalb wollen sie auf Es Trenc ein Luxushotel mit Golfplatz hinklotzen, um betuchtere Leute anzulocken, verstehst du?“

Philipp überlegte. Er hatte sich nun jahrelang nicht mehr mit den Problemen Magalis beschäftigt und musste sich erst wieder reinfinden. Im Grunde erschien ihm der Gedanke gehobenerer Tourismus gar nicht so übel.

„Hat doch eigentlich was an sich. Wer sich ein Luxushotel leisten kann, schaut auch sonst nicht auf jede Pesete. Genau solche Leute wären nicht schlecht für Magali.“

„Klar. Aber muss dazu die Küstenzone völlig verbaut werden? Und denk doch mal an die enorme Wasservergeudung für einen Golfplatz. Wir, also die GON, fordern stattdessen eine Verbesserung der touristischen Infrastruktur. Also Modernisierung der schon bestehenden Urbanisationen und Hotelanlagen. Bis hin zum Abriss irgendwelcher Schandbauten. Verstehst du? Das was schon da ist, muss so attraktiv werden, dass es auch anspruchsvollere Touristen anzieht, also solche mit Geld. Aber das funktioniert nur Hand in Hand mit intakter Landschaft und nicht mit Beton entlang der Küstenlinie.“

„Stimmt, leuchtet mir ein. Und wie stehen die Chancen, dass die Gemeinde mitzieht und das Land aufkauft?“

„Eine gute Frage. Sagen wir so: wir machen Druck und die Baumafia auch. Kommt jetzt drauf an, wer stärker ist. Im Prinzip hat die Gemeinde verstanden, worauf wir hinaus wollen, hoffe ich wenigstens. Na ja, mal sehen, drück uns die Daumen. Wir bleiben jedenfalls dran.“

Sie saßen noch eine Weile da und redeten und Philipp erkundigte sich nach den Leuten, die er bei seinen früheren Aufenthalten auf der Insel kennen gelernt hatte. Desiree hatte eine Schüssel mit grünen Bohnen auf dem Schoß und putzte sie fürs Mittagessen. Und es war fast wie damals. Als Philipp noch bei Desiree gewohnt hatte. Plötzlich kam jedoch ein Mofa angeknattert und ein junger Spanier stieg ab.

„Hola!“

„Hola, Félix!“

Philipp meinte, den Jungen schon einmal gesehen zu haben, aber er war sich nicht sicher.

„Ihr kennt euch“, sagte Desiree. „Félix hat früher schon bei unserer Gruppe „Salve Magali“ mitgemacht. Jetzt ist er auch bei der GON.“

Philipp und Félix nickten sich zu. Danach verabschiedete sich Philipp, da er annahm, die beiden hätten etwas zu besprechen.

Mittlerweile stand die Sonne schon so hoch, dass der Rückweg zur schweißtreibenden Angelegenheit wurde. Zurück in der Cala Dragonera leerte Philipp fast eine volle Flasche Wasser. Das Haus war leer, das Auto stand jedoch da. Also waren sie vermutlich alle am Strand. Philipp schlüpfte in seine Badehose und ging ebenfalls hinunter.

Vicky spielte im Wasser mit ihrer Puppe, der sie den kleinen Schwimmring übergezogen hatte. Den Schlüsselring hatte Philipp zwar abbekommen, aber die Kette nicht. Vicky war jedoch auch so zufrieden.

Bobby und Karen lagen auf ihren Badetüchern und unterhielten sich. Als Philipp sich zu ihnen setzte, sagte Bobby: „Gut, dass du kommst. Es hat eine Katastrophe gegeben.“

Am Ton ihrer Stimme erkannte er, es konnte nichts Ernsthaftes gewesen sein.

„Na, was war los?“

„Der arme Alex. Er hat einen Fisch gefangen, aber jetzt hat er ihn am Haken und weiß nicht, wie er das blöde Ding wieder abbekommt.“

„Und ich soll es wissen?“, Philipp verdrehte mit gespieltem Unmut die Augen.

Bobby lachte. „Wer denn sonst? Geh und hilf ihm. Du hast ihm ja schließlich auch den Haken gekauft. Er sitzt da hinten irgendwo unter den Bäumen – ziemlich verzweifelt, nehme ich an.“

„Gut. Aber ich muss mich erst abkühlen.“

Philipp ging bis zu den Knien ins Wasser und spritzte sich ab, wobei Vicky begeistert mithalf. Dann ging er hinauf zu der Stelle, wo er Alex unter Pinien sitzen sah. Er hatte einen Eimer mit Wasser neben sich stehen und darin sah Philipp einen mittelgroßen dunkelgrauen Fisch bewegungslos im Wasser. Die Perlonschnur, an welcher der Haken befestigt war, hing über den Rand des Eimers.

„Gut, dass du endlich kommst, Onkel Philipp“, sagte Alex und stand auf. „Kannst du dem Fisch den Haken raus machen? Sonst stirbt er womöglich.“

„Fische müssen normalerweise immer sterben, wenn man sie angelt. Oder willst du sie lebendig essen?“

„Ich will den Fisch aber nicht essen. Ich will ihn behalten oder ich tu ihn wieder ins Wasser zurück. Hauptsache, der Haken ist endlich weg. Der tut ihm nämlich bestimmt weh. Mir würde es jedenfalls wehtun, wenn ich einen Haken im Hals stecken hätte.“

„Daran hättest du früher denken müssen. Was hast du dir denn vorgestellt, was passiert, wenn du einen Haken mit einem Köder dran ins Wasser hältst?“

„Ich weiß nicht“, sagte Alex kleinlaut.

„Komisch, jeder Angler freut sich, wenn ein Fisch anbeißt und du machst so ein Gesicht.“

„Ja, schon ... aber ich will lieber kein Angler sein.“

Philipp wusste nur zu genau, was in dem Jungen vorging. Bei seinen ersten Angelversuchen war es ihm ganz ähnlich ergangen. Er hatte eher befürchtet als gehofft, ein Fisch würde anbeißen, weil ihm klar gewesen war, dass er ihn dann töten musste, aber er hatte trotzdem seine Schnur mit Haken und Köder ins Wasser gehalten. Gut, dass Paco ihm damals half, als tatsächlich ein Fisch angebissen hatte. Und er würde jetzt Alex helfen.

„Nimm den Fisch mit einer Hand aus dem Wasser, halte ihn aber gut fest und drück mit Daumen und Zeigefinger gegen seine Kiemen. Dann sperrt er sein Maul auf und wenn wir Glück haben, kommt der Haken raus.“ Genau das hatte Paco damals zu ihm gesagt.

„Aber das tut dem Fisch doch weh.“

„Ehrlich gesagt, hab ich keine Ahnung.“

„Aber wenn der Haken drin bleibt“, überlegte Alex, „tut es ihm bestimmt noch mehr weh. Kannst du es nicht machen, Onkel Philipp? Den Fisch in die Hand nehmen?“

„Mach du es. Es ist dein Fisch.“

Alex blickte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Sein Gesicht war ziemlich schmutzig. Er musste sich mit seinen staubigen Fingern den Schweiß vom Gesicht gewischt haben.

Philipp nickte ihm aufmunternd zu. Daraufhin seufzte Alex, holte tief Luft und griff dann in den Eimer und holte den Fisch heraus. Aber der Fisch zappelte so, dass er ihn nicht mit einer Hand halten konnte. Philipp sah, dass er alleine nicht zurechtkommen würde. Er hatte nicht den beherzten Griff der spanischen Jungs, denen Philipp häufig beim Angeln zugesehen hatte.

„Halt ihn gut fest“, sagte Philipp und drückte dem Fisch auf die Kiemen wie Paco es ihm gezeigt hatte und zog vorsichtig an der Perlonschnur. Aber es tat sich nichts. Der Haken war zwar in dem offenen Fischmaul zu sehen, kam aber nicht raus. Philipp musste mit zwei Fingern hinein fassen und ihn vorsichtig lösen.

„Das war’s, denke ich“, sagte er dann zu Alex und stieß ihn mit dem Ellbogen an, als er sah, dass Alex mit fest geschlossenen Augen dastand.

„Die Operation ist vorbei. Du kannst deine Augen wieder aufmachen.“

Alex brauchte nur seinen Griff zu lockern und schon flutschte ihm der Fisch zwischen den Fingern hindurch ins Wasser zurück.

„Tausend Dank, Onkel Philipp.“

„Schon gut. Aber was machst du jetzt mit dem Fisch? Bring ihn besser zurück ins Wasser. Er stirbt sonst an Sauerstoffmangel in dem kleinen Eimer.“

„Ja. Wird wohl das Beste sein.“

Philipp blickte dem Jungen nach, als er mit dem Eimer runter zum Wasser ging, wo er den Fisch wieder in die Freiheit entließ. Er bezweifelte, dass Alex jemals wieder angeln würde. Oder vielleicht auch nur nicht in diesem Sommer. Und nächstes Jahr war er dann groß genug, um sich selber zu helfen.

 

Am Abend aßen sie alle zusammen in einem Restaurant am Strand. Restaurant war vielleicht etwas zu viel gesagt, da es sich um einen einfachen Strandkiosk auf einer Art hölzernem Podest handelte. Tagsüber kamen eine Menge Leute vom Strand herauf, am Abend war es jedoch angenehm ruhig. Die Küche war nicht berühmt, es gab nur die üblichen Standardgerichte wie Pollo und Chuleta de cerdo und Lenguado – also Huhn, Schweinekotelett und Seezunge – aber Bobby, die mit Frank, ihrem Mann, schon öfter dort gewesen war, hatte davon geschwärmt, weil man in T-Shirt und Badehose hinkonnte und sich nicht extra umziehen musste. Und da sie zu Fuß über den Strand hingehen konnten, fand Philipp es ganz in Ordnung.

Er erzählte von Desirees Einladung zum Essen, aber Bobby wollte damit noch warten bis nach der obligatorischen Party, die sie immer für ein paar Freunde gab. Sie schlug den nächsten Samstag dafür vor, also übermorgen und wollte es übernehmen, die Leute einzuladen und im Frasquet, einem Restaurant in Monforte, das Essen dafür zu bestellen. Vielleicht „Frito mariner“ oder ein Fleischgericht wie „Llom amb col“, eine Spezialität der Insel.

„Okay, dann mach mal“, sagte Philipp, warnte Karen aber, nichts allzu Großartiges zu erwarten. „Bloß ein paar Freunde. Wir essen und trinken und reden, das ist schon alles. Aber nicht das Schlechteste. Und vor allem weder Frack- noch Krawattenzwang.“

„Damit spielst du wohl auf mich an“, sagte Karen. „Aber mir ist längst klar, dass ich mein todschickes Zeug völlig umsonst mitgeschleppt habe.“

Philipp grinste. Aber Bobby tröstete Karen damit, dass sie sich demnächst alle fein machen und sich ins Nachtleben von Monforte stürzen würden. Nachtleben klang gut. Dabei hatte Monforte nicht mehr als ein paar Discotheken zu bieten.

„Macht das ruhig. Und ich bleib zu Hause und spiele Babysitter, okay, Vicky?“, sagte Philipp.

Vicky nickte, aber Bobby trat Philipp mit ihrem nackten sandigen Fuß gegen sein Schienbein. „Hör auf mit dem Quatsch. Du willst dich bloß drücken. Meine Kinder sind längst zu groß für einen Babysitter.“

„Philipp, halt dich bitte mit dem Trinken ein bisschen zurück“, sagte Karen.

„Ach was, ich trink doch nichts. Wenn mich nicht alles täuscht, ist das mein erstes Glas.“

Natürlich stimmte das nicht. Philipp war den Frauen bereits um einiges voraus, mittlerweile stand bereits die zweite, so gut wie leere Flasche Wein auf dem Tisch. Trotzdem sah Philipp keinen Grund sich zurückzuhalten. Er genoss es, da zu sitzen und zu trinken und zu sehen, wie die untergehende Sonne dem Wasser und dem Sand und ihren Gesichtern einen rotgoldenen Schimmer übermalte. Und den Sand auf dem Bretterboden unter den Füßen zu spüren, der noch warm war nach dem langen Sonnentag. Aber hauptsächlich fühlte er sich deswegen gut, weil er endlich einen Entschluss gefasst hatte. Morgen, ja morgen würde er das tagelang Aufgeschobene nachholen und nach Porto Saler hinüberfahren. Und Porto Saler bedeutete Paloma. Nur brauchte er allein bei dem Gedanken gleich noch einen weiteren Schluck vom Vino Rosado, den er vor sich stehen hatte.

Bobby erkundigte sich, ob Philipp von Desiree sonst noch irgendetwas erfahren hatte, und er berichtete vom geplanten Luxushotel mit Golfplatz in der Gegend von Es Trenc.

„Das darf doch nicht wahr sein“, sagte sie daraufhin.

„Völlig richtig“, antwortete Philipp.

„Wenn Frank das hört. Er fährt oft schon vor Sonnenaufgang rüber nach Es Trenc, um die Vögel dort mit dem Fernglas zu beobachten. Während der Brutzeit muss es dort geradezu von Vögeln wimmeln. Was für ein Schwachsinn, auch noch Es Trenc zu zerstören.“

Philipp stach der Hafer und als Pepe, der mit seiner Frau Maria zusammen den Strandkiosk betrieb, die Teller abräumte, wollte er auch von ihm hören, was er vom Bau eines Luxushotels auf Es Trenc hielt.

„Meinetwegen können sie gleich morgen damit anfangen“, meinte Pepe.

„Ach ja?“

„Claro. Dann kommen endlich andere Touristen her, nicht solche wie jetzt. „Turistas de los cubos“ sagen wir immer.“ Pepe stieß verächtlich Luft aus.

Cubo bedeutete Eimer. Keiner am Tisch verstand, was Pepe mit „Eimer-Touristen“ meinte. Pepe erklärte es ihnen.

„Sie kaufen sich im Supermarkt Plastikeimer und Bierdosen und am Strand kommt Wasser in die Eimer und darin kühlen sie ihr Bier. Und wir schauen in die Röhre, versteht ihr? Mein Umsatz geht deshalb seit Jahren zurück, obwohl wir jedes Jahr rauf gehen mit den Preisen.“

Philipp lachte. „Bestimmt geht er deshalb zurück.“

„Was soll ich machen? Die Gemeinde verlangt jedes Jahr mehr für die Strandbewirtschaftung. Und von irgendwas müssen wir leben.“

„Was trinkst du, Pepe? Bring eine Flasche und lass uns auf die „ Turistas de los cubos“ trinken“, sagte Philipp.

Das ließ sich Pepe nicht zweimal sagen, er stellte eine Flasche Hierbas, Kräuterlikör, auf den Tisch. Und auch Maria setzte sich dazu und sie sprachen über Es Trenc und das geplante Luxushotel. Bobby übersetzte für Karen, was sie für wichtig hielt.

Philipp verlor jedoch ziemlich schnell das Interesse daran. So sehr Pepe auch Recht haben mochte mit seinen Klagen – seinen Wunderglauben an Luxushotels dagegen fand Philipp fast unglaublich naiv. Er verstand nicht, wie Pepe glauben konnte, dass all die Leute mit Geld, auf die er seine Hoffnung setzte, sich für Nichts und wieder Nichts Geld aus der Tasche ziehen ließen. Er jedenfalls sah die Reichen aus dem Golfhotel nicht unbedingt an Pepes Bude sitzen. Dazu bot er weiß Gott zu wenig. Das alte Problem hier auf der Insel oder überhaupt im Tourismus, nichts bieten, aber mit dem Nichts Kohle machen wollen.

 

Philipp beobachtete ein junges Pärchen unten am Strand, das anscheinend nicht nach Hause fand. Der junge Mann war vermutlich ein Einheimischer, sie dagegen Ausländerin. Engländerin vielleicht oder eine Deutsche. Er musste daran denken, dass es bei ihnen gerade umgekehrt gewesen war, bei ihm und Paloma. Und er fragte sich, wie es wohl enden würde bei den beiden. Ein Abschiedskuss und das Versprechen, einander zu schreiben? Was sicher nicht ganz ernst gemeint war oder höchstens in zärtlichen Augenblicken. Immerhin nahm die junge blonde Lady die Erinnerung an einen heißen Urlaubsflirt mit nach Hause. Was möglicherweise bereits obligatorisch für sie war.

An Philipps Stelle beteiligte sich jetzt Karen am Gespräch, mit Bobby als Übersetzungshilfe. Er hörte ihnen nicht zu, sah aber Karen an. Und fragte sich, wann sie überhaupt einmal so viel zusammen gewesen waren wie im Moment. Zuhause sahen sie sich oft nicht einmal beim Frühstück oder Abendessen, je nachdem wie beruflich sie gerade eingespannt waren. Und wenn Karen nicht geradezu darauf gedrängt hätte, ihren gemeinsamen Ausgehabenden einen anderen Status zu geben. Nägel mit Köpfen zu machen, wie sie es ausgedrückt hatte, hätten sie vermutlich auch niemals geheiratet. Andererseits hatte es Philipp natürlich auch geschmeichelt, dass eine Frau wie sie, attraktiv und beruflich erfolgreich, so hinter ihm her war. Darüber machte er sich nichts vor. Eben so wenig wie über seine Bequemlichkeit, sich nach einem stressigen Arbeitstag nach anderen Frauen umzusehen.

Philipp blickte zum Wasser hinunter, wo Vicky und Alex, denen es am Tisch langweilig geworden war, über kleine Wellen im seichten Wasser hüpften und hing dabei seinen Gedanken nach. Er fand es geradezu absurd, dass Karen ihn begleiten wollte, wenn er zu Paloma fuhr. Als ob er sie vorführen wolle wie irgendeine Sehenswürdigkeit der Insel. Schließlich ging es ihm nur darum, sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, ob bei Paloma alles in Ordnung war. Ja, er redete sich eine gewisse Verantwortung ihr gegenüber ein.

Es war schon spät, als sie aufbrachen und zur Cala Dragonera zurückkehrten. Trotzdem hatte Philipp noch keine Lust, schlafen zu gehen und setzte sich deshalb mit einer angebrochenen Flasche Wein in einen Liegestuhl, während Bobby die Kinder ins Bett brachte. Auf dem Rückweg hatte er Vicky auf seine Schultern genommen, da sie vor lauter Müdigkeit kaum noch die Füße heben konnte. Er lauschte auf die Geräusche hinter ihm im Haus, aber nach einer Weile wurde es so still, als ob alle schon schliefen. Anscheinend hatte auch Bobby sich gleich hingelegt. Dabei hätte er gerne noch eine Weile mit ihr geredet – oder geschwiegen, je nachdem. Aber auch sie hatte heute Abend wohl einiges mehr getrunken als sonst.

Philipp hörte Karen nicht kommen, plötzlich stand sie jedoch neben ihm.

„Was ist mit dir? Gehst du noch nicht schlafen?“ Sie war barfuß und trug nur ein langes T-Shirt, und er konnte ihre Duschlotion oder After-Sun-Creme riechen oder was auch immer. 

„Nein. Ich will noch ein bisschen hier sitzen.“

„Es ist spät.“

„Na und? Was macht das schon. Geh schlafen. Ich brauch kein Kindermädchen.“

„Du hast schlechte Laune, was?“

„Überhaupt nicht. Im Gegenteil, ich fühl mich sauwohl und deshalb will ich noch hier sitzen und nachdenken. Zum Beispiel darüber, wie das Haus ausschauen würde, wenn ich anbauen würde.“

„Du willst ...? Was ist denn das wieder für eine Schnapsidee mitten in der Nacht?“

„Wieso Schnapsidee? Das Haus wird langsam zu klein für die ganze Familie. Alex schläft schon jetzt auf dem Sofa und wenn Frank da ist, wird es noch enger.“

„Wegen Alex willst du das Haus vergrößern?“

„Wegen Alex. Genau. Und weil ich Lust habe, mal wieder was mit meinen Händen anzufangen. Stört dich das etwa?“

„Du bist betrunken, Philipp.“

„Nicht sehr, nur ein bisschen.“

Daraufhin sagte Karen nichts weiter als „gute Nacht“ und kehrte ins Haus zurück. Nachdem das Geräusch ihrer nackten Füße nicht mehr zu hören war, schloss Philipp die Augen. Ja, sie hat Recht, sagte er sich, ich hab wirklich ganz schön geladen. Aber jetzt ist sie weg und ich muss nicht mehr so tun, als ob ich weiß Gott wie nüchtern wäre. Überhaupt, was ist schon dabei, wenn ich mir hier draußen den Hals voll laufen lasse? Aber er spürte seine Gedanken vor Müdigkeit verworrener werden, bald konnte er nicht einmal mehr die Augen offen halten und kurz danach war er eingeschlafen.

 

Es wurde jedoch Mittag, ehe Philipp am nächsten Tag dazu kam, seinen Entschluss, Paloma wiederzusehen, auszuführen. Nach dem Frühstück beschloss Bobby einen Großeinkauf zu machen und brauchte deshalb das Auto. Karen wollte sie begleitete. Tatsächlich waren sie, was Lebensmittel und auch Getränke betraf, ziemlich abgebrannt. Und so musste Philipp sein Vorhaben erst einmal aufschieben. Eine Zigarette nach der anderen rauchend, ging er ungeduldig auf der Veranda auf und ab und wartete auf die Rückkehr der Frauen. Was ziemlich lange dauerte, da Bobby eine Bekannte vom letzten Sommer getroffen hatte und Karen in einer Boutique Bermudas kaufen wollte. Im Übrigen hatte sie kein Wort darüber verloren, dass Philipp die Nacht draußen im Liegestuhl verbracht hatte. Was sie sich aber vermutlich nur wegen Bobby und der Kinder verkniffen hatte.

Nachdem Philipp mitgeholfen hatte, Lebensmittel und Getränkekisten ins Haus zu schaffen, nahm er die Autoschlüssel an sich und gab vor, dringend telefonieren zu müssen. Was sogar mehr oder weniger stimmte, da er sich bisher noch kein einziges Mal mit seiner Agentur in Verbindung gesetzt hatte. Was jedoch keinesfalls eilte, da man ihn im Falle eines dringenden Problems telegrafisch verständigen würde.

Als er aufbrach, zog Karen gerade im Schlafzimmer die neuen Bermudas an und so rief Philipp ihr nur von der Veranda aus ein „dann bis nachher“ zu und machte, dass er wegkam. Ohnehin war er reichlich nervös. Woran sich auch nichts änderte, als er versuchte, das Ganze so rational wie möglich anzugehen, um übersteigerte Hoffnungen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Paloma musste jetzt etwa Mitte zwanzig sein und also war wohl davon auszugehen, dass sie in der Zwischenzeit einen Lebensgefährten gefunden hatte. Er wollte Paloma einfach nur wiedersehen und sich davon überzeugen, dass es ihr gut ging und das hatte ihm zu genügen.

Als Philipp hinter San Lorenzo in Richtung Porto Saler abbog, spürte er plötzlich eine geradezu fatalistische Ruhe über sich kommen. Er blickte auf die Felder mit Mandel- und Feigenbäumen, auf die gelbe, ausgedörrte Erde, die Natursteinmauern rechts und links vom Weg, die allmählich zerfielen.

Niemand begegnete ihm, kein Auto oder Fahrrad oder sonst irgendetwas. Es war so ruhig hier draußen wie damals, als er mit seiner Mobylette zum ersten Mal auf den Hof gekommen war. Schließlich konnte er Palomas Haus sehen, das sich hinter den Orangenbaum zu ducken schien. Das Tor in der Mauer stand offen und obwohl er nur langsam fuhr, zog er eine Staubwolke hinter sich her. Ganz wie früher. Und auch die Fensterläden und das niedrige Gartentor zur Veranda waren im gleichen Blau wie früher und hinter dem Haus scharrten noch immer Palomas Hühner. Es war fast gespenstisch, so als ob hier die Zeit stehen geblieben sei. Dabei fiel ihm ein, was Miguel erzählt hatte. Dass Paloma jetzt Gemüse an die Hotels lieferte. Hier, auf dem Hof, deutete jedoch nichts darauf hin.

Als Philipp sein Auto abstellte, sah er eine alte Mobylette neben dem Haus stehen. Er stieg aus und ging auf das Haus zu, dabei laut: „Hola!“ rufend.

Einmal und noch einmal und dann sah er eine junge Frau aus dem Haus treten. Fast ein junges Mädchen noch, in engen Jeans und weißem T-Shirt. Dunkel gebräunt und mit fast blauschwarzem Haar.

„Qué quieres?“, rief das Mädchen ihm zu.

„Ich wollte zu Paloma. Können Sie mir sagen ...“

Das Mädchen unterbrach ihn. „Paloma ist in Lorenzo. Blanca abholen von der Zwergenschule.“

Philipp verstand kein Wort. Zwergenschule? Soweit er sich erinnerte, wurden Kindergärten hier so genannt. Ihrer Sprache nach musste das Mädchen vom Festland sein, vielleicht aus Andalusien oder Valencia.

„Dann wird sie also bald zurück sein?“

„Sag ich doch. Sie ist in Lorenzo.“

„Gut, dann warte ich solange.“

„Si, claro.“

Philipp holte seine Zigaretten heraus, bot auch dem Mädchen eine an, aber sie schüttelte den Kopf und kehrte ins Haus zurück. Der Ostwind, den sie gestern gehabt hatten, blies noch immer. Philipp musste eine Hand vor die Flamme seines Feuerzeugs halten. Er sah, dass seine Hand zitterte.

Als seine Zigarette brannte, drehte er dem Haus den Rücken zu und schlenderte über den Hof. Dort hinten war der Corral, in dem Paloma und Salvador früher Schweine gehalten hatten. Er war jetzt leer, aber in einer Ecke stand noch ein blecherner Trinknapf. Und dort im Anbau hatten sie die Saatkartoffeln aufbewahrt, die er mit Salvador zusammen gesteckt hatte. Er dachte an Salvador, der einen so frühen Tod gefunden hatte und an Paloma, die mittlerweile, ebenso so wie er, einen weiten Weg zurückgelegt hatte.

Ein Motorengeräusch riss Philipp aus seinen Erinnerungen. Ein kleiner weißer Seat näherte sich dem Tor. Philipp beschloss, an einem anderen Tag wiederzukommen. Anscheinend hatte er keinen guten Tag gewählt für sein Wiedersehen mit Paloma. Aber bevor er noch bei seinem Auto war, hielt der Seat direkt neben ihm und seine Schritte stockten, fast erschrocken, als er Paloma auf der Fahrerseite aussteigen sah. Dann stand sie da, die Hände noch an der Autotür und blickte zu ihm herüber. Philipp starrte sie einen Moment lang ungläubig an und ging dann mit schnellen Schritten auf sie zu. Eine Sekunde später lag Paloma in seinen Armen.

„Paloma! Mein Gott!“

„Philipp!“

Er drückte sie an sich und hielt sie ganz fest. Sie war so klein. Mein Gott, wie hatte er nur vergessen können, wie klein sie war, dabei war sie ihm immer nur bis zu den Schultern gegangen. Sie klammerten sich aneinander, als ob sie Angst hätten, voneinander zu lassen und sich in die Augen zu sehen. Aber nach einer langen Weile taten sie es doch und Philipp fand das schöne gleichmäßige Oval ihres Gesichts wieder und die ruhigen, klaren Augen, in denen jetzt Schrecken und Freude zugleich lagen. Ohne sich zu rühren und auch ohne ein Wort, hielten sie einander mit den Augen fest. Bis ein Geräusch Paloma zur Seite blicken ließ und als Philipp ihrem Blick folgte, sah er überrascht ein kleines Mädchen aus dem Auto klettern.

„Das ist Philipp“, sagte Paloma zu dem Kind. „Sag ihm guten Tag.“

Das kleine Mädchen sagte jedoch kein Wort, blickte ihn nur an und es war derselbe ruhige Blick wie der von Paloma. Nur waren die Augen des Kindes von sehr hellem Blau und seine Haare hatten auch nicht denselben Mahagoni-Ton wie die von Paloma. Im Sonnenlicht schimmerten sie fast silbern.

„Das ist Blanca, meine Tochter“, sagte Paloma.

„Deine Tochter?“

„Ja. Erkennst du das nicht?“

Palomas Tochter!? Mit fassungslosem Blick auf das Kind wurde Philipp plötzlich klar, dass es nicht nur Palomas sondern auch seine Tochter war. Er war auf alles, auf wirklich alles gefasst gewesen, aber darauf nicht.

„Das gibt es doch nicht“, stammelte er hilflos und seine Blicke wanderten zwischen Paloma und dem Kind hin und her.

Das schwarzhaarige Mädchen tauchte jetzt auf der Veranda auf.

„Komm zu mir, Blanca“, rief sie.

Aber Paloma wandte sich ihr zu. „Carmen, du ... du kannst jetzt gehen. Ich brauche dich heute nicht mehr.“

„Und das Essen?“

„Das mach ich dann schon.“

Während Carmen schulterzuckend im Haus verschwand, sagte Paloma: „Sie hilft mir im Haus. Und hütet Blanca, wenn ich nicht da bin.“

Carmen, ein Lederbeutel hing jetzt über ihrer Schulter, kam erneut aus dem Haus und stieg dann auf die alte Mobylette, die an der Hauswand lehnte.

„Bis morgen, Carmen“, rief Paloma ihr zu. Dann gingen sie ins Haus. Das Kind, das mit großen Augen zu Philipp aufschaute, zwischen sich. Paloma hieß das Kind, sich an den Tisch zu setzen und brachte ihm sein Essen und danach schenkte sie für Philipp ein Glas Wein ein. Während sie all das tat, verständigten sie und Philipp sich mit den Augen, sprachen durch ihre Blicke miteinander und redeten gleichzeitig über lauter belanglose Dinge. Darüber, dass es sehr heiß im Moment sei und wann Philipp angekommen und ob sein Haus in Ordnung sei, da sie in Gegenwart des Kindes nicht über all das reden konnten, was beiden auf der Seele brannte. Philipp war deshalb erleichtert, als er Paloma zu dem Kind sagen hörte: „Wenn du aufgegessen hast, machst du deinen Mittagsschlaf.“

„Du auch?“, fragte Blanca. Es war das erste Mal, dass Philipp seine Tochter reden hörte. Eine kleine, zarte Stimme, die ihn rührte. Sie musste etwa in Vickys Alter sein. Nein, jünger. Sie war auch kleiner und zarter. Philipp fiel wieder ein, dass Bobby während seines letzten Aufenthalts auf Magali kurz vor der Entbindung gestanden hatte. Und auch sonst beschränkte sich Blancas Ähnlichkeit mit Vicky auf die Augen- und Haarfarbe. Je länger Philipp sie ansah, umso deutlicher wurde die Ähnlichkeit mit Paloma.

Er versuchte, sich zurück zu nehmen und Blanca nicht zu offen anzustarren und sagte zu ihr: “Weißt du, Blanca, ich habe eine Nichte, die ist etwa so alt wie du und auch so hübsch wie du.“

Blanca hörte auf zu essen und sah ihn an.

„Ich glaube, du bist ein bisschen müde, was?“, sagte Paloma zu ihr. „Am besten, du legst dich jetzt erst mal hin.“

Schweigend legte Blanca den Löffel hin und stand auf und ging zur Tür. „Wenn ich aufwache, ist dann der Mann noch da?“

„Ich weiß nicht“, sagte Philipp. „Aber der Mann kommt ganz bestimmt wieder. Morgen und übermorgen.“

Blanca nickte und schloss dann die Tür hinter sich.

Geradezu hastig wandte Philipp sich an Paloma. „Warum ... warum hast du mir nie geschrieben? Es ist mein Kind, sag, dass es mein Kind ist, bitte.“

„Natürlich ist es dein Kind.“

„Aber du ... du hättest es mir sagen müssen, du hättest mir schreiben, mich anrufen sollen. Irgendwas. Ich wäre auf der Stelle gekommen. Oder hast du daran gezweifelt?“

Paloma strich mit gesenktem Kopf ihr blaues Baumwollkleid glatt. Sie hatte sich die langen Haare schneiden lassen, trug sie jetzt schulterlang und modisch geschnitten. Und sah sehr gut aus damit. Nur im ersten Augenblick hatte Philipp sich daran gewöhnen müssen, dass aus seinem einfachen kleinen Bauernmädchen eine moderne junge Spanierin geworden war.

„Nein. Ich wusste, du würdest kommen. Und dann .. was wäre dann geworden?“

„Ich weiß nicht. Aber bestimmt hätte sich irgendeine Lösung gefunden.“

„Ja, vielleicht. Aber es wäre sehr schwierig geworden. Für uns beide. Also war es so wahrscheinlich das Beste ...“

Philipp sah die Tränen in Palomas Augen und deshalb ging er zu ihr und nahm sie erneut in die Arme.

„Nicht traurig sein. Ich will dir keine Vorwürfe machen. Bestimmt hast du Recht, es war sicherlich besser so. Aber sicher verstehst du, dass ich völlig durcheinander bin im Moment. Ich kam her, weil ich sehen wollte, wie es dir geht. Ob alles in Ordnung ist bei dir. Ich nahm an, du bist längst verheiratet, hast ein oder mehr Kinder. Aber dass du ... ein Kind ... von mir, ich kann es noch immer nicht fassen.“

Paloma wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt.

„Nicht. Es tut mir weh, wenn du so traurig bist.“

„Ich bin nicht traurig, ich weine, weil ich so glücklich bin. Ich hab so lange, so furchtbar lange, auf diesen Tag gewartet und ... jetzt kam es so ganz überraschend.“ Paloma strich mit ihrer Hand Philipp übers Gesicht, fuhr ihm mit den Fingern zärtlich über Wangen und Lippen als ob sie sich vergewissern müsste, dass Philipp wirklich bei ihr war. „Blanca hat deine Haarfarbe und deine Augen, aber sonst sieht sie dir nicht sehr ähnlich, oder?“

„Zum Glück hat sie mehr von dir, von ihrer schönen Mutter. Glaubst du, Blanca wird mich mögen?“

„Warum soll sie dich nicht mögen? Aber so schnell wird das nicht gehen ... sie muss sich ja erst an dich gewöhnen.“

„Das macht nichts, ich hab Zeit. Das heißt, ich nehme mir einfach die Zeit, das verspreche ich dir.“

Paloma lächelte und dabei waren ihre Lippen Philipp ganz nahe. Er küsste sie auf den Mund und spürte dabei die große Vertrautheit, die es nach all der Zeit noch immer zwischen ihnen gab.

„Ich hab nie aufgehört, dich zu lieben“, sagte er.

„Ich auch nicht.“

„Wir denken immer, alles verändert sich ständig. Dass nichts so bleibt wie es mal war. Aber wenn wir richtig hinsehen, gibt es so vieles, das gleich geblieben ist. Das gilt für Magali, gilt aber auch für uns ... mach dir keine Sorgen.“

Paloma lächelte. Ihre Augen glänzten noch feucht, aber sie strahlten.

„Ich hab eine Menge Mist gebaut, was?“, sagte Philipp.

„Ich sicherlich auch.“

„An Sturheit können wir uns wohl die Hände reichen. Wir sind weiß Gott zwei dickköpfige Esel. Vielleicht war es aber auch so was wie Treue, ich weiß nicht. Du zu deinem Leben hier und ich zu meinem. Und keiner von uns hat nachgeben können.“

„Aber etwas ist doch geblieben.“

„Ja, etwas ist geblieben. Wir halten uns immer noch in den Armen.“

Jetzt hatte auch Philipp Tränen in den Augen, denn erst jetzt wurde er sich der Situation so richtig bewusst. Herrgott nochmal, er war Vater geworden. An einem drückend heißen Sommertag war er Vater geworden. Und dass er Paloma in den Armen hielt, war noch ein weiteres Geschenk. Den Teufel würde er tun, das alles einfach wegzuwerfen. Denn selbst wenn es vielleicht nur ein dummer Spruch war, dass einem die wirklich guten Dinge im Leben nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen, lag möglicherweise doch eine Spur Wahrheit darin. Er war alt genug. Es war höchste Zeit, sich darüber klar zu werden, was er eigentlich wirklich wollte.

Paloma sah ihn mit einem sonderbaren Blick an, als ob sie spürte, woran er dachte. „Nicht, Philipp. Mach keine Dummheiten.“

„Im Gegenteil, es muss endlich Schluss sein mit den Dummheiten.“

„Siehst du, gerade das wollte ich nicht. Ich wollte dich nicht haben allein wegen des Kindes. Ich wollte nichts erzwingen damit, verstehst du das?“

„Ja. Aber du musst zugeben, dass ich nicht wegen des Kindes gekommen bin. Ich wusste ja nicht einmal, dass wir eins haben.“

„Das stimmt“, sagte Paloma. „Du konntest es nicht wissen.“

 

Es entschied sich nichts an diesem ersten Nachmittag und Philipp versprach Paloma auch nichts. Aber letzten Endes erübrigte sich ohnehin jedes Versprechen. Sie redeten fast bis zur Erschöpfung und hielten sich an den Händen, während nebenan ihr Kind schlief. Bevor er ging sah Philipp noch nach ihm, als müsse er sich davon überzeugen, dass es sein Kind wirklich gab. Er sehnte sich danach, der Kleinen über das Köpfchen zu streicheln, sie in die Arme zu nehmen, wusste aber, dass es noch zu früh war dafür. Paloma versprach er nur das eine: am nächsten Tag wiederzukommen. Und über den nächsten Tag hinaus wollte er jetzt nicht nachdenken. Nur das eine stand für ihn fest, sie würden einander nicht mehr aus den Augen verlieren.

Als er zur Cala Dragonera zurückkehrte, sah er Bobby und Karen auf der Veranda sitzen. Sie tranken Campari mit Orangensaft, was Bobby gerne als Aperitif trank und erst daran erkannte er, wie lange er weg gewesen war. Karen hatte ihre neuen Bermudas an und sah zum ersten Mal so aus, als ob sie in der Cala Dragonera war und nicht hinter ihrem Schreibtisch. Als er sie so dasitzen sah, tat sie ihm leid. Aber nur für einen Augenblick. Er war überzeugt davon, Karen alles, was in seiner Kraft stand, gegeben zu haben. Dass es dennoch nicht funktioniert hatte bei ihnen, lag wohl eher daran, dass ihre Verbindung nicht wirklich aus Gefühlsgründen entstanden war.

Bobby winkte ihm zu, als er das Auto abstellte und hatte seinen Campari fertig, bevor er noch auf der Veranda war.

„Wenn du ausgetrunken hast, können wir essen“, sagte sie.

„Wo sind die Kinder?“

„Noch unten am Strand.“

Das traf sich gut, Philipp wollte ohne die Kinder mit Bobby und Karen reden.

„Du warst bei diesem Mädchen“, sagte Karen plötzlich in sprödem, geradezu hartem Ton. Ohne Philipp dabei anzublicken.

„Ja, aber nicht nur. Ich war auch bei meinem Kind.“

Bobby stellte ihr Glas so heftig auf den Tisch, dass es klirrend gegen die Campari Flasche stieß. Karen ließ ein nervöses Lachen hören.

„Sieh mal einer an, ein Kind“, sagte sie.

„Was? Aber warum um Himmelswillen ...“, kam es heftig von Bobby, „warum hast du nie ein Wort davon gesagt, dass Paloma ein Kind von dir hat?“

„Ich hab es doch selber nicht gewusst. Nicht bis heute Nachmittag, deshalb.“

Bobby hatte Paloma nie persönlich kennen gelernt. Sie kannte sie nur aus dem Wenigen, das Philipp bei seltenen Gelegenheiten erzählt hatte.

„Wenn es überhaupt von dir ist“, sagte Karen.

„Darüber erübrigt sich jede Diskussion“, antwortete Philipp. Ein wenig zu heftig.

„Bobby, er muss einen Sonnenstich haben oder sonst was. Vielleicht ist er betrunken. Oder verrückt geworden. Oder vielleicht bin auch ich verrückt, was weiß ich.“

„Reg dich nicht auf“, sagte Bobby ruhig. „Lass uns vernünftig darüber reden. Philipp, was ist los?

„Das hab ich doch eben gesagt.“

„Es stimmt also? Du hast tatsächlich ein Kind? Tja, was sagt man dazu. Kommt ein wenig überraschend, was? Wie alt ist es denn?“

„Vier. Also ein bisschen jünger als Vicky.“

„Vier?“, Karen ließ erneut ihr nervöses Lachen hören. „Sagtest du vier? Dann warst du wohl sehr aktiv, als du kurz nach unserer Hochzeit hier warst.“

„Ja.“

„Ja? Einfach ja? Sonst nichts?“

Philipp schwieg. Karen musterte ihn schweigend, dann stand sie auf und ging ins Haus und zog die Tür heftig hinter sich zu. Philipp und Bobby saßen schweigend da, schafften es nicht einander anzusehen. Das einzige Geräusch, das zu hören war, war das Klicken der Eiswürfel, als Philipp sein Glas in den Händen drehte.

„Was willst du jetzt machen, Philipp? Oder besser gesagt, was kannst du überhaupt machen? Und noch was, kann ich das Kind kennen lernen? Schließlich ist es meine Nichte, so oder so.“

Philipp sprang erleichtert auf. „Natürlich kannst du es kennen lernen, nein, das musst du sogar. Bobby, lass uns einen Spielwarenladen leer kaufen und dann lass uns Blanca besuchen.“

„Blanca?“

„Ja. Wegen ihrer hellen Haare. Sie könnte leicht Vickys Schwester sein. Ein absolut süßes Kind – na ja, ist ja auch meine Tochter.“

Philipp sprach schnell und laut, seine Stimme überschlug sich fast. Bobby stand auf und umarmte ihn. „Ich freue mich für dich.“

„Bitte freu dich ganz schrecklich. So wie ich. Ich bin vor lauter Freude fast besoffen.“

Bobby sah zu ihm auf. Sie lächelten sich an.

Als die Kinder vom Strand zurückkehrten, deckten Bobby und Philipp gerade gemeinsam den Tisch und auch die Kinder halfen mit und so liefen alle ins Haus hinein und wieder hinaus und Philipps aufgeregte Fröhlichkeit übertrug sich schon bald auf die Kinder, die lachend allerlei Unfug machten. Als Karen plötzlich auftauchte, veränderte sich die Stimmung jedoch schlagartig. Sie hatte sich umgezogen, war jetzt in Rock und Bluse.

„Meine Sachen sind gepackt. Könntest du mich bitte zum Hafen bringen, Philipp.“

Bobby war die erste, die ihre Sprache wiederfand. „Karen, bitte, sei vernünftig. Das letzte Schiff ist doch längst weg. Ganz gut so vielleicht, wer weiß.“

„Das letzte Schiff ist weg? Hätte ich mir eigentlich denken können. Gibt es auf dieser verdammten Insel überhaupt etwas einigermaßen Zivilisiertes?“

„Komm, iss erst mal was. Wir reden nachher in Ruhe“, versuchte Bobby sie zu beruhigen.

„Du bist auf Philipps Seite. Das spüre ich deutlich. Natürlich, wie könnte es auch anders sein bei euch beiden. Du warst doch immer auf seiner Seite.“

Bobby wollte darauf antworten, aber Karen kehrte bereits wieder ins Haus zurück.

Die Kinder blickten einander betreten an.

„Was hat Tante Karen denn?“, fragte Vicky leise. „Ist sie böse auf uns?“

„Nein“, antwortete Bobby. „Ich glaube nicht, dass sie böse ist. Ich glaube, sie ist traurig.“

„Weil ihr was weh tut?“

„Kann schon sein.“ Bobby blickte Philipp an und er wusste, was sie damit meinte. Aber er schüttelte den Kopf. Nein, er stürzte jetzt nicht ins Haus, um Karen auf den Knien anzuflehen, morgen nicht abzureisen.

„Aber morgen ist sie nicht mehr traurig?“

„Das kann ich nicht sagen. Hoffen wir es“, sagte Bobby und als sie gegessen hatten und die Kinder, die eigentlich ins Bett sollten, noch eine Weile hinter dem Haus spielten, sagte sie zu Philipp: „Geh und red mit ihr. Das wenigstens könntest du tun. Du weißt, es ist nicht einfach für sie.“

„Ja, das weiß ich. Aber ich wünschte mir, sie würde sich irgendwie abreagieren, einen Teller an die Wand schmeißen oder viele Teller.“

„Sie hat sich bereits abreagiert, denke ich.“

„Dadurch, dass sie gepackt hat? Du glaubst, sie will gar nicht weg?“

„Sicher bin ich mir nicht.“

Philipp nahm eine Scheibe Weißbrot, aber er zerkrümelte sie nur zwischen den Fingern.

„Du hast wirklich nichts von dem Kind gewusst? Hast es nicht mal geahnt?“

„Nein.“

„Und was ist mit der Mutter von deinem Kind, mit Paloma? Du  ... ?“ Bobby beendete den Satz nicht, aber Philipp wusste auch so, was sie meinte.

„Ja. Absolut nichts hat sich verändert zwischen uns. Paloma ist so warmherzig, so ... so stark, aber gleichzeitig auch sehr stolz. Ich kann sie nur schlecht beschreiben.“

„Ich hoffe, ich lerne sie endlich mal kennen ... nach all den Jahren.“

„Ja. Nach all den Jahren.“

Philipp saß da und dachte an Paloma und an das Kind, von dessen Existenz er bis heute nichts geahnt hatte, und erst das Klirren des Geschirrs, als Bobby den Tisch abräumte, riss ihn aus seinen Gedanken. Er wusste, dass er sich jetzt nicht mehr länger drücken konnte. Dass er aufstehen und ins Haus gehen musste, um mit Karen zu reden.

 

Philipp war hinunter ans Wasser gegangen, als Bobby die Kinder ins Bett brachte. Der Abend war drückend schwül. Um diese Jahreszeit lagen die Temperaturen selbst um Mitternacht manchmal noch über dreißig Grad. Er saß auf einem Felsen und ließ die Füße ins Wasser hängen und versuchte, Ordnung in den Wust von Gedanken zu bringen, die einander geradezu jagten. Vorhin hatte er gegen die Versuchung ankämpfen müssen, sich nicht ins Auto zu setzen und zu Paloma zu fahren. Aber Karens wegen musste er wenigstens ein Mindestmaß an Rücksichtnahme aufbringen. Auch Bobby erwartete das von ihm.

Das Gespräch mit Karen hatte die Fronten nicht weiter geklärt – Philipp hatte auch nichts anderes erwartet. Karen blieb dabei, morgen abzureisen. Gleich mit dem ersten Schiff. Darüber, was später in Deutschland folgen würde, hatten sie nicht gesprochen. Es hatte sich wohl auch erübrigt. Eine Trennung war wohl unvermeidbar geworden.

Immerhin, sagte sich Philipp, würde sich für Karen nur insoweit etwas ändern, dass sie nicht mehr zusammen lebten. Sein Leben dagegen würde, nein musste, sich von Grund auf ändern. Irgendwann, aber nicht heute Abend, würde er sich entscheiden müssen, wie er seine Zukunft organisierte. Immerhin hatte er die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten. Entweder er pendelte jede Woche hin und her und führte eine Wochenend-Beziehung mit Paloma und würde mehr oder weniger eine Art Besuchsdaddy für Blanca oder er machte einen radikalen Schnitt und vergaß die ganzen Werbe-Etats für Waschmittel oder Babywindeln und löste sich von der Agentur durch Verkauf oder Einsetzen eines Geschäftsführers und fing hier unten noch einmal von vorne an. Womit auch immer.

Als er schnelle Schritte hinter sich hörte, gab er sich für einen Moment der Hoffnung hin, Paloma hätte ihn, wie schon einmal vor Jahren, hier unten aufgespürt. Aber dann nahmen die in der einsetzenden Dunkelheit verschwimmenden Konturen Form an und er sah, dass es Bobby war. Er winkte ihr zu.

„Gut, dass du kommst. Ich versuche, irgendwie Ordnung reinzubringen in meine Gedanken und bin schon ganz wirr im Kopf.

„Lass es besser bleiben für heute und komm mal mit.“

„Wieso? Was ist denn?“ Philipp stand auf. Darauf gefasst, dass jetzt Karens Namen fiel.

„Ich weiß auch nicht. Komm einfach mit und schau es dir an.“

„Was denn? Sag doch schon endlich.“ Philipp sprang vom Felsen herunter.

„Irgendwo da hinten, Richtung San Ferrán, muss irgendwas brennen. Das Licht dort hinten ist so merkwürdig, mir gefällt das gar nicht.“

Philipp drehte sich um und blickte in die angegebene Richtung.

„Gehen wir nach oben. Von hier unten kannst du es nicht sehen.“

„Doch. Da schau!“ Philipp zeigte in Richtung der Pinien, wo der dunkle Himmel in einiger Entfernung rötlich schimmerte. „Verdammt, du hast recht. Da drüben brennt es. Mein Gott, womöglich fackelt wieder einer dieser Idioten sein Feld ab.“

„Jetzt im Sommer, wo alles trocken wie Zunder ist?“

„Kann ich mir auch kaum vorstellen.“

Sie gingen über den Strand und stiegen dann die kurze Anhöhe zu Philipps Land hinauf, nahmen den Trampelpfad zwischen Rosmarinsträuchern und anderem Gebüsch bis zur Pforte des Gartentors. Oben angekommen, blieb Philipp stehen. Von hier aus war eine senkrecht stehende Rauchwolke zu erkennen, die sich vom Nachthimmel deutlich abhob. Flammen waren nicht zu sehen.

„Lass uns hinfahren“, sagte Bobby.

„Ja, gut.“

Sie gingen schneller, wobei Philipp bereits überlegte, was sie mitnehmen könnten. Spaten und Schaufeln auf alle Fälle, denn wenn es vielleicht auch nur auf einem Feld brannte, waren Sicherheitsvorkehrungen unbedingt nötig. Zum Glück ging kein Wind, mit Funkenflug war also nicht zu rechnen.

Die Kinder schliefen noch nicht. Sie kamen aus dem Haus, als sie Philipp und Bobby hörten und blickten ebenfalls zu der Rauchwolke hinüber. Als sie erfuhren, dass Bobby und Philipp ohne sie fahren würden, waren sie enttäuscht, aber Bobby blieb eisern.

„Ihr geht wieder ins Bett. Habt ihr verstanden? Und wenn irgendwas wäre, Karen ist da.“

In der Zwischenzeit hatte Philipp Spaten und Schaufeln in den Kofferraum seines Autos geworfen. Und als Bobby neben ihm saß, fuhr er los.

„Wie komm ich dort am besten hin?“

„Keine Ahnung. Zu Fuß, querfeldein, wären wir schneller da.“

„Ich weiß“, antwortete Philipp. „Aber vielleicht brauchen wir das Auto. Falls noch keiner die Guardia Civil verständigt hat. Vielleicht wird ein Löschwagen gebraucht. Verdammt! Demnächst schaff ich mir eins von diesen Auto-Telefonen an, das schwör ich dir.“

Danach schwieg Philipp. Sie waren jetzt auf dem Sandweg und er musste sich darauf konzentrieren, die Spur in der eingefahrenen Rinne zu halten, wollte aber auch nicht allzu langsam zu werden. Sie hatten die Rauchwolke nun in ihrem Rücken, als sie jedoch die Landstraße erreichten, stimmte die Richtung wieder.

„Mein Gott, das Feuer muss in der Gegend von Desirees Haus sein“, sagte Bobby. Philipp hatte das bereits vermutet, hatte es nur nicht aussprechen wollen.

„Vielleicht brennt es in dem Wäldchen in ihrer Nähe. Diese verfluchte Monokultur hier überall, nichts brennt so leicht wie Pinien.“

Philipp hatte vor Jahren einmal einen Pinienwald brennen sehen. Die Bäume waren geradezu explosionsartig in Flammen aufgegangen.

Er bog auf den Camino ab, den sie auch sonst benützten, wenn sie mit dem Auto zu Desiree fuhren.

Die Rauchwolke war jetzt deutlicher zu sehen. Sobald sie auf derselben Höhe waren, verstärkte sich der rötliche Schein und dann sahen sie auch das Feuer. Brandgeruch lag in der Luft.

„Das ist nicht der Wald, der da brennt. Der Wald liegt weiter dort drüben“, sagte Philipp.

„Dann muss es bei Desiree am Haus sein. Mein Gott, womöglich ist was mit ihrer Gasbombe passiert ... ich hab diese Dinger schon immer gehasst ... Philipp! Schau dir das an! Diese riesigen Flammen!“

Philipp warf nur kurz einen Blick zur Brandstelle hinüber. Er hatte genug mit dem Auto zu tun. Er jagte es über den steinigen Weg, rumpelte durch tiefe, vom Regen ausgespülte Furchen. Einige Male knallten größere Steine gegen die Karosserie.

„Philipp, ich hab Angst“, wimmerte Bobby plötzlich.

Philipp biss die Zähne zusammen, um nicht laut aufzustöhnen, dabei nach Möglichkeiten suchend, noch schneller zu fahren und gleichzeitig das Feuer nicht aus den Augen zu lassen, dessen Schein ein diffuses Licht über die Felder legte.

Das letzte Stück jagte er so schnell es nur ging quer über ein Feld, bremste scharf ab in einiger Entfernung von der hohen Fackel, die einmal Desirees Haus gewesen war, da in weitem Umkreis kleine Flammen über den mit vertrocknetem Gras und Unkraut bedeckten Boden züngelten und dann sprang er und auch Bobby aus dem Auto und beide rannten auf das Feuer zu. Die dunklen Silhouetten von zwei, nein, drei Leuten hoben sich davor ab. Brandgeruch und stechender Qualm waren jetzt so stark, dass sie nur schwer atmen konnten und die Luft war voller schwarzer Fetzen, die auf sie nieder schwebten.

Sie liefen auf die Männer zu, die mit Reisigbündeln und Ästen auf die Flammen einschlugen, die am Boden entlang krochen.

„Dónde está Desiree? Wo ist Desiree?“, schrie Philipp die Männer an. Sie zuckten jedoch mit den Schultern und schlugen weiter auf die züngelnden Flammen ein. Philipp sah die Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen. Kaum hatten sie an einer Stelle Flammen erstickt, hatten sich andere schon wieder weiter über das Feld vorgefressen. Von irgendwoher tauchte ein weiterer Mann auf.

„Desiree ist noch im Haus“, schrie er zu ihnen herüber, um sich in dem Fauchen und Brüllen der Flammen verständlich zu machen.

„Nein“, schrie Philipp zurück. „Nein, auf keinen Fall. Sie kann nicht im Haus sein. Wenn sie im Haus war, als es anfing zu brennen, wäre sie nach draußen geflüchtet.“

„Wenn, wenn, wenn ...“, schrie der Mann ihn an. Philipp sah jetzt, dass sein Gesicht voller Ruß war. Seine Haare sahen angesengt aus, und er hielt sich den linken Arm, als ob er Schmerzen hätte. Vermutlich hatte er versucht, zum Haus vorzudringen. Philipp sah sich ebenfalls nach einer solchen Möglichkeit um. Sagte sich dann, dass er es vielleicht schaffte, wenn er eine Schneise grub und rannte zum Auto zurück, um den Spaten zu holen.

„Die haben dafür gesorgt, dass sie nicht raus kam aus dem Haus“, schrie der Mann ihm hinterher.

„Philipp, ich fahr los, die Guardia holen“, hörte er von irgendwoher Bobby rufen, aber irgendjemand antwortete ihr, das sei bereits geschehen.

Philipp umrundete mit dem Spaten in der Hand das brennende Haus, suchte nach einer Möglichkeit näher ranzukommen, der Mann blieb ihm auf den Fersen.

„Sie haben Benzin genommen. Garantiert. Sie machen so was, diese Hunde.“

„Was?“, Philipp drehte sich um, erst jetzt erkannte er, dass es Félix war, der junge Mann, den er neulich bei Desiree getroffen hatte.

„Du meinst Brandstiftung?“, rief Philipp ihm zu. Und dann holte er tief Luft und schrie los. „Verdammt noch mal, holt doch endlich das Löschauto.“

„Ist schon unterwegs. Angeblich. Die lassen sich doch absichtlich Zeit.“ Die Stimme des jungen Mannes kam so stoßweise, als ob er schluchzte.

Philipp achtete nicht weiter auf ihn, er begann, mit seinem Spaten auf die Flammen zu seinen Füßen einzuschlagen, in der Hoffnung, näher an das brennende Haus heranzukommen. Er arbeitete wie von Sinnen, schlug um sich wie verrückt, bis er schließlich einsehen musste, wie sinnlos es war, was er da machte. Die Hitze der Feuersbrunst war zu stark – ohne Ausrüstung, ohne Schutzanzug, kam niemand mehr bis zum Haus durch. Im Flackern der Feuerzunge, die immer wieder viele Meter hoch schlug, sah er für einen kurzen Augenblick Flammen aus den schwarzen Fensterhöhlen schlagen.

„Desiree!“, schrie er. „Desiree!“

Dann hörte er hinter sich ein Auto, zwei, mehrere. Plötzlich waren die Leute der Guardia Civil da und etliche Freiwillige. Und auch der Wasserwagen der Feuerwehr tauchte auf. Ein Schlauch wurde ausgerollt, an den Wasserwagen angeschlossen. Aber der dünne Wasserstrahl schien in den Flammen zu verdampfen.

Jemand nahm ihm seinen Spaten aus der Hand und begann einen Graben rund um die Brandstelle zu ziehen. Auch andere Leute gruben. Philipp beteiligte sich nicht daran, er stand da und starrte in die Flammen.

Wenn das stimmte, wenn es wirklich Brandstiftung war ... wenn sie jemand umbrachten, weil er ihnen und ihren Plänen im Weg war ... er stöhnte auf und murmelte dann: „Desiree, halt durch! Halt durch!“ Dann spürte er, dass ihn jemand berührte. Es war Bobby, die ihm einen Arm um die Schulter legte und ihr Gesicht gegen seine Brust drückte.

„Das wird ein Nachspiel haben“, sagte er mit zusammen gebissenen Zähnen. „So oder so.“

Es dauerte die halbe Nacht, ehe die Leute von der Guardia Civil das Feuer soweit unter Kontrolle hatten, dass sie das Haus betreten konnten. Nicht lange danach fanden sie Desiree. Innen im Haus, dicht hinter der Tür, die sie nicht hatte öffnen können, da eine Eisenstange von außen anmontiert worden war. Vor Jahren hatte es schon einmal ein ähnliches Unglück gegeben. Ein eifersüchtiger Ehemann hatte Feuer gelegt und hatte vorher die Tür verrammelt. Auch damals hatten sich die vergitterten Fenster als tödliche Falle erwiesen.

Stumm, mit brennenden Augen und eng aneinandergedrückt standen Philipp und Bobby da, als Desiree mit einer Plane bedeckt abtransportiert wurde.

„Damit haben sie gewonnen. Keiner hier auf der Insel wird jetzt noch wagen, sich gegen ihr Projekt zu stellen“, murmelte Félix neben ihnen.

„Darum geht es im Moment doch gar nicht. Halten Sie endlich den Mund“, fuhr Bobby ihn an. „Ein Mensch ist getötet worden. Eine Freundin.“

Sie weinte.

Philipp strich ihr über die Haare und sah dabei auf die noch qualmende geschwärzte Ruine, die sich in der Morgendämmerung mit beklemmender Deutlichkeit vom fahlen Himmel abhob. Daneben einige verkohlte Baumskelette. Er sah sich alles lange an, so als ob er es sich für immer einprägen wollte und sagte dann: „Doch, vielleicht geht es gerade darum. Aber noch haben sie trotzdem nicht gewonnen. Auf diese Art gewinnt niemand. Desiree war unsere Freundin, wir sind es ihr schuldig ...“

Danach schwieg Philipp. Er stand da und lauschte. Denn eben war ihm so gewesen, als ob er Desirees tiefes, volles Lachen gehört hatte. Sie war bei ihnen, er spürte das deutlich, obwohl eben der Sanitätswagen mit der Toten über das Feld fuhr. Sie würde immer bei ihnen sein und ihnen über die Schulter blicken, wenn sie ihre Arbeit fortsetzten. Denn wie er Desiree gekannt hatte, wäre sie die letzte gewesen, die gewollt hätte, dass sie aufgaben, ihretwegen.

 

Sie hatten beschlossen, alle zusammen an Desirees Beerdigung teilzunehmen. Bobby, Philipp und auch Paloma. Wie immer und überall ließ auch hier der Tod eines nahe stehenden Menschen die Zurückgebliebenen enger zusammenrücken. Nur Karen fehlte. Da sie Desiree kaum gekannt hatte, sah sie keinen Grund, ihre Abreise aufzuschieben.

Trotz des tragischen Anlasses schafften es Bobby und Paloma, sehr herzlich aufeinander zuzugehen. Blanca war der vielen Fremden wegen ziemlich scheu, Philipp war dennoch stolz auf seine beiden Frauen, die er neu in die Familie einbrachte.

Er folgte in einigem Abstand, als Paloma Bobby und die Kinder über den Hof führte. Sie hatten noch etwa eine halbe Stunde, ehe der Trauergottesdienst in der Kirche von San Lorenzo begann. Danach würden alle gemeinsam zu Fuß dem Leichenwagen zum außerhalb des Ortes liegenden Friedhof folgen. Und anschließend würden sie mit allen, die Desiree heute das letzte Geleit gaben, zur Cala Dragonera hinüber fahren. In erster Linie wohl die ausländischen Residenten, von denen kaum einer sich nicht irgendwann einmal Rat oder Hilfe bei Desiree geholt hatte oder von ihr bekocht worden war. Aber auch ihre einheimischen Freunde und davon gab es eine ganze Menge und außerdem die Mitglieder der GON. Philipp hoffte es wenigstens. Denn er wollte damit eine Art Zeichen setzen. Er wollte damit bereits an diesem Tag deutlich machen, dass er Desirees Arbeit fortsetzen würde.

Auf einem anderen Gebiet vertrat er Desiree bereits. Er hatte ihren Katzen, die Bobby schließlich völlig verängstigt in einem Gebüsch in der Nähe der Brandstelle aufgelesen hatte, eine neue Heimat bei sich in der Cala Dragonera geben.

Als Philipp ein Auto auf den Weg zum Hof einbiegen sah, klinkte er sich aus der Hofbesichtigung aus und ging ihm entgegen. Pedro Pujol, Lehrer auf Magali und aktives Mitglied bei der GON, stieg aus. Philipp hatte ihn erst am Tag vorher kennen gelernt und ihn spontan aufgefordert, gemeinsam mit ihnen zur Kirche zu fahren.

Der kleine, bärtige Mann zog sich seine dunkle Krawatte zurecht und gab Philipp die Hand. Hinter dem Haus hörte er Blanca und Vicky lachen. Als er sich umwandte, sah er, wie die beiden versuchten, ein erschrocken gackerndes Huhn zu fangen.

Auch Pedro Pujol blickte zu den beiden Mädchen hinüber und meinte dann: „Was sagen Sie zu den Deutschkenntnissen Ihrer Tochter?“

Philipp blickte ihn überrascht an. „Blanca spricht deutsch? Haben Sie ihr das beigebracht?“

„Na ja, ein wenig. Reden Sie soviel wie möglich deutsch mit Blanca, in ihrem Alter tut sie sich noch leicht mit einer Fremdsprache.“

Sie gingen zusammen auf das Haus zu, wo sie sich auf die Verandamauer unter den Orangenbaum setzten. Beide hingen eine Weile ihren Gedanken nach, bis Philipp sagte: „Paloma hat Glück gehabt, in Ihnen einen so guten Freund zu finden. Sie hat mir erzählt, wie sehr Sie ihr geholfen haben, das Wasserproblem für den Gemüseanbau zu lösen.“

Pedro Pujol nickte nachdenklich. „Die Bohrungen waren nicht unproblematisch.“ Mehr sagte er nicht dazu. Noch gab es eine gewisse Distanz zwischen ihnen, außerdem war der Gedanke an das, was vor ihnen lag, zu bedrückend, um eine unbeschwerte Unterhaltung aufkommen zu lassen. Nach längerem Schweigen sagte Pedro Pujol jedoch: „Kann ich Sie etwas Persönliches fragen?“

„Bitte, nur zu.“

„Ich weiß, das ist jetzt nicht der richtige Moment. Aber es lässt mir keine Ruhe. Haben Sie sich schon entschieden, ob Paloma mit Ihnen nach Deutschland geht?“

Da Philipp mittlerweile Bescheid wusste über die jahrelange Freundschaft, die Paloma und Pedro Pujol verband, hielt er die Frage für völlig berechtigt. „Nein. Aber ich gehe davon aus, dass Paloma auf Magali bleiben will. Ich werde ihr bestimmt irgendwann meine Heimat zeigen, aber dort zu leben wäre bestimmt nicht das Richtige für sie.“

„Sie würde daran kaputtgehen.“

„Ja. Vor allem in einer Großstadt. Ich habe lange gebraucht, ehe mir klar wurde, dass sie das Land braucht. Ich meine die Erde, die Felder, ihre Tiere.“

„Ja. Und ich bin froh, dass Sie das erkannt haben.“

„Aber es hat lange gedauert und hat mein und auch ihr Leben viele Jahre lang sehr kompliziert gemacht.“

„Aber Sie beide haben zum Glück jetzt doch noch zusammen gefunden. Ich denke, Paloma wäre sonst wohl für den Rest ihres Lebens alleine geblieben. Sie hat nie einen anderen Mann haben wollen.“

Philipp verstand, was Pedro Pujol damit sagen wollte. Er gab ihm die Hand, um ihm das zu zeigen und sprach die Hoffnung aus, dass er auch ihm ein guter Freund sein würde.

„Und auf gute Zusammenarbeit bei der GON“, antwortete Pedro Pujol.

Paloma kam nun mit Bobby zurück zum Haus. Sie sah von einem zum anderen, aber sie sagte nichts. Kurz danach brachen sie auf zur Kirche in San Lorenzo. Alex und Vicky blieben auf dem Hof. Carmen, Blancas Kindermädchen, würde nach ihnen schauen.

 

Die Kirche war zu klein für die vielen Menschen, die zu Desirees Trauergottesdienst gekommen waren. Jeder Platz war besetzt und im Mittelgang drängten sich die Menschen und vor der Kirche ebenfalls.

Philipp hatte im Grunde nichts anderes erwartet. Abgesehen davon, dass Desiree viele Freunde gehabt hatte, waren einige wohl auch aus reiner Sensationslust gekommen, schließlich kam nicht jeden Tag auf Magali ein Mensch durch gemeine Brandstiftung ums Leben. Philipp nahm an, dass unter den Anwesenden mit Sicherheit auch solche waren, die Desiree nicht zu ihren Freunden gezählt hätte. Aber vielleicht waren sie auch gerade deswegen da. Um nicht womöglich in den Verdacht zu geraten, an dem Anschlag beteiligt gewesen zu sein. Noch hatte die Guardia niemand verhaftet, aber wenigstens hatte man eine Kommission gebildet, welche die Umstände von Desirees Tod untersuchte.

Vor der Kirche standen auch einige Fotografen. Philipp hatte seine ganzen Beziehungen spielen lassen, um einige Presseleute zu mobilisieren. Womit er der hiesigen Verwaltung bewusst Druck machen wollte, damit die Akte Desiree nicht eines Tages unerledigt im Archiv verschwand. Und was die Bebauung von Es Trenc betraf, auch darüber hatte Philipp sich Gedanken gemacht. Er wollte der GON den Vorschlag machen, einen Hilfsfond zu gründen und Gelder zu sammeln für den Ankauf des Geländes, das zu einem Vogelschutzgebiet werden sollte. Ein Versuch in jene Richtung könnte sich seiner Meinung jedenfalls lohnen.

Als das Orgelspiel einsetzte und Philipp sich verstohlen umsah, entdeckte er eine Menge bekannter Gesichter. John und Jim, die beiden Engländer, die ihm und Salvador damals beim Ausheben der Zisterne geholfen hatten. Paco, der früher Fischer gewesen war und mit dem er auf dem Wasser nach Salvador Ausschau gehalten hatte. Der alte Jaime, ein Nachbar von Salvador, seine Tochter Ana und ihren Mann Ernesto. Miguel von der Bar El Centro und Félix und noch eine ganze Menge mehr.

Du hast eine ganze Menge Freunde gehabt, sagte er in einer stillen Zwiesprache mit Desiree. Aber du hast auch eine Menge dafür getan und auch für Magali. Wahrscheinlich weil du dich rechtzeitig entschieden hast, wo du hingehören willst. Im Gegensatz zu mir. Ich hoffe, du hältst mich trotzdem für deinen würdigen Nachfolger. Ich will mir jedenfalls Mühe geben.

Danach erinnerte sich Philipp an seinen letzten Besuch bei Desiree. Als sie zusammen in der Sonne gesessen und ihre Zitronenlimonade getrunken hatten. Und es tat ihm unendlich weh, sie auf diese Art und Weise verloren zu haben.

Paloma, die rechts von ihm saß, wandte den Kopf. Ihre Lippen formten einige Worte und Philipp antwortete ihr auf dieselbe Weise. „Ich dich auch.“ Und er blickte auf ihren Schoß, in dem ihre und seine Hand ineinander verschlungen dalagen.

Als er Bobby neben sich weinen hörte, legte Philipp ihr tröstend einen Arm um die Schulter. Und dann – und das musste ausgerechnet ihm passieren – begann er zu beten. Er, der zwar Kirchensteuer zahlte, aber in seinem ganzen Leben noch nie an irgendeinen Gott geglaubt hatte, begann mit ihm Zwiesprache zu halten. Und schließlich wurde ein stilles Gebet daraus, in dem er Gott um seine Hilfe bat und um Schutz für alle, die ihm nahe standen. Und darum, Desiree bei sich da oben aufzunehmen, wo immer das auch sein mochte, und ihr all die kleinen Sünden, die sie sicherlich begangen hatte, nicht weiter nachzutragen.

Und als das Geläut der Kirchenglocke das Ende des Gottesdienstes ankündigte, erweiterte er sein Gebet rasch noch um ein paar Worte. Lieber Gott, bat er, lass auch mich eines Tages, ich meine, wenn ich einmal an der Reihe bin, unter der steinigen, ausgedörrten Erde dieser Insel liegen. Sie ist nur klein und bestimmt nichts Besonderes unter all den Inseln auf der Welt, aber du weißt bestimmt, wie viel sie mir immer bedeutet hat.

Die Kirchentür wurde jetzt geöffnet, Sonnenlicht strömte herein und sämtliche Kirchgänger formierten sich zu einem feierlichen Zug, um Desiree auf ihrem letzten Weg zu begleiten.