Menschen spezielle Behälter für sensorische
Deprivation benutzt: Das Fehlen von Wahrnehmungen
sollte halluzinatorische Effekte bewirken. So etwas galt als gute Methode für die Untersuchung des
Unbewußten, wobei man von der zweifelhaften
Annahme ausging, daß es dort interessante Dinge zu
entdecken gibt.« Er schüttelte verächtlich den Kopf.
»Was mich betrifft: Ich bin immer gut ohne
Unterbewußtsein zurechtgekommen.«
»Na bitte«, sagte Neelix sichtlich erleichtert. »Es steckt überhaupt nichts dahinter.«
»Andererseits existieren noch immer viele unbekannte Aspekte in Hinsicht auf die latenten psychischen
Fähigkeiten des Ocampa-Bewußtseins«, fuhr der Doktor fort. »Unter solchen Umständen kann ich die Möglichkeit einer echten extrasensorischen Erfahrung nicht
ausschließen.«
»Oh«, sagte Neelix, und die Besorgnis kehrte in seine Züge zurück. Offenbar wünschte er sich, Kes’
Erlebnisse als bedeutungslosen Tagtraum abtun zu
können. Kes bewunderte seinen hartnäckigen
Optimismus, sah sich jedoch außerstande, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Sie wußte nicht, welche
der beiden vom Doktor genannten Möglichkeiten ihr
lieber war. Sollte sie sich vor den Phantomen ihres
eigenen Geistes fürchten, oder hatte sie tatsächlich einen Ruf um Hilfe gehört? Sie versuchte sich
vorzustellen, welches unglaubliche Leid so gräßliche Schreie verursachen konnte. Wer oder was war in jener völlig lichtlosen, erstickenden Dunkelheit gefangen?
»Es ging dabei um mehr als nur die Stimmen«, fügte die Ocampa hinzu. »Mit meinen Augen war irgend etwas
nicht in Ordnung. Ich sah nur Finsternis, eine Schwärze, die mich zu zerquetschen schien. Sie hielt mich
gefangen, und ich konnte nicht mehr atmen.«
»Auch in diesem Fall ist es schwer, zwischen
hysterischer Blindheit und einem mentalen Angriff
irgendeiner Art zu unterscheiden«, dozierte der
holographische Arzt. Er verzog das Gesicht, und Kes
konnte sein Unbehagen nachempfinden. Sie wußte, wie
stolz er auf sein enzyklopädisches medizinisches
Wissen war; sicher frustrierte es ihn sehr, nicht zu einer besseren Diagnose imstande zu sein. »Nun, wenn man
den Umstand berücksichtigt, daß Sie beide nur jeweils einen Lungenflügel haben… Vielleicht sollten Sie
Tiefseetauchen von Ihren aktuellen Urlaubsplänen
streichen.«
»Keine Sorge, Doktor«, sagte Neelix. »Kes wird keine unnötigen Risiken eingehen, solange ich in der Nähe
bin.« Er half ihr vom Biobett herunter, und für ihre bloßen Füße fühlte sich der Duraniumboden sehr kalt
an. »Vielleicht sollten wir mit Tuvok über diese Sache reden. Er kennt sich mit Telepathie und dergleichen
aus.«
Kes hatte bereits daran gedacht. »Gute Idee.« Sie
faltete die Thermodecke zusammen und legte sie aufs
Biobett. Sofort bildete sich eine Gänsehaut an Armen und Beinen. »Aber ich wäre sehr dankbar, wenn ich
vorher trockene Sachen anziehen könnte.«
Chakotay dämpfte das Licht in seinem Quartier. Er
kniete auf dem Boden und breitete den Inhalt des
Medizinbeutels vor sich aus: die Feder einer Amsel,
einen glatten Stein und ein kleines elektronisches Gerät, Akoonah genannt. Er drückte sich den Apparat an die Stirn und schloß dann die Augen.
»Akoocheemoya«, intonierte er. »Ich bin fern von den heiligen Orten meiner Ahnen, fern von den Knochen
meines Volkes. Wir scheinen einen sicheren Ort
gefunden zu haben, aber trotzdem herrscht Unruhe in
mir. Ich möchte mich von dir führen lassen, wenn du
gestattest. Zeig mir die Wahrheit dieser Welt, damit ich jenen helfen kann, die mit mir zusammen reisen. Laß
mich die Antworten finden, die ich suche.«
Chakotay wußte nicht, warum er im Paradies von
Ryolanow nach der metaphorischen Schlange suchte.
Vielleicht lag es an den vielen Jahren beim Maquis und im Delta-Quadranten, am Verrat durch Seska und
andere Personen. Möglicherweise fiel es ihm dadurch
schwer, jemandem oder etwas zu vertrauen. Doch Dank
seiner Ahnen gab es immer noch einen Ort, den er
aufsuchen konnte, wenn Zweifel sein Denken und
Empfinden heimsuchten.
Er aktivierte das Akoonah. Elektrische Impulse stimulierten ruhende Bereiche des Gehirns und
reduzierten gleichzeitig die Quantität der übermittelten sensorischen Informationen. Vor vielen Generationen
hatten Chakotays Vorfahren psychoaktive Kräuter
verwendet, um die gleiche Wirkung zu erzielen. Das
Akoonah führte zum gewünschten Effekt, ohne den Körper mit irgendwelchen Chemikalien zu belasten. Die physische Welt wich zurück, und die innere Sphäre,
bestimmt von Symbolen und Geistern, dehnte sich
immer mehr aus. Der indianische Erste Offizier atmete langsamer, und das Herz schlug im Takt mit dem
ewigen Rhythmus der Schöpfung.
In seinem psychischen Kosmos – und vielleicht auch in der Wirklichkeit – öffnete er die Augen.
Eine öde Berglandschaft erstreckte sich vor ihm.
Nirgends sah er Bäume, Moos oder irgendeine Art von
Vegetation, die das düstere Panorama ein wenig
auflockerte. Kein Schnee bedeckte den zerklüfteten
Gipfel, und es wehte auch kein Wind, der im Lauf der Zeit die scharfen Kanten glättete. Es gab nur schwarzen Granit, der wie ein steinerner Speer aus dem felsigen Boden aufragte. Die graue Flanke des Bergs neigte sich nach oben, einem toten weißen Himmel entgegen, und
Klippen schufen undurchdringliche schwarze Schatten.
Die Sonne war nicht mehr als ein kleiner heller Fleck am Horizont, zu weit entfernt, um Wärme zu schenken.
Chakotay spürte eine Kälte, die bis in seine Knochen zu reichen schien.
»Wo bin ich?« fragte er laut. Diese öde Landschaft wies keine Ähnlichkeit mit den metaphysischen Sphären auf, die er bisher besucht hatte. Der Ort wirkte
lebensfeindlich, und er konnte sich kaum vorstellen, ausgerechnet hier die ehrenwerten Geister seiner
Ahnen anzutreffen. Er hielt nach seinem Seelenfreund Ausschau, jenem Totemtier, das in der jenseitigen Welt sowohl Lehrer als auch Schutzgeist war, doch nirgends zeigten sich Hinweise auf eine entsprechende Präsenz.
Alles blieb leer, und dieser Umstand erfüllte Chakotay mit profundem Unbehagen. Nie zuvor hatte er sich in
seinem eigenen Selbst – im eigenen Herzen – so allein gefühlt. Er zog in Erwägung, die Augen tatsächlich zu öffnen, das Akoonah zu deaktivieren und in die Realität seines Quartiers an Bord der Voyager zurückzukehren, doch dann schüttelte er den Kopf. Er mußte davon
ausgehen, daß ihn die Geister aus einem ganz
bestimmten Grund hierhergebracht hatten. Das
bedeutete für ihn: Er würde erst zurückkehren, wenn er die Geheimnisse dieser öden Berglandschaft in
Erfahrung gebracht hatte.
Erneut blickte er zum Gipfel hoch, der vor ihm in die Höhe ragte. Er glaubte, ganz oben eine Bewegung
bemerkt zu haben. Ein oder zwei Sekunden lang sah er glühende Augen, die im matten Schein der Sonne kurz
aufleuchteten. Der Seelenfreund? Oder ein weniger
wohlwollendes Geschöpf? Er ließ seinen Blick über den Hang gleiten und suchte nach weiteren Zeichen, doch
nur Felsen und dunkle Schatten boten sich ihm dar.
Na schön, dachte er und begann zu klettern. »Weil der Berg da ist«, sagte er und lächelte trotz der düsteren Umgebung. Er wußte, daß die Antwort – wenn es eine
gab – ganz oben auf ihn wartete. Die einzige Alternative zum Klettern bestand darin, mit leeren Händen in die Realität zurückzukehren, und das erschien ihm absurd.
»Geh nicht weg«, flüsterte er der Präsenz am Gipfel zu.
»Ich bin unterwegs zu dir.«
Der Aufstieg erwies sich als schwierig und anstrengend.
Ein Pfad existierte nicht; er mußte selbst einen Weg am zerklüfteten Hang finden. Manchmal blieb ihm nichts
anderes übrig, als auf allen vieren über Felsnadeln zu kriechen. Der graue Stein war noch kälter als die Luft und klebte an den Fingerkuppen fest, bis sie schließlich taub wurden. Als er höher kam, spürte er Wind, der
immer lauter heulte und versuchte, ihn fortzuschleudern, irgendwo zwischen den Felsen zu zerschmettern. Auch
die Gravitation zerrte an ihm, und zwar weitaus stärker als auf Ryolanow. Chakotay fühlte sich in die Zeit der Grundausbildung an der Starfleet-Akademie
zurückversetzt; er gewann den Eindruck, erneut eine
Hochschwerkraft-Hindernisstrecke bewältigen zu
müssen. Die dauernde Anstrengung ließ seine Muskeln
schmerzen. Der Wind blies ihm ins Gesicht, und seine eisige Kälte machte sich als ein intensives Brennen
bemerkbar, das Chakotay veranlaßte, die Augen
zusammenzukneifen.
Sieh nicht nach unten, dachte er. Klettere einfach weiter.
Nach einer Weile war der Hang nicht mehr ganz so steil.
Chakotay zog sich über den Rand eines Felssimses,
den nur einige wenige Meter vom Gipfel trennten. Er
behauchte seine Finger, konnte die Kälte jedoch nicht aus ihnen vertreiben. Der Atem wehte ihm als weiße
Fahne von den Lippen, und er spürte, wie ihm die
niedrige Temperatur Kraft raubte. Gefährliche Müdigkeit breitete sich in ihm aus, und es kostete ihn erhebliche Mühe, sich aufzurichten. Was bin ich doch für ein Narr!
Die anderen Besatzungsmitglieder vergnügten sich in
einem tropischen Paradies, während er in einer eisigen Felsenwüste fror, die er auch noch selbst geschaffen hatte. Er mußte von der Annahme ausgehen, daß seine
Mühen einen Sinn hatten, daß eine tiefe Wahrheit
darauf wartete, von ihm entdeckt zu werden.
Er widerstand der Versuchung, den Kopf zu drehen und in die Richtung zu sehen, aus der er kam. Statt dessen konzentrierte er sich auf den vor ihm liegenden Bereich.
Zwei große Felsblöcke versperrten ihm die Sicht auf den eigentlichen Gipfel, und zwischen ihnen gab es nur
einen schmalen Durchlaß, in dem sich die Schatten zu massiver Schwärze zu verdichten schienen. Für den
Hauch eines Augenblicks glaubte Chakotay, in jener
Finsternis etwas zu erblicken, das noch dunkler war als die Schwärze. Er spitzte die Ohren und versuchte, mehr zu hören als nur das Heulen des Winds. Knurrte etwas in der Dunkelheit?
Er setzte sich wieder in Bewegung, entschlossen dazu, dem Wesen jenseits der Felsen gegenüberzutreten.
Doch es war schneller als er und erreichte die schmale Passage vor ihm. Aus einem Reflex heraus griff
Chakotay nach seinem Phaser, doch die Hand blieb leer
– er hatte die mentale Reise ohne Waffen und Technik angetreten.
Die fremde Entität füllte den Durchgang mit ihrer
schwarzen Präsenz. So sehr sich Chakotay auch
bemühte: Er konnte keine Einzelheiten des knurrenden Geschöpfs erkennen. Finsternis verhüllte seine Gestalt.
Der Erste Offizier vermutete, daß sich ihm das Wesen erst dann offenbaren würde, wenn er ganz nahe
herankam – und dann konnte er ihm nicht mehr
entrinnen. Er schnupperte, roch eine Mischung aus
Moschus, Pelz und Blut. Der seltsame Geruch ließ
Übelkeit in ihm entstehen.
Etwas näherte sich ihm auf vier Beinen. Für einen
Augenblick dachte er an seinen Seelenfreund, aber
dann sah er glitzernde grüne Augen – die erste Farbe in dieser öden Landschaft – und spitze weiße Zähne…
Das Geschöpf wirkte wie eine Mischung aus Wolf und
Bär, wies die gefährlichsten Aspekte beider Tiere auf.
Chakotay bemerkte einen großen, muskulösen Leib,
von zotteligem Fell bedeckt, außerdem ein Maul voller elfenbeinfarbener Reißzähne. Dampf drang aus den
Nüstern, und der heiße Atem traf den Indianer wie die Hitze eines Fusionsreaktors. Das zornige Knurren
wurde so laut wie das Donnern eines nahen Gewitters.
Chakotay warf einen Blick über die Schulter und stellte fest: Es gab keine Fluchtmöglichkeit für ihn. An den Sims hinter ihm schloß sich ein tiefer Abgrund an. Und ganz abgesehen davon: Er hatte die anstrengende
Kletterpartie nicht deshalb hinter sich gebracht, um jetzt zu fliehen. So erschreckend das Geschöpf auch wirken mochte: Es gehörte zu seiner Vision, stellte vielleicht sogar den wichtigsten Teil von ihr dar. Er mußte
herausfinden, welche Bedeutung ihm zukam.
»Ich grüße dich«, sagte er und richtete einen ruhigen Blick auf das Wesen. »Zwar kann ich meinen
Seelenfreund nicht finden, aber ich glaube, die Geister brachten mich hierher. Bist du ihr Botschafter?«
Grüne Augen starrten Chakotay an, während er auf eine Antwort wartete. Speichel tropfte vom Unterkiefer der Kreatur. Sie knurrte erneut – und griff an. Chakotay hob die Hände, doch der enormen Kraft des Wesens konnte
er nichts entgegensetzen. Mit der Wucht einer Lawine prallte der massige, pelzbedeckte Leib gegen ihn und warf ihn zu Boden. Das Maul schnappte nach seinem
Hals, und Klauen bohrten sich ihm in den Körper.
Chakotay schrie entsetzt, als ihm das Wesen das Herz aus der Brust riß!
Eine Sicherheitskomponente des Akoonah reagierte.
Ohne irgendeinen Übergang, von einem Augenblick
zum anderen, fand er sich auf dem Boden in seinem
halbdunklen Quartier wieder. Verwirrung erfaßte ihn. Wo befand sich das Geschöpf? Der Berg? Der eiskalte
Wind? Er tastete nach seiner Kehle, fühlte dort
unverletzte Haut und den intakten Kragen der Starfleet-Uniform.
Natürlich, dachte er. Es war nur eine Vision.
Normalerweise kehrte er langsamer in die Realität
zurück, doch die Sicherheitsfunktion des Akoonah hatte reagiert, als bestimmte Schaltkreise mentalen Streß
feststellten. Die Rückkehr erfolgte gerade noch
rechtzeitig. Noch immer klopfte ihm das Herz bis zum Hals empor, und er atmete tief durch, um wieder zu sich zu finden.
Das Quartier bot den gleichen Anblick wie zuvor; nichts hatte sich verändert. Noch immer lagen die
Gegenstände seines Medizinbeutels auf dem Boden.
Er sah sich um und rechnete halb damit, daß jenes
Wesen in irgendeiner Ecke lauerte.
»Licht«, sagte er, und der Computer reagierte sofort –
es wurde hell. Die Schatten wichen zurück, lösten sich auf. Chakotay löste das Akoonah von seiner Stirn und legte es aufs Tierfell neben Feder und Stein. Langsam und methodisch wickelte er den Medizinbeutel wieder
zusammen und ließ sich von diesem Ritual beruhigen.
Gleichzeitig versuchte der rationale Teil seines Selbst, die sonderbare Vision zu deuten.
Welche Botschaft kommt darin zum Ausdruck? fragte er sich. Eine lebensfeindliche Umgebung. Ein gefährliches
– und triumphierendes – Wesen. Der eigene Tod, von
den Klauen und Zähnen des Geschöpfs verursacht.
Handelt es sich bei diesem Alptraum um eine Reflexion meiner eigenen Ängste? dachte Chakotay. Oder ist es eine verzweifelte Warnung von den Geistern meiner Vorfahren? Die Starfleet-Ausbildung und seine Zeit beim Maquis erleichterten es ihm kaum, die Vision zu
interpretieren. Nicht zum erstenmal bedauerte er, daß sein Vater tot war, daß er ihn nicht um Rat fragen
konnte. Kolopak hatte die alten Traditionen immer
besser verstanden als sein eigensinniger Sohn. Wie hätte mein Vater auf ein so gräßliches Omen reagiert?
Er zuckte unwillkürlich zusammen, als sein
Insignienkommunikator piepte. »Chakotay«, meldete er sich und stand auf.
»Bitte entschuldigen Sie die Störung, Commander«,
erklang die Stimme des Doktors. »Aber der Computer
registrierte einen Schrei in Ihrem Quartier. Ist alles in Ordnung?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Chakotay und erinnerte sich an die glitzernden grünen Raubtieraugen des
Wesens. Er glaubte noch immer zu spüren, wie sich die Klauen in seinen Körper bohrten. »Wenn ich doch nur
Bescheid wüßte…«
Es befanden sich nur wenige Personen im Speisesaal.
Kes vermutete, daß sich die meisten
Besatzungsmitglieder auf dem Planeten befanden und
die dortige exotische Küche ausprobierten. Trotzdem
bereitete Neelix ein kleines Büfett vor, während sie mit Tuvok sprach. Kes trug ein schlichtes braunes Kleid
über einer dazu passenden Bluse und Leggings; nach
dem nassen Badeanzug fühlten sich diese Sachen
besonders angenehm an.
»Es gibt viele verschiedene Arten von Telepathie«,
sagte Tuvok. Er saß Kes gegenüber, und vor ihm stand ein Teller mit grünem Salat. »Die vulkanische
Mentalverschmelzung erfordert tiefe Konzentration und bewirkt, daß zwei Selbstsphären zu einer werden. Bei Betazoiden hingegen ist eine ungezwungene Form von
Empathie gebräuchlich: Es fällt ihnen leichter, die
Emotionen anderer Personen wahrzunehmen, als
Informationen aus einem fremden Bewußtsein zu
gewinnen. Bestimmte Völker in der Föderation sind
imstande, Trugbilder zu projizieren, und man kennt auch Phänomene wie Hellseherei und dergleichen. Gewisse
Personen verfügen angeblich über präkognitive
Fähigkeiten, doch diese Angelegenheit ist noch nicht geklärt. Nach unserem gegenwärtigen Wissen über die
Raum-Zeit ist Präkognition sehr unwahrscheinlich, es sei denn, es geht dabei um irgendwelche Formen der
Zeitreise.«
Tuvok legte eine kurze Pause ein, trank einen Schluck Wasser und setzte seinen Vortrag dann fort. »Leider ist die ganze Bandbreite der telepathischen Fähigkeiten
der Ocampa nach wie vor unbekannt. Unsere
Begegnung mit Tanis weist jedoch darauf hin, daß das latente psychische Potential erheblich ist. Auf dieser Grundlage erscheint es mir wahrscheinlich, daß Ihre
Erlebnisse in der Bucht das Ergebnis telepathischer
Stimuli sind. Allerdings sehe ich mich außerstande,
genaue Aussagen in Hinsicht auf die Art der
entsprechenden Telepathie zu treffen.«
Kes schauderte, als sie sich an die gequälten Schreie und das schreckliche Gefühl erinnerte, lebendig
begraben zu sein. »Könnte ich mir alles nur eingebildet haben?« fragte sie.
»Das ist möglich, aber unwahrscheinlich«, erwiderte
Tuvok. »Nach meinen Erfahrungen neigen Sie nicht zu
Halluzinationen oder Wahnvorstellungen dieser Art,
während Ihre telepathischen Fähigkeiten nachweisbar
existieren.«
Es erstaunte Kes, wie ruhig Tuvok über ihre seltsamen geistigen Talente sprechen konnte – immerhin hätte sie ihn einmal fast mit einem unkontrollierten Ausbruch
psychischer Energie umgebracht. Von Tom Paris wußte
sie, daß sich alle Vulkanier durch extreme
Selbstbeherrschung auszeichneten. Es fiel ihr schwer, sich einen Planeten vorzustellen, dessen ganze
Bevölkerung aus Personen wie Tuvok bestand. Sie
hoffte, irgendwann einmal Gelegenheit zu bekommen,
Vulkan zu besuchen – vorausgesetzt, die Voyager fand eine Abkürzung nach Hause. Inzwischen hatte sie viel von der Föderation gehört und wünschte sich
ebensosehr wie die anderen Besatzungsmitglieder, sie zu erreichen.
Außerdem empfand sie es als angenehmer, an die Erde
und den Alpha-Quadranten zu denken, als zu
versuchen, mit jenem Schrecken fertig zu werden, der sich auf Ryolanow verbarg. Manchmal fürchtete sich
Kes vor ihren eigenen telepathischen Fähigkeiten, weil sie so gut wie nichts über sie wußte.
»Was soll ich jetzt machen?« fragte sie Tuvok.
Der Vulkanier zögerte, bevor er antwortete. »Am
sichersten wäre es, wenn Sie sich zunächst vom Strand fernhalten. Der Geist ist eine sehr mächtige Kraft und darf nicht unterschätzt werden. Unbekannten
psychischen Phänomenen sollte man mit großer
Vorsicht begegnen; andernfalls könnte es zu
unheilvollen Konsequenzen kommen.«
Kes spürte, wie die Kraft aus ihren Gliedern wich, und sie hielt sich am Rand des Tisches fest. »Was für
Konsequenzen?«
»Wahnsinn«, entgegnete Tuvok offen. Sein stoischer
Gesichtsausdruck blieb unverändert. »Besessenheit.
Geistige Verwirrung. Koma. Tod.«
»Oh.« Kes blickte auf ihren Teller. Die Haarnudeln und das frische Obst wirkten plötzlich nicht mehr sehr
verlockend. Sie wußte, daß Neelix enttäuscht sein
würde, aber das Gespräch über geheimnisvolle
psychische Kräfte hatte ihr den Appetit verdorben. »Und wenn jene Stimmen versuchen, mir etwas Wichtiges
mitzuteilen?« fragte sie. »Wir können sie nicht einfach ignorieren.«
»Wie Sie wünschen«, sagte Tuvok. »Ich werde den Ort
untersuchen, an dem Sie Ihre Erlebnisse hatten,
obgleich ich vielleicht nicht in der Lage bin, das gleiche Phänomen wahrzunehmen. Wie ich vorhin schon
ausführte: Die telepathischen Fähigkeiten unterscheiden sich nicht nur von Volk zu Volk, sondern auch von
Person zu Person.«
Das genügt mir nicht, dachte Kes und war dankbar für den Umstand, daß Tuvok ihre Gedanken nicht ohne
»tiefe Konzentration« lesen konnte. So aufregend es
auch sein mochte, die alte Macht ihrer Ocampa-
Vorfahren neu zu entdecken – manchmal wünschte sie
sich, nie von ihrer latenten Telepathie erfahren zu
haben.
Dies war eine solche Gelegenheit.
»Danke«, sagte sie. Trotz der Warnung des Vulkaniers war ihr klar, daß sie zum Strand zurückkehren mußte.
Tief in ihrem Herzen hatte sie dies von Anfang an
gewußt, und das Gespräch mit Tuvok diente vor allem
dem Zweck, ihre eigenen Befürchtungen zu bestätigen.
Die Vorstellung, erneut in jener Finsternis gefangen zu sein, zusammen mit den gräßlichen Schreien, erfüllte sie mit Entsetzen. Wie dem auch sei: Ein Teil von ihr stellte sich der Erkenntnis, daß sie nur dann wieder Ruhe fand, wenn sie dem Ursprung der Stimmen auf
den Grund ging. Ich muß zurückkehren.
VII.
»Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen, Ältester«, begann Captain Janeway. »Und zwar für den
bedauerlichen Zwischenfall im Nachtklub. Ich darf Ihnen versichern, daß ich Lieutenant Torres für ihre
Beteiligung an der Auseinandersetzung getadelt habe.«
Der kleine Tischmonitor zeigte Varathaels Gesicht.
Janeway saß allein in ihrem Bereitschaftsraum und
nutzte die Möglichkeit, um einige offene Worte an den Ältesten zu richten. Sie hoffte, daß sich das Oberhaupt der Ryol nicht zu sehr über die Konfrontation ärgerte.
Die Besatzungsmitglieder brauchten dringend
Landurlaub; es wäre sehr schade gewesen, sie alle zum Schiff zurückbeordern zu müssen, nur weil B’Elanna die Beherrschung verloren hatte.
Varathael zuckte kurz mit den Schultern. Am Hals trug er einen rubinroten Kristall, der das Licht der
Bürolampen reflektierte. »Machen Sie sich wegen einer so unbedeutenden Angelegenheit keine Sorgen«,
erwiderte er. »Junge Leute sind voller Leidenschaft. Der Wein, die Musik… Unter solchen Umständen passieren
gewisse Dinge.«
»Bei den Angehörigen meiner Crew lasse ich so etwas
nicht zu«, sagte Janeway fest. »Ich möchte vermeiden, daß Sie glauben, derartige Verhaltensweisen seien
typisch für Starfleet-Offiziere. Das ist nicht der Fall, wie ich Ihnen versichere.« Sie ließ unerwähnt, daß sie vor vielen Jahren als Kadettin der Akademie an einer
Schlägerei teilgenommen hatte, die in einer Bar von
Seattle stattfand und bei der sie als einzige Person auf den Beinen geblieben war. Nun, es hatte sich nicht um eine Erstkontakt-Situation gehandelt, und außerdem war der Tellarit so dumm gewesen, ihren Hund zu
beleidigen.
»Seien Sie nicht zu streng mit Lieutenant Torres«, sagte Varathael. »Ich kenne den jungen Ryol, der an dem
Zwischenfall beteiligt gewesen ist. Wahrscheinlich verlor Torres nur deshalb die Beherrschung, weil er sie zu
sehr provoziert hat.«
Das nehme ich ebenfalls an, dachte Janeway. Eins mußte man B’Elanna lassen: Sie hatte den Captain
unmittelbar nach ihrer Rückkehr an Bord informiert. Von Tom Paris waren alle Einzelheiten ihrer Schilderungen bestätigt worden, aber Janeway vermutete trotzdem,
daß Tom Paris bei der ganzen Sache eine größere
Rolle gespielt hatte, als aus seinen Worten hervorging.
Die Kommandantin nahm sich vor, mit Harry Kim zu
reden und ihn nach den Ereignissen im Nachtklub zu
fragen. Normalerweise blieb er bei solchen
Gelegenheiten mit Paris zusammen, und deshalb
vermutete sie, daß der Fähnrich bei der Kontroverse
zugegen gewesen war.
»Nun, es erleichtert mich sehr, daß Sie bereit sind, über den Zwischenfall hinwegzusehen«, sagte Janeway. Die
Cardassianer hätten Torres’ sofortige Hinrichtung
verlangt, und die Romulaner wären vermutlich bereit
gewesen, einen solchen Vorfall zu nutzen, um die
Voyager für unbestimmte Zeit festzuhalten. Die Ferengi hätten im wahrsten Sinne des Wortes Kapital aus einem derartigen Zwischenfall geschlagen, und zwar mit
gepfefferten Schadenersatzforderung an die Föderation.
Die Reaktion der Kazon und Klingonen wagte sich
Janeway nicht vorzustellen.
»Ich bitte Sie, Captain«, ließ sich Varathael vernehmen.
»Für mich ist die Angelegenheit erledigt.« Er lächelte herzlich vom Bildschirm, und seine schmeichlerische
Freundlichkeit erinnerte Janeway ein wenig an Gathorel Labin von Sikaris. Aber bisher hatten die Ryol mehr
aufrichtige Großzügigkeit gezeigt als die hedonistischen Sikarianer. »Lassen Sie uns über angenehmere Dinge
sprechen: Wann darf ich mich über eine
Besichtigungstour an Bord Ihres Raumschiffs freuen?«
Janeway hatte lange darüber nachgedacht und sich
schließlich Chakotays Empfehlungen angeschlossen.
Zwar zeigten die Ryol erstaunlich wenig Interesse an der Entwicklung eines eigenen Raumfahrtprogramms –
vermutlich deshalb, weil es in der Nähe ihrer Welt keine interessanten Sonnensysteme gab –, aber es gab bei
ihnen auch keine Xenophobie oder technologischen
Chauvinismus. Nichts deutete darauf hin, daß der
Besuch an Bord eines Raumschiffs nachhaltigen Einfluß auf ihre Kultur haben mochte. Solange kritische
Bereiche wie der Warpkern ausgeklammert wurden,
stand einer freundlichen, diplomatischen Tour durch die Voyager nichts im Wege.
»Ich bin gern bereit, Sie an Bord meines Schiffes zu begrüßen, wann immer es Ihnen paßt«, teilte Janeway
Varathael mit. »Das sind wir Ihnen schuldig, nachdem Sie uns mit solcher Gastfreundschaft empfangen
haben.«
»Ausgezeichnet«, entgegnete Varathael. »Sie ahnen
nicht, wie aufregend die Voyager für uns ist! Ein Raumschiff von der anderen Seite der Galaxis! Meine
Tochter Laazia kann es kaum erwarten, sich ›an Bord
zu beamen‹, wie es bei Ihnen heißt.«
»Es ist uns eine Ehre, sie bei uns zu empfangen«,
erwiderte Janeway. Ich sollte Tom Paris warnen, dachte sie. Noch einen diplomatischen Zwischenfall konnten sie gewiß nicht gebrauchen.
Mein verdammtes Temperament, verfluchte sich B’Elanna Torres. Es war ihr sehr peinlich, daß sie den Captain in Verlegenheit gebracht und Chakotays Auftrag vermasselt hatte. Nach Dilithium habe ich gesucht und statt dessen Ärger gefunden. Es liegt am verdammten klingonischen Blut. Manchmal kann ich mich einfach nicht unter Kontrolle halten. Sie fragte sich, ob die reinblütigen Menschen und Vulkanier an Bord wußten,
wie gut sie dran waren: Sie mußten nicht dauernd mit einem primitiven, barbarischen Selbstaspekt ringen, der sich immer dann bemerkbar zu machen drohte, wenn
man ihn am wenigsten gebrauchen konnte. Manche
Leute hielten die Klingonen für ehrenwert und zivilisiert.
B’Elanna wußte es besser. Es waren Tiere, und das
Tierische steckte auch in ihr.
Ein leises Knurren entrang sich ihrer Kehle.
Erschrocken darüber, daß ihr so etwas passieren
konnte, preßte sie die Lippen zusammen und sah sich
dann möglichst unauffällig um. Hatte sie jemand gehört?
Glücklicherweise bestand die Brückencrew derzeit aus dem notwendigen Minimum. Captain Janeway befand
sich in ihrem Bereitschaftsraum; an den verschiedenen Konsolen saßen Starfleet-Angehörige und ehemalige
Maquisarden. Torres überlegte kurz, wo sich Chakotay aufhalten mochte. War er vielleicht auf dem Planeten, um dort die Gesellschaft irgendeiner schamlosen Ryol-Frau zu genießen? Eifersucht regte sich in B’Elanna und verstärkte die Mischung aus Zorn und Scham, die ihr
der Umstand bescherte, daß sie im Nachtklub zur
blindwütigen Klingonin geworden war.
Sie widerstand der Versuchung, erneut zu knurren.
Hör endlich auf damit, sagte sie sich. Konzentrier dich auf die Arbeit. B’Elanna wollte ihren Fehler wiedergutmachen, indem sie mit endgültiger Gewißheit die Frage klärte, ob es auf diesem nutzlosen
Partyplaneten Dilithium gab oder nicht. Sie starrte auf das große Display und suchte bei den Sensoranzeigen
nach jenen charakteristischen Mustern, die auf das
Vorhandensein von Dilithiumkristallen hinwiesen.
Normalerweise saß sie im Kontrollraum der Voyager an den technischen Kontrollen auf der Steuerbordseite,
aber für diese besondere Mission brauchte sie
Sensoren, die von der vorderen wissenschaftlichen
Station auf der Backbordseite kontrolliert wurden. Ich hätte meine Zeit gar nicht erst mit Fragen auf dem Planeten vergeuden sollen, dachte sie. Es entsprach wesentlich mehr ihrem Stil zu versuchen, das Problem mit technischen Mitteln zu lösen. Sie war fest
entschlossen, eventuell vorhandenes Dilithium zu
finden, und wenn sie dazu jeden Quadratzentimeter von Ryolanow scannen mußte.
Es dauerte nur einige wenige Sekunden, die Sensoren
auf die spezielle energetische Signatur von
kristallisiertem Dilithium zu justieren. B’Elanna sah keinen Sinn darin, nach den nicht kristallisierten Formen zu suchen, solange die Theta-Matrix des
Strukturierungssystems nicht einwandfrei funktionierte.
Zum tausendsten Mal bedauerte sie, daß es nicht
möglich gewesen war, gewisse Geräte und
Ausrüstungen vom Maquis-Schiff zu bergen, das sie in den Delta-Quadranten gebracht hatte. Es war ihr
gelungen, bei jenem Strukturierungssystem ein
Maximum an Leistungsfähigkeit zu gewährleisten.
Unglücklicherweise existierte das Maquis-Schiff nicht mehr: Zusammen mit allen seinen technischen
Ressourcen war es über dem Ocampa-Planeten
pulverisiert worden.
Nun, auch die Voyager verfügte über ein ziemlich großes Potential, wie B’Elanna schon nach kurzer Zeit feststellte. Sie richtete jetzt die lateralen Sensoren auf den Planeten und begann mit dem Scan am Äquator.
Von dort aus arbeiteten sich die Sondierungssignale
langsam in Richtung der beiden Pole vor. Torres hielt es für sinnvoll, beim Scannen zunächst die besiedelten
Regionen von Ryolanow zu berücksichtigen, denn dort
war die Wahrscheinlichkeit für das Vorhandensein von Energie erzeugenden Einrichtungen am größten.
Angesichts der Rotation des Planeten und der
Umlaufbahn des Raumschiffs würde es eine Weile
dauern, bis beide Hemisphären sondiert waren, aber
Torres hielt an ihrer Entschlossenheit fest, so lange zu suchen, bis sich ein Erfolg einstellte.
Vier Stunden später stand sie kurz vor der Explosion.
Eine Eigenschaft der klingonischen Hälfte ihres Wesens bestand in einem ausgeprägten Mangel an Geduld. Wie
konnte es der Planet wagen, sich so langsam zu
drehen! Es wäre viel schneller gegangen, Ryolanow mit Phasern und Photonentorpedos in Asche zu verwandeln
und darin nach Dilithium zu suchen. Statt dessen
mußten sich die Sondierungssignale mit quälender
Langsamkeit über die uninteressante Oberfläche des
Planeten tasten. Meter um Meter, Sektor um Sektor,
scannte die Voyager Ryolanow, aber ohne Erfolg. Wenn es dort unten tatsächlich Dilithiumkristalle gab, so schienen die Einheimischen sie gut versteckt zu haben.
Das Schicksal verspottet mich, dachte B’Elanna. Soweit sie es feststellen konnte, verwendeten die Ryol
ausschließlich ebenso sichere wie langweilige
geothermische und hydroelektrische Energie.
Wahrscheinlich haben sie auch Windmühlen, fuhr es der Chefingenieurin durch den Sinn. Wie sollte sie auf
einem so friedlichen und hinterwäldlerischen Planeten etwas finden, das sich an Bord eines modernen
Raumschiffs verwenden ließ?
Sie gähnte laut, was ihr erstaunte Blicke der
Brückencrew einbrachte. Und wenn schon. B’Elanna
achtete nicht darauf; es ging ihr nur darum, ein wenig Dilithium zu entdecken, damit sie endlich Schluß
machen, in ihre Kabine zurückkehren und sich dort
hinlegen konnte. Captain Janeway hielt nichts davon, auf der Brücke zu essen, aber Torres war versucht, sich einen Becher Kaffee vom nächsten Replikator zu
besorgen. Dies ist Zeitverschwendung, dachte sie. Es gibt kein Dilithium auf dem Planeten. Dort gab es nie welches.
Sie wollte gerade die Sondierung beenden, als sie
etwas Seltsames bemerkte, das einen kleinen Sektor
von Ryolanow betraf. Der Computer meldete, daß keine Daten zur Verfügung standen, obwohl mehrere
verschiedene Scans durchgeführt worden waren.
Handelte es sich um einen Programmierfehler, oder
steckte mehr dahinter?
Torres unterbrach die automatische Sondierung und
richtete die lateralen Sensoren erneut auf den
entsprechenden Bereich. Wieder behauptete der
Computer, daß keine Daten ermittelt werden konnten,
und von den Sensoren kam die Meldung, daß sie nicht
imstande waren, den geforderten Scan durchzuführen.
Interessant, dachte B’Elanna und zweifelte kaum mehr daran, daß sie tatsächlich etwas gefunden hatte. Sie setzte den Scanner für die magnetische Interferometrie ein, ohne Erfolg. Die Sensoren für hochenergetische
Protonen-Spektrometrie versagten ebenso wie die
speziellen Ortungsinstrumente für gravimetrische
Verzerrungen. Gammafrequenzen, elektromagnetische
Strahlung, Quarkemissionen, Partikelspektrometrie für den Z-Bereich, niederenergetische Wellenanalyse,
lokale Subraum-Strukturmessungen, optische
Durchdringungsfilter, Strukturbelastungen auf dem
subatomaren Niveau, hoch- und niederenergetischer
Gravitonfluß, Gamma-Interferometrie, virtueller
Partikelstrom, lokale Raumkrümmung,
multidimensionale Belastungsfaktoren,
Mikrosingularitäten mit projizierten Gravitationstrichtern, Tunneleffekte mit stabilen oder verzerrten
Potentialwällen… Welche Methode auch immer Torres
anwendete – der Computer reagierte jedesmal mit
Fehlermeldungen und konnte keine Informationen
gewinnen. Selbst die Instrumente für
Lebensformanalysen versagten. Das ist doch absurd, fuhr es der Chefingenieurin durch den Sinn. Sie wußte, daß es Leben auf dem Planeten gab, auch wenn sie
allen Grund zu haben glaubte, an seiner Intelligenz zu zweifeln.
Fehlfunktionen an Bord der Voyager kamen als Erklärung gewiß nicht in Frage. So viele verschiedene Scanner und Sensoren konnten wohl kaum gleichzeitig
ausfallen – es sei denn, jemand aus dem Q-Kontinuum
hatte beschlossen, die Gesetze der Wahrscheinlichkeit zu manipulieren. Außerdem gab es keine Probleme bei
der Sondierung der übrigen Regionen des Planeten. Nur ein kleiner Bereich von Ryolanow, kaum einen
Quadratkilometer groß, ließ sich nicht von
Sondierungssignalen durchdringen. Die Ryol verbergen etwas, dachte B’Elanna. Sie benutzten ein unbekanntes, aber sehr wirkungsvolles System aus Kraftfeldern, um jenen Bereich des Planeten abzuschirmen.
»Warum?« murmelte Torres. Was versteckten die Ryol
auf ihrem tropischen Spielplatz? Die Ergebnisse der
bisherigen Scans deuteten darauf hin, daß es auf
Ryolanow nicht einmal ein rudimentäres planetares
Verteidigungssystem gab, ganz zu schweigen von
militärischen Einrichtungen, die verborgen werden
müßten. Und wenn die Ryol so sehr um ihre
Privatsphäre besorgt waren, daß sie eine
undurchdringliche Barriere errichteten – warum
schützten sie damit nur einen winzig kleinen Teil ihrer Welt? So etwas erschien der Klingonin in B’Elanna
ebenso sinnlos wie der Chefingenieurin. Es sei denn, jenem Ort kam irgendeine Art von religiöser Bedeutung zu.
Torres überlegte, ob sie Captain Janeway oder
Chakotay Bescheid geben sollte, entschied sich dann
aber dagegen. Zuerst mußte sie mehr herausfinden. Bei dieser Mission hatte sie sich schon einmal zum Narren gemacht, und das war mehr als genug für eine
Sternzeit. Einige ungewöhnliche Anzeigen genügten
nicht, um Alarm zu schlagen.
»Entschuldigen Sie bitte, Lieutenant.« Torres sah auf und erkannte Fähnrich Erin Jourdan, eine blonde
Terranerin, die die Kontrollen der Funktionsstation
bediente, wenn sich Harry Kim nicht im Dienst befand.
Jourdan richtete einen neugierigen Blick auf B’Elanna, die sich fragte, ob sie erneut geknurrt hatte. »Kann ich Ihnen bei irgend etwas helfen?« fragte der Fähnrich.
»Ja«, erwiderte die Chefingenieurin scharf. »Holen Sie mir einen Raktajino. Ich habe hier noch eine Weile zu tun.«
Harry Kim döste im Schatten unter den purpurnen
Blättern seines Lieblingsbaums und konnte kaum die
Augen offenhalten. Die Erinnerungen an den
vergangenen Abend waren eher vage, doch er zweifelte kaum daran, daß er zuviel Ryol-Wein getrunken hatte.
Ihm blieb sogar schleierhaft, wann er zur Voyager zurückgekehrt war. Er entsann sich nur daran, am
frühen Nachmittag im eigenen Bett erwacht zu sein, mit dem Wunsch nach einer Dusche und starkem Kaffee.
Als Kim in den entlegenen Winkeln seines
Gedächtnisses suchte, fand er schemenhafte Bilder, die ihm einen scharlachroten Sonnenaufgang zeigten, in
der Gesellschaft von zwei sehr freundlichen Ryol-
Frauen. An ihre Namen erinnerte er sich nicht, wohl
aber an die Augen: Sie waren zuerst grün, wurden dann immer dunkler, bis die Farbe in ihnen Schwärze wich…
Er gähnte herzhaft und ließ die Lider sinken. Ein kleines Nickerchen erschien ihm immer verlockender.
Etwas landete nur wenige Zentimeter entfernt auf dem Boden und weckte Kim aus dem Halbschlaf. Er sah eine kleine Gestalt mit rotem, zerzausten Fell – der Neffaler, den er vor einigen Tagen hier in diesem Park gesehen hatte.
»Hallo, kleiner Bursche«, sagte er. »Ich habe gehofft, dir noch einmal zu begegnen.«
Das Wesen antwortete mit einem Zirpen – es schien
Kim ebenfalls wiederzuerkennen. Es wirkte jetzt nicht mehr schüchtern und scheu, musterte den Starfleet-Offizier mit großen, erwartungsvollen Augen.
»Suchst du nach der Klarinette?« fragte Kim. »Geht es dir darum?«
Der Neffaler piepste, doch es blieb Kims Phantasie
überlassen, diesen Laut zu deuten. Dem
Leistungsvermögen des automatischen Translators
waren leider Grenzen gesetzt – er konnte nicht dabei helfen, mit Tieren zu sprechen. Die verbalen
Übersetzungsalgorithmen brauchten eine tatsächliche
Sprache, um richtig zu funktionieren. Dennoch glaubte Kim zu wissen, was der Neffaler wollte.
Er holte ein glänzendes weißes Objekt aus der Tasche.
»Hier«, sagte er und bot es dem Wesen an. Es war eine Flöte aus Kunststoff, etwa fünf Zentimeter lang und mit zwölf kleinen Löchern für die zwölf Finger des Neffalers.
Eine dünne weiße Schnur baumelte vom einen Ende
der Flöte herab. »Das habe ich extra für dich
mitgebracht.«
Das Geschöpf griff sofort nach dem Gegenstand. Kim
lächelte. Das kleine Musikinstrument hatte ihn einen Replikator-Coupon gekostet, doch dieses Opfer
erschien dem Fähnrich gering, als er die offensichtliche Freude des Geschöpfs bemerkte. Allem Anschein nach
hatte der Neffaler ein gutes Gedächtnis, denn diesmal vergeudete er keine Zeit damit, ins falsche Ende zu
pusten. Statt dessen wählte er sofort das Mundstück.
Die haarigen Wangen blähten sich auf, als er energisch in die Flöte blies und dadurch ein mehrstimmiges lautes Tuten erklingen ließ. Kim ließ ihn einige Minuten lang improvisieren, streckte dann vorsichtig die Hand aus, rückte die Finger des Wesens zurecht und zeigte ihm, wie man verschiedene Töne erzeugen konnte, indem
man einzelne Löcher zuhielt. Es erstaunte ihn, wie dünn und fragil die Finger wirkten. Solche Geschöpfe
schienen nur aus Pelz, Haut und Knochen zu bestehen.
»Meine Güte«, sagte er. »Ich frage mich wirklich, ob man euch ausreichend füttert.«
Wieder lernte der Neffaler schnell. Seine Finger
bewegten sich, und dadurch kam es zu entsprechenden
Veränderungen der Töne. Schon nach kurzer Zeit hörte Kim etwas, das einer Melodie verblüffend nahe kam.
Verwundert und anerkennend schüttelte er den Kopf.
»He, du bist ein kleiner Affen-Mozart«, sagte er. »Wer hätte das gedacht?«
Kim fragte sich, ob er die Erste Direktive verletzte, wenn er einem domestizierten Primaten beibrachte, auf der Flöte zu spielen. Nein, wohl kaum. Das
Nichteinmischungsprinzip betraf intelligente Wesen,
nicht ihre Tiere, und die Ryol schienen bereits alles über Musik zu wissen – darauf deuteten die Ereignisse des vergangenen Abends im Nachtklub hin.
Außerdem war der kleine Neffaler viel zu niedlich, als daß Harry einer derartigen Versuchung hätte
widerstehen können.
Kim gähnte einmal mehr, neigte sich zurück und stützte den Kopf an den Baumstamm. Dann schloß er die
Augen und ließ seine Gedanken treiben, begleitet von der Musik des Neffalers.
Kes hörte die Wellen, bevor sie das Meer sah. Die
Nacht hatte begonnen, und Lampen erhellten den
Strandweg, doch ihr Licht reichte nicht bis zur
Wassergrenze. Mit ihren muschelförmigen Ohren fiel es der Ocampa nicht schwer, das Rauschen in der
Dunkelheit zu hören. Von der Bucht her wehte eine
Brise, die Erfrischung brachte. Kes spähte in die
Finsternis, hielt nach dem Wasser Ausschau und
fürchtete die gräßlichen Geheimnisse, die sich darin verbergen mochten. Wieso kann eine so friedliche Szene solches Entsetzen für mich bereithalten? dachte sie.
Tuvok hätte von dieser nächtlichen Expedition sicher nicht viel gehalten, aber Kes sah sich außerstande, jene geistigen Stimmen einfach zu ignorieren. Einen
ähnlichen Zwang hatte sie vor Jahren gespürt, als die Ältesten der Ocampa ihr verboten, die unterirdische
Stadt zu verlassen und die obere Welt zu erforschen.
Damals hatte sie die Warnungen ebenso ignoriert wie
Tuvoks klugen Rat – mit dem Ergebnis, daß sie in
erhebliche Gefahr geraten war. Aber sie hatte auch ein Universum voller Wunder entdeckt, das weit über ihre kühnsten Vorstellungen hinausging. Sie wußte nicht,
was sie jenseits des schwarzen Ufers erwartete, aber sie war entschlossen, es herauszufinden.
»Weißt du«, sagte der neben ihr gehende Neelix, »je
mehr ich darüber nachdenke, desto mehr glaube ich,
der Strand wäre für eine Ausgabe von Neues mit Neelix bestens geeignet.« Er glaubte, es sei zu spät für ein Bad im Meer, und deshalb trug er die übliche
kunterbunte Kleidung. Nur ihre
Insignienkommunikatoren wiesen sie als
Besatzungsmitglieder der Voyager aus. »Stell dir nur die Aufnahmen vor, die ich morgen nachmittag an diesem
Ort anfertigen könnte. Dutzende von
Besatzungsmitgliedern, die sich am Strand vergnügen, gekleidet in individuell replizierte Badeanzüge…«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Kes und war dankbar für den Umstand, von ihren Sorgen abgelenkt zu werden.
»Glaubst du wirklich, jemand hätte Interesse daran, sich eine Stunde lang irgendwelche Strandszenen
anzusehen?«
Harry Kim erwachte in einem dunklen Park. Er hatte von zwei unwiderstehlichen Ryol-Frauen mit pechschwarzen Augen geträumt, und jetzt stellte er überrascht fest, daß inzwischen die Sonne untergegangen war. Wie lange habe ich geschlafen? fragte er sich. Offenbar bin ich erschöpfter gewesen, als ich dachte. Seine letzten Erinnerungen betrafen den kleinen Neffaler, der auf der Kunststoffflöte spielte.
Kim setzte sich auf, drehte den Kopf von einer Seite zur anderen und versuchte, etwas in der Dunkelheit zu
erkennen. Wenn es Mondschein gab, so blieb er
jenseits der Zweige und Äste über ihm verborgen, doch im Osten filterte das Licht der Stadt durchs violette Gebüsch. Instinktiv tastete er nach dem
Insignienkommunikator, um festzustellen, ob er noch
immer über das kleine Kom-Gerät verfügte. Seine
Finger berührten den Kommunikator, und Erleichterung durchströmte ihn.
Zum Glück ist Ryolanow friedlich und sicher, dachte er.
Ein Tourist, der an Bord von Deep Space Nine oder auf Risa eingenickt wäre, hätte beim Erwachen vermutlich nur noch seine Socken getragen. Zum Glück war der
nächste Ferengi ziemlich weit entfernt. Selbst der
Phaser steckte noch am Gürtel.
Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die
Dunkelheit. Kim ließ seinen Blick erneut durch den Park schweifen, doch von dem kleinen Neffaler und der Flöte fehlte jede Spur. Wahrscheinlich hat er sich gelangweilt und ist fortgelaufen, nahm Kim an. Er freute sich darüber, daß der kleine Bursche die Flöte mitgenommen hatte – offenbar bedeutete sie ihm genug, um sie nicht einfach wegzuwerfen.
Der Fähnrich stand auf und streckte sich, klopfte dann Uniformpulli und Hose ab. Und jetzt? fragte er sich. Er wurde erst am Morgen auf der Brücke zurückerwartet.
Sollte er in die Stadt gehen, um dort nach Tom und
B’Elanna zu suchen? Er wußte gar nicht, wo sie sich
jetzt aufhielten – um den Nachtklub, in dem es zu dem Zwischenfall gekommen war, machten sie bestimmt
einen großen Bogen. Was Torres betraf: Sie hielt nicht viel von Ryol; vielleicht hatte sie sich wieder an Bord gebeamt.
Ein vertrautes Piepsen unterbrach Kims Überlegungen.
Er sah auf und bemerkte oben in den Ästen eine
vertraute Gestalt. Die kleine weiße Flöte hing am Hals des Neffalers. »Hallo«, sagte der Fähnrich. »Ich dachte, du seiest längst fort.«
Der Neffaler sprang, landete neben dem Menschen im
Gras und zirpte aufgeregt. »Auch ich freue mich, dich wiederzusehen«, sagte Kim und ging in die Hocke,
damit sein Gesicht mehr oder weniger auf einer Höhe
mit dem des Neffalers war. Trotz der Dunkelheit
bemerkte er ein helles, gelbliches Objekt in den Fingern des Wesens.
»Was ist das?« fragte er. Und als der Neffaler den
Gegenstand hob, ihn vor die Hand des Menschen hielt:
»Für mich?«
Das Wesen piepste, was Kim als ›ja‹ verstand.
Vorsichtig griff er nach dem Objekt und nahm es aus der Hand des Neffalers. Es fühlte sich trocken und spröde an, wie ein alter Knochen oder eine Muschel. In der
Außenfläche gab es tiefe Rillen oder Kratzer, doch
manche Stellen schienen völlig glatt zu sein.
Kim trat aus dem Schatten des großen Baums, um das
Objekt besser zu erkennen. Während ich geschlafen habe, ist der kleine Bursche losgelaufen, um dies für mich zu holen, dachte Kim. Mondschein fiel durch eine Lücke im hohen Blätterdach und erhellte einen Teil des Parks. Der Fähnrich hob den Gegenstand ins
perlmuttfarbene Licht.
Es handelte sich tatsächlich um einen Knochen,
sichelförmig und aufgrund seines hohen Alters vergilbt.
Kim hoffte, daß der Neffaler ihn nicht aus der privaten Sammlung eines Ryol gestohlen hatte. Das Ding wirkte zweifellos alt genug, um ein Museumsstück zu sein.
Eine Seite davon schien einmal eine Inschrift oder
Symbole aufgewiesen zu haben, doch sie waren fast
völlig abgerieben und kaum mehr zu erkennen. In der
Außenseite der Sichel fand Kim mehrere Kerben, die
von abgebrochenen Stücken stammten, und mehrere
Haarrisse durchzogen das ganze Objekt. Vorsichtig
drehte er es hin und her, versuchte herauszufinden,
wozu der Gegenstand diente. Der Knochen war leichter, als es zunächst den Anschein hatte. Kim sah genauer
hin und fand Anzeichen dafür, daß das Objekt
ausgehöhlt worden war. Zu beiden Seiten der Sichel
gab es Schlitze, jeweils knapp einen Millimeter breit. Als er durch eine solche Öffnung ins Innere des Knochens blickte, bemerkte er Mondschein, der durch einen
Schlitz auf der gegenüberliegenden Seite fiel. Oben
entdeckte er fünf Löcher. Vielleicht waren es einmal sechs gewesen, aber das ließ sich jetzt kaum mehr
feststellen, denn im Lauf der Zeit hatte sich ein Teil der oberen Schicht gelöst.
Kaum einen Meter entfernt hantierte der Neffaler
aufgeregt mit der Flöte, zog die Schnur straff und
piepste immer wieder. Kim ahnte etwas. Er hob das
Artefakt vor den Mund und hielt dabei die Sichel parallel zum Boden. Sie saß ziemlich knapp – immerhin war die Mundpartie eines Menschen wesentlich breiter als die eines Neffalers. Doch es gelang dem Fähnrich, die
Innenseite der Sichel an die Lippen zu pressen.
Er blies in einen offenen Schlitz.
Feiner schwarzer Staub wehte aus einer Öffnung in der Außenseite und rieselte auf den Kopf des Neffalers, der hustete, nieste und ein wenig zurückwich. Offenbar
hatte schon seit einer ganzen Weile niemand mehr
versucht, in dieses Instrument zu pusten, aber trotzdem erklang ein schrilles Pfeifen. Kim hielt die fünf
übriggebliebenen Löcher zu und hörte, wie sich die
Tonhöhe veränderte. Der kleine Neffaler reagierte auf den Pfiff, indem er beide Hände an die Ohren preßte
und eine Grimasse schnitt.
Kim nahm das alte Musikinstrument von den Lippen und lachte. Soviel zu seiner Besorgnis in Hinsicht auf die Erste Direktive. Offenbar war er nicht die erste Person, die einen Neffaler mit Pfiffen vertraut machte. Wie dem auch sei: Mit der Flöte aus Kunststoff schien er einen vollen Erfolg erzielt zu haben. Kim fragte sich, wann irgendein Neffaler zum letztenmal ein Spielzeug
bekommen hatte – bestimmt war es schon eine ganze
Weile her. Den Gästen aus dem All begegneten die
Ryol mit großer Gastfreundschaft, aber für ihre Tiere schienen sie kaum irgendwelche Zuneigung zu
erübrigen.
Vermutlich handelt es sich um eine kulturelle
Besonderheit, dachte Kim und zuckte mit den Schultern.
Starfleet hatte ihn gelehrt, bei fremden Zivilisationen die exotischsten Dinge zu erwarten. Das Lieblingstier einer Kultur mochte der Leckerbissen einer anderen sein. Er sollte sich davor hüten, voreilige Schlüsse aus dem
Umstand zu ziehen, daß die Ryol den Neffalern
gleichgültig gegenüberstanden.
Die Ryol wissen nicht, was ihnen dadurch entgeht, dachte Kim, während er beobachtete, wie das kleine,
niedliche Wesen fröhlich auf der Flöte spielte. Vorsichtig preßte er sich den alten Knochen erneut an die Lippen und fügte der Melodie des Neffalers eigene Töne hinzu.
Im matten Mondschein, begleitet vom leisen Rascheln
der Blätter und dem Seufzen des Winds, spielten
Starfleet-Offizier und Primat ein Duett.
Kes und Neelix folgten dem Verlauf des Pfades, als sie sich dem Strand näherten. Die Ocampa bedauerte, daß
sie diesen nächtlichen Spaziergang nach dem
alptraumhaften mentalen Erlebnis am vergangenen Tag
nicht genießen konnte. Andernfalls hätten sich jetzt vielleicht romantische Gefühle in ihr geregt. Sie blickte in die Dunkelheit, lauschte dem Rauschen der Wellen, atmete den würzigen Duft des Meeres und fragte sich, auf welche Weise sie ihre geheimnisvolleren Sinne
einsetzen sollte. Ein Teil von ihr sehnte sich danach, eine psychische Barriere zu errichten, so wie sie es von Tuvok gelernt hatte, um sich vor telepathischen
Kontakten zu schützen. Doch Neugier und
Verantwortung zwangen sie statt dessen, ihr Selbst dem fremden Etwas zu öffnen, dessen Präsenz sie gespürt
hatte. Kes erinnerte sich an die verzweifelten Stimmen, an eine erstickende Finsternis, die sie umhüllte und den warmen Sonnenschein aus ihrer Wahrnehmung
verbannte. Sie versuchte, sich so gut es ging auf ein ähnliches Erlebnis vorzubereiten.
»Ist alles in Ordnung mit dir?« fragte Neelix. Sein
Gesicht brachte ganz deutliche Besorgnis zum
Ausdruck, und er legte der Ocampa den Arm um die
Schultern. »Du zitterst«, stellte er fest. »Wir können zum Schiff zurückkehren, wenn du möchtest. Nichts
verpflichtet dich zu dieser Sache.«
»Nein.« Kes schüttelte den Kopf. »Hier gab es etwas –
etwas, das mich rief. Ich muß herausfinden, was es mit jenen Stimmen auf sich hat.«
»Um deinetwillen?« fragte Neelix. »Oder ihretwegen?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Kes. Bisher hatte sie nichts entdeckt. Erneut lauschte sie und hörte, wie jenseits des Lampenlichts Wellen an den Strand rollten. »Vielleicht sollten wir näher ans Wasser herangehen«, schlug sie vor.
»Wie du meinst«, erwiderte Neelix. Sie verließen den gepflasterten Weg, und ihre Stiefel sanken in die
körnige Substanz des Strands. Das Rauschen wies
ihnen den Weg, und die Lampen blieben hinter ihnen
zurück.
»Vorsichtig«, sagte Neelix und hielt den Arm der
Ocampa. »Achte darauf, wohin du den Fuß setzt.« Je
mehr sie sich dem Ufer näherten, desto mehr mischte
sich Meerwasser unter die kleinen schwarzen Kugeln,
und dadurch bildete sich ein rutschiger, gallertartiger Film.
Der Weg lag erst einige wenige Meter hinter ihnen, als grelles weißes Licht sie blendete.
»Was hat das zu bedeuten?« entfuhr es der
erschrockenen Kes. Ihr Puls raste plötzlich, und Neelix’
Hand schloß sich fester um ihren Arm.
Das Licht glitt fort von ihren Gesichtern und richtete sich auf die Insignienkommunikatoren. Kes blinzelte
mehrmals und wartete darauf, daß sich die Augen nach der jähen Helligkeit wieder an die Dunkelheit
gewöhnten. Nach einigen Sekunden sah sie einen
kräftig gebauten Ryol: Das Licht ging von einem kleinen Kristall aus, den er in der erhobenen Hand hielt. Die grünen Augen reflektierten den Glanz, und dadurch
wirkte sein Gesicht gespenstisch fremd.
»Tut mir leid, daß ich Sie auf diese Weise überrascht habe«, sagte der Ryol. Abgesehen von den Augen hätte er der Zwillingsbruder des Rettungsschwimmers sein
können, der Kes im Wasser zu Hilfe gekommen war.
»Ich muß Sie bitten, zum Weg zurückzukehren. Nachts
ist der Aufenthalt am Strand verboten.«
»Verboten?« wiederholte Neelix. »Warum?«
Kes erkannte den besonderen Tonfall des Talaxianers.
Neelix schlüpfte jetzt in die Rolle des ermittelnden Journalisten.
»Wegen der gefährlichen Gezeiten«, erklärte der Mann.
»Wenn die Flut kommt oder das Wasser bei Ebbe
abläuft, entstehen Unterströmungen, die selbst das
Waten gefährlich machen, vom Schwimmen ganz zu
schweigen – man könnte innerhalb weniger Sekunden
in Richtung offenes Meer abtreiben.« Der Ryol lächelte, und seine perfekten weißen Zähne glänzten. »Wir
möchten unter allen Umständen vermeiden, daß Sie
oder andere Gäste einen tragischen Unfall erleiden.«
Die Erklärung klang plausibel für Kes, die von Gezeiten und Unterströmungen kaum etwas wußte. Dennoch
konzentrierte sie sich noch etwas stärker auf ihre
außersinnliche Wahrnehmung, in der Hoffnung,
Antworten aus den unergründlichen Tiefen des in der
Dunkelheit verborgenen Meers zu bekommen. Handelte
es sich nur um das Echo einer Erinnerung, oder hörte sie tatsächlich leise Stimmen in weiter Ferne, Stimmen, die in wortloser Agonie schrien? Eine Welle aus
Schmerz und Verzweiflung erfaßte Kes, trübte das Bild vor ihren Augen und bewirkte, daß ihr die Knie weich wurden. Sie schwankte und wäre vermutlich zu Boden
gesunken, wenn Neelix sie nicht gestützt hätte.
»Was ist los?« fragte der Ryol argwöhnisch.
»Nichts weiter«, erwiderte Neelix. »Wir haben nur einen langen und sehr aktiven Tag hinter uns. Auf Ihrem
wundervollen Planeten gibt es so viele interessante
Dinge!« Er hielt Kes nicht mehr ganz so fest, als sie wieder aus eigener Kraft stehen konnte. »Nun, ich
schätze, wir kehren jetzt besser zurück. Ist der Strand morgen früh wieder zugänglich?«
»Natürlich«, bestätigte der Ryol. Er bewegte die Hand, und das Licht des Kristalls reichte nun bis zum Weg. Die miteinander verschmolzenen schwarzen Kugeln
schimmerten in dem hellen Schein. »Ich führe Sie
zurück zum Pfad.«
»Oh, das ist nicht nötig«, entgegnete Neelix. »Wir
kommen auch allein zurecht.«
»Ich bestehe darauf«, sagte der Ryol, und seine
Pupillen erweiterten sich. Erneut bewegte er die Hand, und das Licht wanderte zwischen dem Pfad und den
beiden Besuchern von der Voyager hin und her. »Sie sind fremd auf Ryolanow, und deshalb fühle ich mich
verpflichtet, Ihnen zu helfen.«
Als sie zurückgingen, blickte Kes über die Schulter.
Undurchdringliche Dunkelheit erstreckte sich dort, wo die Wellen rauschten. Die Schwäche war inzwischen
wieder aus ihr verschwunden, und es blieb ihre
Entschlossenheit, dem Geheimnis der Stimmen und
ihrer Verzweiflung auf den Grund zu gehen. Ob
Gezeiten oder nicht: In Kes verdichtete sich der
Eindruck, daß die Ryol etwas verbargen. Sie fragte sich, ob Neelix auf die gleiche Weise empfand.
Die Ocampa schickte den körperlosen Stimmen, die in
der Finsternis jenseits ihres mentalen Horizonts schrien, eine gedankliche Botschaft: Ich höre euch. Und ich werde eurem Leid ein Ende bereiten, wenn ich kann.
Das verspreche ich.
VIII.
Chakotay blickte aufs digitale Display seines
elektronischen Datenblocks. Die Anzeige lautete 20:11.
Susan Tukwila hätte den Brückendienst schon vor elf
Minuten antreten sollen. Der Erste Offizier runzelte die Stirn. Ein derartiges Verhalten war alles andere als typisch für sie. Während ihrer gemeinsamen Zeit beim Maquis hatte Tukwila immer ausgezeichnete Arbeit
geleistet. Bei Guerillaeinsätzen in der Entmilitarisierten Zone kam es oft auf genaue zeitliche Abstimmung an,
und bei solchen Unternehmen hatte sich Chakotay
immer vorbehaltlos auf Susan Tukwila verlassen
können. Er erinnerte sich daran, daß sie einmal in den Hinterhalt einer ›nicht autorisierten cardassianischen Todesschwadron‹ geraten waren – nur Susan Tukwilas
Geistesgegenwart verhinderte, damals eine
Katastrophe.
Aber wo steckt sie jetzt? dachte Chakotay verärgert und trommelte mit den Fingern auf die Armlehne des
Kommandosessels. Derzeit herrschte keine
Notsituation, aber auch der routinemäßige Dienst auf der Brücke erforderte Disziplin und Eifer. Während der nächsten Stunden rechnete der Erste Offizier nicht mit irgendwelchen Krisen – die Voyager würde auch weiterhin den Planeten Ryolanow umkreisen, ohne daß
etwas geschah –, doch er nahm seiner Verantwortung
als stellvertretender Kommandant sehr ernst. Tukwila hingegen schien zu glauben, daß die Pflicht derzeit
keine große Rolle spielte. Daß sie eine ehemalige
Maquisardin war, machte alles nur noch schlimmer.
Wenn sich einer von Chakotays ehemaligen Gefährten
unkorrekt verhielt, so schadete das dem Ruf aller
früheren Angehörigen des Maquis. Der Erste Offizier
fühlte sich unmittelbar verantwortlich für das Verhalten aller Maquisarden an Bord, und manchmal lastete diese Bürde schwer auf ihm.
Es war alles andere als leicht gewesen, eine Gruppe
aus Rebellen und Freiheitskämpfern in die straff
organisierte Starfleet-Crew zu integrieren. Chakotay konnte in dieser Hinsicht auf Erfolge stolz sein, wie im Fall von B’Elanna Torres, trotz ihrer
Auseinandersetzung mit dem Ryol-Mann. Aber es gab
auch eklatante Fehlschläge: Seska, Michael Jonas und Lon Suder. Alle drei hatten eine Gefahr für die Voyager dargestellt, und alle drei waren eines gewaltsamen
Todes gestorben. Die Namen plagten Chakotays
Gewissen – er warf sich vor, die falschen
Entscheidungen getroffen und zuviel Vertrauen
geschenkt zu haben. Hätte er Seskas Verrat irgendwie verhindern können? Oder den von Jonas? Wäre er
imstande gewesen, irgend etwas gegen die Mordlust
von Lon Suder zu unternehmen, bevor er tatsächlich
Leben auslöschte? Nun, Suder hatte wenigstens einen
Teil seiner Schuld gesühnt, bevor ihn die Kazon
umbrachten. Chakotay hoffte, daß er Susan Tukwilas
Namen nicht seiner privaten Schmachliste hinzufügen
mußte.
Um zwanzig Uhr fünfzehn Bordzeit öffnete sich der
Turbolift, und Tukwila trat hastig auf die Brücke. Sie trug das schwarze Haar offen, und hinten war es nicht
gekämmt. Der Insignienkommunikator steckte falsch
herum an der gelbschwarzen Uniform. Chakotay
bemerkte dunkle Ringe unter ihren Augen; sie wirkte
erschöpft und übermüdet.
»Sie kommen zu spät, Fähnrich«, sagte der Erste
Offizier – Gelegentlich erschien es ihm noch immer
seltsam, ehemalige Maquisarden mit Starfleet-Rängen
anzusprechen. Dabei wurde ihm bewußt, daß nur sehr
wenige Angehörige des Maquis eine komplette
Starfleet-Ausbildung hinter sich hatten. Die Falten
fraßen sich tiefer in seine Stirn. Er mochte es ganz und gar nicht, von seinen eigenen Leuten in Verlegenheit gebracht zu werden.
»Entschuldigung, Commander«, erwiderte Tukwila und
eilte zu ihrem Platz an der Funktionsstation. Ihre
Stimme klang heiser als sonst. Chakotay vermutete,
daß sie zuviel Zeit in lauten und verrauchten Ryol-
Tavernen verbracht hatte. Er erinnerte sich daran, selbst ihre Versetzung von der Abteilung stellare Kartographie zur Brücke empfohlen zu haben. Dieser Gedanke sorgte nicht dafür, daß er sich besser fühlte.
Langsam stand er auf, wandte sich vom
Kommandosessel ab und ging zu Tukwila. Zwar
versuchten die übrigen Offiziere der Brückencrew, sehr beschäftigt zu wirken, aber Chakotay wußte: Sie alle hielten den Atem an und warteten darauf, was nun
passieren würde. Er zögerte, um die Dramatik des
Augenblicks noch etwas zu steigern, streckte dann die Hand aus und nahm den falsch herum befestigten
Insignienkommunikator von Tukwilas Uniform.
»Landurlaub ist keine Entschuldigung für
Nachlässigkeit, Fähnrich«, sagte er und reichte ihr das kleine Gerät.
Ein oder zwei Sekunden lang schien Tukwila mit dem
Gedanken zu spielen, eine Antwort zu geben, die
Chakotay nicht hören wollte. Über den dunklen Ringen blitzten Trotz und sogar Zorn in den Augen. Chakotay hatte Tukwilas rebellisches Temperament einst sehr zu schätzen gewußt – als es den cardassianischen
Usurpatoren galt, die versuchten, Kolonisten aus der Föderation zu vertreiben. Jetzt bezogen sich jene
Gefühle auf ihn, und das gefiel ihm ganz und gar nicht.
Machen Sie keinen Fehler, Susan, dachte er.
Es gelang Tukwila, sich unter Kontrolle zu halten. Mit steinerner Miene nahm sie den Insignienkommunikator
entgegen und befestigte ihn so an ihrer Uniform, wie es sich gehörte. Chakotay stand nahe genug, um deutlich zu erkennen, wie zerknittert der Uniformkragen war. Der graue Stoff schien seit mindestens einer Woche nicht mehr repliziert worden zu sein. »Dies ist eine lange Reise«, sagte er und ärgerte sich über den neuerlichen Hinweis auf Tukwilas Schlamperei. »Wir können nicht
zulassen, daß sich Achtlosigkeit bei uns breit macht.«
»Als ob es eine Rolle spielte«, erwiderte Tukwila, und ein süffisantes Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Wie war das, Fähnrich?« fragte Chakotay. »Ich habe
Sie nicht richtig verstanden.«
Sie hob den Blick von ihren Füßen. »Mit allem Respekt, Sir… Wir sind Tausende von Lichtjahren von der
Föderation entfernt. Welche Bedeutung hat hier der
Unsinn mit den Starfleet-Vorschriften?« Tukwilas
Gesichtsausdruck wurde noch etwas verächtlicher. »Wir können wohl kaum in absehbarer Zeit mit einer
Inspektion rechnen.«
»Die angeblich so unsinnigen Starfleet-Vorschriften
sorgen dafür, daß wir während unserer langen Reise am Leben bleiben«, sagt Chakotay laut genug, damit ihn die ganze Brückencrew hörte. »Hier im Delta-Quadranten,
weit von der Sicherheit der Föderation entfernt,
brauchen wir nicht weniger Disziplin, sondern sogar
noch mehr. Hier gibt es keinen Platz für Fehler und Schlendrian.« Tukwila öffnete den Mund, doch
Chakotay ließ sie nicht zu Wort kommen. »Dies ist
weder der geeignete Ort noch der richtige Zeitpunkt, um über die Politik des Captains zu diskutieren. Ich erwarte von allen Besatzungsmitgliedern, daß sie ihre Pflicht nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen. Das ist
alles, Fähnrich.«
Chakotay drehte sich um und kehrte zum Platz des
Captains zurück. Stille herrschte auf der Brücke – er hörte nur das leise Summen der Geräte und ein
gelegentliches Rascheln, wenn jemand im Sessel das
Gewicht verlagerte. Er beschloß, so bald wie möglich mit Janeway über Tukwilas Nachlässigkeit zu reden. Er brauchte nicht extra Neelix zu fragen, um ein Problem mit der Moral als solches zu erkennen.
Tage waren vergangen, viele Stunden angestrengter
Bemühungen, doch die sonderbare Region unter den
Schilden weigerte sich nach wie vor, ihre Geheimnisse preiszugeben. B’Elannas Ärger wuchs. Sie hätte die
Anzahl der Blütenblätter einer beliebigen Pflanze auf Ryolanow nennen können, aber über diesen einen
Bereich des Planeten ließ sich einfach nichts in
Erfahrung bringen.
Zugegeben, B’Elanna hatte nicht ihre ganze Zeit dieser Herausforderung widmen können. Als Chefingenieurin
mußte sie sich auch um andere Dinge kümmern – zum
Beispiel galt es, den schwindenden Vorrat an
kristallisiertem Dilithium im Auge zu behalten –, und außerdem verlangte ihre physische Existenz nach
Aufmerksamkeit: Der Körper brauchte Nahrung und
Bewegung. Wenigstens fordert mich niemand mehr auf, Landurlaub zu ›genießen‹, dachte sie. Die
Auseinandersetzung mit dem Idioten Nimdir hatte allen deutlich vor Augen geführt, daß sie an Bord besser
aufgehoben war. Captain Janeway hatte ihr nicht direkt befohlen, auf der Voyager zu bleiben, doch B’Elanna wußte: Ihren Vorgesetzten war es zweifellos lieber,
wenn sie sich von Ryolanow fernhielt.
Ist mir nur recht, dachte sie, betrat die Brücke und ging schnurstracks zur vorderen wissenschaftlichen Station.
Eine verdrießlich wirkende Susan Tukwila bediente die Navigationskontrollen, stellte sie fest und Chakotay saß im Kommandosessel.
»Guten Morgen, Lieutenant«, grüßte er, als Torres an ihm vorbeikam. Sie brummte eine knappe Antwort, ohne stehenzubleiben.
Es wird Zeit, schwere Geschütze aufzufahren, dachte sie. In der vergangenen Nacht, als sie eigentlich hätte schlafen sollen, hatte sie lange über das Problem
nachgedacht und war dabei zu dem Schluß gelangt,
daß sie vielleicht mit den Fernbereichsensoren einen Erfolg erzielen konnte. Es handelte sich um die
leistungsfähigsten wissenschaftlichen Instrumente der Voyager: Sie dienten dazu, interstellare Phänomene auf eine Entfernung von etwa fünf bis siebzehn Lichtjahren zu untersuchen – es hing vom Ausmaß der notwendigen
Auflösung ab. Die Fernbereichsensoren von der
Umlaufbahn aus auf die Oberfläche eines Planeten zu
richten… Genausogut hätte man ein
Elektronenmikroskop verwenden können, um die
eigenen Fingernägel zu betrachten. Oder einen
einzelnen Tribble mit einer ganzen Salve von
Photonentorpedos erledigen können. Andererseits
konnte sich Torres keine planetaren Schilde vorstellen, die imstande waren, dem enormen
Sondierungspotential der Fernbereichsensoren zu
widerstehen.
Wie ich mein Glück kenne, stellt sich der geheimnisvolle Ort als heilige Grabstätte oder etwas in der Art heraus, überlegte die Chefingenieurin. Sie fürchtete, daß es dort überhaupt kein Dilithium gab.
»Bitte um Erlaubnis für den Einsatz der
Fernbereichsensoren«, wandte sich B’Elanna an
Chakotay. Normalerweise benutzte man die Sensoren,
um beim Flug mögliche Gefahren zu erkennen, zum
Beispiel Meteoriten oder andere Himmelskörper. Wenn
sich das Schiff im Orbit befand, waren derartige
Ortungen kaum nötig. Wenn die Voyager mit geringer Sublichtgeschwindigkeit flog, reichten die normalen
Navigationssensoren aus, um rechtzeitig vor Satelliten und dergleichen zu warnen. Dennoch fühlte sich Torres verpflichtet, den Commander zu fragen, bevor sie die Fernbereichsensoren für ihre eigenen Zwecke
verwendete.
Chakotay musterte sie neugierig. Torres fragte sich, ob er wußte, wie attraktiv er war. »Haben Sie einen
besonderen Grund, Lieutenant?«
»Ich möchte nur ein Experiment durchführen«, erwiderte sie. »In Hinsicht auf das Nachschubproblem, über das wir vor einigen Tagen gesprochen haben.« B’Elanna
wollte nicht darauf hinweisen, wie lange sie vergeblich versucht hatte, Informationen über jenen kleinen Teil von Ryolanow zu gewinnen. Wahrscheinlich befindet sich dort nur die geheime Schatzkammer mit den
Kronjuwelen der Ryol, dachte sie. Oder der private Harem des Ältesten. Immer wieder hatte sie sich nach den möglichen Gründen für die Abschirmung eines
kleinen Bereichs des Planeten gefragt. Verschiedene
Erklärungen kamen ihr in den Sinn, aber keine von
ihnen rechtfertigte es, den Captain zu benachrichtigen.
Zuerst wollte sie herausfinden, was sich hinter den
Schilden der Ryol verbarg.
Chakotay nahm ihre Erklärung mit einem Nicken
entgegen. »Führen Sie Ihr Experiment durch«, sagte er und blickte dann wieder auf den elektronischen
Datenblock, der auf einer Armlehne des
Kommandosessels lag.
Torres rief die Koordinaten aus den Datenbanken des
Bordcomputers ab. Inzwischen enthielten die neuralen Gel-Massen eine genaue Karte von Ryolanow, und mit
ihrer Hilfe ließ sich feststellen: Der abgeschirmte
Bereich betraf die Bucht unweit der Hauptstadt Ryolaler.
Vermutlich handelte es sich dabei um eben jenen
Strand, über den Neelix in seiner Morgensendung
geschwärmt hatte. Dieser Umstand verstärkte
B’Elannas Verwirrung. Warum sollten die Ryol einen
Strand vor Sondierungssignalen schützen, auf dem sich die Besatzungsmitglieder der Voyager vergnügten?
Torres hatte mehrere schlaflose Nächte mit dem
Versuch verbracht, Aufschluß darüber zu gewinnen.
Vielleicht rückten die Antworten nun in greifbare Nähe.
B’Elanna transferierte die Kontrolle der
Fernbereichsensoren zur wissenschaftlichen Konsole
und richtete die Ortungsinstrumente dann auf den
betreffenden Bereich des Planeten. Sie beschloß,
zunächst einen Scan mit niedriger Auflösung
durchzuführen – immerhin lag ihr nichts an subatomaren Analysen aller schwarzen Kügelchen am Strand.
Zuerst hielten die Ryol-Schilde der Sondierung stand.
Elektronische Statik verhinderte, daß exakte Daten
gewonnen werden konnten. Doch als Torres das
energetische Niveau der Sensoren erhöhte, gab die
Abschirmung schließlich nach. Die Schilde lösten sich ebenso schnell auf wie Papier im Phaserfeuer. Na endlich, triumphierte die Chefingenieurin und spürte jene wilde Freude, die ein Klingone beim Sieg über
einen besonders gehaßten Feind empfand. Sie
überkreuzte die Finger – ein alter terranischer Brauch, den sie von Ihrem Vater gelernt hatte – und hielt nach der unverkennbaren Ortungssignatur von
Dilithiumkristallen Ausschau.
Nichts dergleichen erschien auf den Displays.
Die Enttäuschung war fast überwältigend. Sie hatte sich solche Mühe gegeben – ohne ein konkretes Resultat!
Zorn brodelte in B’Elanna, und vor ihrem inneren Auge sah sie sich selbst, wie sie mit beiden Fäusten auf die Konsole einhämmerte.
Dann weckte etwas ihre Aufmerksamkeit.
Der Sensor für parametrische Subraumfeldbelastung
lieferte seltsame Anzeigen. Es handelte sich nicht um die Signatur, nach der B’Elanna suchte, aber sie
genügte, um das Interesse der Chefingenieurin zu
wecken. Was sollte eine derartige Subraum-Fluktuation auf dem Planeten verursachen? Sie aktivierte auch den Subraum-Scanner und verglich die von ihm ermittelten Daten mit denen des Sensors für gravimetrische
Verzerrungen. Faszinierend, dachte sie und vergaß die zuvor empfundene Mischung aus Ärger und
Enttäuschung. Es gab tatsächlich etwas auf dem
Planeten, und es blieb auf jenen kleinen Bereich
beschränkt. Kein Dilithium, von welcher Art auch immer, aber vielleicht… Ein jäher Adrenalinschub ließ B’Elanna erzittern, als sie über die Möglichkeiten nachdachte.
Könnte es… Antimaterie sein?
Aber was stellten die Ryol mit Antimaterie an, und
warum wurde sie nur in einer kleinen Region des
Planeten verwendet? Torres war jetzt sicher, das
Geheimnis der Ryol gefunden zu haben, aber sie wollte Captain Janeway erst darauf hinweisen, wenn sie
wußte, was es bedeutete. Viel eicht glaubte die
Kommandantin, daß sie wegen der Auseinandersetzung
im Nachtklub einen irrationalen Groll gegen die Ryol hegte. B’Elanna wollte einen klaren, objektiven und
unwiderlegbaren Bericht in Hinsicht auf den
verborgenen Vorrat an Antimaterie abliefern können.
Nur auf einer solchen Grundlage durfte sie darauf
hinweisen, daß die Ryol etwas verheimlichten. Das nächste Mal solltest du mir sofort sagen, was ich hören will, dachte sie mit einer Rachsucht, die dem Planeten galt.
»Sehen wir uns die Sache einmal näher an«, murmelte
B’Elanna und behielt die Displays im Auge, als sie den Zoom des passiven Neutrinoscanners auf die
entsprechende Region richtete. Eine Karte von
Ryolanow erschien auf dem Monitor, und ein blinkender blauer Punkt markierte den Ort der Subraumanomalien.
»Visuelle Darstellung«, sagte die Chefingenieurin, und ein weiteres Bild erschien in der unteren linken Ecke des Projektionsfelds. In dem Bildschirmfenster sah
B’Elanna an einen Strand rollende Wellen, und in der Ferne ragten die Spitzen von Pyramiden auf. In einem jener Gebäude befand sich der Nachtklub, wo es zu
dem Zwischenfall mit Nimdir gekommen war. Sie
verglich ihre Erinnerungen mit den Darstellungen des Computers: Die Subraum-Fluktuationen betrafen
tatsächlich die Bucht vor Ryolaler.
Unter dem Strand? fragte sich Torres verwundert. Sie konnte keine Gewißheit darüber erlangen, ob es sich
wirklich um Antimaterie handelte – das ließ sich aus dem hohen Orbit nicht ohne weiteres feststellen. Aber wenn die Fluktuationen wirklich auf Antimaterie
zurückgingen, so war es kein natürliches Phänomen.
Woraus sich die Frage ergab: Warum horteten die Ryol Antimaterie unter der Bucht? Und wenn es dort
irgendwo ein Materie-Antimaterie-Kraftwerk gab – wie brachten es die Ryol dann fertig, die erzeugte Energie ohne Dilithium zu kontrollieren und zu kanalisieren?
»Haben Sie etwas Interessantes entdeckt, B’Elanna?«
fragte Chakotay. Er kam näher und blickte der
Chefingenieurin über die Schulter. Die Strandszene im Bildschirmfenster überraschte ihn ganz offensichtlich.
»Vielleicht, Sir«, erwiderte sie. »Wenn auch kein
Dilithium. Aber es gibt einige seltsame Anzeigen, für die ich noch keine Erklärung habe.«
»Sollten wir den Captain darauf hinweisen?« fragte der Erste Offizier.
»Noch nicht, Sir«, sagte Torres. Eine reinblütige
Klingonin hätte nicht gezögert, voreilige Schlüsse zu ziehen, ungeachtet der Konsequenzen. B’Elanna war
stolz darauf, daß es ihr meistens gelang, ruhiger und rationaler zu sein. »Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald ich vom Planeten zurückgekehrt bin.«
Bisher war sie fest entschlossen gewesen, Ryolanow
keine weiteren Besuche abzustatten, doch plötzlich hielt sie den Strand für sehr interessant.
»Danke dafür, daß Sie bereit sind, mich sofort zu
untersuchen, Doktor«, sagte Harry Kim betont
freundlich. Kes vermutete, daß er damit sein unhöfliches Verhalten von neulich wiedergutmachen wollte. Der
Fähnrich saß auf dem Rand des Biobetts, während ihn
der holographische Arzt mit einem medizinischen
Tricorder sondierte. Kes stand in der Nähe und
beobachtete den Vorgang, doch in Gedanken
beschäftigte sie sich auch mit anderen Dingen. Ein
großer Teil ihrer Aufmerksamkeit galt nach wie vor den geistigen Schreien und der erstickenden Finsternis, die sie auf dem Planeten gespürt hatte. Handelte es sich dabei um die psychischen Überreste einer Katastrophe, zu der es vor langer Zeit gekommen war? Oder betrafen jene Wahrnehmungen eine aktuelle Gefahr? Wenn sie
doch nur mehr über ihre eigenen telepathischen
Fähigkeiten gewußt hätte!
»Ich habe jede Menge Zeit, Fähnrich«, erwiderte der
Doktor. »Abgesehen von einigen Sonnenbränden hat
mir unser Besuch bei den Ryol keine besonders
stimulierenden medizinischen Notfälle beschert. Da wir gerade dabei sind…« Er betrachtete Kims leicht
gebräuntes Gesicht. »Sie haben es doch nicht
versäumt, das Sonnenschutzmittel aus der Starfleet-
Standardausrüstung zu benutzen, oder?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Kim sofort. »Ich habe es jeden Tag verwendet.«
»Ausgezeichnet«, lobte der Holo-Arzt. »Und nun…
Welche Beschwerden haben Sie?«
Der Fähnrich zuckte kurz mit den Schultern. »Eigentlich weiß ich es nicht genau. Ich fühle mich einfach nur
müde und ausgelaugt.« Er hob die Hand vor den Mund
und gähnte. »Entschuldigen Sie bitte. Es fällt mir
schwer, wach zu bleiben.«
»Ich verstehe«, sagte der Doktor und betrachtete die Anzeigen des medizinischen Tricorders. »Nun, Ihr
Stoffwechsel ist ein wenig verlangsamt, und außerdem stelle ich eine geringfügige Anämie fest, aber ansonsten scheint mit Ihnen alles in bester Ordnung zu sein. Ich schätze, Sie haben während des Landurlaubs einfach
nur zuviel Aktivität entfaltet.«
Harry errötete. »Das ist ziemlich vorsichtig
ausgedrückt.«
Kes fragte sich, wieso der Fähnrich mit solcher
Verlegenheit reagierte.
Der Doktor rollte mit den Augen. »Um ganz ehrlich zu sein: Ich verstehe nicht, warum der Planet einen so
großen Reiz auf Sie alle ausübt. Sie sind nicht das erste Besatzungsmitglied, das bis zur Erschöpfung Urlaub
gemacht hat. Fähnrich Jourdan hat sich beim Tanzen
den Fuß verstaucht, aber am nächsten Tag lief sie
Wasserski. Gegen den ausdrücklichen Rat ihres Arztes, wie ich hinzufügen möchte.«
»Oh, Sie sollten Ryolanow einmal sehen!« schwärmte
Harry Kim. »Der herrliche Sonnenschein, die Wellen…«
Er unterbrach sich verlegen, als ihm klar wurde, was er sagte und mit wem er sprach. »Äh… bitte entschuldigen Sie, Doktor. Ich… äh… wollte nicht…«
Der Doktor winkte ab. »Sie brauchen nicht gleich zu
stammeln, Fähnrich. Als Hologramm bleibt mir gar
nichts anderes übrig, als mich auf Ihr Wort zu verlassen, wenn Sie mir die atemberaubenden Schönheiten des
ach so wundervollen Planeten beschreiben. Zum Glück
hat mich meine Programmierung nicht mit der gleichen Sensibilität fremden Landstrichen gegenüber
ausgestattet – bei organischen Geschöpfen wie Ihnen
scheint sie zumindest einen Teil der Rationalität zu verdrängen.«
Kes blieb skeptisch. Sie wußte, daß der Doktor seine physischen Beschränkungen – er konnte nur in einer
besonders ausgestatteten holographischen Umgebung
existieren – als erhebliche Belastung empfand. Eine
seiner größten Befürchtungen bestand darin, daß die
Crew eines Tages gezwungen sein mochte, die Voyager aufzugeben und ihn allein zurückzulassen.
»Was ist mit Ihnen?« wandte sich der Holo-Arzt an die Ocampa. »Sind Sie ebenfalls von dem planetaren
Paradies begeistert?«
Der Doktor schien ihre vagen Ängste in Hinsicht auf
Ryolanow vorübergehend vergessen zu haben. »Ich
weiß nicht«, antwortete Kes. »Die Welt scheint wirklich wundervoll zu sein.« Sie musterte Kim aufmerksamer.
Er wirkte tatsächlich ziemlich erschöpft – das
hohlwangige Gesicht brachte eine seltsame Art von
Müdigkeit zum Ausdruck, die jedoch nicht mit geistiger Apathie einherging. Sie erinnerte sich an die Worte des Doktors. Hatte sich Kim während des Landurlaubs
tatsächlich überanstrengt – oder geschah etwas
Schreckliches auf Ryolanow, etwas, das sie alle betraf?
Nein, dachte sie, das ist doch lächerlich. Kim hatte sich einfach zu sehr vergnügt, wie auch die anderen
Besatzungsmitglieder der Voyager. Kes schüttelte den Kopf und versuchte, die Besorgnis aus sich zu
verbannen. Es lag an den Stimmen. Die mentalen
Schreie veranlaßten sie, überall nach Entsetzlichem
Ausschau zu halten und ihren Instinkt in Frage zu
stellen. Inzwischen wußte sie gar nicht mehr, was sie eigentlich empfand.
Alle anderen freuen sich, überlegte sie. Warum muß ich dauernd zweifeln?
»Schon wieder ein Problem mit der Moral?« fragte
Janeway. Der Erste Offizier befand sich im
Bereitschaftsraum, um ein persönliches Gespräch mit
ihr zu führen. Er stand am Schreibtisch, während
Janeway die Zierpflanzen an der Tür begoß.
Glücklicherweise war es bisher nicht notwendig
gewesen, das Wasser an Bord der Voyager zu
rationieren – andernfalls wären die Pflanzen wohl kaum so grün gewesen.
»Ich verstehe das nicht«, fügte die Kommandantin
hinzu. »Ich dachte, Ryolanow sei die Lösung für unsere Probleme mit der Moral.«
»Das habe ich ebenfalls angenommen«, sagte
Chakotay. »Nun, die Stimmung bei der Crew hat sich
zweifellos verändert, aber vielleicht ergeben sich
dadurch auch Nachteile.«
»Wie meinen Sie das?« erkundigte sich Janeway. Sie
nahm am Schreibtisch Platz, und es fühlte sich gut an, die Beine zu entlasten. Den größten Teil der letzten Tage hatte sie damit verbracht, Varathael bei
irgendwelchen diplomatischen Anlässen Gesellschaft zu leisten. Manchmal gewann sie den Eindruck, alle Ryol auf dem Kontinent kennengelernt zu haben, doch immer wieder gab es neue Empfänge und
Begrüßungszeremonien. Aber wenn die Beziehungen
zwischen der Voyager und den Ryol verbessert werden konnten, und wenn sie damit den dringend benötigten
Landurlaub für die Crew gewährleistete… Unter solchen Umständen war Janeway bereit, auch weiterhin Hände
zu schütteln und Banketts zu besuchen. Allerdings:
Chakotays Ausführungen deuteten darauf hin, daß ihre Bemühungen umsonst waren, vielleicht sogar das
Gegenteil von dem bewirkten, was sie sich erhoffte.
Wirklich schade, daß Chakotay meistens weiß, wovon er redet.
Er erzählte ihr von seiner Konfrontation mit Susan
Tukwila auf der Brücke. »Unglücklicherweise ist das
kein Einzelfall«, fuhr er fort. »Es handelt sich nur um das extreme Beispiel für ein Syndrom, das sich offenbar bei vielen Besatzungsmitgliedern auswirkt. Ich habe mit
Tuvok gesprochen, bevor ich zu Ihnen gekommen bin,
und er wies auf folgendes hin: Die von verschiedenen Einsatzgruppen auf dem Planeten gesammelten
wissenschaftlichen Daten lassen es an Genauigkeit
mangeln. B’Elanna berichtet mehr Verstöße als sonst
gegen die Sicherheitsvorschriften im Maschinenraum,
und der Doktor meldet einen drastischen Anstieg von
Unfällen, die auf Achtlosigkeit zurückgehen, sowohl an Bord des Schiffes als auch auf Ryolanow.«
Der Erste Offizier legte eine kurze Pause ein, bevor er zusammenfaßte: »Einzeln betrachtet bedeuten die
Zwischenfälle nicht viel. Wenn man sie jedoch im
Zusammenhang sieht, läuft es auf einen Mangel an
Disziplin hinaus. Außerdem erreichen Müdigkeit und
Erschöpfung bei der Crew allmählich ein gefährliches Niveau.«
Ich selbst bin davon nicht ausgeschlossen, dachte Janeway. Alles in ihr sehnte sich nach einem
Nickerchen. Trotz einer zusätzlichen Tasse Kaffee an diesem Morgen fiel es ihr schwer, die Augen
offenzuhalten. Dies war mehr als jene Mattigkeit, die sie oft gegen Mittag verspürte. Sie fühlte sich regelrecht ausgepumpt.
»Wie ernst ist die Angelegenheit?« fragte sie.
»Befürchten Sie eine Situation in der Art von ›Meuterei auf der Bounty‹?«
»Da müssen Sie meinem Gedächtnis auf die Sprünge
helfen«, entgegnete Chakotay. »In der Entmilitarisierten Zone hatten wir kaum Gelegenheit, unsere
Geschichtskenntnisse aufzufrischen.«
»Die Bounty war ein britisches Segelschiff gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts«, erklärte Janeway. »Die Crew erlag dem exotischen Zauber von Tahiti. Als der Captain versuchte, die Disziplin wiederherzustellen und die Besatzung zur Rückkehr nach England zu zwingen,
meuterte die Crew und übernahm das Schiff.«
»Jetzt erinnere ich mich wieder«, sagte Chakotay.
»Während meiner Zeit an der Akademie habe ich an
einer holographischen Version jener Geschichte
teilgenommen.«
»Hoffentlich sind Sie dabei nicht in die Rolle von
Fletcher Christian geschlüpft«, kommentierte Janeway und entsann sich an den Ersten Offizier der Bounty, der die Meuterer angeführt hatte.
»Nein«, erwiderte Chakotay und lächelte.
»Gut. Mir liegt nichts daran, Captain Blight
darzustellen.« Janeway holte tief Luft und fragte in einem ernsteren Tonfall: »Wie schlimm ist es?«
Chakotay zögerte, bevor er antwortete. »Ich weiß es
nicht. Ich fürchte keine Meuterei in dem Sinne. Unsere Crew hat zuviel gemeinsam erlebt und durchgestanden, als daß es zu einem derartigen Konflikt kommen könnte.
Andererseits besteht meiner Ansicht nach kein Zweifel daran, daß zu aktiv verbrachter Landurlaub auf
Ryolanow negative Folgen auf die Fähigkeit der
Besatzungsmitglieder hat, ihre Pflicht zu erfüllen. Ihnen das zu verschweigen, würde für mich bedeuten, meiner eigenen Verantwortung nicht gerecht zu werden.«
»Ich weiß es sehr zu schätzen, daß Sie mich darauf
hinweisen«, erwiderte Janeway. »Nun, wir sollten
berücksichtigen, daß wir nicht zum erstenmal in einem freundlichen Hafen vor Anker gehen. Erinnern Sie sich an die Sikarianer? Von den 37ern ganz zu schweigen.«
Sie dachte an die blühende, von Amelia Earhart und
anderen Menschen aus dem Alpha-Quadranten
gegründete Kolonie. Dort war die Voyager in große Versuchung geraten, zu bleiben und die lange Reise
zurück zur Föderation aufzugeben. »Letztendlich ist es der Crew immer gelungen, an der Entschlossenheit zur Heimkehr festzuhalten.«
Janeway blickte aus dem Fenster hinterm Schreibtisch und beobachtete die Sterne. Irgendwo dort draußen
befand sich die Erde, doch ihre Sonne war viel zu weit entfernt, um mit bloßem Auge sichtbar zu sein. Die
Kommandantin der Voyager fragte sich, ob sie ihre Heimatwelt jemals wiedersehen würde.
»Während der letzten Jahre waren die
Besatzungsmitglieder erheblichem Druck ausgesetzt«,
sagte sie. »Ich schätze, sie haben eine Gelegenheit
verdient, etwas Dampf abzulassen.«
»Solange es nur dabei bleibt«, meinte Chakotay. »Ich möchte nicht den Teufel an die Wand malen – für
gewöhnlich übernimmt das Tuvok. Aber es gibt da noch etwas anderes, über das Sie Bescheid wissen sollten.«
»Was denn?« fragte Janeway, wandte sich vom Fenster
ab und ignorierte den kleinen Seitenhieb auf den
Vulkanier. Sie wußte, daß es zwischen Chakotay und
Tuvok häufige Reibereien gab. Und sie wußte auch, daß beide Männer trotzdem immer ihre Pflicht erfüllten. Was besorgte den Ersten Offizier jetzt? Was auch immer es sein mochte – ganz offensichtlich bereitete es Chakotay Unbehagen, darüber zu reden.
»Ich habe versucht, Kontakt mit meinem Seelenfreund
herzustellen«, begann er, beschrieb die Erlebnisse in der geistigen Welt und ging auch auf die böse, tierische Präsenz ein, die ihn angegriffen und ihm das Herz aus der Brust gerissen hatte. »Ich weiß nicht, was diese Visionen bedeuten. Aber die Geister scheinen bestrebt zu sein, mich vor etwas zu warnen.«
»Ich verstehe«, sagte Janeway und fragte sich, was sie von Chakotays Erfahrung halten sollte. Als
Wissenschaftlerin stand sie Mystizismus ablehnend
gegenüber und zog Daten vor, die auf einer objektiven Analyse der physischen Welt basierten. Andererseits
mußte sie einräumen, daß viele hochentwickelte
Kulturen, zum Beispiel die Vulkanier und Bajoraner,
großes Vertrauen in außersinnliche Wahrnehmung
setzten. Sie hatte zu viele Jahre mit Tuvok
zusammengearbeitet, um seine mentalen Fähigkeiten
nicht zu respektieren, und von Chakotay war sie ihrem eigenen Seelenfreund vorgestellt worden. Doch jene
Gefahr, die der Erste Offizier erwähnte: War sie allein geistiger Natur, oder steckte Konkretes dahinter? Wo es Rauch gibt, könnte ein Feuer brennen, dachte Janeway.
Aber was für eine Art von Feuer?
Neue Müdigkeit erfaßte sie. Es gab zu viele Sorgen und zu wenige Stunden am Tag. Fünfundsiebzig Jahre bis nach Hause, dachte sie. Manchmal glaubte sie, von dieser enormen Bürde regelrecht zerquetscht zu
werden. Janeway begriff, daß sie erst dann wirkliche Ruhe finden konnte, wenn sie die Crew sicher
heimgebracht hatte. Aber jener Tag lag noch weit in der Zukunft…
»Captain?« fragte Chakotay. Ein oder zwei Sekunden
lang hatte Janeway vergessen, daß er sich ebenfalls im Bereitschaftsraum befand. »Ist alles in Ordnung mit
Ihnen?«
»Ja«, sagte die Kommandantin und versuchte, ein
sonderbares Unwohlsein aus sich zu verbannen. »Ich
habe nur ein wenig die Gedanken treiben lassen.« Sie lächelte schief. »Vielleicht erging es Fähnrich Tukwila und den anderen ähnlich.«
Sie beugte sich vor und stützte beide Ellenbogen auf den Schreibtisch. »Vielen Dank für Ihren Hinweis,
Commander. Zuviel Landurlaub kann schädlich sein.
Allerdings ziehe ich es derzeit vor, die weitere
Entwicklung der Dinge abzuwarten. Die Crew scheint
großen Gefallen an dieser Ablenkung von unserer
langen Heimreise zu finden. Ich möchte unbedingt
vermeiden, zu heftig zu reagieren und den
Besatzungsmitgliedern die Ferien zu verderben.
Darüber hinaus sollten wir uns davor hüten, die Ryol zu verärgern. Wir können ihnen wohl kaum vorwerfen, mit ihrer Großzügigkeit die Disziplin der Crew zu gefährden.
Wie dem auch sei: Wir beide sollten alles genau im
Auge behalten.«
»Der Meinung bin ich auch«, pflichtete Chakotay
Janeway bei. »Ich wollte nur Ihre Aufmerksamkeit auf das Problem richten.« Er stand auf und ging zum
Ausgang. Als sich die Tür vor ihm öffnete, drehte er sich noch einmal um. »Ist wirklich alles in Ordnung mit Ihnen, Captain? Nichts für ungut, aber eben wirkten Sie wie weggetreten.«
Janeway lächelte und zuckte mit den Schultern. »Danke der Nachfrage, aber um mich brauchen Sie sich keine
Sorgen zu machen. Ich bin einfach nur müde.«
Sehr müde, fügte sie in Gedanken hinzu.
IX.
Ob Antimaterie oder nicht – gewisse Arbeiten konnten nicht aufgeschoben werden. Die Starfleet-Vorschriften verlangten regelmäßige Überprüfungen des
Impulstriebwerks, und B’Elanna Torres wollte sich von ihrer Neugier nicht dazu verleiten lassen, die Wartung wichtiger Aggregate zu vernachlässigen. Sie war
entschlossen, auch weiterhin allen Pflichten des
Chefingenieurs nachzukommen. Ryolanow und der
geheimnisvolle Strand mußten warten.
Torres stand auf einem metallgrauen Laufsteg über den Fusionsreaktoren im Steuerbordbereich des
Maschinenraums und blickte auf drei Kugeln hinab, die etwa sechs Meter durchmaßen und miteinander
verbunden waren. Sie bestanden aus jeweils acht
isolierenden Schichten Hafniumexzellinid, und in ihrem Innern fand eine gewöhnliche Proton-Proton-Fusion
statt. Wie üblich hoffte Torres, daß sie bei der Kontrolle keine Defekte entdeckte, die sie nicht reparieren konnte.
Eigentlich sollten derartige Impulsreaktionskammern
jeweils nach 8500 Flugstunden komplett ausgetauscht
werden, und für eine solche Maßnahme waren
normalerweise die Ressourcen einer Starbase
erforderlich. Doch die nächsten Raumbasen der
Föderation waren Tausende von Lichtjahren entfernt,
und das bedeutete für B’Elanna: Sie mußte das
Impulstriebwerk so gut pflegen wie es ging – und konnte nur hoffen, daß es durchhielt.
Sie beobachtete, wie Fähnrich Erin Jourdan in die
vordere Kugel kletterte, um an der Innenseite nach
feinen Rissen und anderen Abnutzungserscheinungen
Ausschau zu halten. Die blonde Jourdan kam frisch von der Starfleet-Akademie, und Torres stellte fest, daß sie ein wenig hinkte – bei einem Unfall auf dem Planeten hatte sich Erin den Fuß verstaucht.
Während Jourdan die Impulsreaktionskammer von
innen untersuchte, prüfte Torres die Anzeigen des
schiffsinternen Überwachungssystems. Der IRK-
Befehlskoordinator führte eine Systemdiagnose auf dem dritten Kommandoniveau durch, als B’Elanna einen
dumpfen Schrei aus der ersten Reaktionskammer hörte.
»Erin?« fragte sie.
Der Schrei wiederholte sich, lauter, kündete von Furcht und Schmerz. Ein jäher Adrenalinschub erfaßte Torres.
Sie ließ ihren elektronischen Datenblock fallen, sprang vom Laufsteg und landete auf der ersten Kugel – das
laute Pochen ihrer Stiefel übertönte fast die Schreie.
Was ist passiert? fragte sich die Chefingenieurin. Hatte irgendein Idiot die Fusionsreaktion initiiert, während sich Jourdan im Innern der IRK befand? Nein, fügte B’Elanna in Gedanken hinzu. In dem Fall wäre Erin sofort
verbrannt und hätte keine Gelegenheit erhalten, einen Schrei von sich zu geben.
Torres öffnete die Luke, blickte ins Innere der Kammer und erfaßte die Situation auf einen Blick.
Fähnrich Jourdan lag am Boden der Kugel und hielt ein Bein umklammert. An der gewölbten Innenseite der
Reaktionskammer zeigte sich ein weißer,
porzellanartiger Glanz, der auf kristallisiertes
Guliumfluorid zurückging, wie Torres wußte. Aus einer Öffnung wenige Zentimeter über Jourdans Kopf strömte zähe Flüssigkeit und dampfte, wo sie den Körper der
Frau berührte. Es handelte sich um reines Deuterium, bis auf vierzehn Grad Kelvin abgekühlt. Jourdan lag in einer allmählich größer werdenden Lache, zuckte
gelegentlich und schrie.
»Verdammt!« knurrte Torres. Irgend jemand hatte
vergessen, rechtzeitig vor der heutigen Inspektion die Treibstoff-Einlaßrohre zu entleeren. B’Elanna stellte sich vor, wie eine nichtsahnende Jourdan die Klappe öffnete, wodurch das Deuterium in die Kammer strömte und
einen Teil ihres Körpers praktisch sofort gefrieren ließ.
»Halten Sie durch!« rief die Chefingenieurin und
kletterte die mobile Leiter hinab, die Jourdan an einer Seite der Kammer befestigt hatte. Sie versuchte, dem spritzenden Deuterium nicht zu nahe zu kommen.
Eiskalter Dunst verdichtete sich in der
Reaktionskammer, nahm B’Elanna Sicht und Kraft.
»Greifen Sie nach meiner Hand!« rief sie Erin zu und streckte den Arm aus, während sie sich gleichzeitig an der Leiter festhielt.
»Unmöglich!« erwiderte Jourdan. »Ich kann die Beine
nicht bewegen.« Die Lache wurde immer größer und
tiefer, tastete nach Erins Kopf. »O Gott, bitte helfen Sie mir! Es ist so schrecklich kalt!«
»Ich versuche es.« Torres kletterte noch etwas tiefer und streckte den Arm so weit wie möglich. Einige
Spritzer trafen sie, und B’Elanna mußte die Zähne
zusammenbeißen, um nicht ebenfalls zu schreien. Das
Deuterium war so kalt, daß es auf der Haut zu brennen schien.
Durch den wogenden Dunst konnte sie Jourdan kaum
mehr erkennen. Ihre Finger tasteten nach der
schreienden Frau, berührten jedoch nur kalte
Nebelschwaden.
»Sie müssen sich mir ein wenig nähern!« rief B’Elanna.
»Ergreifen Sie meine Hand!«
Sie hörte ein Plätschern, spürte dann eine Berührung.
Jourdans Finger fühlten sich wie Eis an. Sie waren kalt und spröde, knackten hörbar, als B’Elanna zudrückte.
Sie drohten fortzurutschen, und Torres griff noch fester zu, zog und achtete darauf, nicht den Halt an der Leiter zu verlieren. Jourdan hatte längst alle Kraft verloren und konnte die Bemühungen der Chefingenieurin nicht
unterstützen. Wenigstens dieses eine Mal war B’Elanna dankbar für die klingonische Hälfte ihres Wesens, denn dadurch war sie kräftiger. Eine gewöhnliche
menschliche Frau wäre gewiß nicht imstande gewesen,
Jourdan aus der Impulsreaktionskammer zu ziehen.
Erst als sie die Kugel verlassen hatten und neben der geschlossenen Luke lagen, nahm sich Torres Zeit, die eigenen Wunden zu betrachten. Erfrierungen zeigten
sich an ihrem rechten Arm – die sichtbare Haut war
bläulich verfärbt und völlig gefühllos.
Mit der linken Hand klopfte B’Elanna auf ihren
Insignienkommunikator. »Hier Torres«, sagte sie und
atmete schwer. »Interner Transfer. Zwei Personen zur Krankenstation.«
Welcher verdammte Narr hat vergessen, die Treibstoff-Einlaßrohre zu leeren? dachte sie. Wenn ich ihn erwische, kann er was erleben…
Die Sonne schien, ein kühlender Wind wehte, und von
Laazia fehlte jede Spur. Tom Paris glaubte, mit sich und der Welt zufrieden sein zu können. Natürlich hatte er nichts gegen die Gesellschaft der Tochter des Ältesten einzuwenden, aber so reizvoll Laazia auch sein mochte: Er wollte keinen Ärger mit Naxor oder Captain Janeway.
Derzeit begnügte er sich damit, ein Sonnenbad am
Strand zu nehmen, neben seinem Freund Harry Kim.
»Das Leben kann nicht viel besser werden«, sagte er.
»Stimmt’s, Harry? Harry?«
Die Antwort des Fähnrichs bestand aus einem leisen
Schnarchen. Paris schmunzelte. Er konnte es Kim kaum verdenken. Ryolanow schien bestens dafür geeignet zu sein, sich zu entspannen und ein Nickerchen zu
machen. Wirklich schade, daß dieser Planet so weit abgelegen ist, dachte er. Die Ryol hätten ein Vermögen mit dem Tourismus verdienen können. Es war ihm
gleich, was die Anbieter von holographischen
Projektionszimmern behaupteten – für Tom Paris blieb die Realität unschlagbar.
Derzeit hatten sie dieses Paradies praktisch für sich allein. Auf dem Strand unweit der Stadt leisteten
zweifellos Dutzende von Besatzungsmitgliedern der
Voyager den Ryol Gesellschaft. Aber Paris und Kim wollten Schwierigkeiten aus dem Weg gehen, und
deshalb waren sie am Ufer entlanggewandert, bis die
anderen Badenden und Sonnenanbeter außer Sicht
gerieten. Dünen aus körnigem schwarzen Sand und
smaragdgrüne Büsche verwehrten den Blick auf die
Ryol-Stadt und ihre vielen Möglichkeiten, ins
Fettnäpfchen zu treten.
Hier sind wir besser dran, dachte Paris. Hier ist alles ruhig und friedlich.
Er rollte sich auf den Rücken. Einer der besonders
angenehmen Aspekte des Strands bestand darin, daß
die glatten schwarzen Körner nicht wie gewöhnlicher
Sand an der Haut festklebten. Deshalb brauchte man
keine Handtücher. Die winzigen Kugeln glitten hin und her, paßten sich den Konturen des Körpers an.
Paris blinzelte im hellen Schein der scharlachroten
Sonne.
»Tom! Harry!«
Der Navigator hob die Hand, um sich die Augen
abzuschirmen. Zwei Personen näherten sich. Bei einer von ihnen handelte es sich zweifellos um eine Frau, und ein oder zwei Sekunden lang befürchtete Paris eine
neuerliche Begegnung mit Laazia. Dann bemerkte er
langes schwarzes Haar, das nicht mit dem goldgelben
Flaum der Tochter des Ältesten verwechselt werden
konnte.
Er erkannte die Frau als Susan Tukwila. Und sie trug keine Uniform.
Ein dürrer Neffaler folgte ihr und trug einen großen Korb. Im pelzigen Gesicht des kleinen Wesens deutete etwas auf Erschöpfung hin – der Korb schien recht
schwer zu sein. Wie dem auch sei: Paris bedachte den Neffaler nur mit einem flüchtigen Blick. Seine Interesse galt Tukwila, und er riß die Augen auf, als sie näher kam.
Mit dem Ellenbogen stieß er Kim an. »Wachen Sie auf, Harry«, hauchte er. »Dies wollen Sie bestimmt nicht
verpassen.«
»Was?« fragte Kim schläfrig und setzte sich auf.
»Warum haben Sie mich geweckt? Ich hatte einen
wundervollen Traum.«
»Sehen Sie mal dorthin«, sagte Paris.
Kim kam der Aufforderung nach. »Lieber Himmel«,
brachte er hervor. »Vielleicht haben Sie mich gar nicht geweckt. Vielleicht träume ich noch immer.«
Das Objekt ihrer verblüfften Aufmerksamkeit
schlenderte über den Strand und ließ sich zwischen den beiden Männern auf den schwarzen Sand sinken. Paris
glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. Harry
und er trugen ganz gewöhnliche Badehosen, aber
Tukwila hatte sich nach Art der Einheimischen gekleidet: Eine bestickte Weste und ein knapper Lendenschurz
bedeckten ihren Leib nicht in dem Sinne, sondern
brachten ihn besonders zur Geltung. Paris meinte, daß Tukwila nie besser ausgesehen hatte.
»Wollen Sie zu einer Einheimischen werden?« fragte er die junge Frau. Der Neffaler schloß zu Tukwila auf und stellte den schweren Picknickkorb im Sand hinter den drei Menschen ab. Dann duckte er sich in den Schatten des großen Korbs, um ein wenig auszuruhen.
»Warum auch nicht?« erwiderte Susan Tukwila. Es
klang fast zornig und herausfordernd. »Alles ist besser als sich mit dem humorlosen Paragraphenreiter namens Chakotay herumplagen zu müssen. Er steckt so sehr in dem Starfleet-über-alles-Mist fest, daß man kaum
glauben kann, daß er einmal zum Maquis gehörte.«
»He!« protestierte Kim und wandte den Blick von
Tukwilas Kurven ab. »Mit Starfleet ist alles in Ordnung.«
Paris erinnerte sich daran, daß Kim als einziger
Teilnehmer an dieser kleinen Strandparty – sah man
einmal vom Neffaler ab – nie Mitglied des Maquis
gewesen war.
»Nichts für ungut, Harry«, sagte Tukwila. »Ich sehe nur keinen Sinn darin, auch weiterhin so zu tun, als seien wir auf einer offiziellen Mission oder so. Wir sollten uns endlich damit abfinden, daß wir den Alpha-Quadranten nie wiedersehen werden.« Sie streckte sich auf dem
glänzenden schwarzen Sand aus und hob einen
bronzefarbenen Arm, um die Augen vor der Sonne
abzuschirmen. Dann schnippte sie mit den Fingern,
woraufhin der Neffaler dem Korb eine purpurne, saftige Fruchtscheibe entnahm. »Offen gestanden: Meiner
Ansicht nach sollten wir dem Schicksal dafür danken, daß wir ein Paradies wie Ryolanow gefunden haben,
während wir noch jung genug sind, um es zu
genießen.«
Paris konnte Tukwilas Gefühle in Hinsicht auf Chakotay in gewisser Weise nachempfinden. Er hatte mehr als
nur eine Konfrontation mit dem strengen Ersten Offizier der Voyager hinter sich. Trotzdem beunruhigte es ihn, in welche Richtung solche Gedanken zielten. »Wollen Sie wirklich auf das hinaus, was ich glaube?« fragte er.
»Auf die Idee hierzubleiben?« erwiderte Tukwila kühn.
»Genau das meine ich.« Sie biß von der Fruchtscheibe ab und stemmte sich auf den Ellenbogen hoch, damit
sie sowohl Paris als auch Kim in die Augen sehen
konnte. »Denken Sie mal darüber nach. Warum sollten
wir unser Leben riskieren und alt werden, um zur
Föderation zurückzukehren, obgleich wir hier alles
bekommen, was wir uns wünschen?«
»Aber wir müssen heimkehren«, betonte der entsetzt wirkende Kim.
»Warum?« fragte Tukwila. Violetter Saft rann an ihrem Kinn entlang und tropfte auf die Brust. »Ihr Starfleet-Typen habt vielleicht Familien und Karrieren, aber wir Maquisarden müssen damit rechnen, daheim vor
Gericht gestellt und verurteilt zu werden. Tut mir leid, aber es reizt mich nicht sonderlich, fünfundsiebzig Jahre im All zu verbringen, um am Ende der langen Reise
verhaftet zu werden. Vorausgesetzt natürlich, daß es den Kazon nicht doch noch gelingt, die Voyager zu zerstören und uns alle ins Jenseits zu schicken. Oder daß wir nicht zu lebenden Ersatzteillagern der Vidiianer werden.«
Der Neffaler blieb in Tukwilas Nähe und rang besorgt die Hände. Die junge Frau streckte den Arm aus und
strich über die roten Borsten auf dem Kopf. »Niedlicher kleiner Kerl, nicht wahr? Scheint allerdings ein wenig nervös zu sein. Vermutlich hat er sich noch nicht an Menschen gewöhnt.« Sie sah zum Korb. »Möchten Sie
was zu knabbern?«
»Gern«, sagte Kim. Paris nickte ebenfalls und
beobachtete, wie das kleine, pelzige Geschöpf weitere Fruchtscheiben hervorholte. Tom nahm eine entgegen
und biß hinein – der Geschmack erwies sich als
köstlich, gleichzeitig süß und sauer. Wie eine Mischung aus Blaubeeren und Wassermelone, dachte er Daran könnte ich mich gewöhnen. Die Frucht schmeckte auf jeden Fall besser als die angeblichen Leckerbissen aus Neelix’ Küche.
»Großartig, nicht wahr?« Tukwila lächelte mit purpurn verfärbten Lippen. »Die Ryol nennen es Sotul. Ein weiterer Grund hierzubleiben, wenn Sie mich fragen.«
»Was ist mit dem Kampf gegen die Cardassianer?«
fragte Paris. »Ich dachte immer, daß es dem Maquis vor allem darum geht.« Seine eigenen Empfindungen waren
in dieser Hinsicht nicht besonders ausgeprägt. Im
Gegensatz zu Chakotay und den anderen hatte er sich
dem Maquis eigentlich nur deshalb angeschlossen, weil es für ihn nichts Besseres zu tun gab. Es interessierte ihn zu erfahren, auf welche Weise Tukwila einen
Schlußstrich unter dieses Kapitel ihres Lebens ziehen wollte.
Kummer veränderte den Gesichtsausdruck der jungen
Frau, und Schmerz erklang in ihrer Stimme. »Diese
Sache habe ich keineswegs vergessen. Ich würde alles geben, selbst das hier…« Sie vollführte eine Geste, die dem Strand, den sanft rollenden Wellen und dem
wolkenlosen Himmel galt. »… wenn ich dadurch einen
Unterschied bewirken könnte. Aber ich muß mich auch
den Fakten unserer Situation stellen. Wenn die Voyager den Alpha-Quadranten erreicht, dürfte der Konflikt in der Entmilitarisieren Zone vorüber sein, so oder so. Ob es mir gefällt oder nicht: Jener Kampf wird ohne mich
entschieden. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mein Leben fortzusetzen.«
»Was für Sie bedeutet, auf Ryolanow zu bleiben?«
fragte Kim. Die Anspannung in seiner Stimme
erschreckte den Neffaler, der in den Schutz des
Picknickkorbs zurückwich. Der Fähnrich reagierte ein wenig zu heftig, fand Paris. Lag es daran, daß selbst Harry, der sich immer nach der Familie und seiner
Verlobten auf der Erde sehnte, Ryolanow verlockender fand, als er zugab? Diese Vorstellung erfüllte den
Navigator mit Unbehagen.
»Vielleicht«, räumte Tukwila ein. »Und nicht nur ich fühle auf diese Weise.« Sie bedachte Kim mit einem
durchdringenden Blick. »Fünfundsiebzig Jahre sind viel Zeit, Harry. Wollen Sie sie wirklich an Bord eines
Raumschiffs verbringen?«
»Ja!« beharrte Kim. »Ich meine, nein, natürlich nicht.
Vielleicht finden wir ein Wurmloch oder so.
Möglicherweise gelingt es uns, einen Kontakt zur
Beschützerin herzustellen – sie könnte uns morgen
nach Hause schicken. Oder wir begegnen einer anderen hochentwickelten Entität, zum Beispiel jemandem aus
dem Q-Kontinuum. Es gibt Abkürzungen durch Zeit und
Raum, ganz bestimmt. Und wir können sie nur
entdecken, wenn wir den Flug fortsetzen.«
»Sie scheinen es nicht sehr eilig zu haben, diesen Ort zu verlassen«, spottete Tukwila. Sie zog kurz am
Gummiband von Kims Badehose, und als sie es wieder
losließ, klatschte es gegen die sonnengebräunte Haut.
»Es gibt einen Unterschied zwischen Landurlaub und
Desertion«, erwiderte Kim. Er rutschte über den
schwarzen Sand, bis ihn Tukwilas Finger nicht mehr
erreichen konnten. »Wir brauchen die Abkürzung nicht sofort zu finden.«
»Vielleicht finden wir sie nie.« Die junge Frau warf ihm eine zweite Sotul-Scheibe zu. »Es gibt auch einen Unterschied zwischen Wunschdenken und einem
echten Plan. Was mich betrifft: Ich habe keine Lust, mein ganzes Leben jener geringen Chance
anzuvertrauen, daß wir tatsächlich einen kürzeren
Heimweg finden. Wie lange sind Sie bereit, auf ein
Wunder zu hoffen, Harry?«
Kim erweckte den Eindruck, daß ihm allmählich die
Argumente ausgingen. »Ich weiß es nicht«, entgegnete er leise. »Lange genug, nehme ich an.« Er sah zu Paris und erhoffte sich offenbar Unterstützung von ihm.
Tut mir leid, dachte Tom. Ich kann ihr kaum etwas entgegensetzen.
Er wußte nicht, wessen Standpunkt er bei dieser
besonderen Debatte teilen sollte. Vor einigen Jahren hätten sich überhaupt keine Zweifel eingestellt: Er wäre sofort bereit gewesen, sich auf einem so wundervollen Planeten wie Ryolanow niederzulassen, um mit einem
rein hedonistisch ausgerichteten Leben vor dem
eigenen Versagen und den viel zu hohen Erwartungen
seines Vaters zu fliehen. Er wußte, wie schwer es sein konnte, die eigenen Fehler wiedergutzumachen, doch er fragte sich auch: War er wirklich bereit, seine zweite Chance für dieses Paradies aufzugeben?
»An Ihrer Stelle würde ich keine voreiligen
Entscheidungen treffen«, riet er Tukwila und staunte dabei über seine eigenen Worte. Hör nur, wer da
spricht, dachte er. Solche Weisheiten kommen ausgerechnet von jemandem, der immer impulsiv
handelte. »Ryolanow ist eine schöne Welt und eignet sich bestens für einen Besuch, zugegeben, aber man
sollte alles in Erwägung ziehen.«
»Zum Beispiel?« fragte Tukwila, rollte auf die Seite und sah Paris an. Die glatten Körner des schwarzen Sands gerieten in Bewegung und paßten sich ihr an.
»Nun, da wäre zum Beispiel… Ich meine, wir dürfen
doch nicht vergessen, daß wir… Äh… der Captain
würde sicher…« Paris sah sich außerstande, den Fall
Voyager gegen Ryolanow zu vertreten. Während er noch fieberhaft nach einem Argument für das baldige
Verlassen des Planeten suchte, fiel plötzlich ein
Schatten auf ihn und hielt den warmen Sonnenschein
fern. Er hob den Blick und sah den besten Grund dafür, den Flug mit der Voyager so rasch wie möglich fortzusetzen.
Naxor.
»Es überrascht mich, daß Sie die Frechheit haben, noch einmal hierherzukommen«, sagte der feindselige Ryol.
»Nach Ihrem feigen Verhalten im Nachtklub sollte man meinen, daß Sie sich nie wieder auf diese Welt wagen.«
Die Lippen verzogen sich zu einem verächtlichen
Lächeln, und dadurch trat die Narbe besonders deutlich hervor Wie zum Teufel hat er mich gefunden? dachte Paris. Der Kerl ist hartnäckiger als ein Bluthund.
Naxor war nicht allein – drei weitere männliche Ryol leisteten ihm Gesellschaft. Sie trugen typische
Strandkleidung, schienen jedoch kein Bad im Meer im
Sinn zu haben. Das sieht ziemlich schlimm aus, dachte Paris. Den Phaser hatte er in seinem Quartier an Bord der
Voyager zurückgelassen, und der
Insignienkommunikator befand sich in der
Umkleidekabine am anderen Ende des Strands. Bei
Harry und Susan sah die Sache sicher ähnlich aus. Mit anderen Worten: Sie waren unbewaffnet und noch dazu
in der Minderzahl. Der einzige positive Situationsaspekt schien darin zu bestehen, daß auch die Ryol keine
Waffen bei sich trugen.
»Sie können offenbar nur dann mutig sein, wenn Sie
Freunde dabei haben«, sagte Paris und stand langsam
auf. Kim und Tukwila erhoben sich ebenfalls. Aus dem Augenwinkel sah Tom, wie der Neffaler über den
obsidianschwarzen Strand davoneilte – den
Picknickkorb schien er völlig vergessen zu haben.
Kluges Kerlchen, dachte Paris. »Aber ich schätze, Sie geben nicht viel auf Fairneß und dergleichen, oder?«
»Nein«, erwiderte Naxor kühl. Er trat auf Paris zu und ballte dabei die Fäuste. Die Pupillen seiner
malachitgrünen Augen schrumpften, bis sie nur noch
kleine Punkte waren.
»Immer mit der Ruhe«, ließ sich Kim vernehmen. »Es
besteht kein Anlaß für einen Kampf.«
»Das stimmt«, pflichtete ihm Tukwila bei. »Der Tag ist viel zu schön, um ihn mit gebrochenen Nasen und
aufgeplatzten Lippen zu verderben.«
Die Ryol-Männer achteten nicht auf den Versuch der
Menschen, den Frieden zu wahren. Sie kicherten, und in Naxors Augen blitzte Haß, als er Tom Paris anstarrte.
Danke für eure Schlichtungsbemühungen, teilte der Navigator seinen Begleitern in Gedanken mit. Aber ich fürchte, sie nützen nicht viel.
Paris spürte eine seltsame Erleichterung, als er sich innerlich auf das Unvermeidliche vorbereitete. Er hatte die Arroganz dieses eingebildeten Ryol sofort nach
seiner Ankunft auf Ryolanow zu spüren bekommen, und
er wollte ihm nicht länger aus dem Weg gehen. Bringen wir die Sache hinter uns, dachte er und grinste süffisant, um Naxor zum Angriff herauszufordern.
Der Ryol knurrte wie ein wütender Wolf und streckte
beide Hände nach der Kehle des Menschen aus. Paris
stieß die Arme einfach beiseite und trat gleichzeitig nach der ungeschützten Kniescheibe des Aggressors. Sein
bloßer Fuß traf das Ziel – Naxor taumelte und heulte voller Schmerz, griff nach seinem verletzten Knie. Die anderen Ryol sprangen vor, wurden jedoch sofort von
Kim und Tukwila in Empfang genommen, die
Verteidigungspositionen links und rechts von Paris
bezogen.
Trotz der vorherigen Meinungsverschiedenheiten
arbeitete das Trio von der Voyager perfekt zusammen.
Tukwila setzte einen Ryol mit einem Handkantenschlag an den Hals außer Gefecht. Er fiel, und das Gesicht
klatschte in den mit Sotul-Scheiben gefüllten Korb. Kim rang mit einem anderen Angreifer, und nach einigen
vergeblichen Versuchen gelang es ihm, den Arm des
Ryol-Mannes auf den Rücken zu drehen. Adern und
Sehnen traten deutlich am Hals des Ryol hervor, als er zornig fauchte – es klang erstaunlich wild. Kim brauchte seine ganze Kraft, um den Gegner festzuhalten.
Damit blieb ein weiterer Ryol für Paris übrig, Naxor nicht mitgezählt, der zusammengekrümmt auf dem
schwarzen Boden hockte und sich das verletzte Knie
hielt. Der letzte Ryol stürmte an Naxor vorbei, und seine goldene Mähne wehte dabei wie ein Banner. Paris
wollte ihm die Faust ans Kinn schmettern, aber der
Mann erwies sich als bemerkenswert agil. Er duckte
sich unter dem Hieb hinweg und prallte gegen Paris.
Schwarzer Sand wurde aufgewirbelt, als Paris auf dem Rücken landete. Der Ryol stürzte sich auf ihn, und seine spitzen Fingernägel bohrten sich in die Schultern des Menschen. Weiße Zähne schnappten nach Paris’
Gesicht und Kehle.
Versucht er wirklich, mich zu beißen? überlegte Tom. Er legte keinen Wert darauf, es herauszufinden. Seine
Hände griffen nach Stirn und Kinn des Ryol, und dann streckte er die Arme, schob das haßerfüllte Gesicht
möglichst weit fort. Allerdings… Der Gegner des
Navigators befand sich in der besseren Position und
hatte die Gravitation auf seiner Seite. Kopf und
Schultern stemmten sich Paris entgegen, und die
knirschenden Zähne kamen immer näher, bis sie nur
noch wenige Zentimeter von der Kehle des Starfleet-
Offiziers trennten. Das wütende Knurren des Ryol-
Mannes hallte laut in Paris’ Ohren wider. Es erinnerte ihn an den Hund, der ihn in der Raumstation des
Beschützers angegriffen hatte.
»He!« wandte er sich an den Ryol. »Wir wollen es doch nicht übertreiben, oder?«
Der Ryol fauchte einmal mehr, und seine Zähne kamen
dem Hals des Menschen noch etwas näher. Paris
spürte den heißen Atem seines Gegners auf der Haut.
»Tom!« rief Susan Tukwila. »Hierher!«
Paris wandte den Blick kurz von seinem Kontrahenten
ab und sah zur jungen Frau. Sie war lobenswert schnell mit ihrem eigenen Gegner fertig geworden. Tom
beobachtete, wie der gestürzte Ryol einen halbherzigen Versuch unternahm, sich aus den Resten des
zerbrochenen Picknickkorbs zu erheben, doch ein
entschlossener Tritt Tukwilas stieß ihn in die klebrige Masse zerquetschter Fruchtscheiben zurück. Paris
bewunderte sowohl ihr Geschick als auch das
wohlgeformte Bein.
»Ich bin soweit!« rief Tukwila dem Navigator zu.
»Alles klar«, bestätigte er, konzentrierte seine
Aufmerksamkeit wieder auf den eigenen Gegner, kippte nach hinten und warf den blutdürstigen Ryol über die Schultern. Er landete direkt vor Tukwila, nur wenige Meter von dem anderen zu Boden gegangenen Ryol
entfernt. Die junge Frau zögerte nicht und rammte dem Einheimischen beide Fäuste auf den Schädel. Paris
vernahm ein dumpfes Pochen, und der Ryol blieb
bewußtlos im Sand liegen. Starfleet-Ausbildung und Maquis-Enthusiasmus bilden eine gute Mischung.
Er sah zu Kim. Dem Fähnrich war es inzwischen
gelungen, beide Arme ›seines‹ Ryol auf den Rücken zu drehen, doch der Mann leistete noch immer heftigen
Widerstand, trat dauernd um sich. Kim wirkte fast wie ein Rodeo-Reiter, der versuchte, sich nicht von einem wilden Pferd abwerfen zu lassen.
»Na los, Harry!« rief Paris. »Warum tanzen Sie noch
immer mit dem Clown? Wo liegt das Problem?«
»Er ist stärker, als er aussieht«, ächzte Kim. Er
versuchte, den Ryol zu Fall zu bringen, doch der Mann weigerte sich, das Gleichgewicht zu verlieren, blieb auch weiterhin auf den Beinen. Mit den nackten Füßen wirbelte er immer wieder Sand auf.
Bis Susan Tukwila näher trat und dem Ryol einen
Karateschlag an den Bauch versetzte – daraufhin
erschlaffte er sofort. Kim seufzte erleichtert.
»Das war’s dann wohl.« Paris stand auf und hinterließ eine kleine Mulde im Sand. Seine Schultern schmerzten noch immer dort, wo sich ihm die dunkelbraunen Nägel des Ryol in die Haut gebohrt hatten. Er betrachtete die betreffenden Stellen – hier und dort drang tatsächlich Blut aus kleinen Wunden. Auch das noch, dachte Paris und fragte sich, ob ein Abstecher zur Krankenstation der Voyager nötig war.
Doch zuerst mußte er sich um Naxor kümmern. Laazias
überaus eifersüchtiger Verehrer hockte nicht weit
entfernt und hielt sich noch immer das verletzte Knie.
Alles deutete darauf hin, daß er keine Gefahr mehr
darstellte. Paris hoffte, daß er sich geschlagen gab –
immerhin konnte er jetzt nicht mehr auf die Hilfe seiner Freunde zurückgreifen.
»Haben Sie genug?« rief er dem hochmütigen Ryol zu.
Naxor hob den Kopf, und erneut blitzte Zorn in seinen grünen Augen. »Wie können Sie es wagen, in einem
solchen Ton mit mir zu reden?« Seine heisere, kehlige Stimme klang drohend. »Tiere. Neffaler. Ich werde Ihnen zeigen, wie wenig mir Ihr lächerlicher Widerstand bedeutet.«
Er humpelte dem menschlichen Trio entgegen und
atmete schwer. Seine Augen wurden größer, und die
Pupillen erweiterten sich, bis das Grün fast völlig
verschwand. Es blieben nur zwei dunkle Scheiben, wie schwarze Löcher, die Licht und Hoffnung verschlangen.
Das ist gespenstisch, dachte Paris und bemühte sich, an seiner Selbstsicherheit festzuhalten. Er kam sich vor wie jemand, der auf einem Friedhof versuchte, eine
fröhliche Melodie zu pfeifen.
»Leider habe ich eine schlechte Nachricht für Sie,
Naxor«, sagte Tom. Es fiel ihm sehr schwer, nicht vor den leeren schwarzen Augen zurückzuweichen. Sie
wirkten finsterer, als es eigentlich der Fall sein konnte.
Ihre Schwärze schien nicht mehr zum normalen
Spektrum zu gehören, sondern sich jenseits davon zu
erstrecken, wie eine Art Antilicht. »Ihre Freunde können Ihnen jetzt nicht mehr helfen. Sie sind auf sich allein gestellt.«
»Das gilt auch für Sie«, hauchte Naxor.
Tukwila schnappte plötzlich nach Luft, und Kim keuchte.
Was hat das zu bedeuten? fuhr es Paris durch den Sinn. Er drehte sich um und sah, wie Kim und Tukwila nach ihren Kehlen tasteten. Verblüffung zeigte sich in ihren Zügen. Sie schwankten und hatten ganz
offensichtlich Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Ihre Gesichter wirkten blaß, blutleer.
»Tom«, brachte Tukwila fast tonlos hervor. »Hilfe…«
Sie sank auf die Knie, kippte dann zur Seite und blieb im Sand liegen. Kim schaffte es, noch einige Sekunden
länger stehenzubleiben, bevor er ebenfalls fiel und wie die junge Frau das Bewußtsein verlor. Paris eilte zu ihnen, überprüfte den Puls und lauschte flachen
Atemzügen. Seine Gefährten lebten noch, dem Himmel
sei Dank. Aber sie weilten im Reich der Träume. Wie ist das möglich? dachte der Navigator. Was hat Naxor mit ihnen angestellt?
Er hörte das Lachen des Ryol und wandte sich ihm zu.
»Verdammt! Diese Sache betraf nur Sie und mich.«
Neue Entschlossenheit entstand in ihm. Was als
Prügelei begonnen hatte, gewann nun eine ganz andere Bedeutung. Er mußte überleben, um Captain Janeway
über Naxors geheimnisvollen Angriff auf Kim und
Tukwila berichten zu können.
»Ja«, bestätigte der Ryol. »Sind Sie bereit, es allein mit mir aufzunehmen, ohne Ihre Leibwächter und
Babysitter?«
Ich werde dir zeigen, wie bereit ich bin, dachte Paris.
Abrupt sank er auf ein Knie, griff nach einer Handvoll Sand und warf ihn Naxor ins Gesicht. Das überraschte den Ryol. Er wankte zurück, rieb sich die schwarzen
Partikel aus den Augen und spuckte. Paris nutzte die gute Gelegenheit, um vorzustürmen und seinem Gegner
einen wuchtigen Hieb ans Kinn zu versetzen. Der
Schlag ließ Naxor erzittern, brachte ihn jedoch nicht zu Fall. Damit hätte ich einen Klingonen zu Boden
geschickt, dachte Tom enttäuscht und erinnerte sich an Laazias erstaunliche Kraft. Wie stark sind die Ryol?
Er machte sich keine allzu großen Sorgen. Seine
bisherigen Beobachtungen und Erlebnisse deuteten
darauf hin, daß die Ryol zwar sehr kräftig sein mochten, aber keine guten Kämpfer waren. Es wird Zeit, sich auf die Starfleet-Ausbildung zu besinnen. Er drehte sich um die eigene Achse und streckte dabei das Bein – sein
Fuß traf Naxor am Unterkiefer. Unmittelbar im Anschluß daran packte er den arroganten Ryol an der goldgelben Mähne, zerrte ihn zur Seite und gab ihm einen Stoß.
Der Mann taumelte über den Strand, und Paris trat
erneut zu, traf ihn diesmal am verlängerten Rücken.
Naxor verlor das Gleichgewicht, kippte nach vorn und versuchte, den Fall mit den Händen abzufangen.
Wasser spritzte.
Paris stapfte durch die Brandung, spürte dabei warmen Sonnenschein auf den Schultern und nahm den Duft
von Ingwer wahr. Solange er in die Defensive gedrängt bleibt, kann er mit mir nicht das anstellen, was er mit Harry und Susan gemacht hat, überlegte Paris, Er bückte sich, schlang den Arm um Naxors Hals und zog
ihn zum Strand zurück. »Sagen Sie mir, was Sie mit
meinen Freunden angestellt haben«, brummte er.
Der Ryol knurrte wie ein wildes Tier, und Paris
schauderte unwillkürlich. Er erinnerte sich an zornige Tiger und Sehlats, die weniger gefährlich geklungen hatten. Naxor wand sich hin und her. Tom versuchte,
ihn festzuhalten, doch es stellte sich heraus, daß er erneut die Kraft des Ryol unterschätzt hatte. Es gelang Naxor, sich zu drehen, und plötzlich blickte Paris in die Schwärze unter den Brauen seines Gegners.
Nein, fuhr es dem Menschen durch den Sinn. Sieh ihm nicht in die Augen!
Zu spät. Paris spürte, wie die Kraft aus ihm wich –
Naxors schwarze Augen saugten sie aus ihm heraus.
Seine Arme schienen sich in schweres Duranium zu
verwandeln, und die Beine waren plötzlich so schlaff und gummiartig wie Neelix’ berühmt-berüchtigte
Haarnudeln. Er trachtete danach, sich an Naxor
festzuhalten, aber die Finger gehorchten ihm nicht
mehr. Als sich der Ryol endgültig aus der
Umklammerung befreite, versuchte Paris, ihn im Auge
zu behalten, doch die bleiernen Lider sanken immer
wieder nach unten. Die Welt jenseits davon trübte sich immer mehr, verlor Farbe und Konturen.
Nie zuvor hatte er sich so müde gefühlt, nicht einmal nach den zermürbenden Tagen in der Strafkolonie der
Föderation, aus der Captain Janeway ihn gerettet hatte.
Jeder einzelne Atemzug kam einer gewaltigen
Anstrengung gleich. Außerdem war ihm kalt. Ein
seltsamer Frost tastete nach ihm, und er verspürte nur noch den Wunsch, sich zusammenzurollen, um sich
einen Rest von Wärme zu bewahren. Die sanft an
seinen Beinen entlangrollenden Wellen fühlten sich an, als bestünden sie aus Eiswasser, und die Zehen waren bereits tot. Empfindet man auf diese Weise, wenn man langsam erfriert?
Ein Schlag traf ihn am Rücken. Naxor, begriff Paris, aber er war viel zu schwach, um sich zur Wehr zu
setzen. Das ist nicht fair, dachte er, als die Fäuste des Ryol erbarmungslos auf ihn herabschmetterten. Er
wollte die Arme heben, doch die Glieder schienen
überhaupt nicht mehr Teil seines Körpers zu sein. Er mußte einen weiteren Schlag einstecken, fiel daraufhin mit dem Gesicht nach unten ins Wasser.
Die jähe Kälte verdrängte einen Teil der Benommenheit aus ihm. Paris schluckte nach Ingwer schmeckende
Nässe und hob den Kopf, um nicht zu ertrinken. Doch
eine Hand drückte ihn zurück, in den schmierigen
schwarzen Sand unter den Wellen.
»Neffaler!« zischte Naxor.
Spitze Fingernägel bohrten sich ihm in die Kopfhaut, als die Hand immer fester zudrückte. Feuchter Sand drang Paris in Mund und Nase. Er konnte nicht mehr atmen!
Die entkräfteten Arme und Beine zuckten hilflos, als er vergeblich versuchte, sich aus Naxors Griff zu befreien.
Alles in ihm drängte danach, Luft zu holen, doch die ganze Welt außerhalb seines Selbst schien nur noch
aus Sand und Wasser zu bestehen. Dunkelheit wogte
ihm entgegen, und er rechnete damit, Erinnerungsbilder seines Lebens am inneren Auge vorbeiziehen zu sehen.
Sonderbarerweise entsann er sich nur daran, wie er die Warpbarriere durchdrungen und sich in eine Amphibie
verwandelt hatte. Jene Kiemen könnte ich jetzt gut gebrauchen, dachte er.
Luft entwich aus seinem Mund, und er wußte, daß ihn
nur noch wenige Sekunden von einem fatalen
Atemversuch trennten. Das Schiff, fuhr es ihm durch den Sinn. Jemand muß die Voyager warnen…
Von einem Augenblick zum anderen verschwand der
auf seinem Kopf lastende Druck. Starke Hände packten ihn an den Schultern und drehten ihn herum, was ihm
die Möglichkeit gab, wieder Luft zu holen. Paris atmete mehrmals tief durch, dankbar und erleichtert. Warmer Sonnenschein vertrieb die Kälte aus ihm.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Lieutenant?« erklang eine vertraute Stimme.
Paris wandte den Blick von der Sonne ab und sah
Tuvok, der neben ihm kniete. Der vulkanische
Sicherheitsoffizier trug eine Uniform und achtete nicht darauf, daß Stiefel und Hose naß wurden.
»Ich glaube schon«, erwiderte Paris. Er schüttelte den Kopf, und kleine Tropfen stoben davon. Das war knapp, dachte er, als er sich Meerwasser und Sand aus den
Augen rieb.
Sein Gegner fiel ihm ein. »Was ist mit Naxor?« fragte er besorgt.
»Derzeit stellt er keine Gefahr mehr dar«, sagte Tuvok und deutete auf eine reglose Gestalt in der Nähe. Der Ryol lag im flachen Wasser auf dem Rücken. Seine
Augen waren geschlossen – Zum Glück, dachte Paris –, und der Mund stand offen.
»Interessant«, fuhr Tuvok fort und stand auf. »In
Hinsicht auf biologische Daten über ihre Spezies haben die Ryol große Zurückhaltung geübt. Ich konnte nicht sicher sein, ob der vulkanische Nervengriff bei den
Bewohnern dieses Planeten funktioniert.«
Paris spürte, wie die Kraft in ihn zurückkehrte. Er hatte noch immer das Gefühl, gerade den deltanischen
Marathon hinter sich gebracht zu haben, aber
wenigstens verlor er jetzt nicht mehr so schnell Energie wie ein gesprungener Dilithiumkristall. Er stand
ebenfalls auf und half Tuvok dabei, Naxor aufs
Trockene zu ziehen.
Der Vulkanier bückte sich und hielt einen Injektor an den Hals des Ryol. »Wir sollten den anderen
Besatzungsmitgliedern Bescheid geben und uns dann
zur Voyager beamen. Es gibt gewisse Dinge, die wir mit dem Captain erörtern müssen.«
»Ganz meine Meinung«, pflichtete Paris dem Vulkanier bei. Er sah sich auf dem wieder ganz friedlich wirkenden Strand um. Von den insgesamt acht Humanoiden in
diesem Bereich des schwarzen Ufers waren nur noch er selbst und Tuvok auf den Beinen. Und allein der
Vulkanier trug Kleidung, die sich nicht unbedingt für ein Sonnenbad eignete. In seiner feuchten Starfleet-Uniform wirkte der vulkanische Sicherheitsoffizier am Strand völlig fehl am Platz, und Paris fragte sich zum
erstenmal: Was hat Tuvok überhaupt hierhergeführt?
B’Elanna fluchte auf klingonisch, als Kes ihren Arm mit einem Anästhetikum behandelte. Der Schmerz mußte
recht intensiv sein, vermutete die Ocampa –
normalerweise versuchte Torres, die klingonischen
Aspekte ihres Selbst zu unterdrücken.
»In einigen Sekunden müßte es besser werden.« Kes
legte den Injektor beiseite. »Sie sollten jetzt spüren, wie sich Taubheit in Ihrem Arm ausbreitet.«
»Ja«, brachte Torres zwischen zusammengebissenen
Zähnen hervor. »Das Mittel wirkt.« Mit dem einen Fuß klopfte sie ungeduldig auf den Boden der
Krankenstation. Sie hatte es abgelehnt, sich auf einem Biobett auszustrecken – angeblich waren ihre
Verletzungen minimal. Kes fragte sich, ob eine derartige Sturheit zu den Eigenschaften aller Klingonen gehörte.
B’Elanna war die einzige Klingonin weit und breit –
vermutlich die einzige im Delta-Quadranten – doch Tom und Harry meinten, das Temperament der
Chefingenieurin sei typisch für die klingonische Spezies.
Kes hatte den Doktor einmal nach Klingonen gefragt
und anschließend einen dreißig Minuten langen Vortrag über die Komplexität ihres zweiten Nervensystems
gehört. Die entsprechenden Informationen erwiesen
sich zwar als recht interessant, stellten jedoch nicht unbedingt das dar, worüber sie Bescheid wissen wollte.
Kes’ Interesse galt nicht in erster Linie der Anatomie, sondern dem Denken und Empfinden eines jeden neuen
Volkes, das sie kennenlernte.
Derzeit konnte der holographische Arzt keine Vorträge halten. Er widmete seine ganze Aufmerksamkeit
Fähnrich Jourdan, die auf dem primären Biobett lag,
unter einem chirurgischen Stabilisierungsgerüst. Kes blickte auf die Anzeigen des Displays über dem Kopf
der Patientin. Zwar war die junge Frau recht schwer
verletzt worden, aber ihre Biodaten sahen ganz gut aus.
Da sich der Doktor um sie kümmerte, blieb B’Elanna
Kes überlassen.
»Sie hatten viel Glück«, sagte die Ocampa und
behandelte Torres’ Arm mit einem dermalen
Regenerator. »Es hätte viel schlimmer kommen
können.«
»Ich fühle mich nicht besonders glücklich«, brummte die Chefingenieurin und betrachtete ihren rechten Arm. Die Emissionen des Regenerators ließen Blasen und Risse
in der Haut allmählich verschwinden.
»Dauert es noch lange?« fragte sie ungeduldig. »Ich
muß zu dem verdammten Strand.«
»Zum Strand?« Kes sah von ihrer Arbeit auf, und es lief ihr kalt über den Rücken. B’Elannas Interesse am
Strand schien ganz und gar nicht typisch für sie zu sein.
Kes kannte die Chefingenieurin nicht besonders gut,
aber sie konnte sich Torres kaum als jemanden
vorstellen, der an einem Sonnenbad oder dergleichen
Gefallen fand.
Die Ocampa spürte, wie sich ihre Intuition regte. Dies ist wichtig, dachte sie und holte tief Luft. »Wieso interessieren Sie sich für den Strand?«
»Schon gut«, erwiderte B’Elanna schroff. »Bringen Sie meinen Arm in Ordnung und lassen Sie mich dann zur
Arbeit zurückkehren.«
»Eben sprachen Sie davon, den Strand aufzusuchen«,
sagte Kes. »Haben Sie dort zu tun? Bitte, ich möchte es wirklich wissen.«
B’Elanna vernahm die Eindringlichkeit in Kes’ Stimme und musterte sie argwöhnisch. »Warum fragen Sie?
Gibt es irgendeinen Grund, warum ich den Strand nicht aufsuchen sollte?«
»Vielleicht«, räumte Kes ein. Sie hatte nicht nur Neelix von ihren Befürchtungen erzählt, sondern auch Tuvok
und dem Doktor – es handelte sich also nicht um ein
Geheimnis. »Ich habe sonderbare… Gefühle in Hinsicht auf den Strand und glaube, daß es dort etwas gibt, von dem wir nichts erfahren sollen.«
Die Ocampa beobachtete, wie es in B’Elannas Augen
blitzte – offenbar wußte sie irgend etwas über den
Strand. Torres hatte eigene Fragen und suchte nach
betreffenden Antworten.
»Vielleicht sollten wir unsere Erfahrungen
austauschen«, sagte Kes.
Torres richtete einen nachdenklichen Blick auf die
Ocampa. Kes begriff, daß sie schwach und wenig
eindrucksvoll wirkte, wenn man klingonische Maßstäbe anlegte. Ich bin keine klingonische Kriegerin, dachte sie Aber ich kann mich um mich selbst kümmern.
Schließlich nickte B’Elanna. »Ja, das könnte durchaus sinnvoll sein«, sagte sie und rollte den Ärmel herunter.
Abgesehen von einer leichten Rötung wirkte der Arm
wieder ganz normal.
Torres drehte den Kopf und sah zum Doktor, der noch
immer damit beschäftigt war, die fragile menschliche Hülle von Erin Jourdan zu reparieren. Die junge Frau lebte, war jedoch bewußtlos.
»Wahrscheinlich kann er Hilfe gebrauchen«, meinte die Chefingenieurin. »Wir treffen uns um sechzehn Uhr
Bordzeit im Transporterraum Zwei.«
»Einverstanden«, bestätigte Kes. Sie konnte es gar
nicht abwarten, von Torres zu hören, was sie über den rätselhaften Strand herausgefunden hatte.
Vielleicht gelang es ihnen gemeinsam, das Geheimnis
zu lüften.
X.
Für eine Tasse starken Kaffee wäre Captain Janeway
bereit gewesen, es mit einem ganzen Borg-Schwarm
aufzunehmen. Sie hatte das Gefühl, praktisch rund um die Uhr ihre beste Galauniform zu tragen, und die auf ihr lastende Bürde der Erschöpfung wurde immer schwerer.
Ich brauche eine Woche Entspannung auf dem
Holodeck, um mich von diesen ›Ferien‹ auf Ryolanow zu erholen, dachte sie. Aber sie war gern bereit, die schier endlosen diplomatischen Gespräche auch
weiterhin hinzunehmen, wenn ihre Crew dadurch
Gelegenheit bekam, den dringend benötigten
Landurlaub zu genießen. Janeway fühlte sich persönlich dafür verantwortlich, daß die Besatzungsmitglieder nicht mehr als unbedingt nötig an den Konsequenzen ihrer
Entscheidungen litten. Um das zu gewährleisten,
schreckte sie nicht vor dem Opfer zurück, an einem
weiteren Bankett oder Empfang teilzunehmen.
Die Sonne neigte sich dem Horizont entgegen, und
Janeway war zu einer Verabredung mit Varathael
unterwegs. Sie spürte dumpfen Schmerz in den Beinen
und versuchte, ihn zu ignorieren, als sie in einer von Ryolalers Pyramiden durch ein Labyrinth aus Korridoren eilte. Sie brauchte sich nicht mehr von einem Ryol
begleiten zu lassen, denn inzwischen kannte sie die
Ämter und Büros der Regierung besser, als ihr lieb war.
Türkisfarbene Teppiche bedeckten den Boden,
präsentierten goldene und rote Wirbelmuster.
Seidige Tapisserien in allen Regenbogenfarben hingen an glatten Marmorwänden, und eine geschickte
Anordnung aus Spiegeln und Fenstern verteilte den
scharlachroten Sonnenschein in allen Räumen.
Janeway brachte eine weitere Ecke hinter sich und
bemerkte einen älteren Neffaler, der eine reflektierende Scheibe in der Decke reinigte. Er benutzte dafür einen langen Stab, an dem eine Bürste befestigt war. Das
kleine Wesen sah nicht auf, als sie an ihm vorbeiging, widmete sich auch weiterhin der Arbeit.
Janeway runzelte die Stirn. Die Ryol waren freundlich und sehr großzügig, aber die Neffaler wurden von ihnen fast grausam behandelt. Im Lauf der Jahrhunderte hatte die Föderation strenge Richtlinien entwickelt, die
zwischen der legitimen Verwendung von Tieren und der Ausbeutung weniger hochentwickelter Spezies
unterschieden. Vermutlich hätte sich bei einer genauen Überprüfung herausgestellt, daß Ryolanow nicht alle
notwendigen Voraussetzungen erfüllte, um Mitglied der Föderation zu werden.
Doch darum ging es hier nicht. Was auch immer man
davon halten mochte: Die Erste Direktive bedeutete,
daß es sich bei den Beziehungen zwischen Ryol und
Neffalern um eine innere Angelegenheit dieses Planeten handelte, in die sich Außenweltler nicht einmischen
durften. Trotzdem, dachte Janeway. Es käme mir nie in den Sinn, meinen Hund so zu behandeln, wie die Ryol mit den Neffalern umgehen.
Kurze Zeit später erreichte sie das private Quartier von Varathael – es befand sich genau im Zentrum der
Pyramide. Nur ein dicker Samtvorhang separierte die
Residenz des Ältesten vom breiten Flur. Der
offensichtliche Mangel an Sicherheitsvorkehrungen
beeindruckte Janeway noch genauso wie bei ihrem
ersten Besuch in Varathaels Gemächern. Die
Gesellschaft der Ryol mußte tatsächlich sehr stabil und friedlich sein, wenn das Regierungsoberhaupt auf
Wächter und Empfangspersonal verzichten konnte. Die Cardassianer könnten diese Stadt innerhalb einer Stunde übernehmen, überlegte Janeway und fühlte fast so etwas wie Schuld, weil sie in militärischen Bahnen dachte. Andererseits: Vermutlich war es nur eine Frage der Zeit, bis die Kazon, Vidiianer oder ein anderes
aggressives Volk auf Ryolanow stießen. Vielleicht sollte ich Varathael darauf ansprechen und ihn davor warnen, Fremde zu vertrauensvoll zu empfangen. Oder käme er dadurch auf die Idee, Menschen für kriegerisch und paranoid zu halten? Janeway seufzte leise, als sie einen weiteren Grund sah, sich Sorgen zu machen.
Gleichzeitig wußte sie, daß ihr gar nichts anderes
übrigblieb, als sich mit solchen Dilemmas abzufinden.
Ein Erstkontakt war nie leicht, sondern immer eine
problematische Angelegenheit, die jede Menge Takt und Feingefühl erforderte.
Gedämpfte Stimmen erklangen hinter dem schweren,
burgunderroten Vorhang. Janeway zögerte vor dem
Zugang, weil sie den Ältesten nicht stören wollte.
Varathael und sie hatten vereinbart, sich hier zu treffen und anschließend eine Sotul-Plantage zu besichtigen.
Sie wußte nicht genau, was sie erwartete, aber
vermutlich standen ihr einige Weinproben und
Ansprachen bevor. Janeway nahm sich vor, nicht zuviel zu trinken. Sotul-Wein war recht stark und wirkte fast ebenso nachhaltig wie romulanisches Bier. Als
Kommandantin der Voyager wollte sie sich die Peinlichkeit ersparen, angetrunken vor fremden
Würdenträgern zu erscheinen.
Eigentlich konnten die Würdenträger von Ryolanow
kaum ehrwürdiger sein als Varathael. Wenigstens bot
der Älteste angenehme Gesellschaft – dafür war