Einleitung: Was Manager und andere Strategen von Clausewitz lernen können

Sie haben eine gute Wahl getroffen! „Vom Kriege“ von Carl von Clausewitz (1780-1831) ist eines der berühmtesten und berüchtigtsten Sachbücher der Literaturgeschichte. Kritiker überboten sich ganz unpazifistisch mit Attacken auf dieses Buch und sprachen von „mentaler Verstopfung“, die sich Unwissende bei der Lektüre zuzögen. Nicht wenige sahen von Clausewitz sogar als Vordenker der Massaker des Ersten Weltkriegs. Und einige haben in Clausewitz’ Überlegungen zum „absoluten Krieg“ (ein Terminus, den Clausewitz einführte) das ideelle Fundament des „totalen Kriegs“ gesehen, wie ihn Erich Ludendorff (Generalstabschef der deutschen Armee im Ersten Weltkrieg) konzipiert und Hitler später bittere Realität werden ließ. Tatsächlich wurde die Rezeption dieses Klassikers lange von eigenwilligen Interpretationen und Vereinnahmungen bestimmt.

Clausewitz auf den Index? Für konsensorientierte Gesellschaften vielleicht. Aber wir wissen: Wir leben in einer kriegerischen Welt. Fraglich ist, ob Clausewitz bei der Analyse des Charakters des Kriegs und damit bei seiner Vermeidung hilft, oder doch vielleicht eher ermuntert, Krieg zu führen. In großen Teilen liest sich das Buch tatsächlich wie ein bloßer Lobgesang auf den Krieg mit all seiner Brutalität. Clausewitz propagierte möglichst schnelle Feldzüge und akzeptierte opferreiche Entscheidungsschlachten: „Zwar ist [die Hauptschlacht] kein bloßes gegenseitiges Morden. [ … ] Allein immer ist Blut ihr Preis und Hinschlachten ihr Charakter wie ihr Name“, schrieb er.

Wovon Clausewitz schreibt

Clausewitz’ unvollendetes Werk „Vom Kriege“ ist eine mehr oder weniger philosophische Abhandlung über das Wesen und die bestimmenden Prinzipien des Krieges. Nach seiner heute noch gültigen Definition ist „die Taktik die Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht, die Strategie die Lehre vom Gebrauch der Gefechte zum Zwecke des Krieges“. In der Armee sah er das Mittel, den Zweck des Kriegs, den Sieg, zu erringen, während in der Strategie für ihn dieser Sieg nur Mittel ist, den Zweck der Strategie (den Frieden), zu erreichen. Die höhere Strategie nähert sich so der Politik an und geht in sie über. Clausewitz erkannte als Erster den politischen Instrumentalcharakter des Krieges bei der Untersuchung des Verhältnisses von Krieg und Politik. „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ In dieser am häufigsten zitierten Kernaussage ist die politische Aufgabe der Zweck, während der Krieg lediglich das Mittel zur Erreichung dieses Zweckes ist. Für Clausewitz ergab sich hieraus die Unterordnung des Militärs unter die Politik und die von ihr bestimmten Zielsetzungen, nämlich „die Interessen der gesamten Gesellschaft darzustellen“ und den Frieden zu gewährleisten. Nach Clausewitz muss auch im Krieg die Politik fortgesetzt werden.

Wenn Sie jemals in ein Gespräch über Clausewitz verwickelt werden sollten: obiges Zitat(„Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“) sollten Sie kennen – und auch die Schlussfolgerung, dass immer der Primat der Politik zählt, selbst wenn in Extremsituation kurz und heftig zu den „Waffen“ gegriffen wird.

Wer über Clausewitz mitreden will, muss auch wissen: Es ist nicht so einfach, über dieses Buch zu parlieren, denn viele Eindrücke und biografische Einflüsse verbinden sich in diesem Klassiker des strategischen Denkens. Dazu gehören Clausewitz’ soldatische Erfahrungen und sein autodidaktisches Studium von Geschichte, historischen Feldzügen und der Philosophie; seine Verehrung für Friedrich den Großen und Napoleon; die Freundschaft mit dem preußischen Heeresreformer von Gneisenau; die preußische Auffassung vom Heer als wichtigster Verkörperung der Nation; das moralfreie Verständnis des Kriegs als „blinder Naturtrieb“, aber auch als höchste Form der Selbstbehauptung eines Volks. Das alles wird zu einer Melange von preußisch-militaristischer Mentalität bis hin zu aufgeklärt-klugen und sogar pazifistischen Befindlichkeiten. Dass Clausewitz nicht ganz einfach zu lesen und zu verstehen ist, hängt aber wohl auch mit der eigenartigen Arbeitsmethode von ihm zusammen: Über Jahre schrieb er an seinem großen Werk, überarbeitete, verwarf, ergänzte – am Ende blieb das Buch unvollendet und war ein Stückwerk, das viele Bonmots bietet, aber nicht unbedingt der große Wurf aus einem Guss ist.

Trotzdem: Der preußische Kriegsphilosoph hat sich zu einem der populärsten Strategielehrmeister aller Zeiten gemausert. „Vom Kriege“ wurde in unzählige Sprachen übersetzt und zählt zu den erfolgreichsten Bestsellern weltweit. Kaum ein Managerkurs verzichtet auf eine Weisheit aus „Vom Kriege“. Gleichzeitig wird kaum ein anderes Buch von so vielen Leuten zitiert, die es selbst nie gelesen haben.

Clausewitz als Lehrmeister fürs Big Business von heute?

Vorab: Treten Sie immer für den Weltfrieden ein! Wenn Sie aber in den Wirren des irdischen Lebens in Konflikte geraten, kann es durchaus befriedigend und klärend wirken, nicht unbedingt Krieg zu führen, aber doch strategisch zu handeln, um ans Ziel zu kommen. Nehmen Sie das als wichtigste Botschaft dieses Buches. Und zweitens: Falls Sie in Ihrem Unternehmen noch nicht als Großmeister der strategischen Planung gefeiert werden, dann nehmen Sie noch folgende Information auf: Bei Clausewitz war es nicht anders! Für einen heute noch hochgehandelten Kriegstheoretiker stand Clausewitz überraschend oft zur falschen Zeit auf der falschen Seite. Nach der vernichtenden Niederlage der Preußen gegen Napoleon 1806 dörrte er über Monate in französischer Kriegsgefangenschaft. Als er dann sechs Jahre später auch noch zur Armee des russischen Zaren überlief, wurde er bei den Preußen nur noch als „Lausewitz“ gemobbt. Zwar wurde er wieder ins preußische Heer aufgenommen, schob aber über Jahre eine mehr oder weniger ruhige Kugel als Verwaltungsdirektor einer Kriegsschule. Sein Ende war ebenso wenig glorreich: 1831 starb Clausewitz – nicht etwa an vorderster Front, sondern im Bett an Cholera. Sein Buch “Vom Kriege“ blieb deshalb unvollendet und musste schließlich von seiner Frau Marie veröffentlicht werden.

Clausewitz war ein Mobbingopfer. Offensichtlich ist: Es ist noch kein Meister der Strategie vom Himmel gefallen.

Immerhin machte das Werk post mortem eine bemerkenswerte Karriere. Nicht nur unter Militärstrategen, auch in der zivilen Welt las man aufmerksam „Vom Kriege“. Allein die Tatsache des millionenfachen Verkaufs dieses Titels in der ganzen Welt und dem damit offensichtlich bekundeten Interesse an Kriegsführung auch außerhalb des Militärs lässt Staunen. Steckt da eine archaische Kriegsbegeisterung in uns allen? Nehmen wir den Alltag vielleicht als Lebenskampf wahr, der strategisch zu meistern ist? Vor allem in den Unternehmen und unter Managern werden alte Weisheiten wie die von Clausewitz hoch gehandelt (zumindest als Steinbruch für eigene Powerpoint-Präsentationen). Ob Mitarbeiterführung, feindliche Übernahmen oder globale Expansionsfeldzüge - zu fast jeder Herausforderung halten die Militärstrategen der Geschichte ein wirkungsvolles Bonmot parat.

Dass Clausewitz in einer anderen Welt als heute lebte, scheint seiner Attraktivität keinen Abbruch zu tun. Wer das Schlachtengetümmel im Krieg durchschaute, der scheint auch Jahrzehnte später noch als Coach für eine komplexe, sich ständig ändernde, unüberschaubare Realität geeignet

Nehmen Sie Clausewitz also zumindest als Gehirnjogging und als Vorlage zum Abgleich, wie vorausblickend und umsichtig Sie ihr Handeln gestalten und wie weit es mit Ihrem strategischen Denken ist.

Strategie – das ist das große Stichwort von Clausewitz. Gleichzeitig ist es einer der Begriffe in der Unternehmenswelt, der am häufigsten missverstanden wird. Rein sprachgeschichtlich ist die Analogie von der Unternehmensführung und der Kriegsführung naheliegend. Dass sich ausgerechnet Manager im Begriffsarsenal der Militärs bedienen, ist also nicht abwegig. Schließlich stammt der Begriff „Strategie“ aus dem Griechischen und bedeutet „Heeresführung“ - von „stratos“ (Heer) und „agein“ (führen). Und die Armee ist die älteste Führungs- und Organisationsform, die wir kennen. In der Armee finden sich zahlreiche Aspekte, die auch für Unternehmen relevant sind: Führung, Logistik, Psychologie, Sieg und Niederlage, aber auch langfristige Planungen.

Strategien sind immer an eine Epoche gebunden. Der Luftkrieg kommt natürlich bei Clausewitz noch nicht vor. Und ausgerechnet der wichtigste Faktor des Wirtschaftslebens - der Kunde – findet kein Pendant in Clausewitz Gedankenspielen. Ergo: Alles ist in seinen historischen Kontext einzubinden, die Übertragbarkeit historischen Wissens ist relativ.

Unternehmensziele unterscheiden sich letztlich sehr deutlich von militärischen Targets. Das, was die Wirtschaft häufig als Unternehmensstrategie bezeichnet, sind eher Pläne, um gewisse Ziele umzusetzen. Streng gesehen ist das mehr Taktik als Strategie. Strategisches Denken bedeutet jedoch nach Clausewitz Denken in Räumen und Regionen – das betrifft in der Wirtschaft etwa die globalisierten Märkte. Manager definieren ihre Strategie dabei häufig zu eng und lassen größere Zusammenhänge oft außen vor. Strategie heißt aber vor allem, in die Zukunft zu denken: Das beinhaltet die Entwicklung neuer Technologien, Produkte und Märkte oder neue Kundenbindungsansätze.

Strategisches Denken bedeutet Denken in Räumen und Regionen über größere Zeiträume hinweg. Eine Strategie ist ein nachhaltiges Instrument der Unternehmensführung und orientiert sich nicht an kurzfristigen Zielen.

Ein falsches Verständnis von Strategie ist auch dann vorhanden, wenn strategisches Denken zu starr wird und unabänderlich durchgesetzt werden soll. Solche Vorhaben sind zum Scheitern verurteilt. Hier ist Clausewitz ungemein modern: Die Unwägbarkeiten des Krieges und des Wirtschaftslebens (Clausewitz nennt sie „Friktionen“) führen zwangsläufig dazu, dass Unsicherheit keine Störung, sondern unvermeidbarer Begleiter jeder Strategie ist: „Es gibt keine menschliche Tätigkeit, welche mit dem Zufall so beständig und so allgemein in Berührung stünde als der Krieg.“ Im Zentrum der Clausewitzschen Definition von Strategie ist deshalb Flexibilität. Entsprechend müssen Eventualitäten als Realitäten behandelt und ihre Konsequenzen abgeschätzt werden. Zugleich definiert Clausewitz bereits die Entwicklung strategischer Ziele als permanenten Prozess.

Kern der Strategie ist Flexibilität. Strategie findet im Rahmen eines Koordinatennetzes permanenter neuer Entscheidungen und unter dem Druck ständiger Unsicherheit statt. Die beste Strategie ist immer die, die am flexibelsten ist.

Was kann man von Clausewitz noch lernen? Vielleicht das: Ziele zu durchdenken und zu definieren, Ressourcen abzuschätzen, eigene Stärken und Schwächen und die des Gegners zu analysieren. Eine Strategie ordnet Kräfte, Mittel, Zeit, Raum und Methoden zu einer Leitidee des Handelns - und ist damit nichts anderes als ein effizienter Erfolgsplan.

Das übergeordnete Ziel im Blick, pendeln die Überlegungen des Generals oder Managers zwischen Alternativen und Szenarien hin und her - bis Talent und Erfahrung den Punkt zum Handeln bestimmen.

Vom Kriege zur klugen Heiratspolitik?

Wer glaubt, dass die hier zusammengefassten Lehrsätze eine archaische Vorstellung von Führung präsentieren, hat vielleicht Recht. Ein Krieg hat immer etwas Brutales. Der Frieden wird in unserer Kultur gerade aufgrund der Kriegserfahrungen der letzten Jahrhunderte mit Recht höher geschätzt: Krieg bedeutet immer auch Verletzung und Verlust. Das wusste schon Clausewitz. Und auch wenn man seine Gedanken auf die heutige Welt und das Management von Unternehmen überträgt und Krieg eher metaphorisch versteht (soweit man das kann), wird immer ein Legitimationsproblem bleiben. Vielleicht ist es da doch besser an andere Strategieüberlegungen anzuknüpfen. Schließlich kann man auch anders. Wer die kriegerische Auseinandersetzung nicht will und die Feinde scheut, die der Krieg hervorbringt, muss neue Wege gehen. Oder doch alte? Auch hier hilft die Geschichte, in der sich zahlreiche Anregungen finden lassen: Nicht nur durch Krieg, auch durchs Heiraten können ganze Weltreiche entstehen – und das wesentlich unblutiger. Wenn Sie also den Clausewitz durch haben, können Sie sich alternativ die Heiratspolitik des Adels vornehmen. Territoriale Zugewinne und Reichtum des Adels bauten auch auf einer klugen Heiratspolitik auf, deren Ergebnisse in vollem Ausmaß manchmal erst Jahrzehnte oder Jahrhunderte später deutlich wurden. Auch Preußen, Frankreich oder Großbritannien wurden nicht nur auf dem Schlachtfeld groß. Es brauchte genauso Dutzende Hochzeiten, um diese Länder über die Jahrhunderte stark zu machen. Die richtigen Entscheidungen dabei erforderten mindestens so viel strategisches Geschick wie im Kriege… und wenn es mit dem Heiraten, oder auf die heutige Wirtschaftswelt übertragen: mit dem Fusionieren und Akquirieren nicht klappt, können Sie immer noch auf Clausewitz zurückgreifen.