Vierter Teil

 

PHILIPP

1982

 

Es war einer der seltenen Tage auf Magali, an denen der Himmel mit jenem schwerem bleiernen Grau bedeckt war, der Regen bringen würde. Keinen jener heftigen Regengüsse, die mit solcher Wucht herunterkamen, dass der staubtrockene Boden das Wasser nicht mehr aufnehmen konnte und noch den kleinsten Abhang hinunterschoss und guten Boden mit sich riss, sondern ruhig und gleichmäßig fallender Regen, den der Boden wie ein Schwamm aufsaugen würde. Und das mitten im Juni, wenn die Inselbewohner die sengende Sonne längst leid waren und sich nach einem Tag wie heute sehnten.

Philipp nutzte seinen Aufenthalt auf der Insel, um an der Mauer weiterzubauen, die einmal sein ganzes Land umgeben sollte. Sein Haus stand nun bereits seit dem Winter 79. Eine Großtante hatte Philipp und seiner Schwester Bobby eine runde Summe hinterlassen. Philipp hatte mit seinem Anteil nicht nur das Haus bauen sondern auch seinem Vater das geliehene Geld für Salvadors Grundstück zurückzahlen können. Mit der Mauer rund um sein Land hatte er jedoch erst im vergangenen Jahr begonnen. Er ließ sich Zeit damit und arbeitete allein, obwohl man im Moment wieder genügend Arbeiter bekam. Aber Philipp beherrschte mittlerweile die Kunst, den Steinen aus dem Steinbruch die richtige Form zu geben und sie wie ein Puzzle zusammenzufügen. Außerdem gefiel es ihm, auf seinem Land zu arbeiten. Durch den Hausbau hatte er mittlerweile so viel Erfahrung, dass er praktisch alles Nötige selber machen konnte.

Dass im Augenblick wieder Arbeiter zu haben waren, hieß aber nicht, dass im Moment weniger auf Magali gebaut wurde als noch vor einigen Jahren, im Gegenteil. Aber der wirtschaftliche Aufschwung der Insel übte einen derartigen Sog auf Leute vom Festland aus, dass momentan sogar ein Überangebot an Arbeitern herrschte. Außerdem waren sie günstig zu haben.

Philipp sah hinauf zum Himmel und es kam ihm so vor, als ob die Wolkendecke immer schwerer wurde. Danach machte er sich wieder an seine Arbeit. Er nahm den Stein, den er eben behauen hatte und passte ihn in die Mauer ein. Dabei musste er daran denken, dass er sich vor einiger Zeit niemals hätte träumen lassen, dass er sich jemals hinter einer Mauer verbarrikadieren würde. Aber es ging nicht mehr anders. Obwohl es ein Stück weiter östlich einen asphaltierten Weg zum Strand hinunter gab, hatte sich die Abkürzung quer über die Cala Dragonera herumgesprochen. Ständig bretterte irgendein Leihauto über sein Land. Anfangs hatte Philipp das noch mit einer Art Galgenhumor ertragen, selbst wenn er sich beim Frühstück auf seiner Veranda wie auf dem Präsentierteller vorkam. Als er jedoch letztes Jahr Weihnachten auf der Insel war, hatte sein Land wie nach einem Militärmanöver ausgesehen. Diese verdammten Geländewagen, die neuerdings zu mieten waren. Und Philipp war es leid, den Touristen die Cala Dragonera als Teststrecke für ihre Autos zur Verfügung zu stellen und hatte deshalb während seiner Abwesenheit von Jack und Jim einen Zaun um das ganze Land ziehen lassen. Was ihm jetzt die Möglichkeit gab, in aller Ruhe seine Mauer zu bauen.

Die ersten Regentropfen fielen, malten glänzende Flecken auf Philipps staubige Arme und seine nackte Brust und zerplatzten auf der harten, verbrannten Erde. Philipp arbeitete noch eine Weile weiter. Erst als der Regen ruhig und gleichmäßig zu fallen begann, suchte er sein Werkzeug zusammen und lief zum Haus. Stellte alle Eimer und Schüssel, die er nur auftreiben konnte, ins Freie, um möglichst viel von dem kostbaren Nass aufzufangen. Denn Wassermangel war noch immer das große Problem auf der Insel. In den neuen Hotels behalf man sich damit, für die Duschen und Wasserspülungen Meerwasser zu nehmen. Ebenso für die Wasch- und Spülmaschinen in der Küche. Was zur Folge hatte, dass Kaffee oder Tee ständig leicht salzig schmeckten. Neuerdings wurde auch viel über eine Salzwasseraufbereitungsanlage geredet, aber noch gab es keine.

Als Philipp die Eimer und Schüsseln im Freien hatte, stellte er sich auf die Veranda und blickte in den gleichmäßig herabströmenden Regen und sah zu, wie er allmählich den Boden der Eimer bedeckte. Falls es lange genug regnete, würde er eine Ration Wasser extra haben zum Gießen der Pflanzen, die er neben sein Haus gesetzt hatte. Großblättrige, feuerrote Geranien, einen kugelrunden Busch Margeriten, ein bisschen Lavendel und eine tiefviolette Bougainvillea, die an einer der Säulen emporwuchs, die das Vordach stützten.

Bisher hatte Philipp Glück gehabt mit dem Wasser. Nur ein einziges Mal hatte er den Wasserwagen bestellen müssen. Damals, als er das Haus gebaut und Wasser zum Mörtel anrühren gebraucht hatte. Wenn er sparsam umging mit dem Wasser, das sich durch die Winterregen in seiner Zisterne sammelte, reichte es aus für seinen täglichen Bedarf. Selbst in regenarmen Jahren, da er sein Haus nicht ganzjährig bewohnte.

Während Philipp noch dastand und zusah, wie der Regen auf das ausgedörrte Land fiel, von dem allmählich der gute Duft nach feuchter Erde aufstieg, hörte er jemand seinen Namen rufen. Als er sich umwandte, sah er Desiree den Weg entlang kommen. Ihr Kleid und ihre Haare klebten bereits klatschnass an ihr, aber sie spazierte in aller Ruhe durch den Regen.

„He! Hallo! Was sagst du dazu? Regen im Juni!“, rief sie ihm zu.

„Ja, kaum zu glauben“, rief Philipp zurück.

„Weiß Gott. Gut für den Boden und gut für die Pflanzen.“ Desiree kam jetzt die Treppe zur Veranda herauf, sich dabei das Wasser aus den Haaren schüttelnd.

Ihre Worte erinnerten Philipp daran, wie sehnsüchtig die Bauern der Insel früher auf Regen gewartet hatten und wie sehr ihr täglich Brot davon abhängig gewesen war, aber die Zeiten waren längst vorbei. So gut wie alle Felder lagen jetzt brach.

„Wie geht’s?“, Desiree sah ihn prüfend an.

„Gut, sehr gut. Das macht der Regen. Warte, ich hol dir ein Handtuch. Und dann lass uns einen Schluck Wein trinken. Regen im Juni, das muss gefeiert werden.“ Philipp rückte zwei Korbstühle zurecht, die so einfach und zweckmäßig waren wie sein gesamtes Mobiliar und auch das Haus selbst. Seine Schwester Bobby hatte ihn zwar überreden wollen, einen jener Ferienbungalows zu bauen, wie sie damals immer häufiger zu sehen waren. Mit gläserner Aussichtsfront und Fenstern mit riesigen Ausmaßen. Aber als Bobby zum zweiten Mal auf Magali war, hatte sie eingesehen, dass die typischen Häuser der Insel, wie sie seit Jahrhunderten gebaut wurden, eher für dieses Klima taugten. Häuser mit dicken Mauern und kleinen Fenstern. Und einem flachen Dach, das als Auffangfläche für Regenwasser diente. Das Haus war eher klein. Außer der Sala und der Küche gab es nur noch zwei kleine Schlafzimmer. Bobby und Philipp hatten sich einige einfache Möbelstücke von einem hiesigen Schreiner anfertigen lassen und hatten Bilder von Malern der Insel aufgehängt. Beide hatten sie eine Vorliebe für Motive, die Bäume darstellten und so hingen jetzt hauptsächlich Zeichnungen an den Wänden, die Feigenbäume oder knorrig verwachsene Olivenbäume darstellten. Dazu hatten sie handgeflochtene Körbe und Tonvasen im Haus verteilt und Gläser voller Muscheln, die sie am Strand gesammelt hatten. Nach und nach war noch das eine oder andere Stück Strandgut dazu gekommen. Von Salz und Sonne zerfressene Holzstücke mit mattem Seidenschimmer auf der Oberfläche, bizarr geformte Steine und verblichene Knochen, von denen Bobby behauptete, sie stammten von einem Wal.

Bobby liebte das Haus und die Insel mittlerweile ebenso wie Philipp. „Grüß unsere Insel von mir“, hatte sie beim Abschied gesagt. Es war ihr nicht leicht gefallen, Philipp dieses Mal nicht begleiten zu können. Aber es ging eben nicht, Bobby erwartete in den nächsten Wochen ihr zweites Kind. Abgesehen davon wäre sie dieses Mal eventuell ohnehin nicht mitgekommen. Philipp fragte sich im Stillen, wie sie wohl damit zurechtkomme, in Zukunft die Rolle der Hausherrin in der Cala Dragonera abzugeben. Aber letzten Endes war das ein Problem, das sich mit Sicherheit lösen ließ.

Er holte das Handtuch für Desiree und den Wein und dann setzten sie sich so, dass sie einen freien Blick über das Land hatten. Auf die feuchte Erde und das geradezu vor Nässe glänzende Grün der Weinstöcke am Ende der Cala Dragonera.

„Wir treffen uns heute Abend um acht, du kommst doch auch?“, fragte Desiree nach einer Weile.

Philipp nickte.

„Es kommt auf jeden Einzelnen an und jüngere Leute zählen doppelt. Damit sie nicht mehr sagen können: ja, ja, die neue Zeit, da kommen die Alten eben nicht mehr mit.“

„Ich komm auf jeden Fall. Du weißt ja, ich helfe mit so gut ich kann.“

„Ja, schon ... aber sei mir nicht böse, manchmal hab ich das Gefühl, du stehst nicht wirklich dahinter. Sei mal ganz ehrlich.“

„Ich steh schon dahinter. Ich frage mich nur manchmal, ob die ganze Aktion wirklich was bringt.“

„Hat das Neugeborene gesagt und ist wieder in den Schoß der Mutter zurückgekrochen.“ Da Desirees Kopf unter dem Handtuch verschwunden war, war sie kaum zu verstehen.

„Ha, ha, ha“, machte Philipp.

“Ach, ist doch wahr. Ihr seid immer alle so ungeduldig wie ... wie kleine Kinder. Mensch, Philipp, wir kommen doch viel weiter, wenn wir es nicht erzwingen wollen. Die Leute müssen zuerst mal anfangen umzudenken, zuerst muss sich was in ihren Köpfen tun und das geht eben nicht von heute auf morgen.“

„Ist mir auch klar.“

„Immerhin haben wir schließlich erreicht, dass der Estang des Peix zum Naturschutzgebiet erklärt wurde und darauf bin ich richtig stolz. Schließlich ist das gar nicht so wenig.“

Philipp beugte sich vor, um Desiree eine Zigarette anzubieten, bis ihm einfiel, dass sie nicht mehr rauchte. „Nein, ist es auch nicht. Aber bist du dir sicher, dass das ausschließlich den Aktionen zu verdanken ist, die ihr auf die Beine gestellt habt?“

„Was ist denn heute bloß los mit dir, Philipp?“

„Nichts, ich versuch nur, realistisch zu denken. Und gerade die Geschichte mit dem Estang ... Ich frag mich, was wirklich dahintersteckt, wenn hier plötzlich irgendwas zum Naturschutzgebiet erklärt wird.“

„Wir.“

„Bist du sicher? Kann es nicht sein, dass der Bürgermeister vielleicht nur deshalb offene Ohren gehabt hat, weil es ihm oder einem seiner speziellen Freunde zufällig in den Kram passte, wenn am Estang des Peix nicht gebaut werden darf? Vielleicht weil er oder einer seiner Freunde woanders Grundstücke hat, die er zu einer Unsumme verkaufen will.“

Desiree wollte darauf antworten. Aber Philipp hob die Hand. „Moment, ich bin noch nicht ganz fertig. Noch einen Satz, Desiree. Gut, die Apartmentanlage wird also nicht auf dem Estang gebaut sondern woanders. Aber gebaut wird sie, ist doch wohl klar.“

Desiree zog ihre braunen Beine an und umfasste sie mit beiden Armen als ob ihr kühl geworden sei. Dabei war die Luft jetzt angenehm mild und roch wie frisch gewaschen. „Und letzten Endes können wir es nicht verhindern. Trotzdem, immer mehr Leute kommen zu unseren Versammlungen. Und nur darauf kommt es an. Dass hier langsam kapiert wird, so geht es nicht weiter.“

„Bist du sicher, dass es ihnen wirklich um Magali geht? Und nicht um irgendwelche persönlichen Interessen? Und wenn sie nur kommen, weil sie gegen den Bürgermeister sind, weil der zufällig ein anderes Parteibuch hat oder weil sie vielleicht ihrem Nachbarn eins auswischen wollen, weil der für eines der geplanten Bauvorhaben ist usw.? Nimm zum Beispiel Leute wie Pepe Hermosa oder Paco Orquito, ich seh da einfach kein Umdenken, die sind doch nur gegen den Bau der Apartmentanlage, weil sie Angst haben, ihre Fremdenzimmer stehen dann leer. Dabei bauen sie still und heimlich schon wieder neue Zimmer an.“

„Weiß ich doch auch.“

„Desiree, ich will dir dein Engagement wirklich nicht vermiesen, ganz bestimmt nicht.“

„Tust du aber.“

„Vielleicht. Vielleicht weil ich nicht will, dass du gegen Windmühlenflügel kämpfst. Und ich will auch nicht, dass du dich kaputt machst dabei.“

Leichter Wind war aufgekommen und der Regen war dünner geworden. Philipp sah, wie die Wassertropfen auf den Geranienblättern zitterten, ehe sie herabfielen.

„Was soll ich sonst machen? Tatenlos rumsitzen und zusehen, wie sie die Insel restlos ruinieren?“

„Ich denke manchmal, genau das ist bereits passiert. Sei mal ehrlich, Desiree, das Einzige, das wirklich was bringen würde, wären andere Gesetze. Nur sind die natürlich nicht zu erwarten, nicht in einem Land, das blind an die Segnungen des Massentourismus glaubt.“ Philipp füllte sein Glas ein zweites Mal. Desiree hatte kaum etwas getrunken.

„Weißt du noch, wie ich früher der Meinung war, du würdest alles zu schwarz sehen? Damals als sie gerade anfingen, die großen Hotels zu bauen. Ich war schon unglaublich naiv damals, was?“

Desiree seufzte. „Das warst du, weiß Gott! Erinnerst du dich noch, dass du gesagt hast, der Süden ist für alle da?“

„Ja, aber mittlerweile denke ich auch, dass sie zu weit gegangen sind, dass sie längst ein Limit setzen müssten bei der Zahl der Hotelbetten. Dass irgendwas zum Schutz der kleinen Insel hätte getan werden müssen.“

„Es gibt keinen Schutz der Menschen vor den Menschen.“

„Nein. Anscheinend nicht.“

Es nieselte jetzt nur noch. Dabei stand das Wasser in den Eimern und Schüsseln, die Philipp rausgestellt hatte, noch keine zehn Zentimeter hoch. Nicht gerade viel, dachte er, aber wohl doch genug, um den Pflanzenbestand auf der Insel wieder für eine Weile am Leben zu erhalten – zumindest den, der nicht von Baumaschinen platt gewalzt wurde. Da in vorderster Linie am Strand bereits fast jeder Quadratmeter bebaut war, setzten sie im Moment bereits eine zweite und dritte Reihe dahinter. In einigen Gegenden waren ganze Urbanisationen entstanden.

Manchmal erschien Philipp das Ganze wie systematisch erdachter Irrsinn: leere Geisterstädte in den Wintermonaten und Trubel und Menschenmassen während der Sommersaison. Und da der Kuchen mittlerweile verteilt war und sich herausgestellt hatte, dass er nicht für jeden reichte, der hier auf der Insel seinen Profit machen wollte, wurde eben fröhlich weitergebaut. Immer mehr, immer höher und größer.

Aber im Grunde war Philipp davon überzeugt, dass diese Entwicklung niemand mehr aufhalten konnte, auch Desiree und ihre Gruppe von Mitstreitern nicht. Und manchmal fragte er sich sogar, ob Desiree in ihrer gutmütigen, hilfsbereiten Art überhaupt ahnte, auf was sie sich da eingelassen hatte. Neulich war die Polizei bei ihr gewesen. Bestimmt nicht zum letzten Mal, befürchtete Philipp. Auf einer Baustelle waren zwei Baumaschinen verschwunden und obwohl Desiree selbstverständlich damit nichts zu tun hatte, hatte man versucht, sie als Wortführerin der Initiative „Salve Magali“ dafür verantwortlich zu machen.

Auch Philipp beteiligte sich aktiv an der Protestbewegung. Er hatte eine ganze Reihe Artikel in deutschen Zeitungen untergebracht mit Überschriften wie „Eine Insel wird zubetoniert“ oder „Das zerstörte Paradies“. Und Desiree hatte über Freunde aus England, Frankreich und Holland dafür gesorgt, dass diese Artikel auch dort erschienen und Vervielfältigungen davon waren dann auf dem Ayuntamiento, dem Rathaus, gelandet.

Die Gruppe traf sich auch schon längst nicht mehr in irgendwelchen Kneipen. Es gab auf der ganzen Insel keine Kneipe, die groß genug gewesen wäre für die vielen Leute, die mittlerweile zu den Veranstaltungen kamen. Sie trafen sich aber auch nicht auf irgendeinem Hof oder Feld, um jeden konspirativen Anschein zu vermeiden. Sie trafen sich in aller Öffentlichkeit auf der Plaza Consistorial in San Lorenzo, auf dem Platz vor dem Rathaus also.

 

An diesem Abend waren grob geschätzt an die dreihundert Leute da. Darunter wie üblich viele ältere Leute. Die Frauen teilweise noch in ihren alten Trachten mit den langen, dunklen Röcken, schwarzweiß gestreiften Leibchen und blauen Kopftüchern, unter denen der lange Zopf hervor sah. Anfangs waren es hauptsächlich ältere Leute gewesen, die sich der Bewegung angeschlossen hatten. So als ob insbesondere diejenigen, die selber nicht mehr allzu viel Zukunft hatten, sich am ehesten um die Zukunft der Insel sorgten. Aber mittlerweile kamen auch junge und sogar ganz junge Leute, worauf Desiree besonders stolz war, da gerade bei ihnen der Glaube an touristische Großprojekte besonders stark war.

Desiree hatte schon seit längerem Kontakt aufgenommen zu ähnlichen Gruppen auf dem Festland und hatte für diesen Abend einen jungen Mann aus einer Küstenprovinz eingeladen. Und der stand nun, etwas erhöht auf einem Bierkasten, mitten auf dem Platz und sprach mit einem Mikrofon in der Hand über das, was in seiner Heimat vorging. Er redete über die gestiegenen Lebensmittelpreise, die Wasserprobleme, die Müllberge, über wachsende Kriminalität und Drogenprobleme, über die insgesamt gesunkene Lebensqualität, die der Massentourismus den Leuten in seiner Heimat gebracht hatte.

Er sprach gut und eindringlich, erläuterte die Probleme anhand von Beispielen, die jedem verständlich sein mussten, dennoch rief plötzlich eine Stimme aus der Menge, die dicht gedrängt auf dem Platz stand: „Halt doch endlich den Mund! Wir wollen keine Geschichten über die Leute vom Festland hören. Von denen haben wir selber genug hier. Jeden Tag kommen neue und nehmen uns die Arbeitsplätze weg und machen die Löhne kaputt. Die arbeiten ja schon fast für die gleichen Pesetas wie ein Maulesel.“

Klatschen und Johlen und das Getrampel vieler Füße war die Antwort. Philipp blickte zu Desiree hinüber, die erst mit ruhigem Blick über die Menge sah, dann aber, als weitere Zwischenrufe kamen, dem jungen Mann das Mikrofon aus der Hand nahm und rief: „Was soll das? Haben wir nichts Besseres zu tun, als die Leute vom Festland schlecht zu machen? Ich denke, einige von euch verdienen ganz gut an ihnen, weil sie noch den letzten Schweinestall an sie vermieten.“

Abfälliges Murmeln war die Antwort. Philipp sah, wie einzelne junge Männer maulend den Platz verließen und hinüber zur Bar El Centro gingen. Im gleichen Moment fühlte er eine Hand auf seiner Schulter und als er sich umdrehte, sah er, dass Paco hinter ihm stand.

„Hombre, ich brauch ein paar Leute, die mit dem Boot rausfahren. Machst du mit?“

Philipp wunderte sich darüber. Soweit er wusste, kam Paco jetzt im Sommer kaum noch dazu, zum Fischen rauszufahren. „Sonst immer, du weißt ja“, antwortete er. „Aber ich hab versprochen, nachher auch noch ein paar Worte zu sagen. Fahr morgen raus, dann bin ich dabei, jederzeit.“

„Ich fahr nicht zum Fischen raus.“

„Was ist los?“ Philipp wurde plötzlich klar, dass es Paco weder um eine Vergnügungsfahrt noch ums Fischen ging. Paco war ungewöhnlich ernst.

„Hör zu, Salvador ist seit gestern Nacht auf dem Wasser. Ein paar von uns wollen rausfahren und ihn suchen. Salvador Torres. Du kennst ihn. Er hat dir beim Bau deiner Zisterne geholfen.“

Im ersten Augenblick glaubte Philipp, Paco wegen des Stimmengemurmels auf dem Platz, das Desiree zu übertönen versuchte, nicht richtig verstanden zu haben. „Du meinst, Salvador ist in Seenot oder so ähnlich?“

„Ja.“

„Aber wieso? Wir hatten keinen Sturm, die See ist ruhig.“

„Ich weiß.“

Philipp sah Paco nachdenklich an, aber Paco gab den Blick ruhig zurück. Darauf nickte Philipp und sagte: „Gut, du kannst mit mir rechnen.“

Während Paco sich durch die Menge drängelte, um noch weitere Leute zu verständigen, ging Philipp zu Desiree. Aber sie stand noch immer mit dem Mikrofon in der Hand da und redete und als er sah, wie sie zu kämpfen hatte, bekam er Gewissensbisse, da er sie praktisch im Stich ließ. Dann sagte er sich jedoch, dass sie auch ohne ihn genügend Mitstreiter hatte, und es erschien ihm im Moment hundertmal wichtiger, bei der Suche nach Salvador mitzuhelfen, anstatt gegen den Bau weiterer Betonklötze zu protestieren.

Salvador. Ein Name wie aus einem früheren Leben. Philipp hatte schon sehr lange nicht mehr an ihn gedacht. So wie man sich nach einer überstandenen Krankheit möglichst wenig an die ausgestandenen Schmerzen und die langwierige, mühselige Zeit der Rekonvaleszenz erinnert.

Als ihm plötzlich der junge Mann über den Weg lief, der die Verstärkeranlage für das Mikrofon aufgebaut hatte, bat Philipp ihn, Desiree auszurichten, er sei wegen einer wichtigen Angelegenheit bereits gegangen. Danach drängelte er sich zu Paco durch, der gerade mit ein paar Männern redete und dann gingen er und Philipp zu Pacos Auto, das er hinter der Kirche abgestellt hatte.

„Ich hab es auch erst heute Abend erfahren. Von Ernesto. Er und sein Vater waren den ganzen Tag mit dem Boot draußen und haben Salvador gesucht. Diese Dummköpfe. Sie hätten früher Bescheid sagen müssen, jetzt wird es bald dunkel. Ich fahr aber trotzdem raus, ich hab es Paloma versprochen.“

Paloma. Philipp hatte immer gehofft, nie wieder von ihr zu hören, obwohl es natürlich auf einer so kleinen Insel wie Magali fast unmöglich war, sich auf die Dauer aus dem Weg zu gehen. Aber irgendwie hatte er es geschafft, die Gegend von Salvadors Hof zu meiden. Und auch in San Lorenzo war er nur selten gewesen. Er hatte sich eingeredet, es sei dort zu überlaufen in letzter Zeit. Seine Enttäuschung saß einfach zu tief. Vielleicht war es auch um sein angeknackstes Ego gegangen. Was aber letzten Endes aufs Gleiche hinaus lief. Nicht einmal ihre Briefe hatte er später noch einmal gelesen, hatte sie irgendwo in einer Schublade vergraben. Eine Handvoll Briefe nur, mehr war er ihr wohl nicht wert gewesen. Auch keine Erklärung, weshalb sie plötzlich jede Verbindung abgebrochen hatte. Den Grund dafür hatte er erst später erfahren. Und ausgerechnet durch jenen Wasserfahrer, der ihm die Zisterne gefüllt hatte. Bis heute hatte er nicht vergessen, wie der Kerl damals dagestanden und sich gebrüstet hatte, Paloma demnächst zu heiraten. Damals als Bobby zum ersten Mal auf der Insel war und er mit Hochdruck an seinem Haus gearbeitet hatte. Und er war ziemlich down gewesen, damals. Obwohl er innerlich mit etwas in der Art hätte rechnen müssen. Wieso hätte Paloma auch auf ihn warten sollen?

 

„Mierda! Diese verdammte Dunkelheit.“ Paco ließ sein Auto am Ende des Weges ausrollen und sprang dann heraus. Sie waren zur Cala des Mortes gefahren, wo sich unzählige Lichter, ganze Lichterketten, von der Hotelanlage im Wasser spiegelten. Aus benachbarten Kneipen und Discotheken kam Musik herüber, es klang fast wie der Lärm auf einem Rummelplatz.

Philipp folgte Paco, der bereits den ausgetretenen, schmalen Pfad zum Wasser hinunterstieg.

„Habt ihr die Polizei oder die Marinestation am Hafen verständigt?“

„Ja. Ernesto ist heute Abend zum Hafen gefahren.“ Paco schlüpfte unter einige zum Trocknen aufgespannte Fischernetze hindurch, die wie Relikte aus einer längst vergangenen Zeit wirkten. Jetzt im Sommer fuhren höchstens noch ein paar sehr alte Männer zum Fischen hinaus. Paco setzte die Handwinde in Bewegung, um sein Boot ins Wasser hinunter zu lassen. Philipp sah zu, wie es langsam über die verwitterten Holzbalken glitt, unter dem aus rohen Stämmen gezimmerten Schutzdach hervor und schließlich das Wasser erreichte, das schiefergrau und träge dalag. Nur eine kraftlose Dünung rollte ans Ufer.

Als das Boot im Wasser war, zog Philipp sich hinein. Paco folgte ihm, warf den Motor an und steuerte dann in einer weiten Kurve in Richtung Cap Berberia das offene Meer an. Dabei ließ er das Boot ziemlich Fahrt machen, auch als sie weiter draußen waren und die Lichter der Hotels zu einem einzigen Band verschmolzen.

Die Sicht auf dem Wasser war bereits jetzt ausgesprochen schlecht und Philipp war klar, dass die Dunkelheit in den nächsten beiden Stunden noch zunehmen würde. Der Himmel war eine fast geschlossene Wolkendecke, mit Mondlicht war also kaum zu rechnen.

„Wo sind die anderen?“, erkundigte er sich. „Du hast doch noch mehr Leute zusammen getrommelt.“

„Die versuchen es drüben in der Gegend der Cala Sahona, dort wo Salvador sein Boot liegen hat. Falls er es doch noch aus eigener Kraft schafft, taucht er dort wohl am ehesten auf.“

„Glaubst du, dass Salvador es noch aus eigener Kraft schafft? Nach all der Zeit? Nach einem Tag und einer Nacht?“

Paco zog die Schultern hoch. „Ich hoffe es.“

„Ich auch. Aber ich versteh das nicht. Wie kann so was überhaupt passieren? Salvador war praktisch sein halbes Leben lang auf dem Wasser.“

„Vielleicht ist er krank oder irgendwas ist mit seinem Motor, was weiß ich.“

Philipp musste daran denken, wie oft er irgendwelche Fischer an ihren uralten Motoren hatte herumbasteln sehen. „Ich glaub es einfach nicht“, sagte er. Aber das sagte er nur, um sich zu beruhigen.

Paco hängte sich die Jacke über, die er beim Besteigen des Bootes auf den Boden geworfen hatte. Auch Philipp spürte, wie ihm feuchte Luft den Rücken hinaufkroch.

„Ich auch nicht. Aber rechnen muss man mit allem, die See kann dein Freund sein, manchmal aber auch nicht.“

„Heute Nacht ist sie jedenfalls zahm. Schau dir die Wasseroberfläche an, spiegelglatt.“

„Ja, sicher. Das Problem ist, die Leute sagen, Salvador sei ein bisschen seltsam geworden in letzter Zeit. Ein bisschen wirr im Kopf, du verstehst, was ich meine.“

„Wenn ja, hätte er nicht mehr rausfahren dürfen. Auf keinen Fall.“

„Ach man weiß ja, wie alte Leute sind. Sie lassen sich ja doch nichts sagen.“

Philipp versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben. So wie Paco, der wie unbeteiligt dasaß, mit ruhiger Hand das Boot steuerte und mit den Augen das Wasser absuchte. Aber es fiel ihm verdammt schwer, weil es sich nicht um irgendjemand sondern um Salvador handelte. Er erinnerte sich noch gut daran, wie sie sich damals mit der Grube für seine Zisterne abgeschunden hatten.

„Gibt es irgendwelche Strömungen hier?“

„Eine ganze Menge.“

„Auch das noch.“

„Man sieht, du hast keine Ahnung. Wasser liegt niemals still, irgendwohin bewegt es sich immer.“

„Gut“, sagte Philipp. „Wohin würde es ihn also treiben, wenn er sein Boot nicht mehr steuern könnte oder wenn irgendwas mit dem Motor wäre.“

„Kommt darauf an.“ Paco kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich auf einen Punkt auf dem Wasser, der hinter Philipps Rücken lag. Philipp drehte sich um und blickte in dieselbe Richtung, überzeugt davon, Paco habe etwas entdeckt. Aber es gab nichts zu sehen in dem grauen, bleiernen Licht, das den Horizont mit dem Wasser verschmelzen ließ. Allmählich überkam ihn das Gefühl, dass ihre Suche unter diesen Lichtverhältnissen sinnlos war. Er konnte nur hoffen, dass Paco wusste, was er tat. Weil er, Philipp, erbärmlich wenig über das Meer wusste, obwohl er alles in allem nun schon so viele Monate auf einer kleinen Insel verbracht hatte. Aber das Meer war ihm nicht wichtig gewesen im Zusammenhang mit Seefahrt oder Fischen oder Angeln, er war einfach gerne in seiner Nähe, blickte gerne auf die unendlich wirkende Weite und liebte diesen typischen Geruch nach Meer.

„Kommt ganz darauf an, wie weit draußen er ist. Wenn er etwa auf unserer Höhe wäre, würde ihn die Strömung aufs Land zutreiben. Allerdings bei den Klippen vom Cap. Behalte also auch die Küste im Auge.“

Was leichter gesagt als getan war. Aus dieser Entfernung und bei diesem Licht ragte das Steilufer vom Cap wie eine formlose graue Masse vor dem Nachthimmel auf. Philipp erinnerte sich daran, wie Paloma ihm die wilden Schweine dort gezeigt hatte. Aber daran mochte er jetzt nicht denken. Wie er sich auch in der Vergangenheit bemüht hatte, nicht daran zu denken. Was oft genug verdammt schwer gewesen war.

„Und wenn er weiter rausgefahren wäre?“

„Ich hoffe nicht. Weiter draußen gibt es eine Menge Strömungen in Richtung Festland, also aufs offene Meer zu.“

„Verdammt! Wenn wir wenigstens Suchscheinwerfer hätten.“

„Oder wenn die verdammten Wolken verschwinden würden und der Mond durchkäme.“

Philipp nickte.

Sie waren etwa eine Stunde unterwegs, als Philipp einen winzigen dunklen Punkt am Horizont entdeckte. Er machte Paco darauf aufmerksam, obwohl er mittlerweile wusste, wie trügerisch die Lichtverhältnisse waren. Einige Zeit vorher hatte ihm ein Stück Schwemmholz, einmal sogar ein abgetriebener Wasserball vorgegaukelt, er habe ein Boot entdeckt. Paco hielt darauf zu und als sie nahe genug waren, stellte sich heraus, dass es sich diesmal tatsächlich um ein Boot handelte. Allerdings nicht das von Salvador. Philipp erkannte zwei der Männer, mit denen Paco vorhin in San Lorenzo gesprochen hatte.

„Paco, wir machen Schluss für heute. Es ist hoffnungslos jetzt in der Nacht“, rief einer der beiden herüber, als sie knapp auf einer Höhe waren. Philipp kannte sie nicht. Sie waren etwa in Salvadors Alter und hatten ein ähnliches Boot wie er, ein ehemaliges Ruderboot, aufgerüstet mit einem Motor.

„Wir bleiben noch eine Weile draußen“, rief Paco zurück.

„Na dann, viel Glück“, antwortete der Mann.

Als die Dunkelheit das andere Boot geschluckt hatte, fühlte Philipp sich plötzlich mehr als elend. Er sagte sich, dass Paco von Anfang an gewusst haben musste, dass es sinnlos war, was sie hier taten. Dass er nur deshalb hinausgefahren war, weil er nicht anders konnte – Salvadors wegen. Ihm war klar, auch sie würden früher oder später aufgeben müssen. Was für Salvador noch eine weitere Nacht auf dem Wasser bedeutete. Falls ihn nicht zufällig eines der anderen Boote fand, die jetzt noch draußen waren.

Philipp hoffte, dass Salvador wenigstens eine Flasche Wasser bei sich hatte, aber es kam ihm ziemlich unwahrscheinlich vor. Er hatte nie gesehen, dass Salvador etwas mitnahm, wenn er zum Fischen aufbrach.

Der Motor brummte ruhig vor sich hin und Paco hielt immer noch aufs offene Wasser zu. Sie sprachen nicht, blickten nur angestrengt aufs Wasser und warteten. Darauf dass sich die Wolken endlich verzogen und dass der Mond aufging und darauf, dass irgendwo in der Ferne ein Boot auftauchte.

Irgendwann begannen Philipp die Augen zu brennen von der Anstrengung etwas zu sehen, was gar nicht da war. Kurze Zeit später schlug Paco das Steuerruder ein und ließ das Boot einen weiten Bogen beschreiben. „Wir müssen zurück. Der Sprit wird langsam knapp.“

„Vielleicht war genau das auch Salvadors Problem.“

„Möglich.“

Philipp sah Salvador vor sich. Sah, wie er mit seinem vielleicht hilflos treibendem Boot zu kämpfen hatte und fragte sich, wie lange er wohl genug Kraft zum Rudern hatte. Er war zäh, das schon. War es jedenfalls noch vor einigen Jahren gewesen, damals als sie zusammen seine Zisterne gebaut hatten. Aber er war mittlerweile nicht jünger geworden und sein hagerer Körper war immer schon eher schwächlich gewesen. Vielleicht, sagte sich Philipp, kämpfte er aber auch gar nicht mehr und vielleicht war es auch gar nicht das Schlimmste, was einem passieren konnte, der tagtäglich draußen auf dem Wasser war, wenn ihm auf diese Art das Ruder aus der Hand genommen wurde. Möglich, dass Salvador sich sogar einen Tod dieser Art gewünscht hätte, falls er es sich hätte aussuchen können. Aber Philipp wollte jetzt nicht an den Tod denken, jedenfalls nicht im Zusammenhang mit Salvador. Es war schlimm genug sich vorzustellen, wie Salvador vielleicht hilflos in seinem Boot auf dem Wasser trieb. Philipp schauderte, ihm war kalt. Innen wie außen. Paco musste das gesehen haben, denn er holte eine angebrochene Flasche Wein unter seiner Bank hervor. Er entkorkte sie mit den Zähnen und reichte sie Philipp.

Philipp nahm einen Schluck und noch einen, bis er spürte, wie die Kälte ein wenig aus seinen Gliedern wich. Er streckte die Beine aus, bewegte die steif gewordenen Zehen und dann rief er: „Herrgott noch mal, den ganzen Tag sind doch Fähren und Frachtschiffe unterwegs, die all das Zeug rüber transportieren, was Magali so braucht. Irgendjemand muss Salvador doch gesehen haben. Das Mittelmeer ist doch höchstens eine Pfütze, wie kann da irgendjemand verloren gehen?“

„Amigo, was weißt du denn schon? Selbst in einer Pfütze kann alles verloren gehen. Boote, Menschen, Sachen ... und manchmal sogar der klare Verstand.“

Philipp hatte das Gefühl, als ob auch er nahe daran sei, den Verstand zu verlieren. Wieso machte ihm sonst der Gedanke, Salvador treibe möglicherweise hilflos auf dem Wasser, so zu schaffen, als ob es sich um seinen besten, ja seinen einzigen Freund handelte? Er nahm einen weiteren Schluck, hielt die Flasche dann gegen den Nachthimmel. Und als er sah, dass sie fast leer war, gab er sie Paco zurück. Paco trank den Rest und warf die leere Flasche ins Wasser.

Bald danach spürte Philipp Pacos Hand auf seinem Arm. „Da! Das Küstenschutzboot. Kannst du es sehen?“

Philipp folgte der Richtung seines ausgestreckten Armes und dann sah auch er den dünnen Lichtkegel, der in einiger Entfernung übers Wasser strich. Und er stellte sich vor, wie es wäre, wenn er auf jenem Boot wäre und die ganze Nacht herumfahren könnte, um damit etwas wirklich Nützliches für Salvador zu tun. Er sah dem Lichtkegel so lange nach, bis ihn schließlich die Dunkelheit schluckte.

Kurze Zeit später näherten sie sich dem Land. Paco drosselte den Motor und Philipp sprang ins Wasser und zog, durchs seichte Wasser watend, das Boot hinter sich her. Die letzten Meter, dort wo das Boot bereits auf dem Sand auflief, half Paco ihm und gerade als sie es an Land hatten, riss die Wolkendecke kurz auf und der Mond leuchtete die Umgebung so hell aus, dass der Strand beinahe weiß wirkte. Aber nur für einen trügerischen kurzen Moment, danach schoben sich wieder Wolken vor den Mond und die jetzt spärlicher gewordenen Lichter der Hotels sahen aus wie eine Kette von Glühwürmchen.

„Ich fahr noch kurz bei Paloma vorbei. Hören, ob es was Neues gibt“, sagte Paco. „Kommst du mit?“

Philipp überlegte kurz und sagte dann: „Nein, besser nicht.“

„Gut. Mach, was du willst. Aber ich muss einfach wissen, was mit Salvador ist.“

„Ich auch.“

„Dann wirst du wohl mitkommen müssen.“

„Ja, wahrscheinlich.“

Während sie die Klippen hinaufstiegen, redeten sie darüber, wie sie es am nächsten Tag machen wollten, falls man Salvador noch nicht gefunden hatte. Paco wollte erneut rausfahren, konnte sich aber wegen seiner Arbeit im Hotel erst am frühen Nachmittag frei machen.

„Falls du nicht auf mich warten willst“, sagte er, „geh zum Hafen. Irgendjemand nimmt dich bestimmt mit. Vier Augen sehen mehr als zwei. Oder du kommst am Nachmittag wieder hierher.“

„Mach ich“, sagte Philipp. Aber er dachte jetzt nicht an den nächsten Tag. Er dachte daran, was ihm heute Nacht noch bevorstand. Er dachte an Paloma. Und versuchte sich einzureden, die Paloma, die er vor ein paar Jahren gekannt hatte, gäbe es nicht mehr.

 

Das Tor in der Mauer, die Salvadors Hof umgab, stand weit offen und Philipp sah zwei weitere Autos vor dem Haus stehen. Aus der offenen Tür fiel das Licht einer Petroleumlampe. Als Philipp ausstieg, sah er jemand in die Tür treten und obwohl nur die Umrisse zu erkennen waren, wusste er, dass es Paloma war.

Er ging hinter Paco auf die Veranda zu und im Näherkommen erkannte er, dass es tatsächlich Paloma war und auch sie musste ihn erkannt haben. Aber das Licht reichte nicht aus, um irgendeine Reaktion zu erkennen.

„Irgendwas Neues?“, rief Paco ihr zu. Paloma schüttelte den Kopf. Er ging auf sie zu, während Philipp vor der Veranda stehen blieb. „Bei uns leider auch nicht. Wir mussten zurück, der Sprit wurde knapp“, hörte er Paco sagen.

„Trotzdem, danke für deine Hilfe“, antwortete Paloma, sie sah jetzt zu Philipp hinüber.

„Ach was. Bedank dich höchstens bei dem, der dir deinen Vater zurückbringt. Vielleicht noch heute Nacht, wer weiß. Es gab schon Leute, die noch länger draußen waren.“

„Ich weiß“, sagte Paloma. Sie sah Philipp noch immer an. Paco fiel das jetzt auf, er drehte sich zu ihm um. „Das ist Philipp, du erinnerst dich doch an ihn. Wir waren zusammen draußen.“

Paloma nickte. Philipp wusste nicht so recht, was er tun sollte, entschloss sich dann aber, auf Paloma zuzugehen und ihr die Hand zu geben.

„Das mit deinem Vater tut mir schrecklich leid“, sagte er und suchte in ihrem Gesicht nach Zeichen von Freude. Oder Ablehnung. Irgendwas eben. Aber das war im Moment wohl zu viel verlangt.

Einen Augenblick lang lag Palomas Hand kühl und bewegungslos in seiner. Dann war von drinnen im Haus eine Stimme zu hören. Paloma wandte sich ab und kehrte ins Haus zurück. Philipp schloss sich Paco an, als der ebenfalls hineinging.

In der Sala saßen vier Männer und blickten Paco fragend an. Philipp blieb in der Nähe der Tür, während Paco den Männern berichtete, wo sie gesucht hatten und die Männer berichteten von ihrer Suche. Dabei fiel Philipp auf, dass niemand Salvadors Namen nannte. Sie sagten „Er“ und „Ihn“ als ob es Unglück brächte, seinen Namen auszusprechen.

Einer der Männer, der jüngste unter ihnen, wurde von den anderen mit Ernesto angesprochen. Philipp vermutete, dass es sich um Palomas Mann handelte, jedenfalls gab es eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Wasserfahrer von damals. Wirklich sicher war sich Philipp nicht und fand es auch nicht wichtig im Moment. Stattdessen konzentrierte er sich ganz auf das Gespräch der Männer. Was nicht ganz einfach war für ihn, da sie ausschließlich im Inseldialekt sprachen.

Einer der Männer sagte: „Das bringt doch alles nichts. Entweder wir fahren morgen ein ganzes Stück weiter raus oder wir lassen es ganz.“

„Aber mein Vater fährt nie weit raus“, widersprach Paloma. Sie stand mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt da.

„Woher willst du das wissen?“

Paloma zuckte mit den Schultern.

„Ich hab ihn mal an der Roca Bella gesehen und das ist ganz schön weit draußen, weiter als die Fischer sonst fahren“, sagte einer der Männer.

„Wenn ihr mich fragt“, sagte Ernesto. „Ich denke, wir sollten morgen die Klippen absuchen.“

„Ja, gut“, meinte Paco. „Am besten, wir machen beides. Die Küste absuchen, aber auch ein Stück weiter rausfahren.“

„Dazu haben wir nicht genug Leute.“

„Ich weiß.“

Philipp beteiligte sich nicht an dem Gespräch. Aber im Stillen gab er Ernesto Recht. Es gab auf Magali reichlich vorgelagerte Felsen nahe der Küste. Ein abgetriebenes Boot konnte dort vielleicht tagelang liegen, ohne dass es entdeckt wurde.

„Und deshalb müssen wir mit Verstand vorgehen“, sagte Paco. Niemand antwortete. Einer der Männer kratzte sich am Kopf, ein anderer scharrte mit dem Fuß über dem Boden und schob die Zigarettenkippen zu seinen Füßen hin und her. Philipp sah die Männer an, kämpfte dann seine Bedenken nieder, dass sie es womöglich als Anmaßung empfanden, wenn er sich einmischte und sagte: „Es muss doch möglich sein, von irgendwoher einen Hubschrauber zu bekommen, der die ganze Gegend absucht.“

Paco breitete die Hände wie ein Prediger aus und ließ sie wieder fallen. „Als ob wir nicht schon selber daran gedacht hätten.“

„Ja und?“

„Drüben auf der Nachbarinsel haben sie einen. Aber der ist natürlich kaputt im Moment und kein Mensch weiß, wie lange die Reparatur dauern wird.“

„Gott im Himmel!“

„Der hilft uns wahrscheinlich noch eher als dieser elende Hubschrauber.“

Philipp zermarterte sich den Kopf nach einer anderen Lösung, aber ihm fiel nichts ein. Ernesto stand auf. „Gehen wir. Die Nacht ist kurz.“

Auch alle übrigen erhoben sich. Paco war der erste, der an der Tür war. „Ich wünschte, ich könnte gleich morgen früh rausfahren, aber ihr wisst ja, ich bin nicht mehr mein eigener Herr.“

Philipp folgte ihm und als er an der Tür war, sagte er zu Paloma: „Ich komm morgen noch mal vorbei.“

Schweigend sah sie ihn an. Mit übergroßen Augen in einem blassen Gesicht. Dennoch kam es Philipp so vor, als ob sich das Mädchen, von dem er vor Jahren oben an der Mühle Abschied genommen hatte, rein äußerlich nicht verändert hatte.

Während der Fahrt nach San Lorenzo, wo Philipp sein Auto stehen hatte, kam Paco auf seine Bemerkung von vorhin zurück. „Kennst du das Sprichwort: Lieber ein kleiner Herr als ein großer Knecht?“

„Ja.“

„Und du weißt, was ich damit meine?“

„Ich denke schon.“

„Du hast es gut, du bist dein eigener Herr.“

„Ja, jetzt schon. Kleiner oder großer Knecht, das wäre nichts für mich.“

„Glaubst du für mich? Irgendwann muss ich den Absprung schaffen und wieder mein eigener Herr werden.“

„Ich wünsche es dir.“

„Ich hab sogar ein paar Ideen.“

„Gut, aber lass uns ein anderes Mal darüber reden. Nicht heute Nacht.“

„Ja, okay. Aber wahrscheinlich hast du in nächster Zeit gar keinen Kopf dafür. Wann kommt sie denn?“

„Ende der Woche.“

„Und sie war noch nie hier auf Magali?“

„Nein, noch nie.“

„Schade, sie hätte früher kommen sollen. Vor ein paar Jahren. Da hat es sich noch gelohnt.“

„Ich weiß.“

Sie kamen jetzt an der Bar El Centro vorüber, aber das Rollgitter an der Tür war bereits herunter gelassen. Ein paar Handzettel lagen verstreut auf der Plaza Consistorial. Mehr war von der Menschenmenge am frühen Abend nicht übrig geblieben.

Paco setzte ihn vor dem Schreibwarengeschäft ab, wo Philipp sein Auto stehen hatte, aber anstatt direkt zur Hauptstraße einzubiegen, fuhr Philipp langsam die menschenleere Calle Marc Ferrer hinunter, bog dann nach links ab und fuhr durch den jetzt stillen, menschenleeren Ort.

Er kam an der neuen Einkaufspassage vorbei mit ihren Säulen und Marmorfußböden, die wie eine elegante Flaniermeile aussah, wo aber nur ein paar Souvenirshops billigen Ramsch anboten. Fuhr an Bauruinen vorbei, deren bereits beginnender Verfall im Tageslicht nicht zu übersehen war und an leerstehenden Apartmenthäusern, an deren Fenstern Schilder mit den Aufschriften „Se vende“ und „Se alquila“ hingen. Zu verkaufen und zu vermieten also. Der Ort wirkte in seiner Stille wie ausgestorben. Das Nachtleben auf der Insel spielte sich in den Touristengebieten ab.

Draußen an der Cala Dragonera gab es eine andere Stille, jene, die nur im freien Gelände vorkommt. Rascheln und Knacken in den Büschen, ein feines Fiepen oder Gurren, sanfter Wellenschlag vom Strand her. Philipp liebte diese Art von Stille und er brauchte sie auch. Nach hektischen Wochen in der Agentur suchte er häufig, wenn auch nur für einige Tage, Entspannung in der Cala Dragonera. In dieser Nacht war er jedoch nicht empfänglich dafür. Er war mit seinen Gedanken bei Salvador, der nun schon die zweite Nacht auf dem Wasser draußen war und bei Paloma. Er wünschte sich, ihr wäre die Sorge um ihren Vater erspart geblieben.

Er holte eine Flasche Wein, zündete aber keine Lampe an, obwohl es im Haus stockfinster war und setzte sich in einen der Korbsessel auf der Veranda. Nach einer Weile musste er sich jedoch eine Jacke holen. Die Nacht war ungewöhnlich kühl für diese Jahreszeit. Und als er eine ganze Weile später ins Bett ging, musste er sogar das Fenster schließen und sich eine Decke besorgen.

Da Philipp ziemlich viel getrunken hatte, schlief er rasch ein, aber kaum zwei Stunden später fuhr er plötzlich hoch und sah alarmiert zum Fenster, durch das erstes Morgenlicht fiel. Irgendetwas war los da draußen, das spürte er. Und dann hörte er es. Sturm fuhr heulend ums Haus, riss an den Fensterläden, schlug das Stück losgerissener Regenrinne am Vordach, das er schon längst hatte reparieren wollen, gegen die Wand und vom Wasser her war das Toben der Brandung zu hören. Das also hatte vergangene Nacht der spürbare Temperatursturz bedeutet, das Aufziehen eines Sturms. Gnade Gott Salvador, falls er noch immer draußen auf dem Wasser war.

 

Obwohl Philipp kaum geschlafen hatte, stand er auf und zog sich an. Und versuchte dann, die Regenrinne mit einem Stück Draht provisorisch zu befestigen, weil ihn das unregelmäßige Klappern, mit dem sie gegen die Hauswand schlug, nervös machte. Kurz danach hatte der Sturm sie jedoch erneut losgerissen, Philipp gab auf. Er nahm seine Jacke und ging im grauen Licht der ersten Morgendämmerung hinunter an den Strand. Und während er dastand und auf die tobende See blickte, wurde ihm klar, dass heute nicht ein einziges Boot rausfahren würde, um nach Salvador zu suchen.

Es war noch zu früh, um zu Paloma hinüberzufahren, aber Philipp schaffte es nicht, untätig im Haus zu sitzen und fuhr deshalb nach San Lorenzo. Er hoffte, die Bar El Centro habe bereits geöffnet. Miguel würde mit Sicherheit wissen, ob es etwas Neues wegen Salvador gab.

Das Rollgitter an der Kneipe war bereits oben, aber die Tür war noch verschlossen. Da Philipp dahinter jedoch Licht sah, klopfte er. Miguel öffnete ihm.

„Was ist los? Bist du aus dem Bett gefallen oder hat dich der Sturm rausgeblasen?“, fragte er Philipp.

„Eher Letzteres. Was ist mit Salvador? Weißt du was Neues?“

„Komm erst mal rein“, sagte Miguel. Er musste die Tür mit beiden Händen festhalten, so stark drückte der Wind dagegen.

„Also, was ist mit Salvador? Haben sie ihn gefunden?“ Philipp stellte sich neben die Barhocker vor dem Tresen, die jetzt ordentlich aufgereiht dastanden.

„Nein.“ Miguel wischte mit einem feuchten Tuch den Tresen ab. „Ernesto war eben hier. Jetzt ist er rüber zum Hafen, will mit Vicente von der Küstenwache reden. Aber was bringt das schon? Sie können ja doch nichts machen bei dem Wetter. Sogar die „Ciudad de Barcelona“ liegt noch vor Anker, nicht einmal die läuft heute aus.“

Philipp sagte sich, dass es vermutlich schlimmer war als er befürchtet hatte, wenn nicht einmal die „Ciudad“, der größte Frachter der die Insel anlief, ablegen konnte. Von draußen war jetzt ein Geräusch zu hören, das nach einem Peitschenknall klang. Miguel und Philipp blickten beide zur Tür, deren obere Hälfte aus Glas war und sahen zu, wie der Sturm die blauweiß gestreifte Markise über der Terrasse blähte.

„Da, schau dir das an. Verrückt, so ein Sturm um die Jahreszeit. Es sieht nicht gut aus für Salvador, gar nicht gut“, murmelte Miguel.

Philipp ballte die Fäuste. „Warum spielt uns das Wetter so einen Streich?“

„Ja, warum. Ich weiß es auch nicht. Aber das Wetter allein ist es nicht.“

„Was sonst? Wenn die See heute ruhig wäre ...“

„Gestern war sie ruhig.“ Miguel füllte jetzt Kaffeepulver in das Sieb der Kaffeemaschine. „So ruhig, dass ein Mosquito hätte drüber laufen können, ohne sich die Flügel nass zu machen.“

„Das weiß ich auch“, sagte Philipp ungeduldig. Stürme, ja sogar starker Wind machten ihn meistens nervös und heute war es besonders schlimm. Warum ... warum legte sich dieser verdammte Sturm nicht endlich, damit die Boote rausfahren konnten. Philipp hatte sich vorgenommen, ein Boot samt Besatzung zu chartern und auf eigene Faust zu suchen.

„Hör zu, ich sag das nicht gern, aber einmal muss es gesagt werden. Ich denke, Salvador hat eine Dummheit gemacht. Eine Riesendummheit. Vorgestern Nacht, oh alle Heiligen, ist das schon so lange her? Na ja, gerade wenig getrunken hat er nicht vorgestern Nacht.“

Miguel senkte seine Stimme und sah zur Tür, aber niemand kam herein, es war nur der Sturm, der daran rüttelte. „Und mehr als das, er hatte ordentlich geladen. Mehr als mir lieb war. Ich hab noch gesagt, Schluss jetzt, Salvador, für dich gibt’s nichts mehr. Aber weißt du, er war schlau, er hat mich ausgetrickst. Hat einfach andere Leute für sich bestellen lassen. Er hat geglaubt, ich krieg das nicht mit. Na ja, irgendwann war er dann weg, ich hab nicht gesehen, wann. War zu viel los an dem Abend. Jedenfalls muss er anschließend noch mit dem Boot rausgefahren sein. Zuhause war er in jener Nacht jedenfalls nicht.“

Philipp bezweifelte nicht, dass Miguel die Wahrheit sagte. Andererseits konnte er sich nur schwer vorstellen, dass Salvador, den er als besonnenen, vernünftigen Mann kannte, sich so verändert haben sollte.

„Weißt du, warum er so viel getrunken hat in jener Nacht? Er muss doch einen Grund gehabt haben.“

„Er hat auch an anderen Abenden viel getrunken. Es war ja nicht das erste Mal.“

„Du tust gerade so, als ob Salvador ein Säufer geworden war.“

„Wer hat ihm denn jeden Abend den Wein hingestellt? Du oder ich?“

„Schon gut, Miguel. Ich denke nur an früher, als Salvador mir geholfen hat, meine Zisterne zu bauen. Damals hat er nicht viel getrunken.“

„Und wie lange ist das jetzt her?“

„Stimmt schon.“

„Soll ich dir mal was sagen? Meiner Meinung nach hat er in letzter Zeit so viel getrunken, weil er alt geworden ist. So geht es eben. Erst trinken sie ihren Kaffee bei mir. Kaffee immer nur Kaffee, höchstens ab und zu mal einen Wein oder einen Brandy. Und dann kommen sie immer öfter und bleiben immer länger, trinken aber keinen Kaffee mehr.“

„Hat Paloma das gewusst?“

Miguel ließ mit einem Hebeldruck Wasserdampf zischen und stellte dann eine Tasse starken schwarzen Kaffee vor Philipp auf die noch feucht glänzende Theke.

„Gewusst oder nicht. Sie hat ihn ja nicht anbinden können.“

Nein, das hatte sie nicht. Genau so wenig, wie er Salvador damals hatte ausreden können, die Erde aus der Grube für die Zisterne herauszuschaffen, obwohl die Arbeit zu schwer für ihn gewesen war.

Etwas anderes fiel Philipp ein und er sagte: „Hat Salvador noch eine offene Rechnung bei dir? Wenn ja, schreib es auf mich.“

Aber Miguel, der ihm den Rücken kehrte, weil er sich an der Kaffeemaschine zu schaffen machte, sah ihn nur kurz über die Schulter hinweg an. „Was machst du dir Sorgen um mein Geld? Entweder er zahlt und wenn nicht ...“ Miguel machte eine Handbewegung als ob er sich etwas über die Schulter werfe.

Darauf stieß Philipp einen Barhocker beiseite, der ihm im Weg stand und ging zur Tür. „Bis später. Ich schau noch mal rein.“

„Schmeckt der Kaffee heute nicht?“, rief ihm Miguel nach.

„Nein“, antwortete Philipp. „Mir schmeckt heute gar nichts. Aber das hat nichts mit deinem Kaffee zu tun. Du weißt, was ich meine.“

 

Als Philipp sein Auto neben Salvadors Haus abstellte, sah er Paloma eben den Anbau verlassen, in dem früher die Saatkartoffeln aufbewahrt wurden. Daran erinnerte er sich noch gut. Dabei zerrte der Sturm so heftig an Palomas weitem Rock, dass sie Mühe hatte, nicht zu stolpern. Philipp ging ihr entgegen, aber als sie ihn sah, rief sie nur laut gegen den Wind: „Nada, nada, nada!“ Nichts. Und ging dann ins Haus.

Philipp folgte ihr und als sie in der Sala waren, drehte sie sich um und blickte ihn mit den Augen eines verängstigten Tieres an. Philipp wusste nicht, was er sagen sollte. Was hätte er auch sagen sollen? Aber als sie eine Bewegung machte, eine kleine, hilflose Geste, ging er auf sie zu und hielt sie plötzlich in den Armen. Sie klammerte sich an ihn. Er spürte, wie sie zitterte und hielt sie fest umschlungen. Als er damit begann, Paloma beruhigend über den Rücken zu streichen, zitterte seine Hand ebenfalls.

So standen sie eine ganze Weile. Paloma begann schließlich zu reden. „Philipp, er kann diesen Sturm heute Nacht nicht überlebt haben.“

„Nein ... nicht Paloma, sag so was nicht.“

„Unmöglich. Ganz und gar unmöglich. Nicht bei diesem Sturm.“

„Trotzdem darfst du so was nicht sagen, Paloma, ja nicht einmal denken. So schnell wie der Sturm gekommen ist, wird er sich wieder legen und dann fahren die Boote wieder raus und du wirst sehen, sie finden ihn.“ Philipp wusste selbst, dass es nur leeres Gerede war. Ein Sturm wie dieser legte sich nicht von jetzt auf nachher. Selbst drinnen im Haus war seine Kraft noch zu spüren. Heulend tobte er ums Haus. Irgendwo schlug ein Fensterladen gegen eine Wand. Aber was sonst hätte Philipp sagen können?

Eigenartigerweise kam plötzlich eine Art innere Ruhe über ihn und das Bild, das ihn seit dem Aufwachen gequält hatte, verschwand. Ständig hatte er Salvador vor Augen gehabt. Salvador in seinem Boot, wie er mit letzter Kraft gegen die schwere See ankämpfte. Ein unendlich quälendes Bild. Jetzt, da Paloma ausgesprochen hatte, was er selbst nicht zu denken gewagt hatte, war er plötzlich davon überzeugt, dass Salvador seinen letzten Kampf bereits hinter sich hatte. Alles andere war im Grunde undenkbar. War sinnloses Klammern an Unmögliches.

„Es ist gut, dass du gekommen bist, Philipp.“

„Ja.“

„Ich bin so froh darüber.“ Ihr Gesicht an seiner Schulter vergraben, umklammerte Paloma ihn weiterhin. Sie kam ihm so klein vor und schwach. So zerbrechlich.

„Weißt du, die Glücksmuschel habe ich noch immer, die du mir mal gegeben hast“, murmelte sie an seiner Brust.

„Ich hab meine auch noch.“ Ja, er hatte sie noch. Irgendwo vergraben bei Palomas Briefen.

„Hat sie dir Glück gebracht?“

Philipp zögerte. Er musste daran denken, dass Paloma ihm die schönere Muschel geschenkt hatte und also musste er wohl mehr Glück gehabt haben als sie, sofern man überhaupt an die magischen Kräfte von Muscheln glaubte. Er sagte deshalb: „Ja, ich denke schon.“

„Das ist schön.“

„Und wie war es bei dir? Hat dir meine Muschel auch Glück gebracht?“

„Ich weiß nicht.“

„Na ja, mit dem Glück ist es so eine Sache ... manchmal hat man vielleicht Glück, aber man merkt es nicht mal.“

Philipp strich Paloma zart über die Schulter. Er spürte, wie sie sich langsam beruhigte, ihr Zittern ließ nach. Plötzlich war jedoch der sich nähernde Motor einer Mobylette zu hören. Mit einem langen Blick lösten die beiden sich voneinander. Philipp sah die Angst in Palomas Augen. Eine Angst, die sie nun schon so lange ertragen musste. Mit einer müden Bewegung zog sie sich ihr Tuch zurecht, das der Sturm ihr von den Schultern gerissen hatte und blickte schweigend zur Tür. Schneeweiß im Gesicht.

Als die Tür geöffnet wurde, kam ein junger Mann in dicker Windjacke und Strickmütze herein, nickte Philipp zu und wandte sich dann an Paloma.

„Ich schau nur kurz rein, um dir Bescheid zu sagen. Tut mir leid, Paloma, wir haben es versucht, aber es ist nicht zu schaffen. Niemand kann heute rausfahren.“

„Ich weiß, Antonio, ich weiß. Trotzdem, danke, dass du gekommen bist und danke für alles, was ihr für meinen Vater getan habt.“

„Er hätte es auch getan, wenn einer von uns draußen geblieben wäre. Ich wünschte nur, wir hätten ihn gefunden.“

Paloma nickte. Die Hände so fest um die Enden ihres Schultertuches geschlossen, dass die Knöchel weiß hervortraten.

„Sobald dieses verdammte Wetter sich legt, fahren wir wieder raus. Wir haben das schon abgesprochen.“ Antonio sah zu Philipp hinüber, als ob er sich fragte, wer er wohl sei.

„Danke. Aber seid vorsichtig. Riskiert nicht zu viel. Versprich mir das.“

Der junge Mann nickte und wandte sich ein wenig unsicher zur Tür. „Was ich dir noch sagen wollte, Paloma ... noch ist nicht alles verloren ... ich denke, dein Vater hat irgendwo in einer Bucht Schutz gesucht, und die anderen denken das auch.“

„Danke“, sagte Paloma mit müder Stimme.

Sie hörten kaum das Motorgeräusch, als der junge Mann seine Mobylette wieder anließ, so heftig tobte der Sturm in diesem Moment. Und dann waren sie wieder allein, aber es war nicht mehr dasselbe wie vorher. Als sie für einen Augenblick Salvador hatten vergessen können. Und auch die Wochen, Monate und Jahre, in denen sie einander aus den Augen verloren hatten. Sie warfen sich kurze, unsichere Blicke zu. Und schließlich begann Paloma, Stühle gerade zu rücken, an denen es nichts zu rücken gab und als das Schweigen fast unerträglich wurde, sagte sie plötzlich: „Du musst jetzt wohl wieder gehen?“

„Nein. Oder möchtest du, dass ich gehe?“

„Ich weiß nicht.“

„Sag, was ich tun soll.“

„Ich weiß nicht einmal, was ich tun soll.“

„Ich wünschte so sehr, das alles wäre deinem Vater und dir erspart geblieben.“

„Ja, ich weiß.“ Paloma schwieg einen Moment, dann sagte sie: „Meinst du, wir könnten zur Cala Sahona rausfahren?“

Philipp wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Ihm war klar, dass Paloma nicht irgendwohin an der Cala Sahona wollte, sondern zu der Bucht, wo Salvador sein Boot liegen hatte. Und er hätte ihr gerne den Anblick der jetzt wohl leeren Bootshütte erspart.

„Ich muss einfach unten am Wasser sein, ich muss, verstehst du?“

Ja, Philipp verstand. Salvador war auf dem Wasser und Wasser bedeutete für Paloma vermutlich eine Art Nähe zu ihm. Schweigend gingen sie zu seinem Auto hinaus.

Anfangs bekamen sie den Sturm nicht sehr zu spüren. Die neue Straße zu den Hotels an der Cala Sahona führte ein Stück weit durch einen Pinienwald, der noch einigermaßen Schutz bot. Als sie aber die Hotels hinter sich gelassen hatten und die Straße in einen holprigen Camino überging, der zu einem kahlen, hoch über dem Wasser gelegenen Felsplateau führte, waren sie ihm schutzlos ausgeliefert.

Philipp versuchte, noch ein Stück mit dem Auto weiterzukommen. Als sie jedoch die ersten tieferen Einschnitte in der steinernen Ebene erreichten, mussten sie das Auto stehen lassen. Aber kaum waren sie ausgestiegen, taumelten sie anfangs unter der Wucht des Sturmes und rangen nach Luft, die hier mit dem Sprühnebel der Gischt durchsetzt war, die gegen die steil abfallenden Felsen schlug. Philipp legte einen Arm um Paloma, die mit ihrem weiten Rock zu kämpfen hatte. Sie kamen nur langsam vorwärts. Vornüber gebeugt, sich gegen den Sturm stemmend.

Erst als sie den Pfad erreichten, der zwischen den zerrissenen und geborstenen Felsen steil zum Wasser und zu den Booten hinunterführte, die dort unter ihren Holzdächern lagen, waren sie dem Sturm nicht mehr völlig schutzlos ausgeliefert. Aber der Pfad war so schmal, dass sie nicht nebeneinander gehen konnten. Philipp sorgte sich um Paloma, die ihren Rock zusammenhielt und dadurch keine Hand frei hatte, um an der Felswand Halt zu suchen. Tief unter ihnen brodelte die See.

Minuten später versperrte ihnen eine herrenlose Mobylette den Weg. Der Sturm presste sie gegen den Felsen und ließ die Kette mit metallischem Klicken gegen das Schutzblech schlagen. Salvadors Mobylette vermutlich, die er hier im Schutz der Felsen abgestellt hatte. Philipp rückte das Rad, so gut es ging, beiseite und sie stiegen weiter hinab. Bis zum Ende des Pfades, wo die schäumende, rollende See in die Felsbucht schlug und gegen die Pfähle der Bootshütten klatschte, die gewöhnlich meterweit vom Wasser entfernt waren. Philipp musste immer wieder zu der einzigen Bootshütte hinüber sehen, in der kein Boot festgemacht war. Und auch Paloma blickte in jene Richtung. Niemand sagte auch nur ein Wort. Das Meer brüllte ohnehin so laut, dass sie dagegen hätten anschreien müssen. Und was hätten sie sich in diesem Moment auch sagen können?

So standen sie einfach nur da und sahen aufs Wasser. Philipp spürte, wie sich der Gischtnebel allmählich auf seine Kleidung legte und wie ihm der Anblick des infernalischen Tobens des Wassers immer unerträglicher wurde, aber ihm entging nicht, dass Paloma noch Zeit brauchte. Drängen wollte er sie in diesem Augenblick nicht, in dem sie vielleicht eine Art stille Zwiesprache mit ihrem Vater hielt, der irgendwo dort draußen auf dem Wasser sein musste.

 

In der folgenden Nacht legte sich der Sturm und am Morgen danach fuhren wieder Boote raus, um nach Salvador zu suchen. Aber es waren nicht mehr sehr viele, denn kaum jemand glaubte noch daran, dass Salvador diesen Sturm überlebt haben könnte. Philipp fuhr mit Jaime, einem Nachbar Palomas, hinaus. Leichter Ostwind blies, aber die Dünung hatte noch immer einige Kraft. Verglichen mit dem Tag zuvor war das jedoch nichts und als die Sonne rauskam, wurde es ein schöner, warmer Tag.

Sie blieben nahe der Küste und suchten bis zum Spätnachmittag die felsigen Buchten ab, die Riffe und vorgelagerten zerklüfteten kleinen Inseln in der Gegend der Cala Sahona. Ohne Erfolg allerdings. Und als sie im Hafen einliefen, erfuhren sie, auch die restlichen Boote waren erfolglos zurückgekehrt. Obwohl es niemand aussprach, wussten doch alle, es gab jetzt nichts mehr, was man noch für Salvador hätte tun können. Jetzt blieb nichts anderes mehr übrig als zu warten. Darauf, dass sein Boot vielleicht irgendwo weit draußen gesichtet wurde, vielleicht von einem vorüber kommenden Frachter oder dem Linienboot oder aber dass irgendwo Bootsplanken angeschwemmt wurden. Früher oder später spuckte die See das meiste wieder aus. Nur wenig behielt sie für immer.

Anschließend fuhr Philipp ein weiteres Mal zu Paloma. Es fiel ihm schwer, untätig in der Cala Dragonera zu sitzen, konnte sich aber auch nicht dazu aufraffen, an seiner Mauer weiter zu bauen oder einige kleinere Sturmschäden auszubessern. Auch seine Papiere und Unterlagen, die er während dieser Tage hatte aufarbeiten wollen, blieben liegen.

Als Philipp durch die Hofeinfahrt fuhr, sah er ein Auto vor dem Haus stehen. Er überlegte sich, ob er nicht besser wieder umkehrte. Aber ihm war klar, irgendwann musste er sich der Situation ohnehin stellen. Noch hatte er Palomas Mann nicht zu Gesicht bekommen.

Paloma musste ihn gehört haben, denn sie kam ihm auf der Veranda entgegen und da die Haustür offen stand, sah Philipp einen Mann mit blassem, dicklichem Gesicht am Tisch sitzen. Er hatte Philipp ebenfalls gesehen, aber er erwiderte dessen Kopfnicken nicht, sondern sagte mit starrem Blick auf Philipp: „Natürlich, kaum ist der Alte weg, tanzt der Ausländer wieder an. Kommt euch gerade recht die Gelegenheit, was?“

„Besser, du gehst jetzt, Mariano“, sagte Paloma.

„Ja, ja, ich geh ja schon. Ich will euch nicht stören.“

Stuhlbeine scharrten über den Boden, als der Mann aufstand und dann baute er sich dicht vor Philipp auf.

„Sie sind also dieser Philipp ...?“

„Ja. Und wer sind Sie?“

„Das ist Mariano, mein Bruder“, sagte Paloma.

Mariano streckte seine Hand aus, aber nicht so als ob er Philipp begrüßen wollte. Die Hand war geballt, und es sah ganz danach aus, als ob er sie Philipp in den Magen stoßen wollte. Reflexartig zuckte Philipp zurück. Darauf grinste Mariano und ließ die Hand sinken. Philipp versuchte, sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen und wandte sich so ruhig wie möglich an Paloma. „Ich wollte dich fragen, ob ich irgendwas für dich tun kann.“

„Danke, Philipp, das ist sehr freundlich von dir ... du warst heute mit Jaime noch mal draußen?“

„Ja. Aber leider völlig umsonst.“

„Ich weiß. Jaime war vorhin hier. Ich denke, ihr solltet langsam aufhören damit. Ich glaube nicht, dass man jetzt noch irgendwas tun kann.“

„Wenn ich etwas wüsste, ich würde es tun.“ Philipp warf ihrem Bruder einen Blick zu, aber der stand nur breitbeinig da und blickte in die bereits tief stehende Sonne. Als ob hier über etwas geredet wurde, das ihn nichts anging. Er musste Philipps Blick gesehen haben, denn er sagte: „Na, ich muss jetzt weiter. Wir sprechen noch mal darüber, Paloma. Du weißt, was ich meine.“

Die Hände in den Taschen schlenderte er zu seinem Auto. Philipp erinnerte sich jetzt plötzlich wieder daran, dass Paloma von ihrem Bruder erzählt hatte. Ihren Worten nach hatte er ihn sich allerdings anders vorgestellt. Soweit er sich erinnerte, hatte sie mit großer Wärme über ihn gesprochen.

Beide blickten sie dem Auto nach, bis es, eine mächtige Staubwolke hinter sich herziehend, verschwunden war. Philipp drehte sich zu Paloma um: „Vielleicht ist es besser, wenn ich nicht mehr herkomme. Ich will nicht, dass du auch noch meinetwegen Schwierigkeiten hast.“

„Nein. Bitte vergiss, was mein Bruder gesagt hat. Er ist eben so, da kann man nichts machen.“

„Aber was hat er gegen mich?“

„Ach, lass doch.“

„Du willst nicht darüber reden?“

Paloma schüttelte den Kopf. Und danach schwiegen sie beide. Philipp blickte hinaus auf die Zweige des Orangenbaumes, an denen unzählig viele kleine grüne Orangen hingen.

„Paloma?“

„Ja?“

„Es tut mir so leid, dass wir uns gerade jetzt wiedersehen mussten. Gerade jetzt, wo alles so schwierig ist.“

„Ich bin trotzdem froh, dass du gekommen bist.“ Paloma versuchte ein kleines Lächeln. Ihre Augen blieben jedoch ernst. Philipp tat es regelrecht weh zu sehen, wie elend sie aussah. Wie blass sie war. Um ihre Augen lagen dunkle Schatten.

„Ich auch. Ich bin froh, dass wir uns wiedersehen konnten. Nur war der Anlass nicht der Richtige.“

„Nein. Aber dafür können wir nichts.“

„Ich weiß. Aber ich wäre vermutlich nicht hier, wenn das mit deinem Vater nicht passiert wäre. Ich musste einfach kommen, verstehst du?“

Paloma nickte.

„Darf ich dich etwas fragen?“

„Natürlich.“

„Geht es dir gut? Ich meine, abgesehen von der schrecklichen Geschichte mit deinem Vater. Wie geht es dir sonst? Oder besser, wie ist es dir in der Zwischenzeit ergangen?“

„Ganz gut. Und dir?“

„Auch ganz gut. Doch ja. Ich hab gehört, du hast geheiratet? Falls es sich machen lässt, würde ich deinen Mann gerne kennen lernen.“

Paloma sah ihn plötzlich mit geradezu erschreckten, weit aufgerissenen Augen an.

„Wer hat dir das erzählt? Wer hat gesagt, ich sei verheiratet?“

„Aber du warst mal verheiratet?“

„Nein. Nie.“

Philipp hatte plötzlich das Gefühl, als habe er zu viel Wein getrunken. Viel zu viel Wein und als ob deswegen in seinem Kopf alles durcheinander ging. Nur hatte er den ganzen Tag über noch keinen Schluck getrunken. Er versuchte, seinen Kopf wieder klar zu bekommen, indem er sich sagte, besser er rührte die Vergangenheit nicht an, aber gleichzeitig drängte es ihn, Paloma nach hundert Dingen zu fragen. Zum Beispiel danach, warum sie seine Briefe damals nicht beantwortet, ihm nicht mehr geschrieben hatte oder was aus dem Fahrer des Wasserwagens geworden sei, all das. Aber er sagte kein Wort und so standen sie nur da und sahen sich an. Philipp war sich bewusst, dass Zärtlichkeit darin lag, eine Zärtlichkeit, die jedoch schmerzte. Fast unbewusst machte er einen Schritt auf Paloma zu. Sie wich ihm jedoch aus.

„Falls du Zeit hast, könnten wir dann ein Stück zusammen laufen? Irgendwohin. So wie früher. Weißt du noch?“, sagte sie.

„Wie hätte ich das vergessen können. Ja, gehen wir ein Stück.“

„Oder könnten wir vielleicht zu meinem Weinfeld bei dir in der Cala Dragonera fahren? Ich würde mir die Weinstöcke gerne anschauen. Ich war schon so lange nicht mehr da draußen.“

Bei dir in der Cala Dragonera hatte sie gesagt. Philipp musste daran denken, wie er sich früher so manches Mal gewünscht hatte, Paloma sein Haus zu zeigen, das so nahe an ihrem Weinfeld lag. Selbst als er schon nicht mehr damit rechnen konnte, sie jemals als SEINE Paloma wiederzusehen, hatte er daran gedacht. Aber selbst das war lange vorbei und die Zeit, die vergangen war, ließ sich nicht mehr zurückdrehen. Er versuchte deshalb, Paloma den Gedanken auszureden.

„Und wenn ein Nachbar vorbeikommt oder sonst irgendjemand und du bist nicht zuhause?“

„Deshalb will ich ja weg. Ich kann die mitleidigen Blicke nicht mehr ertragen. Ich weiß, es ist gut gemeint, aber ich ... ich mag einfach nicht mehr.“

Philipp entging nicht das Zittern ihrer Hand, mit der sie eine Haarsträhne zurück strich.

 

Als sie die Cala Dragonera erreichten, stand die Sonne schon so tief, dass Licht und Schatten ihre Schärfe verloren hatten und die Umgebung in warme Farben getaucht war, ähnlich wie damals als sie oben an der Mühle Abschied genommen hatten.

Sie gingen über Palomas Weinfeld, die langen Reihen der Rebstöcke entlang. Die jungen Triebe hatten kleine Rispen mit Blütenknospen, die jedoch noch winzig waren. Man musste schon sehr genau hinsehen. Philipp vermied es, zu seinem Haus auf der kleinen Anhöhe nicht weit entfernt hinüber zu schauen, das von hier aus gut zu sehen war. Als sie das Ende des Weinfeldes erreicht hatten, kehrte Paloma jedoch nicht um, sondern blieb stehen und blickte zu seinem Haus hinüber.

„Ein schönes Haus. Ganz so, wie sie früher hier gebaut haben.“

„Und was glaubst du, was ich anfangs alles zu hören gekriegt hab deswegen. Niemand hat so recht verstanden, wieso ich keinen modernen Bungalow oder so was Ähnliches haben wollte. Aber das Haus passt gut zu der Landschaft hier, und das war mir wichtig. Vor allem seit es nicht mehr ganz so neu aussieht. Die Steine sind dunkler geworden und das Holz sieht auch nicht mehr aus wie frisch vom Schreiner. Es ist ein gutes Haus geworden, oder?“

„Ja, es ist ein gutes Haus.“

Philipp zögerte einen Augenblick und fragte dann, ob sie es sich anschauen wollte. Paloma nickte, und sie überstiegen die Mauer am Ende des Weinfeldes und gingen hinüber zu seinem Haus. Sie sprachen beide nicht. Erst als sie auf der Veranda standen, wollte Paloma wissen, ob jemand da sei.

„Nein, niemand. Nur wir beide.“

Philipp öffnete die Tür und sie gingen beide hinein. Aber schon nach wenigen Schritten blieb er stehen und nahm Palomas Gesicht in beide Hände und sagte: „Ich kann mir denken, wie dir zumute ist. Ich weiß, du bist traurig. Ich bin es auch ... wegen deinem Vater und weil ... du weißt schon. Weil so viel Zeit vergangen ist und ... all das eben. Du verstehst, was ich meine.“

Paloma nickte. „Wir können es nicht mehr ändern, oder?“

„Nein.“ Philipp küsste sie auf den Mund. Nicht wie damals beim Abschied oben an der Mühle, sondern sehr sanft. Dann sahen sie sich an und Philipp sagte: „Du hast mir so gefehlt. Viele Jahre.“

„Du mir auch.“

Aber weder jetzt noch irgendwann später war von den Briefen die Rede, die nicht geschrieben oder nicht angekommen waren. Oder von den Dingen, die hätten sein können und doch nicht wahr wurden. Sie stellten einander keine Fragen, gaben keine Rechtfertigungen oder Erklärungen ab. Alles was sie taten, war, sich Mühe zu geben, um einigermaßen vernünftig mit der Situation umzugehen.

Um die Wortlosigkeit zu überspielen, führte Philipp Paloma durchs Haus. Da es jedoch ein kleines Haus war, war die Führung auch fast schon beendet, kaum hatte sie begonnen. Auf Palomas fragenden Blick wegen einiger Strandkleider, die Bobby in ihrem Zimmer hängen hatte, erklärte Philipp ihr, was es mit dem Zimmer auf sich hatte.

„Bobby ist deine Frau?“

„Nein, Bobby ist meine Schwester.“

„Erzähl mir von ihr. Was macht sie? Wie sieht sie aus?“

„Was sie macht? Alles Mögliche. Sie macht Beiträge für den Rundfunk, kleine Geschichten, verstehst du? Und momentan erwartet sie gerade ihr zweites Kind. Warte, ich kann dir Fotos von ihr zeigen.“

Philipp suchte ein paar Fotos heraus, die er von Bobby am Haus und am Strand gemacht hatte. Paloma sah sie sich lange aufmerksam an.

„Man sieht, dass sie deine Schwester ist. Die gleichen Haare, die gleichen Augen.“

„Aber hundertmal schöner“

Philipp war ziemlich nervös und redete zu viel. Er befürchtete, Paloma würde rasch wieder gehen wollen und versuchte deshalb, den Aufbruch so lange wie möglich hinauszuschieben.

„Möchtest du einen Schluck Wein? Oder irgendwas anderes? Gott, bin ich ein lausiger Gastgeber.“

Aber Paloma schüttelte nur den Kopf.

„Setz dich doch wenigstens.“

Aber Paloma ging kopfschüttelnd auf ihn zu und legte ihre Hände leicht auf seine Schulter und Philipp berührte sie ebenfalls. Er strich zärtlich über ihre Halslinie, schob ihre Haare zurück, sah, wie hell ihre Haut im Nacken war, dort wo die Sonne nicht hinkam und beugte sich dann nieder und küsste sie.

Sie küssten sich lange, und allmählich begann sich jene Barrikade aufzulösen, die es damals oben an der Mühle noch zwischen ihnen gegeben hatte. Damals, als Philipp nichts hatte vorweg nehmen wollen. Dabei hätte es im Grunde heute erneut eine Barrikade geben müssen, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Aber als Philipp sich dessen bewusst wurde, war es bereits zu spät. Da spürte er bereits ihren Atem auf seiner Brust und ihre Lippen auf seiner nackten Haut und er hatte ihren wunderschönen Körper unter sich. Wobei ihn nicht einmal die Gewissheit, dass Paloma zum ersten Mal mit einem Mann zusammen war, zur Vernunft brachte. Und für einen Augenblick war es, wie es hätte sein können all die Jahre, all die verlorenen Jahre. Aber als sich ihre schweißnassen Körper voneinander lösten, holte die Wirklichkeit sie wieder ein. Philipp sah, dass Paloma Tränen in den Augen hatte.

Philipp ahnte, was ihr im Moment durch den Kopf ging.

„Weißt du, was mir eben wieder einfiel? Einmal, mir ging es gerade ziemlich schlecht, sagte mein Vater, er sei ganz sicher, du würdest irgendwann wieder kommen, zu uns, zu mir. Einfach so, aus heiterem Himmel sagte er das. Er hat gespürt, was mit mir los war.“

Philipp schwieg. Er schämte sich. Für so vieles. Vor allem für seinen beschissenen verletzten Stolz, den er so viele Jahre lang geradezu gepflegt und gehätschelt hatte.

„Er hat nie deinen Namen genannt. Jedenfalls schon seit Jahren nicht mehr, aber irgendwoher hat er immer gewusst, wann du auf der Insel warst und dann kam er an und sagte, er ist wieder da. Du weißt schon, wer.“

Philipp strich Paloma eine ihrer dunklen Haarsträhnen aus dem Gesicht, die ihr über die Wange gefallen war.

„Und stell dir vor, die ganze Zeit über haben wir gedacht, diese blonde Frau, mit der du immer zusammen warst und von der mir die Leute erzählt haben, wäre deine Frau. Niemand ist auf die Idee gekommen, sie könnte auch deine Schwester sein.“

Paloma lächelte, trotz feuchter Augen. Und nichts hatte Philipp je so weh getan wie dieses Lächeln. Er setzte sich auf und nahm sich eine Zigarette, und das brennende Streichholz gab ihm wenigstens noch für ein paar Sekunden Aufschub, ehe er reden musste.

„Paloma, ich bin tatsächlich verheiratet. Seit fünf Tagen, um genau zu sein. Ich bin voraus gefahren, weil meine Frau ... klingt noch ziemlich komisch für mich, weil es so neu ist ... erst übermorgen zur Nachbarinsel fliegt. Ich will mit dem Schiff rüber und sie hierher bringen.“

Paloma zeigte ganz offen ihre Fassungslosigkeit.

„Vor fünf Tagen? Du hast vor fünf Tagen geheiratet? Das ist nicht wahr.“

„Doch. Und du kannst dir nicht vorstellen, wie miserabel ich mich fühle im Moment. Glaub mir, ich darf gar nicht dran denken, was wäre, was vielleicht hätte sein können, wenn ich nicht so verdammt stur gewesen wäre all die Jahre. Ich Idiot hab sogar jedes Gespräch abgeblockt, wenn irgendwie mal die Rede auf dich oder deinen Vater kam, ich wollte davon nichts hören ... Deshalb wusste ich nichts über dich, gar nichts. Nahm an, du bist eine glückliche Ehefrau, was mich tief verletzt und gekränkt hat.“

Philipp warf seine Zigarette in den Aschenbecher und dann sah er, dass Paloma lächelte. Es war dasselbe Lächeln wie vorhin, wieder waren ihre Augen nicht daran beteiligt und so war es ein sehr trauriges Lächeln. Trotzdem sagte sie: „Es ist schon in Ordnung. Mach dir keine Gedanken.“ Dann stand sie auf und griff nach ihrem Kleid.

„Nein, geh noch nicht.“

„Ich muss. Wir haben uns keinen besonders guten Zeitpunkt ausgesucht für unser Wiedersehen.“

„Ja. Leider.“

Philipp zog sich ebenfalls an und folgte Paloma, als sie hinaus auf die Veranda ging. Dort band sie mit einer schnellen Bewegung ihr langes Haar wieder zurück.

„Gute Nacht, Philipp.“

„Was soll das? Ich fahr dich selbstverständlich nach Hause.“

„Nein, lass es. Ich will noch ein wenig laufen, ich brauch das jetzt.“

„Ich lass dich in der Dunkelheit doch nicht alleine gehen.“

„Bitte, Philipp.“

Philipp stellte sich ihr in den Weg, nahm sie in die Arme und küsste sie. „Ich liebe dich. Bitte, verzeih mir, wenn ich das sage. Ausgerechnet jetzt. Verzeih mir alles.“

„Es gibt nichts zu verzeihen. Ich liebe dich auch.“

„Sehen wir uns wieder?“

„Ich weiß nicht.“

„Bitte, Paloma.“

„Es liegt nicht an mir.“

„Ich weiß. Aber uns bleibt noch ein Tag. Geh noch nicht.“

„Ja, uns bleibt noch ein Tag. Gute Nacht, Liebster.“

„Gute Nacht, Paloma ...“ Aber sie entglitt ihm und verschwand.

 

Am nächsten Morgen wurde Salvador in der Cala Sahona in einer vom Wasser ausgewaschenen Felsrinne gefunden. Ein junges holländisches Urlauberpaar hatte den Toten beim Herumklettern in den Felsen entdeckt.

Philipp erfuhr es von einem Freund von Paco, den er zufällig traf, als er in San Ferran war, um Bobby anzurufen und sich zu erkundigen, was das Baby machte. Danach war sein erster Gedanke, auf der Stelle zu Paloma hinaus zu fahren. Aber er verwarf den Gedanken wieder. Paloma hatte jetzt garantiert das Haus voll mit Verwandten und Nachbarn, und er erinnerte sich an die unerfreuliche Begegnung mit ihrem Bruder am Tag davor. Und so ließ er sein Auto stehen und ging stattdessen in die nächste Kneipe und bestellte sich einen doppelten Brandy.

Am Nachmittag arbeitete Philipp wie besessen und schlug solange Steine für die Mauer zurecht, bis ihm die Arme lahm wurden und fuhr danach mit ein paar Flaschen Gin und Brandy zum Haus von Jack und Jim, die, wie er wusste, nie nein sagten zu einem ordentlichen Besäufnis. Irgendwie musste er diesen Tag schließlich rumkriegen.

Jack und Jim waren jedoch weiß Gott wo. Und so fuhr Philipp zum zweiten Mal an diesem Tag nach San Ferran und ging ins Los Angeles, die Stammkneipe der beiden Engländer. Aber auch dort waren sie nicht. Außer einem Alten mit weißen langen Haaren und Juliano, dem Wirt und seinem Sohn war niemand da. Es war mit Sicherheit einfach noch zu früh, um ein paar Stammgäste anzutreffen. Da er aber schon einmal da war, hockte Philipp sich an den Tresen und ließ sich von Julianos Sohn, einem halbwüchsigen Jungen, ein Bier geben. Und gleich noch ein zweites, um das erste hinunterzuspülen.

Anfangs sah Philipp noch hinüber in die Ecke, wo Juliano mit dem Alten Backgammon spielte und versuchte, sich darauf zu konzentrieren und nebenher zu trinken. Nur war das Trinken noch der einfachste Teil der Geschichte. Die Batterie leerer San Miguel-Flaschen wurde immer größer. Die Gedanken unter Kontrolle zu halten, war schon schwieriger. Nach einer Weile begann ihn die trostlose Bude zu deprimieren. Die hässlichen grüngestrichenen Wände und die Marmorimitation auf dem Boden und die Fußballpokale im Regal. Dazu stank es nach Lokus und nach Lejía, nach Chlor also, mit dem sie hier den Boden und Waschbecken und einfach alles putzten. Und er war wirklich sehr deprimiert. Schlimmer als er es je erlebt hatte. Und deshalb trank er weiter.

Philipp trank solange, bis ihn der Geschmack von Bier anwiderte. Ein untrügliches Zeichen, dass er genug hatte. Er wollte zahlen, musste aber feststellen, dass er kein Geld eingesteckt hatte und so rief er Juliano  zu: „Hombre, schreib’s auf“ und versuchte dann zur Tür zu kommen. Linker Fuß, rechter Fuß, ihm war ein wenig schwindlig. Was seiner Meinung nur daran lag, dass der Boden total verrücktspielte. Sobald er hinsah, rutschte er unter ihm weg, und er musste teuflisch aufpassen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Später konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie er zur Cala Dragonera gekommen war. Wie sein Auto die Kurven der schmalen Caminos geschafft hatte, ohne eine Mauer zu rammen. Auch nicht daran, wie er in sein Bett gekommen war. Aber irgendwie musste er es geschafft haben, denn als er aufs Klo musste und die Augen öffnete, fand er sich in seinem Bett wieder. Er rappelte sich hoch, ohne Licht zu machen, denn seltsamerweise war es bereits dunkel im Haus. Und geradezu mit Wucht kam das Gefühl über ihn, dass es ihm immer noch ziemlich beschissen ging.

Nach dieser nicht gerade erfreulichen Feststellung ging Philipp in die Küche um nachzuschauen, was an Trinkbarem da war und weil es stockfinster im Haus war, schlug er mit dem Knie an einen Stuhl, was seine Stimmung auch nicht gerade hob. Aber es gab immerhin genügend Wein. Die Zehn-Liter-Gallone, die er sich nach seiner Ankunft, fünf, nein sechs Tage war das jetzt her, aus der Bodega geholt hatte, war noch fast voll. Er füllte eine Karaffe und machte sich damit auf den Weg zum Strand.

Nachdem er einige Male über Wurzeln und Sträucher gestolpert war, stellte er fest, dass er wohl immer noch ziemlich betrunken war. Jedenfalls drehte sich ihm die Dunkelheit vor den Augen, obwohl es draußen längst nicht so dunkel war wie im Haus.

Am Strand angelangt, beschloss Philipp, Schluss zu machen mit dem Gestolper und setzte sich in den Sand. Saß einfach da und blickte auf die graue, wie ölige Fläche des Wassers, das mit leisem Schmatzen an ein paar Felsbrocken in der Nähe leckte. Zwischendurch nahm er immer mal wieder einen Schluck aus der Karaffe. Bis er nach einer Weile erneut schläfrig wurde und er machte es sich deshalb bequem, indem er die Beine ausstreckte und sich auf einen Ellenbogen stützte. Vielleicht, sagte er sich, wäre es überhaupt am besten, heute Nacht am Strand zu schlafen. Ab morgen würde ohnehin Schluss sein mit seinem freien, ungezwungenen Leben hier auf der Insel. Und dabei sah er hinüber zu den Felsen, die schwarze, seltsam geformte Schatten auf den Sand warfen. Und plötzlich kam es ihm so vor, als ob sich dort drüben etwas bewegte. Während er noch hinüber starrte, trat aus der Tiefe der Schatten ein Mann hervor. Philipp kniff ein paar Mal die Augen zusammen, aber das Bild verschwand dennoch nicht, und er sah jetzt ganz deutlich, dass es Salvador war, der dort drüben stand. Mit seiner alten, ausgebleichten Mütze und seinem karierten Hemd. Nach einer Weile begann er sogar, mit ihm zu reden, und Philipp musste sich ganz schön anstrengen, ihn zu verstehen, da er drüben bei den Felsen blieb und keinen Schritt näher kam.

„Du weißt, es wird erst eine gute Zisterne, wenn wir sie richtig tief machen“, hörte er ihn sagen.

„Ich weiß“, antwortete Philipp ihm.

„Manche Leute glauben, es reicht schon, einen Meter oder anderthalb in die Tiefe zu gehen, aber hör besser auf mich. Wir wollen eine anständige Zisterne bauen.“

„Ja, das wollen wir. Und du hilfst mir dabei.“

„Darauf kannst du dich verlassen, amigo. Aber ich glaube nicht, dass wir zwei es allein schaffen. Du weißt nicht viel über Zisternen, und ich bin nicht mehr so stark wie früher. Genau genommen war ich nie sehr stark und schau dir an, was aus mir geworden ist.“

Philipp kam es so vor, als ob Salvador immer dünner wurde, bald war er nur noch dünn wie ein Strich. Im gleichen Moment sah Philipp einen zweiten Mann neben Salvador. Er hielt sich zwar tief im Schatten der Felsen, aber Philipp erkannte ihn doch. Seltsamerweise war es sein Vater. Er stand da in seinem grauen Anzug und einer Krawatte, die wie Seide glänzte, aber was wirklich seltsam war, er unterhielt sich mit Salvador, als ob sie gute Freunde seien. Und dann fingen sie sogar an, gemeinsam ein Loch in den Sand zu graben. Ein großes, viereckiges Loch. Jeder hatte eine Schaufel in der Hand und sie arbeiteten wirklich hart. Dabei konnte sich Philipp nicht erinnern, seinen Vater je anders arbeiten gesehen zu haben als an seinem Schreibtisch. Philipp fragte ihn, wie es ihm gehe, aber er war so vertieft in die Arbeit, dass er nicht antwortete. 

Während Philipp zusah, wie sein Vater arbeitete, versuchte er, sich zu erinnern, wie sein Vater früher gewesen war. Damals als sie kaum miteinander geredet hatten oder später dann, als es besser geklappt hatte bei ihnen. Wie er manchmal sogar das Gefühl hatte, sein Vater sei ganz zufrieden mit ihm als Sohn. Philipp erinnerte sich daran, wie sein Vater ihn finanziell unterstützt hatte, nachdem er sich selbständig gemacht hatte und seine Agentur gleich anfangs einen ziemlichen Engpass hatte und auch daran, wie er ihm das Geld für das ganze restliche Land in der Cala Dragonera vorgeschossen hatte. Einmal hatte er sogar seinen Urlaub hier auf der Insel verbracht und er hatte sich in der Cala Dragonera so wohl gefühlt, dass er vorhatte, vielleicht später, in seinem Ruhestand, für länger herzukommen. Leider war dann mal wieder alles ganz anders gekommen als geplant. Der Vater hatte seinen Ruhestand nicht einmal mehr erlebt.

Philipp hatte plötzlich keine Lust mehr, noch länger zuzusehen, wie die beiden Alten sich abrackerten. Er stand auf und rief: „Lasst mich auch mitmachen. Schließlich ist es doch meine Zisterne.“ Dabei stolperte er durch den Sand auf die beiden zu, aber alles, was er antraf waren die dunklen Schatten der Felsen.

„He! Wo seid ihr? Los, kommt zurück!“, rief er laut über den Strand. Aber als Antwort kam nur ein leises Lachen der Dünung, die am Meeresrand herumspielte. Und plötzlich war Paloma neben ihm. Aufgetaucht wie aus dem Nichts saß sie da, die Beine unter den Rock gezogen und blickte zu ihm auf.

„Nach wem rufst du, Philipp? Außer uns ist doch niemand hier.“

Philipp antwortete nicht. Er hatte Angst, Paloma könnte ebenso verschwinden wie Salvador und sein Vater. Merkwürdig war nur, dass er ihr Haar unter seinen Fingern spürte, als er die Hand ausstreckte. Er schüttelte heftig den Kopf, um wieder klar denken zu können, Paloma war jedoch immer noch da. Er setzte sich neben sie in den Sand und legte einen Arm um sie.

„Du hast das mit meinem Vater bestimmt gehört. Du weißt, dass sie ihn gefunden haben?“

„Ja, und es tut mir so leid, Paloma, es tut mir unendlich leid.“

Paloma ließ den Kopf sinken. „Die Ungewissheit war schrecklich für mich, aber jetzt ... jetzt weiß ich, dass Gewissheit noch viel schlimmer ist.“

„Und am Schlimmsten ist diese verdammte Endgültigkeit. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es war, als mein Vater starb. Zu wissen, dass er nie wieder zur Tür reinkommen, nie wieder neben mir am Tisch sitzen würde ... all das eben.“

Philipp fühlte sich erneut schwindlig, er bildete sich ein, die Dünung vor ihm hob und senkte sich, so als ob er noch sehr betrunken sei, aber er kämpfte dagegen an und versuchte, langsam und deutlich zu sprechen. „Ich muss immer daran denken, dass du jetzt ganz allein bist. Und was jetzt werden soll. Glaub mir, ich hab versucht, einen Ausweg zu finden, aber in Wirklichkeit hab ich nur unheimlich viel getrunken den ganzen Tag über.“ Er deutete auf die Karaffe, die ein Stück entfernt im Sand stand.

„Selbst wenn du nicht getrunken hättest, es gibt keinen Ausweg.“

„Du versuchst, tapfer und vernünftig zu sein, stimmt’s?“

„Sag mir, was ich sonst machen soll?“

Philipp schwieg, weil er keine Antwort darauf wusste. Ihm war zum Heulen zumute, aber er wollte es nicht darauf ankommen lassen.

„Möchtest du, dass ich morgen zur Beerdigung komme?“

„Ich weiß nicht. Du hast doch andere Pläne für morgen, oder nicht?“

Ja, die hatte er allerdings, aber er wollte jetzt nicht daran denken.

„Selbst wenn du kommen würdest, es würde ja doch nichts ändern.“

Danach schwiegen beide.

Paloma fest an sich drückend, sagte Philipp schließlich: „Ich bin so froh, dass du noch mal hergekommen bist.“

„Ich konnte gar nicht anders. Ich musste kommen.“

Philipp wusste, dass Paloma die Wahrheit sagte, was aber alles nur noch schlimmer machte.

„Paloma, wir müssen darüber reden. Wir müssen die ganze Geschichte irgendwie in Ordnung bringen. Das heißt, ich muss es. Diese unselige Geschichte mit meiner Ehe. Gott, wie das klingt. Dabei bin ich erst so kurz verheiratet, dass ich noch gar nicht weiß, ob das überhaupt funktionieren wird.“

„Lass, Philipp, bitte.“ Paloma legte ihm ihre Finger auf den Mund. „Du musst nichts in Ordnung bringen. Ich hab all die Jahre doch sowieso geglaubt, du wärst verheiratet. Was ändert sich also für mich? Dass wir noch einmal zusammen waren und vor allem in dieser Situation, die ich kaum ertragen konnte, war wie ein Geschenk für mich.“

„Und wenn ich ...“

Philipp konnte den Satz nicht beenden, Paloma küsste ihn auf den Mund.

„Denk nicht an morgen, ich tu es auch nicht. Nicht im Moment wenigstens.“ Sie legte ihren Kopf in seinen Schoß und sie blickten beide hinauf in den Nachthimmel. Philipp wünschte sich, eine Sternschnuppe falle herab. Vielleicht als Zeichen dafür, alles käme in Ordnung.

Aber nach einer Weile vergaß er die Sternschnuppe und stand auf und holte die Karaffe Wein und sie tranken abwechselnd und der Wein hatte mittlerweile einen leicht mehligen Geschmack nach Sand, weil die Karaffe nicht geschlossen war. Aber das störte sie nicht. Sie versuchten an nichts zu denken, was nicht mit dieser Nacht zu tun hatte und umarmten sich zärtlich und flüsterten miteinander und waren so glücklich, wie sie es unter anderen, günstigeren Umständen vielleicht niemals hätten sein können.

 

Gegen Morgen nickte Philipp kurz ein und als die aufgehende Sonne ihn weckte, war Paloma verschwunden. Er ging ins Haus, duschte und packte dann seine Sachen und fuhr hinüber zu Desiree, um ihr Bescheid zu sagen, dass er abreiste.

„Ich weiß. Und heute Abend bist du wieder zurück mit deiner Frau“, meinte sie.

„Nein, ich bin heute Abend nicht wieder zurück. Und wahrscheinlich überhaupt nicht in nächster Zeit. Ich hab es mir anders überlegt. Ich verbringe meine sogenannten Flitterwochen nicht hier auf der Insel. Vielleicht in Madrid oder Barcelona, mal sehen.“

„Wie bitte? Aber warum?“

Philipp schwieg eine Weile, ehe er sagte: „Frag mich nicht. Ich kann es dir doch nicht sagen, jedenfalls nicht jetzt.“

Desiree blickte ihn mit ihren braunen Augen lange an, legte ihm dann eine Hand auf die Schulter. „Ich kann zwar nicht verstehen, was dich plötzlich zum Festland hinzieht, aber du wirst wohl deine Gründe haben. Jedenfalls alles Gute für dich und für deine Frau. Und komm bald wieder.“

Sie umarmten sich zum Abschied, hielten sich dabei länger als sonst in den Armen. Philipp wünschte sich in diesem Moment nichts so sehr, als stundenlang auf Desirees Veranda sitzen zu können und mit ihr zu reden und sein Schiff zu verpassen. Der Gedanke, ein paar Sommerwochen anstatt in der Cala Dragonera in einer Großstadt zu verbringen, kam ihm bereits jetzt nahezu unerträglich vor.