„Biodiversität ist unsere wertvollste,
aber am wenigsten gewertschätzte Ressource.“

EDWARD O. WILSON,
US-AMERIKANISCHER BIOLOGE

2. Warum Biodiversität uns etwas wert ist – von Grundbedürfnissen, Bienen, anderen Dienstleistern und vielen schwer fassbaren Facetten

Für jeden von uns besitzt die Natur eine andere Bedeutung, was zunächst davon abhängt, in welcher Zeit, in welchem Land und in welchem Umfeld wir aufgewachsen sind – ob im Frankenwald oder in Köln, in Afrika oder in Australien. Viele Menschen werden auch gar nicht genau sagen können, warum sie einen gewissen Teil der Natur wertschätzen.

Es spielen Elemente unserer evolutionären Entwicklung mit hinein, das Gefühl, ein Teil der Natur zu sein, welches bereits in unserem genetischen Code angelegt ist. Außerdem sind Elemente unserer kulturellen Entwicklung von Bedeutung, was wir essen und trinken, welche Kleidung wir tragen, aber auch die Sichtweise auf Natur, die von den Religionen geprägt wird. Und auch unsere bewussten geistigen Entscheidungen, die wir in vielen Lebenssituationen treffen, sind relevant – die Entscheidung, mobil zu sein, im Grünen zu wohnen, einen Garten zu unterhalten und anderes. In allen Bereichen schätzen wir die Natur, aber es treten auch Konflikte mit ihr auf, etwa bei der Entscheidung, im Garten das Unkraut zu jäten, oder bei der Entscheidung, was wir essen. Diese Ebenen vermischen sich auch im Umgang der Politik mit der Natur. So spricht das Bundesnaturschutzgesetz in seinen Zielen ebenso vom Eigenwert der Natur wie von der Natur als Grundlage für das Leben und die Gesundheit des Menschen. Vielfalt soll ebenso erhalten werden wie die Leistungsfähigkeit des Naturhaushaltes und die Eigenart und Schönheit der Natur und Landschaft.

Abhängigkeiten, die wir gerne vergessen

Die Grundlage für unsere Wertschätzung der Natur liegt schlicht darin, dass wir ohne sie nicht existieren würden und auch nicht weiter existieren könnten. Natur ist die Wurzel und die Zukunft der Evolution des heutigen Menschen aus den Steppen Afrikas hinaus in fast alle Lebensräume der Erde.

Was wir in Mitteleuropa in Zeiten von Supermärkten, Restaurants und Coffee to go an jeder Ecke vergessen, ist, dass die vermeintliche Selbstverständlichkeit ausreichender Ernährung in Wirklichkeit ein sehr hohes Gut ist und dass sich unsere eigentlichen Grundbedürfnisse, die wir aus der Natur befriedigen, mit einer einfachen Einheit markieren lassen: Kilokalorien, dem Energiegehalt von Lebensmitteln. Wir können mittlerweile auf fast allen Nahrungsmitteln, die industriell produziert sind, genau nachlesen, wie viele Kilokalorien sie enthalten, und wir könnten uns theoretisch genau darauf einstellen, den durchschnittlichen Energiebedarf von ca. 2300 Kilokalorien für eine Frau und ca. 2900 Kilokalorien für einen Mann zu decken. Aber in unserer Überflussgesellschaft machen wir uns kaum Gedanken darüber. Mit dem bekannten Ergebnis: In westlichen Ländern steigt die Anzahl von übergewichtigen Personen kontinuierlich. In Deutschland haben laut dem Mikrozensus von 2009 mehr als 51 Prozent aller Bundesbürger einen Body-Mass-Index von mehr als 25, was medizinisch als Übergewicht gilt. Bei den Frauen sind es 43 Prozent, bei den Männern 61 Prozent. Auffällig ist in den letzten Jahren eine starke Zunahme bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Der stärkste Zuwachs weltweit zeigt sich allerdings in den Schwellenländern. Die Gründe liegen auf der Hand: Neben der steten Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln ist es auch der Bewegungsmangel, sei es schon bei Jugendlichen und ihrem veränderten Freizeitverhalten, sei es durch die zunehmende Bedeutung von Büro- und Computerarbeit.

Was aber ist eigentlich unser Bedarf an Naturversorgung – wie viele Kartoffeln, Nüsse, Kilogramm Mehl etc. müssen wir eigentlich für eine ausgewogene Ernährung zu uns nehmen? Man könnte die Ernährungspläne und Diättipps unzähliger Ratgeber aufführen und sich der Geschichte der Nahrungsmittelerzeugung widmen, um deutlich zu machen, wie sehr sich hier das Grundbedürfnis nach Nahrung mit dem Leben in der modernen Gesellschaft verwoben hat, aber wesentlich ist immer noch die tägliche Nahrung, die den Bedarf eines jeden Menschen deckt.

Ein Freund von mir, Andreas von Heßberg, macht für einen Mitteleuropäer ungewöhnliche Dinge. Er besucht viele ferne Länder, was an sich nicht so ungewöhnlich ist. Aber er tut dies meist mit dem Mountainbike und sucht sich dabei Gegenden aus, die eher durch die Abwesenheit von Straßen auffallen als durch gute Erreichbarkeit oder die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln. Somit braucht er für seine mehrwöchigen Fahrradtouren einen genauen Proviantplan, für eine vierzigtägige Expedition durch das Hochland von Tibet etwa veranschlagt er 37 Kilogramm Proviant. Dies macht 925 Gramm für jeden Tag, in denen 4500 Kilokalorien enthalten sind, was einer sehr hohen Energiedichte für unsere Nahrungsmittel entspricht.

Und so sieht dann, bei einem zugegeben hohen Energieverbrauch, sein Tagesbedarf aus:

Frühstück: 240 Gramm Müsli, bestehend aus Hafer- und Reisflocken (100 g), Cornflakes (20 g), Grieß (30 g), Zucker (40 g), Nüssen (10 g), Trockenfrüchten (20 g) und Milchpulver (20 g).

Tagsüber sind es (mein Freund sitzt auf dem Rad und hat keine Zeit zu kochen): perlierte Kinderbreie (150 g), Trockenäpfel, -birnen und -aprikosen (25 g), Quittenbrot (10 g), kandierte Früchte und Fruchtleder (25 g), Nüsse (30 g), Schinken (10 g) sowie als einzige „Zugeständnisse“ an die Entwicklungen der modernen Ernährungsindustrie drei Energieriegel pro Tag und Vitamintabletten.

Abends wird gekocht, und eine durchschnittliche Mahlzeit sieht dann in etwa so aus: Nudeln (200 g) oder Couscous (100 g) oder Reis (80 g), dazu Trockengemüse (80 g), Trockenfleisch (30 g), Gewürze und Kräuter, Milchpulver (30 g), getrocknetes Rührei (10 g), Kräutertee mit Zucker und ein Energieriegel.

Das erscheint auf den ersten Blick als gar nicht so viel, aber den Inhalt machen die Kalorien, Mineralien und andere wertvolle Nährstoffe aus, und es kommt mengenmäßig noch das Wasser dazu, das all diese Produkte erst genießbar machen muss. In unseren Nahrungsmitteln, gerade eben auch in den frischen Gemüsen und Früchten, ist dieses Wasser noch enthalten und macht bis zu 95 Prozent und mehr der Masse aus. Damit zeigt sich, dass auch große körperliche Anstrengungen mit einer überschaubaren Menge an Nahrung zu bewältigen sind. Das Gefühl dafür ist uns aber in der Nähe einer Supermarktkasse verloren gegangen.

Auffällig ist im Übrigen auch die Artenvielfalt im Essen: Allein zu der obigen Liste haben mindestens dreißig Pflanzenarten und drei Tierarten – Wildschwein für den Schinken, Hühner für die Eier und Kühe für die Milch – beigetragen. Mein Freund sagte mir, dass diese Vielfalt für eine Expedition nicht unbedingt nötig sei, aber auf einer solchen Tour geht es ja bei all der Anstrengung auch um das eigene Wohlbefinden, und dafür ist das Essen gerade dann auch sehr, sehr wichtig – und eine gewisse Vielfalt, etwa bei Früchten und Nüssen, kann das Wohlbefinden doch wieder erheblich steigern. Und auch hier gilt: Die größte Belohnung ist am Ende der Tour (oder vielleicht auch zwischendurch) die erste Tafel Schokolade oder frisches Brot.

Ausreichende und gesunde Nahrung ist die Basis für unsere Gesundheit. So wie mein Freund sich in erster Linie mit der Nahrung gesund und fit hält, um seine Tour zu meistern, so dient jedem von uns die Nahrung zunächst zur Erhaltung seiner Leistungsfähigkeit, körperlich wie geistig.

Ebenso wie bei der Nahrung hängt auch unsere Gesundheit direkt von der Natur ab – denn sie ist es, die auch Krankheitserregern einen Lebensraum bietet, inklusive wir als Wirte für Parasiten und Viren. Sie bildet aber auch die Grundlage, dass diese nicht überhand nehmen und sich nicht ohne Weiteres ausbreiten. Missleistung (durch Krankheit) und Dienstleistung (durch Behinderung der Ausbreitung) für den Menschen liegen hier eng beieinander. So zeigen zahlreiche Studien, dass Kinder, die in Kontakt mit der Natur aufwachsen, deutlich weniger gefährdet sind, an Allergien zu erkranken. Man könnte auch sagen, der Umgang mit der Natur härtet uns als Naturwesen ab.

Faszination, Respekt und Verbundenheit

Sowohl unsere direkten Abhängigkeiten, und seien sie auch noch so grundlegend in der Evolution des Menschen begründet, als auch unsere emotionalen Einstellungen zur Natur zeigen, wie stark die Qualität unseres Lebens – unser Wohlergehen – von der Natur abhängt. Ernährung und Gesundheit sind die grundlegendsten Bedürfnisse, aber es geht noch weiter, etwa mit unserem Sicherheitsbedürfnis oder dem Wunsch nach intakten sozialen Beziehungen. Eine Natur, die auch für diese Bedürfnisse die Grundlage bietet, ist in vielen Regionen der Erde von zentraler Bedeutung für das Wohlergehen. Dabei bildet die Naturerfahrung nachweislich einen wichtigen Aspekt in der Persönlichkeitsbildung, ob im Erlernen der Nahrungsbeschaffung bei Naturvölkern oder beim Spielen im Wald bei uns. Die Fähigkeit zur sinnlichen Wahrnehmung wird dadurch gestärkt.

Unsere Verbundenheit mit der Natur äußert sich aber auch im beständigen Kampf, den wir im Umgang mit der Natur austragen, denn als Teil der Natur ist uns ebenfalls der Respekt vor ihr eigen. Am eindrücklichsten zeigt sich das wahrscheinlich in vielen Naturreligionen, nicht geringe Spuren davon sind aber auch im industrialisierten Mitteleuropa zu finden, wo die Menschen sich Gedanken über Naturschutz machen oder sich entscheiden, keine Tiere zu essen.

Dabei lässt sich geflissentlich streiten, „wie viel“ Natur wir für unser Wohlergehen brauchen. Viele Städter werden womöglich antworten: „Gar keine!“ Denn sie haben ja einen Supermarkt um die Ecke, haben ein Auto, eine Wasserleitung und ihre Arbeit in einem Büro. Natur mag sich hier in der Wahrnehmung auf den Ficus-Baum neben dem Schreibtisch beschränken. Bei den meisten Menschen jedoch bleibt die Natur ein Teil der Bedürfnisse, und zwar über die Ernährung und die Gesundheit hinaus. So waren die wichtigsten Eigenschaften, die die Deutschen in der Naturbewusstseinsstudie von 2011 nannten: „schön“, „wertvoll“, „nützlich“, „anziehend“ und „vertraut“. Attribute, die auch durchaus gegensätzlich sind und damit unseren Zwiespalt im Umgang mit der Natur aufzeigen.

Der nullte Sektor: Natur ist voll von Dienstleistungen und Dienstleistern

Ein Supermarkt ist eine Dienstleistung. Ein Auto ist ein produziertes Gut und eine durch eine Werkstatt unterhaltene Dienstleistung. Die Straßen sind eine Infrastruktur-Dienstleistung des Staates. Die Wasserleitung und die Tatsache, dass sauberes Wasser durch die Leitung zu uns gelangt, ist auch eine Dienstleistung. Der Pizzadienst, der Putzservice, die Post, die Bank … Wir leben heutzutage in Mitteleuropa in der viel beschworenen Dienstleistungsgesellschaft, was bedeuten soll, dass wir einen wachsenden Teil unseres Einkommens direkt dafür ausgeben, dass andere Personen oder Firmen eine Leistung für uns erbringen, für die wir selbst die Zeit nicht aufwenden wollen oder die wir gar nicht selbst ausführen können. In Deutschland sind über 60 Prozent der Beschäftigten im Dienstleistungssektor, dem tertiären Sektor, tätig. Allerdings erbringen auch die Beschäftigten in den anderen Wirtschaftssektoren eine Leistung für uns.

In der Land- und Forstwirtschaft, dem primären Sektor der Wirtschaft, arbeiten in Deutschland heute noch fünf Prozent der Beschäftigten. Früher lag deren Anteil wesentlich höher, im Zuge der Mechanisierung vor allem in der Landwirtschaft nahm er aber über die Jahrzehnte immer weiter ab. Heute holt ein Landwirt, unterstützt durch unzählige Liter Diesel für den Traktor, Düngemittel und Strom, ein Vielfaches dessen aus der Natur heraus, wofür früher viele Arbeitskräfte notwendig waren.

Im sekundären Sektor, dem produzierenden Gewerbe, sind gegenwärtig in Deutschland 25 Prozent der Beschäftigten tätig. Ihre Produktion basiert zum Teil auf Produkten des primären Sektors und verlangt in noch höherem Maße als dort nach Eingriffen in die Natur, vor allem bei Rohstoffen wie Holz, Eisen, Kohle, Edelmetallen und vielem mehr.

Der ganzen Ökonomie aus primärem, sekundärem und tertiärem Sektor liegt aber noch ein anderer Sektor zugrunde – der nullte Sektor. Basis all unseres Wirtschaftens sind die Natur und ihre Biodiversität mit ihrem gesamten Facettenreichtum. Sie umfasst Abermilliarden „Arbeitskräfte“ und liefert die Grundstoffe für unsere Wirtschaft oft frei Haus.

Alle unsere Güter und Dienstleistungen hängen letztendlich in mehr oder minder großem Umfang von diesem nullten Sektor ab:

  • Nahrungsmittel, Arzneimittelgrundstoffe und Holz als Güter des primären Sektors,
  • Industriegüter, wie Papier aus Holz, Wasser und Energie (ebenso wie der Mikrochip),
  • Dienstleistungen des tertiären Sektors, die vielfach auf den Produkten der ersten beiden Sektoren aufbauen oder diese „weiterverwerten“, Stichwort: Pizzaservice.

Mit unserer auf Wachstum ausgerichteten Wirtschaft nehmen wir dabei einen immer größeren Anteil des nullten Sektors für menschliche Bedürfnisse in Beschlag. So zeigen verschiedene Berechnungen, dass die Menschheit mittlerweile schon 25 Prozent der weltweit produzierten Pflanzenmasse, der sogenannten Nettoprimärproduktion, für ihre Zwecke nutzt. Entsprechend weniger bleibt für die Natur übrig.

Ende der 1980er-Jahre begannen verschiedene Wissenschaftler darüber nachzudenken, wie man die Beziehung zwischen Mensch und Natur, den vielfältigen Nutzen der Natur für das menschliche Wohlbefinden besser greifbar und ein Stück weit systematisch darstellen kann. In der ökologischen Forschung zeigten sich immer mehr die Auswirkungen und Grenzen des menschlichen Wirtschaftens. Die klassische Ökonomie ignorierte den Faktor Natur aus dem nullten Sektor weitgehend und ging davon aus, dass der Verlust an natürlichen Grundlagen durch technische Innovation und Finanzkapital zu ersetzen sei.

Um den Graben zwischen diesen beiden Perspektiven sichtbar und in der Folge auch überbrückbar zu machen, entwickelte die Wissenschaft den Begriff der ökosystemaren Dienstleistungen (auf Englisch: ecosystem services), der recht schnell in Wissenschaft und Politik Karriere machte. Deutlich ist dabei die Anlehnung an den menschlichen Dienstleistungssektor, denn schon der Begriff soll unterstreichen, dass es um die Leistungen der Natur für den Menschen geht, also der Nutzungsaspekt und nicht der Erhaltungsaspekt der Biodiversität im Vordergrund steht.

2005 wurde mit dem Millennium Ecosystem Assessment zum ersten Mal der Versuch einer globalen Erfassung dieser Leistungen unternommen. Das Kurzfazit fiel erschreckend aus – und wenig überraschend: Zwei Drittel der 24 betrachteten Dienstleistungen sind in den letzten fünfzig Jahren teilweise massiv zurückgegangen, nur wenige konnten sich steigern.

Was sind aber nun diese Dienstleistungen, die uns die Natur bereitstellt und die die Grundlage für unsere Wirtschaft bilden? Es gibt viele Möglichkeiten, sie zu klassifizieren. So könnte man sich anschauen, welche Aspekte des menschlichen Wohlergehens die Natur unterstützt – die Grundversorgung, die Gesundheit, gute soziale Beziehungen, Sicherheit und Entscheidungsfreiheit. Für alle diese fünf Aspekte fallen uns, mal mehr, mal weniger klar, Leistungen der Natur ein, die dazu beitragen. Zur Grundversorgung zählen nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch sauberes Trinkwasser und vielleicht sogar die Luft, die wir atmen – die über Jahrmillionen durch die Pflanzen mit Sauerstoff angereichert wurde. Auch die Regulation von Schädlingen in der landwirtschaftlichen Produktion durch natürliche Feinde zählt man dazu. Neben der Ernährung ist der Effekt auf die Gesundheit am offensichtlichsten. Auch heute noch stammen über zwei Drittel unserer Medikamente aus dem Arzneischrank namens Natur. Neben so geläufigen Beispielen wie dem ursprünglich aus der Weidenrinde gewonnenen Schmerzmittel Acetylsalicylsäure, besser bekannt als Wirkstoff des Aspirins, tauchen in unserem Umfeld auch immer wieder neue Naturprodukte auf, die der Gesundheit förderlich sind, denken wir nur an Teebaumöl, den Hoodia-Kaktus, Aloe Vera oder Mittel aus dem Erdrauchkraut. Aber Gesundheit lässt sich noch viel weiter fassen. So können gesunde Ökosysteme das Aufkommen von Krankheitserregern regulieren und reduzieren.

Bereits im 19. Jahrhundert bildete sich ein Bewusstsein dafür, dass diesen Leistungen der Natur vor allem bei der Grundversorgung und Gesundheit eine zentrale Bedeutung zukommt und sie hinsichtlich der Entwicklung einer Gesellschaft von strategischer Bedeutung sein könnten. So schrieb bereits um 1870 der britische Botaniker Richard Spruce: „Jedwede pflanzliche Substanz, die dem Menschen von Nutzen ist, muss durch Kultur der jeweiligen Pflanze gewonnen werden. Denn während die Nachfrage nach so kostbaren Stoffen wie Jesuitenrinde, Sarsaparille, Kautschuk und so weiter zwangsläufig steigt, wird das, was der Wald liefert, immer weniger werden und letztendlich versiegen.“ Die britische Regierung und andere Kolonialmächte handelten entsprechend und versuchten einerseits, wertvolle Pflanzen zu finden und idealerweise in ihren Heimatländern oder in eigenen Kolonien zu kultivieren. Das markante Ergebnis dieses Strebens ist einer der beeindruckendsten botanischen Gärten der Welt: Kew Gardens in London. Dort werden auch heute noch mehrere tausend Pflanzenarten gezüchtet und erhalten. Die Samenbank des Gartens enthält 30 800 Arten aus der ganzen Welt mit ca. 1,8 Milliarden Samen. Und auch wenn der kommerzielle Nutzen aus dieser Sammlung gegenüber der reinen Erhaltung der Artenvielfalt mehr und mehr in den Schatten tritt, spielt er doch noch immer eine Rolle. Denn es darf nicht vergessen werden: Auch die Vielfalt hat ihren monetären Wert. Jeder Orchideenliebhaber, der Pflanzen für seine Sammlungen erwirbt, wird das bestätigen.

Auf der anderen Seite wurden um solche Schätze auch schon früh Kriege geführt, an vorderster Front standen die Kolonialmächte. Die Muskatnuss beispielsweise, im 16. Jahrhundert für den europäischen Markt entdeckt, zählte schnell zu den „In-Produkten“ in Europa, u. a. weil sie als wirksames Mittel gegen die Pest galt. So wurde sie zu einem stark umkämpften Handelsgut im asiatischen Raum. Die Niederlande als Kolonialherren der Banda-Inseln, auf denen der Muskatnussbaum wuchs, bauten erfolgreich ein entsprechendes Monopol auf. Erst als es 1770 gelang, Muskatnussbaum-Setzlinge von der Insel zu schmuggeln und auf Mauritius zu kultivieren, fiel das Monopol und die Kämpfe verlagerten sich auf andere Produkte.

Betrachten wir die „guten sozialen Beziehungen“ als wichtigen Faktor unseres Wohlergehens, so mag es uns aus unserer westlichen Perspektive etwas schwierig erscheinen, hier die Bedeutung von Ökosystemen zu erkennen. In anderen Kulturen gilt dieser Faktor aber als essenziell. Die gemeinsame Versorgung mit Lebensmitteln und Gebrauchsgütern aus der Natur ist dort häufig entscheidend für den Familien- oder Gruppenzusammenhalt. Besonders bei vielen Naturvölkern ist der Umgang mit der Natur nach bestimmten Regeln ausschlaggebend für die Erhaltung der Familien und Stämme.

Eng damit verbunden ist auch das Thema Sicherheit – weit über die Lebensmittelversorgung hinaus. Das Dach über dem Kopf, das vor Regen und Unwettern schützt, besteht häufig noch aus Naturgütern. Oder denken wir an die Regulationsfunktion einer intakten Flussaue bei Überflutungen oder an die Klimaregulation von großen Grünanlagen in der Stadt. Gibt es für all diese Bedürfnisse genügend Optionen aus der Natur, erhöht sich auch in erheblichem Maße die Entscheidungsfreiheit. Für viele von uns erscheint das als selbstverständlich. Entscheidungsfreiheit haben wir zur Genüge, wenn das Einkommen stimmt. Dann können wir auch im Winter Erdbeeren aus Marokko, Spargel aus Peru oder Kaviar aus Russland kaufen. Oder Weine und Wasser aus der ganzen Welt.

Wie man an den Beispielen erkennt, gestaltet sich der Einfluss der Natur auf das menschliche Wohlergehen vielfältig. Er kann sich positiv, er kann sich aber auch negativ auswirken, denkt man etwa an Krankheitserreger oder die tierischen Feinde des Menschen. Der US-amerikanische Autor David Quammen beschreibt dies sehr eindrücklich in seinem Buch „Das Lächeln des Tigers“ über das ambivalente Verhältnis von menschlichen Kulturen zu den Tierarten, die dem Menschen die Rolle als Endpunkt der Nahrungskette streitig machen und gelegentlich sogar Menschen töten und fressen – sei es das Krokodil, der Tiger, Löwe oder Braunbär. Solche Beziehungen sind aber zugleich eine wichtige Basis für die ganze Entwicklungsgeschichte der Menschheit.

Raubtiere können auch die Existenz von Schaf- und Rinderhaltern gefährden, indem sie deren Nutztiere töten. Die Natur hier als Service zu betrachten wird uns allen schwerfallen, und genau diese Wahrnehmung von Raubtieren hat nicht zuletzt dazu geführt, dass in Mitteleuropa viele von ihnen schon zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert ausgerottet worden sind, so etwa Wolf, Braunbär und Luchs. Der Löwe, den wir heute als rein südund ostafrikanisches Tier wahrnehmen, war noch zur Zeit der Römer über ganz Afrika bis hin nach Griechenland, die Türkei, Persien und das nördliche Indien verbreitet, wurde aber fast überall ausgerottet. Neben den afrikanischen Savannenlöwen hat nur eine kleine Population im indischen Gir-Wald zwei Jahrtausende der Nachstellungen überlebt.

Auch andere Arten, die in Nahrungskonkurrenz zum Menschen stehen – etwa der Fischotter oder der Kormoran –, wurden gezielt verfolgt und standen in Mitteleuropa zuweilen am Rande der Ausrottung. Heute kommen viele dieser Tiere wieder in unseren Breiten vor, teilweise sogar vom Menschen gefördert. Mit dem Ergebnis, dass fast überall die öffentliche Meinung sofort wieder von einer „Fehlleistung“ der Natur spricht, da diese Arten Wild, Fisch und Vieh fressen, also genau dieselbe Nahrung brauchen wie der Mensch. Kompensationsmaßnahmen müssen sichergestellt werden, der durch diese Tiere verursachte Schaden muss sich in Grenzen halten, etwa indem der Verlust eines Schafes, das durch einen Wolf oder einen Luchs gerissen wird, kompensiert wird.

Einen viel größeren Effekt als all diese Raubtiere haben Krankheitserreger jeglicher Art, die unzählige Menschen das Leben kosten und damit eine weitaus größere „Fehlleistung“ darstellen als Fischotter oder Kormoran. Allein an Malaria sterben jährlich etwa eine Million Menschen, neunzig Prozent davon in Afrika. Gelbfieber verursacht pro Jahr ca. 30 000 Tote, Grippeviren sind für schätzungsweise 250 000 bis 500 000 Tote verantwortlich. Laut Zahlen der Weltgesundheitsorganisation waren es auch 2008 wieder die natürlichen Feinde des Menschen, die den Hauptgrund für die meisten Toten weltweit boten. Gemeint sind vor allem Krankheiten. Und es ist interessant, dass sich tendenziell dort am meisten Infektionskrankheiten finden, wo die Artenzahlen an Säugetieren und Vögeln, unseren engen Verwandten im weiteren Sinne, groß sind.

Schädlinge und Parasiten an unseren Nahrungsmitteln zerstören jährlich Millionen von Tonnen an Nahrungsmitteln und gefährden damit die Lebensgrundlage vieler Menschen. Nicht ohne Grund zählt schon das Alte Testament die Massenvermehrung von Heuschrecken, Stechmücken und Stechfliegen zu den zehn Plagen, die über Ägypten hereinbrechen, ebenso wie Viehpest und Schwarze Blattern. Im Altertum waren diese natürlichen Gefahren noch viel greifbarer und bedrohlicher als heute.

Allerdings ist die Natur nie einseitig, sie kann auch wieder den Service bieten, solche natürlichen Gefahren zumindest abzumildern. Das wird vor allem dort deutlich, wo die Natur zurückgedrängt wurde. Die Verbreitung etwa von Infektionskrankheiten wurde häufig durch die Umwandlung von natürlichen Ökosystemen in intensiv genutzte Landschaften verstärkt. Insbesondere Umwandlungen in Wassereinzugsgebiete können Gefahren bergen. Ein Dammbau am Senegal-Fluss führte in den 1980er-Jahren dazu, dass sich die Zusammensetzung der Schneckenpopulationen im Wasser wesentlich veränderte. Die häufiger auftretende Schnecke Biomphalaria pfeifferi war aber Wirt und Überträger der Schistomatose, einer schweren Tropenkrankheit, die sich in der Folge im gesamten Gebiet massiv ausbreitete. Und es gibt auch Beispiele dafür, wie starke Abholzung dazu führt, dass der Übergang von Krankheiten aus Waldgebieten in von Menschen bewohnte Gebiete stark zunimmt, aus dem Grund, dass sich nun Wirtstiere und Insekten als Überträger näher beim Menschen befinden. Ökosysteme können hier also als Serviceleistung eine Pufferwirkung bieten.

Ein letzter wichtiger Faktor ist auch das enge Zusammenleben des Menschen mit seinen Nutztieren, ggf. noch in direkter Nähe zu gestörten Lebensräumen, wie oben beschrieben. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit noch weiter, dass durch Nutztiere als Zwischenwirte eine Krankheit auf den Menschen übertragen wird. Ein bekanntes Beispiel dafür war vermutlich der Ausbruch des SARS-Virus im Jahr 2002/2003, bei dem ca. tausend Menschen, vornehmlich in Südostasien, starben. Es wird vermutet, dass das Virus womöglich durch verzehrte Wildtiere, etwa Schleichkatzen, übertragen wurde.

Beim Konzept der ökosystemaren Dienstleistungen stehen also diese positiven Aspekte im Vordergrund. So versucht auch die am häufigsten gebrauchte Einteilung von Ökosystemdienstleistungen, hauptsächlich mit drei positiven Kategorien auszukommen.

Natur als Versorger

Versorgungsleistungen liefern dem Menschen alle essenziellen Güter aus der Natur – Nahrung, Kleidung, Holz, Arzneimittel und vieles mehr. Hinzu kommt die Wasserversorgung. Nach dem Millennium Ecosystem Assessment von 2005 war bei den Leistungen Getreideanbau, Viehbestand und Aquakultur in den letzten fünfzig Jahren ein starker Anstieg zu verzeichnen, bei Holz und anderen Naturfasern bot sich ein gemischtes Bild. In vielen tropischen und subtropischen Ländern nimmt der Waldbestand weiter massiv ab, ebenso in Sibirien und teilweise in Nordamerika. In Europa dagegen nimmt der Waldbestand zu, auch wenn er seit dem Boom der Bioenergie wegen der Holzhackschnitzeln oder Holzpellets wieder stärker unter Nutzungsdruck steht. Negativ sind dagegen die Entwicklungen beim Fischfang und anderen Gütern aus der Natur wie etwa Trinkwasser, Brennmaterial, pharmazeutischen Stoffen und genetischen Ressourcen im Allgemeinen. Hier hat sich die Situation in den letzten fünfzig Jahren großflächig verschlechtert.

Natur als Regulator

Regulationsleistungen runden über die Versorgungsleistungen hinaus das „große Bild“ ab. Dabei geht es etwa um die Klimaregulation, kleinräumig in der Stadt, aber ebenso global durch die Festlegung von Kohlenstoff in Pflanzen und Böden, die Hochwasserregulation an Flüssen, die Vermeidung von Erosion an Hängen und Sturmschäden an der Küste, aber auch die Grundwasseranreicherung und damit die dauerhafte Versorgung von Ökosystemen mit Wasser. Die Regulierung von Krankheitserregern findet hier ebenfalls ihren Platz.

Und auch hier fällt das Bild in den letzten fünfzig Jahren eher negativ aus. Zwar kann die Kohlenstoffspeicherung in den Ozeanen, Böden und Wäldern bislang eine positive Bilanz aufweisen – etwa die Hälfte des durch den Menschen zusätzlich ausgestoßenen CO2 wird derzeit dort gebunden, vor allem in den Ozeanen –, doch könnte sich das in der Zukunft schnell ändern. Bei der Regulierung des Wasserhaushalts gibt es ebenso Erfolge wie Probleme – z. B. durch zunehmende Überschwemmungen. Die Eindämmung von Krankheiten kann in vielen Bereichen der Welt eine positive Bilanz aufweisen, auch dank der Mithilfe der Natur, aber nicht überall. Bei allen anderen Regulationsleistungen der Natur gibt es jedoch negative Trends. So ist die Luftreinhaltung zunehmend schlechter geworden, auch die regionale Klimaregulation, etwa durch große Waldflächen, verschlechtert sich. Weltweit stellt die Bodenerosion ein massives Problem dar, sogar die Selbstreinigungsfunktion des Wassers ist reduziert, ebenso die biologische Schädlingsbekämpfung wie auch die Bestäubung von Pflanzen. Und schließlich hat der Schutz vor natürlichen Extremereignissen abgenommen. So werden an den Küsten im tropischen Bereich mehr und mehr Korallenriffe und Mangrovenwälder zerstört, die einen natürlichen Schutz vor Stürmen bieten. Ebenso hat die Fähigkeit vieler Flüsse und ihrer umgebenden Flächen abgenommen, Hochwassergefahren zu puffern. Die „Jahrhundertflut“ an der Elbe im Jahr 2002 ist hier nur ein Beispiel. Vielfach hat dies auch direkt damit zu tun, dass sich die menschlichen Siedlungen an Küsten und Flüssen weiter massiv ausweiten. Entsprechend steigen bei Extremereignissen auch die Schäden – wo mehr Kapital verbaut ist, kann auch mehr zerstört werden.

Natur als Kulturleistung

Kulturelle Leistungen, die dritte Kategorie, sind ein Stück abstrakter und stehen in engem Zusammenhang mit dem, was wir für und durch die Natur empfinden und wie die Natur zu unserem Wohlbefinden beiträgt. Allein schon ein ästhetisches Erleben kann damit gemeint sein oder die spirituelle Bedeutung von Natur, etwa von heiligen Bäumen und Hainen. Beispiel Gartenarbeit: Millionen von Deutschen ist es ein Bedürfnis, ihren Garten zu pflegen, den Pflanzen beim Wachsen zuzusehen und das Wachstum zu kontrollieren, mit der Rosenschere oder dem Rasenmäher. Steht genügend Platz zur Verfügung, schaffen sich die meisten Gärtner ein kleines Stück „Savanne“ – eine offene Fläche Rasen, an deren Rändern vereinzelt Bäume stehen. Ein Ideal, das sich auch in vielen Parkanlagen zeigt, sei es bei den klassischen „englischen“ Gärten, die sich in ganz Europa erhalten haben und viele Besucher anziehen, sei es bei japanischen Gärten, wo der Schaffung von Sichtachsen und der genauen Kontrolle von Proportionen einzelner Pflanzen und Bereiche noch mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Womöglich liebt der Mensch als Garten- und Parkgestalter auch deshalb offene, savannenartige Flächen, weil er ursprünglich aus eben dieser Landschaft stammt und über Jahrmillionen hinweg den überlebenswichtigen weiten Blick über die ihn umgebende Landschaft benötigte. Somit kann man in einer offenen Garten- und Parkgestaltung auch eine Dienstleistung an einen der Urinstinkte in uns Menschen erkennen.

Dieser Teil der Naturdienstleistungen ist perfekt durch den Menschen „in Wert gesetzt“ worden. Die Dienstleistungen im Gartenbau machten in Deutschland im Jahr 2005 einen Umsatz von ca. 5,2 Milliarden Euro. Die jährlichen Produkte des Gartenund Obstanbaus haben einen Wert von ca. 4,6 Milliarden Euro. Es gibt über 34 000 Betriebe in Deutschland, die uns alljährlich mit Obst und Gemüse, neuen Pflanzen und Saatgut versorgen. Von den 23 000 Betrieben, die ihren Schwerpunkt auf die Erzeugung von Pflanzen legen, sind 2300 Betriebe Baumschulen, 5900 Betriebe produzieren Blumen und Zierpflanzen. Die Produktionsdienstleistung der Natur wird hier eng mit der kulturellen Dienstleistung des Sich-Erfreuens an der Natur verknüpft. Jeder, der auf dem Balkon oder im Garten Zierpflanzen, Obst, Gemüse oder Kräuter zieht, wird das wissen. Die Produktion von Nahrung ist eben auch eine kulturelle und zugleich entspannende Handlung. Der Schrebergarten oder seit wenigen Jahren das urbane Gärtnern, bei dem sich eine Gruppe Interessierter zusammenfindet, um auf Brachflächen in der Stadt Obst, Gemüse und Blumen anzubauen, sind dafür ein Ausdruck.

Auch die Erholungsfunktion einer Parkanlage oder eines Stadtwaldes und die Bedeutung der Natur als Urlaubsort spielen eine wichtige Rolle, wenn beispielsweise Millionen von Touristen in National- und Naturparks fahren. Die Idee, die Natur zum Erholungsort und damit auch explizit zur Geldquelle für die Erhaltung eben dieser Natur zu machen, kam über den deutschen Zoologen und Direktor des Frankfurter Zoologischen Gartens Bernhard Grzimek nach Deutschland. Um die Steppenlandschaft der Serengeti in Tansania zu retten, drehte er zusammen mit seinem Sohn Michael den Oscar-prämierten Film „Serengeti darf nicht sterben“. Dadurch wurde Grzimek in Deutschland bekannt, und seine Sendung „Ein Platz für Tiere“ lief über dreißig Jahre im deutschen Fernsehen. Um die Serengeti zu erhalten, warb Grzimek für einen Pauschaltourismus als Einnahmequelle – mit Erfolg: Prompt fragten interessierte Deutsche massenhaft bei Reiseveranstaltern nach. Auch vor Ort nutzen Grzimek und andere westliche Naturschützer das Argument. Um das Bild der intakten, menschenfreien Natur zu sichern, wurde dafür aber auch die einheimische Bevölkerung aus Nationalparks wie der Serengeti verdrängt, die Einnahmen blieben nur wenigen vorbehalten. Ein Bild, das auch heute noch mancherorts vorherrscht, wo „wilde“ Natur verkauft wird. Und dieses Argumentationsmuster ist noch heute im Naturschutz wichtig. In den letzten Jahren wurden auch in Deutschland zahlreiche Studien angefertigt, die verdeutlichen, wie bedeutsam der Tourismus auch für die deutschen Nationalparks ist. So kommen in die Sächsische Schweiz, wie ein Team um Professor Job von der Universität Würzburg ermittelte, 530 000 Besucher einzig wegen des Nationalparks. Zusätzliche 1,18 Millionen Gäste kommen zu anderen Besuchszielen der Region, vor allem ins nahe gelegene Dresden. Jeder Tourist gibt im Durchschnitt 34 Euro pro Tag aus, was einem Gesamtumsatz von etwa 58 Millionen Euro entspricht – ein großer Teil davon verbleibt in der Sächsischen Schweiz und sichert das Einkommen von annähernd zweitausend Personen.

Schätzungen aus dem Jahr 2003 besagen, dass alle Nationalparks, Biosphärenreservate und Naturparks in Deutschland zusammen ca. 290 Millionen Besucher zählten. Das reicht vom einfachen Tagesausflug und Spaziergang in einem Naturpark nahe den Ballungszentren bis hin zu mehrwöchigen Urlauben etwa im Nationalpark Wattenmeer. Alleine dort nahmen im Jahr 2007 insgesamt 125 000 Menschen an rund 6200 Wattführungen teil.

War zu Zeiten von Bernhard Grzimek der Tourismus vielleicht noch eine gute Idee, um den Wert intakter Natur für den Lebensraum zu verdeutlichen und zu sichern, ist der Tourismus heute allerdings ein Problem in vielen dieser Gebiete. Durch die hohe Zahl an Touristen – zum Beispiel kommen gegenwärtig ca. 140 000 jährlich in die Serengeti – sind die Störungen für die Tierwelt massiv. Aus ökologischer Sicht müsste der Zugang stärker beschränkt werden, was der örtlichen Tourismusbranche aber wenig behagt. Der Natur-Tourismus im südlichen Afrika ist schon lange ein Massenphänomen. Neben den großen Nationalparks gibt es in Südafrika unzählige private Parks oder Wildfarmen, die die Sichtung der „fünf Großen“ jeder Safari – Elefant, Spitzmaulnashorn, Afrikanischer Büffel, Löwe und Leopard – versprechen. Diese fünf Großen hatten ursprünglich eine ganz andere Bedeutung – sie waren die fünf großen Ziele der Großwildjäger – und sie sind es für die Wilderer in doppelter Hinsicht auch heute noch.

Solche Beispiele für das Spannungsfeld zwischen Naturschutz und Tourismus gibt es etliche in der Welt, etwa am Kilimandscharo, den mittlerweile mehr als 20 000 Touristen pro Jahr besteigen wollen. Auch der Mount Everest wird von den Massen überrannt, wenn man das beim höchsten Berg der Erde so nennen kann. In den letzten Jahren schafften es immerhin durchschnittlich 500 Menschen pro Jahr auf den Gipfel. Am 23. Mai 2010 wurde mit allein 170 Personen an einem Tag der bisherige Rekord aufgestellt. Und auf jeden Gipfelbesteiger kommen weit über zehn Begleitpersonen im Basislager. Entsprechend stark belastet wird die empfindliche Hochgebirgsnatur.

Gerade auch in den Industrieländern ist das Problem immanent: Im Wattenmeer, das jährlich viele Millionen Urlauber besuchen, wachsen die Herausforderungen, die Natur vor Störungen zu schützen. In den amerikanischen Nationalpark-Ikonen, dem Yosemite-Nationalpark in Kalifornien oder dem Yellowstone-Nationalpark in Wyoming, wo Jahr für Jahr 3,5 bzw. 3,6 Millionen Besucher vor allem im Sommer herbeiströmen, werden die Zufahrtsstraßen zeitweise geschlossen, weil die Verkehrswege in den Parks nur eine begrenzte Anzahl von Autos aufnehmen können. Die Erlaubnis, mit dem Rucksack ins Hinterland der Parks zu wandern, wird streng reglementiert – aber das wollen die meisten Gäste auch gar nicht. Sie beschränken sich auf den Besuch der zentralen Aussichtspunkte. Dass auch diese Natur nicht mehr naturbelassen ist, überrascht kaum. Die Wölfe im Yellowstone-Nationalpark wurden in den 1930er-Jahren ausgerottet, von den einstmals riesigen Bison-Herden hatten Anfang des 20. Jahrhunderts nur wenige Dutzend Tiere überlebt. Die Bisons wurden in den 1920er-Jahren durch eine gezielte Zucht gerettet, sodass heute mehrere tausend Tiere dort leben. Wölfe wurden erst 1995 erneut eingeführt, nun gibt es wieder mehr als einhundert Tiere, die sich auch im Umkreis ausgebreitet haben. Ähnlich wie bei den „fünf Großen“ in Ost- und Südafrika gehört es im Yellowstone einfach dazu, mindestens ein Bison gesehen zu haben. Wolf und Bär, ob Grizzly oder Schwarzbär, und der Wapiti-Hirsch runden das Fotoalbum des Touristen ab. Zumindest bei einigen Arten ist die Sichtung nicht weiter schwer: Bisons haben mittlerweile eine so geringe Scheu, dass sie direkt neben den Straßen zu entdecken sind. Schwarzbären sind sogar zum regelrechten Problem geworden, weil sie sich an den Müll der Camper als Nahrungsergänzung gewöhnt haben.

Das Millennium Ecosystem Assessment kommt bei den kulturellen Dienstleistungen zu einem ambivalenten Schluss: Erholungsfunktion und (nachhaltiger) Tourismus in der Natur haben zugenommen. Mehr als die Hälfte der Menschheit wohnt heute in Städten, eine naturnahe Umgebung als Ausgleich ist daher ein wichtiger Faktor für deren Wohlbefinden. Dagegen stehen die entsprechenden negativen Auswirkungen einer Massennutzung – man stelle sich nur eine nicht durch Hotelkomplexe zugebaute Mittelmeerküste vor.

In unserer Gesellschaft schätzen wir viele Dinge wert. Eine gute Mahlzeit des Agrar- und Fischereisektors, vielleicht mit einem guten Stück Kabeljau oder Rindfleisch und verschiedenen Gemüsesorten und Kartoffeln dazu. Zum Dessert eine Mousse au Chocolat oder Crème brûlée mit Kakao oder Vanille aus den Tropen. Der Bausektor erfreut uns, wenn wir ein neues Haus beziehen können, am liebsten im Grünen und vielleicht sogar mit vielen natürlichen Baustoffen gebaut. Bei den Dienstleistungen steht für uns heute, glaubt man der Werbung, ein schneller Internetzugang mit dem neuesten Mobilfunkgerät an erster Stelle. Schaut man aber auf Umfragen, die sich damit beschäftigen, was für das Wohlergehen der Menschen am wichtigsten ist, haben meist immer noch Gesundheit, Partnerschaft und Familie die Priorität vor den wirtschaftlichen Dingen. All diese Aspekte unseres Wohlergehens drücken wir in Werten für unser persönliches Leben und unser Zusammenleben aus. Verblüffenderweise sind viele dieser Dinge, ob direkt oder indirekt, mit dem Facettenreichtum der Natur und ihren Leistungen für uns verbunden. Darin spiegelt sich in vielfältiger Weise die Rolle der Natur als nullter Sektor unserer Wirtschaft und Gesellschaft wider.

Die Wissenschaften haben lange Zeit die Grundidee, die Natur als Basis all unseres Wirtschaftens und Handelns anzuerkennen, links liegen gelassen. Natur-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften waren sauber getrennt, und die Natur galt vornehmlich als eine rein statische oder zumindest den Bedürfnissen anpassbare Randbedingung unserer Verwirklichung und unseres Wertesystems. Auf einem enger werdenden Planeten wird dies aber nun neu überdacht, natürliche Grenzen werden wahrgenommen und als eine erweiterte Basis des wirtschaftlichen Handelns erkannt. Die sogenannte ökologische Ökonomie, die erst in den 1980er-Jahren als Gegenentwurf zur klassischen Ökonomie entstand, setzt das menschliche Handeln und Wirtschaften in den Rahmen der natürlichen Ressourcen. Kernpunkt ist dabei die Frage, wie wir Menschen mit begrenzten, von uns wertgeschätzten Ressourcen so umgehen können, dass sie auch dauerhaft erhalten bleiben, mit dem Ziel, dass wir sie weiterhin nutzen können und die Natur, welche all dies schafft, auch erhalten bleibt.

Dieser kleine Dreisatz – Natur schützen, um zu erhalten, was wir aus ihr nutzen – ist vielleicht die komplexeste Formel, die die Wissenschaft zu verstehen und in Handlungswissen zu übersetzen hat. Denn die Gleichungen sind für jeden Fall neu und nicht immer sofort einleuchtend, und sie bergen zahlreiche Konflikte, zum Beispiel zwischen Aal und Wasserwirtschaft, zwischen Kormoran und Freizeitangler, zwischen Hochwasserschutz und Schifffahrtsstraße, zwischen Landwirt und Natur- und Artenschützer.

Gründe für Wertschätzung sind auch Gründe für ein Mehr und ein Weniger

Das Spannungsfeld zwischen dem Schutz der Natur einerseits und der Nutzung ihrer Leistungen für den Menschen andererseits wirkt sich auf alle Facetten der Biodiversität aus – auf Arten, Populationen, Ökosysteme und ihr Zusammenwirken. Es zeigt die Komplexität des menschlichen Umgangs mit der Natur. Der Bielefelder Umwelthistoriker Joachim Radkau bezeichnet diese schwierige Beziehung als eine „spannungsvolle Mischung destruktiver und schöpferischer Prozesse“, denn der Mensch wägt auf den verschiedenen Skalen, meist aber in seinem direkten Umfeld, bei seinen Entscheidungen verschiedene Werte gegeneinander ab. Er ist schöpferisch tätig, um den Nutzen von Naturgütern auszuweiten und zu sichern. Ohne die Naturgüter könnten wir nicht überleben, sie bilden unsere Lebensgrundlage. Aber das Schöpferische äußert sich nicht allein konstruktiv, sondern auch in der Destruktion – entweder direkt, wenn es darum geht, Schädlinge oder gefährliche Tiere zu töten, oder indirekt, indem wir Flüsse mit Nährstoffen anreichern, die eigentlich nebenan auf einem Acker zum besseren Wachstum der Anbaufrüchte eingesetzt werden.

Die schöpferische Beziehung zur Biodiversität äußert sich aber genauso im bewussten Umgang mit unserer Umwelt, die wir über unsere direkten biologischen Bedürfnisse hinaus schätzen und deswegen erhalten wollen. Dies mag dem Genuss und der Entspannung dienen, geschaffen durch einen Garten und Park, oder zur Erhaltung der Natur aufgrund ihres Eigenwertes in Naturschutzgebieten und Nationalparks. Nicht zuletzt kann es auch in der schlichten Faszination für die Komplexität der Vielfalt begründet sein, die uns umgibt.

Wolfgang Haber, einer der führenden Ökologen Deutschlands der letzten Jahrzehnte, hat diese schwierige Beziehung des Menschen zur Natur sehr schön und treffend beschrieben: Er spricht vom Menschen als einem biologisch-geistigen Doppelwesen. Als biologisches Wesen gleichen unsere Eigenschaften, Antriebe und Verhaltensweisen denen höherer Säugetiere. Dieses biologische Wesen muss seine Grundbedürfnisse befriedigen. Jeder Einzelne von uns muss das, aber auch die Menschheit mit sieben Milliarden Individuen insgesamt. Als geistige Wesen haben wir zusätzlich unseren Intellekt, unser Wissen und unseren bewussten Umgang mit Gefühlen. Beide Teile dieses dualen Wesens führen, ökologisch betrachtet, zu einer Unausgewogenheit im Umgang mit der Umwelt, aber auch im Umgang mit anderen Menschen. Hinzu kommt die Herausforderung des Handelns in einer komplexen Gesellschaft, mit der hauptsächlich das geistige Wesen konfrontiert wird.

Werden hier die Anforderungen und Zwänge zu groß, etwa bei der Diskussion um Arbeitsplätze, Wirtschaftswachstum und EU-Rettungsschirm, so kann das den Blick auf die Naturnotwendigkeiten verstellen, wie der Umwelthistoriker Radkau konstatiert. Die Gesellschaft ist mit sich selbst beschäftigt, der Bezug zur Umwelt geht verloren, im Kleinen wie im Großen. Und gerade jetzt, in Zeiten der permanenten Wirtschafts- und Finanzkrise, ist dies im Großen zu beobachten. Alles konzentriert sich auf die Rettung des bestehenden Wirtschaftssystems, zu viel scheint davon abzuhängen: Arbeitsplätze, Einkommen und gesellschaftliche Sicherheit. Und doch haben einige Länder beschlossen, einen Schritt weiter zu denken: Wenn man schon in den Jahren 2009/2010 große Konjunkturprogramme aufsetzt, dann könnten diese doch „grün“ sein, also vor allem nachhaltigere Wirtschaftszweige fördern. Beim Gipfel der Vereinten Nationen für Entwicklung und Umwelt in Rio de Janeiro im Jahr 2012, zwanzig Jahre nach dem ersten dort stattgefundenen Gipfel, der die Klimarahmenkonvention und das Übereinkommen zur Biologischen Vielfalt verabschiedet hatte, hätte man diese Idee einen entscheidenden Schritt voranbringen können. Nötig gewesen wäre eine ähnliche Kampagne auf globaler Ebene. Doch die Ergebnisse fielen eher bescheiden und unverbindlich aus. Die Politik ist derzeit nicht willens, die zusätzliche Komplexität einer dauerhafteren Wirtschaftsweise in die laufenden Diskussionen einzubringen. Auch in den Berichterstattungen zum Rio-Gipfel zeigten sich die wahren Prioritäten. Die Ergebnisse des Gipfels wurden erst gegen Ende der Nachrichten präsentiert, weit hinter den Diskussionen zu Griechenland und der Euro-Krise – und der Fußball-Europameisterschaft.

Dabei stellt unser duales Wesen auch eine faszinierende Herausforderung für uns dar – als Individuen und als Gesellschaft. Wie kann es uns gelingen, den biologischen, wie, den geistigen Teil mit Glück und Wohlergehen zu erfüllen – und das für viele Milliarden Menschen? Die genannten Faktoren zeigen: Das Zusammenspiel von ökologischen und ökonomischen Fragen ist komplex. Einzelne Aktivitäten scheinen häufig überhaupt nicht ins Gewicht zu fallen, doch in der Summe werden sie zur Belastung für die Natur. Und diese Belastung zeigt sich meist an ganz anderer Stelle, etwa bei verfrachteten Giftstoffen, oder sie wird globalisiert, z. B. beim Ausstoß von Treibhausgasen, wo andere Regionen der Erde stärker von den Folgen betroffen sind als die eigentlichen Verursacher. Während wir beim Thema Klimawandel das Gefühl haben, mitreden zu können – immerhin erleben wir das Wetter tagtäglich (auch wenn dies nichts über langfristige Klimatrends aussagt) –, können wir den Verlust an Arten und Ökosystemdienstleistungen nur schwer wahrnehmen. Die dauerhafte Verschmutzung unserer Flüsse durch ein Übermaß an Nährstoffen bleibt uns meist verborgen. Noch in den 1960er-Jahren war das anders (und auch wirklich abstoßend): Tote Fisch schwammen auf dem Wasser, und allein der Geruch eines Flusses zeigte, dass er biologisch tot sein musste. Heute sind die Effekte bei uns in Mitteleuropa versteckter und zeigen sich vielleicht einmal in toten Zonen im Wattenmeer oder in der Ostsee. Oder eben in verschmutzten Flüssen in anderen Teilen der Welt.

Wenn Sie in Ihrem Garten sitzen und vor Ihnen fällt ein Vogel tot vom Baum, können Sie nicht sagen, es sei vielleicht der Letzte seiner Art oder zumindest der Letzte seiner Art in Ihrer Region gewesen. Außerdem gibt es ja noch viele andere Vögel, und die Natur sieht weiterhin heil aus. Zumeist erkennt man Veränderungen in der Natur nur langfristig. Viele ältere im Naturschutz aktive Menschen erzählen zum Beispiel immer wieder von den blütenreichen Blumenwiesen und teilweise auch Äckern der 1950er- bis 1970er-Jahre, die durch die Intensivierung der Landwirtschaft verloren gingen. Ältere Jäger können noch von reichlich Hasen, Fasanen oder Rebhühnern auf den Feldern berichten, die man heute kaum mehr findet. Aber für die Wahrnehmung von solchen schleichenden Prozessen sind die Menschen kaum geschaffen, wir vergessen schnell, dass es auf einer Wiese früher mehr Kiebitze gab, wenn wir nicht tagtäglich damit zu tun haben. Und die Natur als Ganzes scheint intakt zu bleiben.

Und wir vergessen auch schnell die wirtschaftlichen Folgen, die solche Veränderungen mit sich führen können. Untersuchungen zur Elbeflut 2002, durchgeführt vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, zeigen etwa, dass direkt nach der Flut die Bereitschaft groß war, Häuser nicht mehr auf potenziellen Überflutungsflächen zu bauen und dem Fluss wieder mehr Raum zu geben. Eine Einstellung, die wenige Jahre später weitgehend verschwunden war. Nun nutzt man die Flächen wieder so, als gäbe es keine Hochwassergefahr mehr. Die wirtschaftliche Bedeutung von Naturflächen zur Vermeidung von immensen Schäden durch zukünftige, scheinbar zufällig stattfindende Extremereignisse wird gegenüber den kurzfristigen, aber regelmäßigen Interessen einer produktiven Ackerfläche hinter einem Deich oder einem Haus am Fluss vergessen.

Diese Wahrnehmung von Mehr und Weniger in der Natur liegt irgendwo zwischen unserem geistigen und biologischen Bezug zu dem, was uns erhält, der Biodiversität. Um dieses Mehr und Weniger als Bezugspunkt zur Reduktion der Komplexität, in der wir uns bewegen, soll es in den nächsten beiden Kapiteln gehen. Und wir beginnen mit dem vielleicht einzigen Vogel, von dem man in der Tat sehr genau weiß, wann der Letzte seiner Art tot vom Baum fiel.