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ES WAR NICHT MITTERNACHT, sondern vier Uhr morgens, und diesmal läutete das Telefon statt der Türklingel. »Hallo«, bellte Dev in den Hörer.

»Eh, Mr. O’Malley?«, meldete sich der Wachtposten an der Pforte. »Verzeihen Sie die Störung, Sir. Ich wollte Sie nicht anrufen, und ich schwöre, ich habe Creeds Nummer gewählt. Keine Ahnung, wieso Sie am Apparat sind …«

Creed. Also musste es um Gabriel gehen. Verdammt. »Schon gut, Wheeler. Was ist los?«

»Nun, Ihr Neuer macht gerade eine Szene in der Town Bar. Deshalb wollte ich Creed rüberschicken.«

Dev biss die Zähne so fest zusammen, dass sie bald herauszubrechen drohten. »Nein, tun Sie das nicht, ich schicke selber jemanden hin. Und wie zum Teufel ist es ihm bloß gelungen, das Gelände zu verlassen?«

»Er besitzt einen Pass, Mr. O’Malley – der ist gültig. Von Ihnen unterschrieben.«

Verdammt. Dieser verdammte Oz! Aber das war noch lange kein Grund, dem Wachposten zu erzählen, was gerade in Devs Leben alles durcheinandergeriet. »Ich kümmere mich darum.«

Weil er unmöglich in die Bar gehen und sich vor allen Anwesenden um Gabriel bemühen konnte, rief er Marlena an. Ein gewisses Maß an Schicklichkeit musste gewahrt bleiben.

»Marlena, ich brauche deine Hilfe. Kannst du Gabriel davon abhalten, sich komplett zum Narren zu machen? – Er ist in der Town Bar. Bitte, hol ihn da raus.«

Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille, und er dachte schon, sie würde ablehnen. Doch dann antwortete ein schläfriges Flüstern. »Okay, ich bringe ihn nach Hause.«

Ja, nach Hause. In Gabriels Quartier auf dem ACRO-Grundstück. Nicht in Devlins Domizil. »Danke. Und ich will nichts mehr darüber hören.«

Diese eklatante Lüge rang sich kaum aus seiner Kehle.

»Warum zum Geier sorge ich mich?«, fragte er die Zimmerdecke, nachdem er aufgelegt hatte, und bekam keine Antwort.

ALS SIE DIE BAR AUF DER HAUPTSTRASSE von Catskill betrat – jener kleinen Stadt, in deren Nähe das ACRO-Gelände lag –, drehten sich alle Köpfe zu ihr um. Das spürte Marlena für ihren Geschmack viel zu intensiv. Wann immer sie irgendwo auftauchte, passierte das, und die Ironie der Situation amüsierte und deprimierte sie jedes Mal gleichermaßen.

Gewiss, sie sah umwerfend aus. Das erkannte sie so objektiv wie jemand, der ein Kunstwerk betrachtete und seine Vollkommenheit feststellte.

Aber wie sie aussah, spielte keine Rolle in der Realität ihres Daseins. Außer ihr selber wussten nur wenige Leute Bescheid. Darüber sprach sie nicht mit ihnen, denn sie würde nur Mitleid erregen. Die ermutigenden Blicke nahm sie nicht ernst und redete sich ein, schon viele großartige Menschen hätten ein wunderbares Leben geführt, ohne geliebt zu werden.

Niemals würde sie ein wahres Glück finden. Stattdessen begnügte sie sich damit, anderen beizustehen. Zum Beispiel Devlin. Und jetzt einem sturzbetrunkenen, tobsüchtigen Gabriel.

In diesem Moment wurde er von drei großen Rockertypen umzingelt, die nicht zu ACRO gehörten und keine Chance gegen den Burschen hatten. Genau das wollte Gabe in dieser Nacht – um sich schlagen, jemanden verletzen.

Er war attraktiv, auf maskuline Art schön. Und er hatte etwas an sich, das einfach leuchtete. Seine Anziehungskraft entging Marlena nicht.

Als sie sich direkt vor ihm postierte, schaute er ihr in die Augen und packte sie bei den Schultern – offensichtlich, um sie aus dem Weg zu schieben.

»Hören Sie mir zu – wenn Sie mir wehtun, wird Dev Sie ohne Zögern umbringen«, sagte sie leise.

Sobald sie diesen Namen erwähnte, beruhigte er sich. Ja, zweifellos, da lag etwas in der Luft. Die Zusammenhänge waren ihr schon bewusst geworden, nachdem Dev sich geweigert hatte, Gabriels Akte zu lesen. Und noch deutlicher, als er am letzten Morgen den Verlust seiner Instinkte beklagt hatte.

Beschwichtigend nickte sie den Männern zu, über die Gabe hatte herfallen wollen. An Marlenas Anwesenheit waren sie gewöhnt. Aus Respekt vor ihr – und weil der Barkeeper Selbstjustiz mit einem abgenutzten Metallschläger zu üben pflegte – tauchten sie in der Gästeschar unter.

Sie führte Gabe zur Theke und bestellte zwei Sodawasser. »Auch auf dem Stützpunkt gibt’s eine Bar.«

»Ja, aber der Mann, der mich hierherfuhr, erklärte mir, in dieser Gesellschaft würde ich mich wohler fühlen. Denn ich hatte ihm gestanden, heute Nacht würde ich niemanden von ACRO in meiner Nähe ertragen.«

»Dev hat mich beauftragt, Sie hier rauszuholen.«

»Warum zum Teufel?«, murmelte Gabe. »Er hasst mich.«

»Eben nicht. Und darin liegt das Problem.«

»Klar, weil mich ein gewisser Oz wie ein gottverdammtes Sexgeschenk zu ihm geschickt hat.« Aufmerksam beobachtete er Marlenas Reaktion, und obwohl sie keine zu zeigen versuchte, sah er ihre Verblüffung. »Wissen Sie, wie das ist? Jemanden zu begehren, der einen nur wegen der miesen Manipulationen eines Toten haben will?«

»Ja.«

»Das sagen sie alle.« Gabe rülpste betrunken. »Eigentlich hätte ich nicht gedacht, dass Sie sich herablassen würden, aber ich habe mich schon öfter geirrt. Und zwischen Ihnen und Dev läuft was – ist mir scheißegal, was Creed sagt.«

Entschlossen packte sie ihn am Arm – wahrscheinlich sträflicher Leichtsinn, so mit einem Excedo umzugehen, aber wie sie schon vor langer Zeit herausgefunden hatte, waren diese speziell Begabten viel eifriger als Normalsterbliche bestrebt, niemanden zu verwunden. »Meine Stiefschwester hat mich verflucht«, erzählte sie so leise, dass er sich zu ihr neigen musste, um die Worte über dem Lärm in der Bar zu verstehen. »Deshalb wird mich kein Mann jemals lieben. Und ich muss jeden lieben, mit dem ich schlafe. Immer werde ich allein sein. Weder für Sie noch für Devlin stelle ich eine Bedrohung dar.«

Gabe strich ihr über die Finger – eine rührende Geste, die sie fast bewog, ihn loszulassen. So etwas verkraftete sie nicht. Doch sie las in seinen Augen nicht das erwartete Mitgefühl – sondern Schmerz und tiefes Verständnis. Als hätte er sein Leben lang immer nur Mist gebaut. »Tut mir so leid.«

»Nicht nötig, das ist nicht Ihr Problem.« Sie ließ ihn los und schaute ihn nur noch an. Inzwischen hatten die anderen Männer in der Bar ihre üblichen Rundgänge begonnen, in der Hoffnung, Marlenas Interesse zu wecken, ihr einen Drink zu spendieren, mit ihr zu tanzen und sie dann nach Hause mitzunehmen. In dieser Nacht aber gab es nur ein einziges Bett, das sie aufsuchen würde – ihr eigenes. »Gehen wir.«

Gabe folgte ihr. Auf dem Weg zur Tür legte er tatsächlich einen Arm um ihre Schultern, als wüsste er instinktiv, dass sie einen Schutzschild zwischen sich und den anderen Männern brauchte. Sie fuhren mit Marlenas Wagen auf Nebenstraßen zum bewachten ACRO-Gelände.

»Bringen Sie mich nach Hause?«, fragte er.

»Zuerst dorthin, wo Sie sein sollten«, antwortete sie. Nicht zum ersten Mal missachtete sie bewusst eine Anordnung ihres Chefs. Und so tat sie, was Devlin nicht wollte, aber am besten für ihn war.

Nachdem Gabriel vor Devs Haustür ausgestiegen war, schaltete sie das Autoradio ein und fuhr davon.

NUR EINE STUNDE LANG HATTE DEV Schlaf gefunden, bevor er wieder aufstand, duschte und beschloss, gleich ins Büro aufzubrechen – kurz nach fünf Uhr morgens, verdammt noch mal. Er widerstand dem Bedürfnis, Marlena anzurufen und sich zu vergewissern, dass alles geklappt und Gabriel sich einigermaßen benommen hatte. Solchen Versuchungen standzuhalten, stellte seine Geduld mittlerweile auf eine allzu harte Probe.

Als an seine Haustür gehämmert wurde, begleitet von lautem Geschrei, flog er geradezu die Treppe nach unten. Atemlos riss er die Tür auf und hob sie dabei beinahe aus den Angeln.

»Was zum Teufel soll das?«, stieß Gabriel hervor, ehe Devlin zu Wort kam.

Dev packte ihn am Hemdkragen und zerrte ihn ins Haus, um eine ernsthafte Diskussion über das Protokoll zu beginnen, wobei er auch seine Fäuste einsetzen würde.

Da sagte Gabriel: »Oswald Jameson Hughes fährt einen Baujahr-76-Oldtimer mit weißem Cabrioverdeck.«

Dev ließ ihn los und wich ein paar Schritte zurück. »Was hast du da gerade gesagt?«

Bereitwillig wiederholte Gabe seine Bemerkung.

»Woher zum Teufel weißt du das?«

»Weil er mich in zwei aufeinanderfolgenden Nächten hierhergebracht hat. Heute Nacht hat mich Marlena hier abgesetzt – und nachdem sie weggefahren war, sah ich seinen geparkten Wagen auf der anderen Straßenseite.«

»Wo?« Zuerst lief Dev zum Fenster, dann stürmte er zur Haustür, riss sie wieder auf und starrte in die Nacht. Die Augen zusammengekniffen, schaute er sich um. Nichts.

»Jetzt ist er weg.« Hinter ihm ertönte Gabriels leise Stimme. »Warum bringt dein toter Liebhaber mich immer wieder hierher?«

Eine naheliegende Frage, die Dev nicht beantworten würde. »Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Tauchst einfach hier auf und nimmst mich ins Verhör?«

»Nun, ich bin der Kerl, den du letzte Nacht beinahe gefickt hättest«, fauchte Gabriel. Klar, jetzt war der Junge wütend.

»Oh, ein voller Erfolg, was? War ich dir nicht sanft genug? Hast du Blumen und Kerzen vermisst? Schwitzt du nicht gern? Bist du wirklich ein Romantiker hinter der Fassade des hartgesottenen Kerls?«

»Nein.« Kerzengerade richtete Gabriel sich auf. »Aber Oz sagt, du wärst einer.«

Dev erstarrte. »Was hat Oz sonst noch gesagt?«

»Dass du ein Arschloch bist, und ich soll mir nicht allzu viel daraus machen. Irgendwann würdest du schon noch zur Besinnung kommen.« Gabriel steuerte die Tür an. Doch er drehte sich noch einmal um. »Nur zu deiner Information – es stört mich nicht, wenn ich schwitze. Aber ich hasse es, wenn du mich mit dem Namen eines anderen anredest.«

Dann verschwand er. Krachend fiel die Tür ins Schloss. Da wusste Dev Bescheid, der Junge würde nicht zurückkommen. Von jetzt an musste er derjenige sein, der hinter ihm her war. Genau wie Oz sich das vorstellte.

»Niemals! Du bekommst deinen Willen nicht!«, schrie er, um Oz aus der Reserve zu locken. Er wartete auf Donner und Blitz – eine Geistererscheinung. Irgendetwas.

Aber es geschah nichts.

Und so setzte er sich auf den Boden, zog seine Knie an die Brust und umschlang sie. »Zur Hölle mit dir, Oz«, wisperte er, obwohl er vor seinem geistigen Auge nur Gabriel sah, wie er die verlassene Straße entlangging. Ganz allein.