Doch die Gesamtheit dieser neuen Welt war nichts im Vergleich zu dem, was vor mir stand – seine beträchtliche Erektion bewies mir seine Gier, und ich spürte seine hungrigen Blicke auf meiner Haut. Jeder einzelne Muskel schien definiert zu sein, von seinen langen, schlanken Beinen über die Muskeln an seinen Seiten bis hin zu den Strängen an seinen Armen.

Ohne zu warten, bewegte er sich einen Schritt nach dem anderen auf mich zu, wie ein Raubtier. Instinktiv wich ich vor ihm zurück, ungeachtet meines eigenen Verlangens, wie eine Beute, die vor ihrem Verfolger zu flüchten versucht.

Das lockte ihn nur noch mehr. Ich wich zurück, bis ich mit dem Rücken gegen die Tür prallte … bis es keinen Ausweg mehr für mich gab.

Goldene Haare umrahmten sein Gesicht, und ein leichtes Lächeln legte sich auf seine Lippen, als er mich siegesgewiss ansah. Er packte mich an den Handgelenken, hob sie über meinen Kopf und drückte sie gegen das Holz.

»Du bist gefangen, Hüterin.« Seine Stimme klang rau.

Ich sah ihn mit meinem Schlafzimmerblick an. »Ich habe nicht versucht zu fliehen, Sullivan.«

Selbst unsere Lust war ein Wettkampf, und mit unseren Körpern erzielten wir die Punkte, die den glücklichen Herausforderer zum Sieg führten.

Er küsste mich, spielte mit meinen Lippen, und ließ die nackte Haut zwischen uns vor Hitze erglühen.

Dann kam er noch einen Zentimeter näher, drängte seinen Körper gegen meinen und schob einen Oberschenkel zwischen meine Beine. Seine Erregung war deutlich zwischen uns zu spüren.

Er ließ meine Hände los, und ich umarmte ihn, um meine Fingernägel in die Haut auf seinem Rücken schlagen zu können. Seine Hände glitten zu meinem Gesicht, und er legte seine Finger an mein Kinn.

Er schwächte meinen Widerstand mit seinen Küssen, knabberte zärtlich an mir, ließ seine Fangzähne über meine Haut gleiten und nutzte jede nur erdenkliche Möglichkeit, die sich ihm bot.

Ohne Vorwarnung fiel Ethan auf die Knie, und seine Hände glitten an mir herab, bis seine langen Finger meine Brüste fanden. Meine Augen schlossen sich, und mein Körper bog sich vor Verlangen nach vorne.

»Wunderschön«, flüsterte er, und ich fühlte seinen Mund auf meinem Bauch, Küsse auf meinem Bauchnabel, und seine Hände auf meinen Brüsten. Seine Finger ließen meine Bedürfnisse nur noch größer und glühender werden.

Meine Empfindungen ließen mich aufstöhnen – es war wunderbar und erregend und zugleich völlig unbefriedigend. Ich keuchte laut, es fühlte sich an, als ob meine Haut brennen würde.

Ethan lachte leise. »Es scheint dir Spaß zu machen, Hüterin.«

Langsam öffnete ich die Augen. »Keine ›Hüterin‹. Kein ›Sullivan‹. Ethan und…«

Ich hielt inne, denn ich war mir nicht sicher, ob ich den nächsten Schritt machen wollte. Ob ich ihm meinen Vornamen anbieten sollte, ihm das Recht dazu geben sollte.

Er lächelte sanft. »Und Merit«, entschied er für mich, ohne so bestimmend wie sonst zu klingen. Der Meistervampir war verschwunden, und geblieben war ein Gott unter den Männern. Er drückte seine Wange an meinen Bauch.

»Ich bin nicht mehr der, der ich war«, sagte er leise.

Ich schmolz dahin, während mein Herz seinen regelmäßigen Rhythmus zu vergessen schien. Meine Finger fanden seine Haare, und ich streichelte die goldenen Locken, bis er eine Hand wegzog und seine Lippen auf meine Handfläche drückte.

Dann stand er wieder vor mir. »Ins Bett«, murmelte er mit rauer Stimme und führte mich an der Hand dorthin. Als wir davorstanden, vertauschte er unsere Positionen und drückte mich sanft nieder. Ich sah ihn mit großen Augen an, als er sich über mich beugte und meinen Körper zu erforschen begann.

Und dann war seine groß gewachsene Gestalt ganz auf mir und seine Lippen und seine Zähne auf meinem Mund, und seine Küsse wurden immer fordernder. Lippen, Zungen, Zähne, Hände, die anfassten, zogen, bissen, knabberten und mit aller Kraft versuchten näher zu kommen.

Er stützte sich mit einem Ellbogen auf dem Bett ab und nutzte die andere Hand, um mich zu quälen.

Seine Fingerspitzen glitten zärtlich über meine Rippen und über meinen flachen Bauch und meine Schenkel, bis ich vor Qual laut aufschreien wollte.

Endlich erreichten seine Finger den Kern meines Daseins, und ich bog meinen Körper nach oben, denn die kleinste Berührung fühlte sich an wie züngelnde Flammen.

»Ethan.«

Er lachte derb. »Ich habe gerade erst angefangen, Merit«, warnte er mich – und dann legte er richtig los.

Einige Minuten oder Stunden oder Tage später lag ich zufrieden und befriedigt auf dem Bett. Ethan richtete seinen Blick auf mich. Seine Augen waren vollkommen silbern, seine Fangzähne entblößt.

»Es gibt kein Zurück«, sagte er. »Nicht hiernach.« Aber ich hatte mich bereits entschlossen weiterzugehen. Ich wollte nicht zurück.

»Ich will dich«, sagte ich und richtete mich auf, um ihm einen Kuss aufs Kinn zu geben.

Das war Beweis genug für ihn. Er bewegte sich wieder nach vorn, und als unsere Körper sich wieder übereinander befanden, drängte er nach vorn … und mir blieb kurz die Luft weg.

Ich bog meinen Körper nach oben, und meine Hand griff nach dem Kopfende hinter mir, während ich das Feuer in meinem Unterleib, die Wärme seines Körpers und den Duft seines Parfüms genoss, das nun kräftiger roch, weil wir zusammen waren.

In jeder Hinsicht.

Meine Augen schlossen sich erneut. Er stützte sich auf einer Hand ab, während die andere zärtlich über mein Gesicht glitt.

»Merit«, hauchte er über meine Lippen. Er hatte gesagt, dass es kein Zurück gab, aber er fragte mich erneut, ohne die Worte auszusprechen: War ich sicher? War ich bereit? Für den Akt, die Tat, und ales andere, was nun folgen würde? Die Veränderungen, die sich ergeben würden?

Ich antwortete auf dieselbe Art, wie er die Frage gestellt hatte – mit meinem Körper. Ich bog meine Hüften nach oben, jagte ihm meine Fingernägel in die Haut und zog ihn näher an mich heran. »Ethan.«

Er knurrte und brachte dann seine Stirn herab auf meine. Dann begann er seinen Unterleib zu bewegen, füllte meinen Körper aus und drängte mir seinen entgegen. Zuerst bewegte er sich gefährlich langsam, küsste mich dabei, und jeder Stoß war eine Qual, ein Versprechen dessen, was geschehen könnte.

Von Dingen, die geschehen würden.

»Ethan«, sagte ich und knabberte spielerisch an seinen Lippen.

»Ja, Merit?« Seine Stimme klang belustigt.

»Mich zu quälen werde ich dir nicht ewig erlauben.«

Er lachte kehlig. »Jemand hat mir mal gesagt, dass Geduld eine Tugend sei.«

Ich schlang meine Beine um seine Hüften. »Der hatte es wohl auch nicht eilig.«

Er bewegte sich mit solcher Kraft vorwärts, dass ich keuchen musste. Meine Augen öffneten sich weit, als ob sein instinktives Verhalten meinem Körper einen Schock versetzt hätte. »Sie sollte aber lernen, nichts zu überstürzen«, hauchte er in mein Ohr und knabberte dann an meinem Hals.

»Ethan«, sagte ich, und meine Augenlider flatterten. Er verstand das wohl als Aufforderung, begann sich heftig zu bewegen und überschüttete mich mit Küssen, während sein Körper gegen meinen drängte. Ich brannte von innen heraus, und er entfachte meine Glut zu einem wahren Feuersturm.

»Ich will deine Zähne auf mir spüren«, flüsterte er heiser. » Jetzt.«

Die wenigen Teile meines Körpers, die noch nicht brannten, gingen nun sofort in Flammen auf.

Während seiner kräftigen Stöße senkte er den Kopf und brachte seinen Hals in Reichweite meiner Fangzähne. Ich glitt mit meinen Fingern durch sein Haar und küsste die Haut direkt über seiner Fangzähne. Ich glitt mit meinen Fingern durch sein Haar und küsste die Haut direkt über seiner Drosselvene. Ich spürte seinen Herzschlag mit meinen Lippen.

Meine Fangzähne wurden wieder länger.

»Jetzt«, sagte er, und ohne darüber nachzudenken, neigte ich mich vor und biss ihn. Ich schmeckte Feuer und Wein und Ethan in meinem Mund, seine Lebensessenz, seine Lebenskraft. Den Trank aller Tränke. Den Hunger aller Vampire.

Sein Blut.

Meine Kehle schluckte im Rhythmus seiner heftigen Stöße. Über mir stöhnte er laut und kehlig, als ob er seiner Ekstase eine Stimme verleihen wollte. Gänsehaut überzog meine Arme, und Magie erhob sich in die Luft, als wir uns unserer Lust hingaben.

Dann bog sich sein Körper, und er legte eine Hand an mein Kinn, damit er mir in die Augen sehen konnte, damit ich den Ausdruck auf seinem Gesicht sehen konnte. » Merit«, sagte er.

Der Blick in seinen Augen – so besitzergreifend und animalisch – überwältigte mich. Ich rang nach Atem und rief seinen Namen, als sich das Feuer in meinem gesamten Körper Bahn brach und ich die Augen vor seiner Kraft verschließen musste, jeder Muskel angespannt, jeder Muskel in Bewegung, als die Flammen und die Macht sich zwischen uns… entluden.

Sekunden oder Minuten oder Stunden später hatte ich mich in seinen Rücken verkrallt, sein Mund an meinem Ohr. Er schnappte nach Luft, während mein Körper von Beben erschüttert wurde und ich nur stoßweise atmen konnte.

Einige Augenblicke später stützte sich Ethan auf seinen Ellbogen ab, küsste mich grob und brachte seine Lippen auf meine Stirn. Dann ließ er sich auf das Bett fallen, legte sich auf die Seite und zog meinen Körper zu sich heran. Ich schmiegte mich an ihn, sein Arm unter meinem Kopf, und ließ mich von der Wärme seiner Haut einhüllen.

Wir lagen schweigend nebeneinander, während die Sonne hinter den Rolläden der Fenster ihren Kampf gegen den Horizont aufnahm. Zwei Liebende, die den vergänglichen Schutz der Dunkelheit genossen.

»Welche Sache hat dir mal am meisten bedeutet?«, hauchte er mir ins Ohr.

»Am meisten?« Ich fuhr mit meinen Fingerspitzen sacht über seine langen Finger und zeichnete zärtlich die Adern seiner Hände nach.

»Erzähl mir etwas, das du noch nie einem anderen Vampir erzählt hast.«

Die Frage war genauso traurig, wie sie süß war. Er wollte etwas wissen, das mir sehr viel bedeutete… solange es sich um ein Geheimnis handelte, das ich vor anderen verborgen gehalten hatte. Etwas, das ich noch nicht in die übernatürliche Welt gebracht hatte, in die er mich gebracht hatte.

»Du weißt doch, dass ich ein Cubs-Fan bin?«

»Ja, aber warum, bleibt ein Rätsel.«

Ich sah ihn an. »Du bist doch kein White-Sox-Fan, oder?«

»Natürlich nicht«, schnaubte er. »Ich interessiere mich kaum für Baseball.«

»Aber wenn du dich dafür interessieren würdest?«

Er schwieg einen Moment lang. »Dann würde ich die Yankees anfeuern.«

Ich stöhnte laut auf. »Ich kann nicht glauben, dass ich das, was ich gerade getan habe, mit einem Yankees-Fan getan habe. Du hättest mir zumindest eine kleine Warnung geben können. Inklusive einer Verzichtserklärung. Irgendwas.«

»Es ist doch nur Baseball.«

»So spricht ein wahrer Yankees-Fan. Wie auch immer, du hast mich gefragt, was mir am meisten bedeutet hat. Vor einigen Jahren hatte ich mir geschworen, dass ich einen Baseball bekomme, der von jedem Cubs-Spieler unterschrieben ist. Ich wollte ihn dann für einen wohltätigen Zweck spenden, für den sich meine Mutter engagierte. Ich war zehn Jahre alt und versuchte, die Jungs zu den Unterschriften zu bewegen. Es hat mich vier Monate gekostet, bis alle Jungs unterschrieben hatten – alle, bis auf einen.«

»Bei einer Merit? Das kann nicht sein.«

»Genau, unglaublich, nicht wahr? Joe Mitchel war damals Pitcher, und er hat sich die ganze Zeit geweigert. Er wusste, was ich zu erreichen versuchte, aber er wusste auch, wer ich war. Ich habe es geschafft, ihn einmal in die Enge zu treiben, aber er wollte erst unterschreiben, wenn ich es schaffte, alle anderen Unterschriften auf den Ball zu bekommen. Ich glaube, es sollte eine Art Test sein. Eine charakterbildende Maßnahme: Wollen wir doch mal sehen, ob diese kleine Merit etwas alleine auf die Beine stellen kann, ohne sich auf ihren Vater zu verlassen.«

»Und hat er unterschrieben?«

»Hat er. Hat mir das volle Programm geboten, wie in der Werbung, bis hin zum ›Gut gemacht, Kleine‹. Doch als er sich endlich dazu entschlossen hatte, war es fast September, und ich war den Jungs monatelang hinterhergerannt. Ich hatte mein Ziel erreicht, aber den Ball aus der Hand zu geben, fiel mir nicht leicht.«

»Du hast ihn doch nicht etwa behalten, oder?«

»Oh nein. Ich habe ihn wie versprochen abgegeben, aber es hat mich fast umgebracht. Der Baseball war für mich zum Maßstab aller Dinge geworden. Nicht, weil er ein Sammlerstück war – und weil sie in der Saison auch großartig gespielt haben …«

»Cubs vor, noch ein Tor.«

Ich grinste. »Das will ich hören… Irgendwie war dieser Baseball zu einem Sammelalbum geworden – eine Erinnerung an all die Dinge, die ich in diesem Sommer erlebt hatte. Eine Erinnerung an die Spiele, die Spieler, die Hitze, die Hotdogs, die gesamte Erfahrung.« Ich schwieg einen Augenblick lang. »Ich wünschte, ich hätte ihn noch. Um mich an die Sommertage und die Sonnenstrahlen erinnern zu können. An die Hitze.«

»Es hilft, wenn man solche Erinnerungen hat«, sagte er. »Greifbare Erinnerungen an die Menschen und Orte und Dinge, an die man sich gerne erinnern möchte, wenn sie nicht mehr da sind.«

»Hast du deswegen so viele Sachen gesammelt?«

»Nun, das liegt zum Teil daran, dass viel Zeit vergangen ist. Ich habe die Lebensspanne vieler Menschen hinter mir. Ich habe viel erlebt und viele meiner eigenen Erinnerungen hierhin mitgebracht, wie du schon sagtest. Aber ja, du hast recht. Diese Dinge erinnern uns daran, wer wir waren. Auch für einen Unsterblichen verlieren sie nicht an Bedeutung.«

»Das ergibt einen Sinn«, sagte ich, aber ich brauchte einige Zeit, um darauf etwas zu erwidern, und musste mich zwingen, die Worte auszusprechen. Die Sonne war aufgegangen und machte mich schläfrig.

»Schlaf«, sagte Ethan, und als ob er einen Befehl erteilt hätte, dem ich nicht widersprechen konnte, schlief ich ein.

Irgendwann im Laufe des Tages, als ich noch völlig zerschlagen und nicht wirklich wach dalag, bemerkte ich seine Hände auf meinem Unterleib. Ich machte ein neugieriges Geräusch.

Er küsste mich auf die Schulter. »Ich brauche dich.«

Ich drehte den Kopf zur Seite, um einen Blick auf die Uhr auf seinem Nachtisch zu werfen, aber mein Körper bewegte sich langsam und träge, als ob er sich durch Wasser kämpfen müsste. »Es ist zwei Uhr nachmittags«, brummte ich, rollte mich von ihm weg, zog die Knie an und legte meine Hände auf die Brust.

»Schlaf wieder ein. Bei Sonnenuntergang kannst du mit mir schlafen.«

Ich hörte ein kehliges Lachen hinter mir, bevor er seine Finger spreizte und mit ihnen zwischen meine Schenkel glitt. Er küsste meinen Hals und spielte mit seiner Zunge an meinem Ohrläppchen. »Bitte, Merit?«

Die Augen noch geschlossen lächelte ich mit weiblicher Zufriedenheit. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dies das erste Mal war, dass Ethan Bitte zu mir gesagt hatte. Wie sollte ich dazu Nein sagen?

Aber dann wurde seine Stimme fordernder. » Jetzt«, knurrte er, und ich spürte seine Erektion an meinem Rücken. Als Reaktion darauf glitt ich mit meiner Hand hinter mich auf seinen Rücken, um seinen Körper fester an mich zu drücken.

»Wenn wir so weitermachen«, sagte ich leise, »werden wir uns gegenseitig umbringen.«

Er wechselte die Position, um seinen Körper über meinen zu bringen, und starrte aus silbernen Augen auf mich herab. »Wir sind unsterblich. Das wäre eine beachtliche Schlacht.«

Ich schob ihm eine Strähne aus dem Gesicht. »Eine historisch bedeutsame Schlacht.«

»Eine Jahrtausendschlacht. Du könntest darüber schreiben.«

Ich machte die Uhrzeit und die Tatsache, dass die Sonne hoch über uns stand, dafür verantwortlich, aber es schien mir das Lustigste zu sein, das ich jemals gehört hatte. Ich kicherte und ließ meine Hand über seinen muskulösen Rücken nach unten wandern. »Ein Forschungsprojekt würde ich doch niemals ablehnen.«

Einige Stunden und zwei Unterbrechungen später ging die Sonne unter. Ich erwachte mit einem flauen Gefühl im Magen. Wir hatten die letzte Grenze zwischen uns überschritten.

Was nun?

Ich gähnte und streckte mich, immer noch unter zahlreichen kühlen Baumwolldecken verborgen, und öffnete schließlich die Augen. Ethan stand neben seinem Schreibtisch, frisch geduscht und bereits in Anzughose, die aber noch offen war. Sein nackter Oberkörper verschwand mehr und mehr hinter dem Hemd, das er sich gerade zuknöpfte. Er sah mich an, lächelte höflich und machte den letzten Knopf zu. »Guten Abend.«

»Guten Abend?« Ich wollte daraus eigentlich keine Frage machen, zumindest nicht absichtlich, aber selbst ich konnte das Fragezeichen am Satzende hören.

Ethan lachte in sich hinein, kam zum Bett herüber, beugte sich zu mir herab und küsste mich auf die Stirn. Meine Überraschung musste er bemerkt haben.

»Ich habe dir gesagt, dass ich nicht dein Vater bin.«

»Ich habe es dir offensichtlich nicht hoch genug angerechnet.«

»Ich bin mir sicher, das war nicht das erste Mal.« Er setzte sich auf den Bettrand und zog Socken und klobige schwarze Designerschuhe an.

Ich setzte mich auf und wickelte mich in die Decke. »Es wird vermutlich auch nicht das letzte Mal sein.«

Ethan lachte prustend und ging zu seinem Schreibtisch hinüber, nachdem er die Schuhe angezogen hatte. Dort ließ er Kleinigkeiten und Wechselgeld in seine Taschen fallen. »Es ist acht Uhr dreißig. Wir müssen uns recht bald zum Anwesen der Breckenridges aufmachen. Wenn du dich also noch aufhübschen möchtest, wäre jetzt vermutlich der beste Zeitpunkt dafür.«

Ich warf einen Blick auf die Decke. »Nur die Decke wäre wohl zu lässig.«

»Vermutlich«, stimmte er mir zu.

»Es widerspricht allem, an das ich glaube, dir diese Frage zu stellen, aber was sollte ich deiner Meinung nach anziehen?«

Er stellte einen Ellbogen auf den Schreibtisch und verschränkte die Hände.

»Sie wollen, dass wir sie in ihrer natürlichen Umgebung kennenlernen, um es mal so zu sagen. Ich würde davon ausgehen, dass sie dasselbe von uns erwarten.«

»Für dich Armani?«

Er deutete auf seine Anzughose und das Hemd. »Und ich nehme an, Jeans für dich?«

»Na klar. Die Gelegenheit, Jeans bei der Arbeit zu tragen, gibt es im Haus Cadogan nicht oft.«

Ethan lachte leise, stieß sich dann vom Schreibtisch ab und zog die Anzugjacke von einem Herrendiener. »Ich habe gehört, dass der Meister eine echte Nervensäge sein kann.«

Er hatte auch seine guten Seiten.

KAPITEL NEUN

Freiwillig in die Lasterhöhle

Ich war auf dem Weg ins Foyer – geduscht und in Jeans sowie einem kurzärmeligen schwarzen Oberteil mit einem schicken Mandarinkragen, und außerdem mit meinem Katana und Cadogan-Medaillon, die das Ensemble vervollständigten –, als mein Handy piepte. Ich zog es sofort heraus und hoffte auf eine SMS von Malory.

Es war eine Nachricht, aber nicht von meiner alten Freundin – sondern von jemandem, der gerne mein Freund werden wollte. Noah stellte eine einfache Frage: »NOCH NICHT ENTSCHIEDEN?«

Da ich das definitiv noch nicht hatte, löschte ich die Nachricht – und damit ein Beweismittel.

»Guten Abend, Sonnenschein.«

Ich sah über die Schulter zur Haupttreppe, während ich mein Handy wieder in meine Tasche fallen ließ. Lindsey hüpfte die Stufen herab, und ihr blonder Pferdeschwanz wippte im Rhythmus mit. Sie hatte heute Dienst und war offensichtlich auf einen Tag in der Operationszentrale vorbereitet, denn sie trug das Schwarz Cadogans und ihr Katana an ihrer Seite.

Sie erreichte das Foyer, kam zu mir und stemmte die Arme in die Seiten. »Du siehst nicht so müde aus, wie ich erwartet hatte. Vieleicht war er ja tatsächlich das Heilmittel für all das, was dich belastet hat.«

Ich starrte sie an. »Wie bitte?«

Sie verdrehte die Augen. »Also bitte, Merit. Wir haben euch zwei letzte Nacht gehört und übrigens auch tagsüber. Aber wie ich immer sage, danket dem Herrn. Es war an der Zeit, dass ihr es endlich hinter euch bringt.«

Lindseys Anerkennung zum Trotz schoss mir aufgrund tief empfundener Scham die Röte ins Gesicht.

»Ihr habt uns gehört?«

Sie grinste. »Ihr habt das ganze Haus erschüttert. Ihr habt die Magie wirklich wirbeln lassen.«

Ich war zu fassungslos, um darauf antworten zu können. Es war mir durchaus klar gewesen, dass es vielleicht das eine oder andere Gerücht geben könnte – vielleicht von Margot –, weil ich in Ethans Wohnung gewesen war. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass die Leute uns hätten hören oder die Magie hätten spüren können, die wir freisetzten.

»Oh mein Gott!«, murmelte ich.

Lindsey tätschelte meinen Arm. »Das muss dir doch nicht peinlich sein. Es war an der Zeit, dass ihr endlich miteinander in die Kiste springt.«

Es fiel mir schwer, den nächsten Satz auszusprechen. »An dieser Aussage sind so viele Sachen falsch, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll.«

»Fang mit den Details an. Wie war es? Wie war er? War er so fabelhaft, wie wir ihn uns alle vorstellen? Ernsthaft: Lass nicht die geringste Kleinigkeit aus, weder anatomische noch sonst irgendwelche.«

»Ich werde dir keinerlei Details erzählen. Weder anatomische noch sonst irgendwelche«, fügte ich hinzu, bevor sie ihre Bitte umformulieren konnte.

Sie schien empört zu sein. »Ich glaube es nicht. Du schläfst mit dem Meister und willst nichts sagen?« Sie schnalzte mit der Zunge. »Das ist ganz schwach. Sag mir wenigstens, was ihr nach dem Akt besprochen habt. Seid ihr offiziell zusammen? Gibt es noch ein paar Dates? Ist das schon eine Beziehung? Was?«

»Nun, wir sind nicht ins Detail gegangen, aber er war noch da, als ich heute Abend aufgewacht bin. Kein Bedauern danach, soweit ich das beurteilen kann. Und er weiß, dass ich an einer Affäre nicht interessiert bin. Das habe ich ihm mehr als deutlich gemacht.« Ich grinste ein wenig.

Sie erwiderte mein Grinsen. »Das ist mein Mädchen. Zeig ihm, wer der Chef ist.«

»Reden wir tatsächlich darüber, wer der Chef in diesem Haus ist?«

Wir sahen gleichzeitig hinüber. Ethan stand an der Treppe, und seine goldenen Haare umrahmten sein Gesicht. Er hatte die Hände in den Taschen und eine Zeitung unter dem Arm.

»Guten Abend, mein Lehnsherr. Wie war Euer Tag?«

Ethan hob eine gebieterische Augenbraue in Richtung Lindsey und sah dann mich an. »Hübsches Oberteil. Wir müssen noch einen kleinen Abstecher machen, bevor wir uns den Formwandlern widmen können.«

»Oh«, sagte Lindsey, die offensichtlich Bescheid wusste. »Ihr fahrt zum Haus Navarre?«

»Wir fahren zum Haus Navarre«, bestätigte Ethan.

Ich blinzelte. Als er »Abstecher« gesagt hatte, hatte ich sofort daran gedacht, dass wir noch ein Gastgeschenk besorgen müssten; die Fahrt zu Haus Navarre stand nicht auf meiner Liste der Möglichkeiten. Ich war noch nie dort gewesen, und die Idee, jetzt dorthin zu fahren, begeisterte mich nicht besonders. Und wieso nicht, werdet ihr vielleicht fragen? Kurzer Rückblick: Zum ersten Mal seit unserer offiziellen Trennung würde ich meinen Exfreund wiedertreffen, und zwar während ich den Mann begleitete, von dem er glaubte, dass ich ihn mit ihm betrüge, und nur Stunden, nachdem ich tatsächlich mit ihm geschlafen hatte.

Großartig.

»Weiß sie schon Bescheid?«, fragte Lindsey und nickte in meine Richtung.

»Ich stehe direkt neben dir. Worüber weiß ich Bescheid?«

»Ich werde es ihr erzählen«, sagte Ethan. »Aber wir haben nicht gerade viel Zeit. Ich habe vergessen, Luc anzurufen – sag ihm bitte, dass ich vor Sonnenaufgang mit ihm über die Pläne bezüglich der Versammlung reden möchte.«

»Sehr wohl, Lehnsherr«, sagte sie, beugte sich aber noch kurz zu mir, bevor sie ging. »Ehrlich, gut gemacht. Und das meine ich auch so.«

Ich grinste ihr hinterher und sah dann Ethan fragend an. »Was muss ich wissen? Und warum fahren wir nach Navarre?«

Er bedeutete mir, ihm zu folgen, und dann gingen wir die Treppe hinab in den Keller. Als ich neben ihm war, zog er die Zeitung unter seinem Arm hervor. Es war eine Ausgabe der heutigen Sun-Times.

Er schlug sie auf und drehte sie so, dass ich das Titelbild sehen konnte.

»Oh mein Gott!«, murmelte ich und nahm ihm die Zeitung aus den Händen.

Die Schlagzeile auf der Titelseite – der Titelseite – lautete: SCHÖNE RÄCHERIN RETTET BARGÄSTE BEI SCHIESSEREI. Unter der Schlagzeile war ein Bild von mir, wie ich Berna in den Krankenwagen helfe. Eine weitere Überraschung war der Name des Autors: Nick Breckenridge.

Als ich vorsichtig hinter Ethan die Stufen zum Keller hinunterging, las ich den ersten Teil der Geschichte, der sich um die Schießerei und meine Notfallmaßnahmen drehte. So weit, so gut. Aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum in aller Welt gerade Nick Breckenridge den Artikel geschrieben hatte. Es war nicht so, dass ihm Titelstorys nicht lagen; investigativer Journalismus war genau sein Ding, und sein Ruf war über jeden Zweifel erhaben. Er mochte mich nur einfach nicht besonders.

»Wie – warum?«

»Vielleicht hast du die Breckenridges für uns eingenommen – von Feindseligkeit zu einer Titelstory.«

Wir blieben neben der Kellertür stehen. »Das kann keine Heldenverehrung sein. Du weißt, was Nick von mir denkt.«

»Du hast Gabriels Zögern bemerkt, als er das Haus der Breckenridges erwähnte. Vieleicht ist das Verhältnis zwischen Nick und Gabriel immer noch nicht im Reinen. Gabriel hat sich immerhin entschuldigt. Er war nicht gerade begeistert davon, dass Nick die Vampire verärgert hat.«

»Okay, aber einen Pulitzer-Preis-Gewinner davon zu überzeugen, eine Lobeshymne auf einen Vampir zu singen – einen Vampir, mit dem er nicht besonders glücklich ist –, würde schon eine Menge Druck bedeuten. Ich bin mir nicht sicher, ob Gabriel sein politisches Kapital auf mich verschwenden würde. Außerdem kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass er auf Nick Druck ausüben würde, um uns auf die Titelseite der Sun-Times zu hieven. Gabriel hat kein Interesse an derlei Aufmerksamkeit. Es würde zu viele Fragen aufwerfen, warum bewaffnete Vampire in der Bar gewesen sind, oder es könnte dazu führen, dass die Paparazzi glauben, einen neuen Treffpunkt der Vampire entdeckt zu haben. Das will er definitiv nicht. Es muss einen anderen Grund für den Artikel geben.«

Welcher Grund es auch immer sein mochte, mir gefiel der Gedanke nicht, dass ich Nick dafür etwas schuldete. Allerdings fragte ich mich trotzdem, ob es eher von Vorteil oder Nachteil wäre, sollte er den Artikel nur geschrieben haben, weil ihm sein Rudelanführer die Pistole auf die Brust gesetzt hatte.

»Vermutlich fühlte er sich genau so, wie ich mich fühlen würde, wenn mir mein Meister die Pistole auf die Brust setzt«, murmelte ich.

»Was hast du gesagt?«

»Nichts. Was hat das mit Haus Navarre zu tun?«

»Die Geschichte wird immer hässlicher, je mehr du davon liest.«

»Wie hässlich?«

»Es erinnert die Leser daran, dass die Vampire des Hauses Navarre nicht halb so menschenfreundlich waren wie, sagen wir mal, die von Haus Cadogan.«

»Es geht um die Park-Morde?« Sie waren das Ergebnis von Celinas mörderischen Abenteuern in den Parks von Chicago gewesen … und auf dem Gelände der Universität. Ich hätte eigentlich Opfer Nummer zwei sein sollen, zumindest bis Ethan mich fand.

Er nickte. »Deswegen will Morgan mit uns sprechen. Da du einen prominenten Platz in der Story einnimmst und wir mit Nick befreundet sind, nimmt er vermutlich an, dass wir mit der Existenz des Artikels etwas zu tun haben.«

Uns als Freunde zu bezeichnen zollte der Beziehung zwischen mir und Nicholas Breckenridge wesentlich mehr Anerkennung, als sie es verdient hatte.

Ethan gab die Zahlenkombination ein und öffnete die Kellertür.

»Und was denkst du über diesen Artikel?«, fragte ich und folgte ihm in die Tiefgarage.

»Nun, da ich mit der schönen Rächerin ausgehe, gefällt er mir ausgenommen gut.«

Ich blieb stehen, um ihm einen abschätzigen Blick zuzuwerfen. Als er mit einem selbstgefälligen Grinsen an mir vorbei zum Wagen ging, verdrehte ich die Augen. Aber ich meinte es nicht ernst. Er hatte ja immerhin »ausgehen« gesagt.

Wenige Minuten später waren wir auf dem Weg, und Stille senkte sich auf den Mercedes, während ich den Artikel zu Ende las. Die Story war praktisch ein Lehrbuch über Cadogan und Navarre, von den Führungspositionen bis zu ihrer Geschichte. Es wurde auch erwähnt, dass eine Frau namens Nadia Morgans neue Nummer eins war.

Ich hatte nicht gewusst, dass er jemanden befördert hatte. Allerdings hatte ich auch nicht wirklich daran gedacht, ihn diesbezüglich zu fragen. Dieses Versäumnis sagte vermutlich eine Menge über unser Potenzial als mögliches Paar aus.

»Woher stammen die Informationen?«, fragte ich und bemerkte, als ich aufsah, dass wir Hyde Park verlassen und den Lake Shore Drive erreicht hatten.

Navarre lag in Chicagos Gold Coast, einem Stadtgebiet voll schicker Stadthäuser, Eigentumswohnungen und Villen direkt am Michigansee und nördlich von Downtown.

»Das war meine zweite Frage«, antwortete Ethan finster, »direkt nach der Überlegung, welche politisch unklugen Schritte unser junger Meister von Navarre unternehmen würde, wenn er den Artikel gelesen hat.« Er sah zu mir hinüber.

»Hast du mit ihm in letzter Zeit gesprochen?«

»Nicht seit unserem Streit.«

Für einen Augenblick war es still im Wagen, und das leise Summen der Magie ließ keinen Zweifel an der angespannten Atmosphäre. »Ich verstehe.«

Seine Stimme klang missbilligend. Ich ahnte einen Streit voraus und verkrampfte mich. »Gibt es etwas, das du dazu sagen möchtest?«

Als er mich ansah, wirkte er sehr sanft. Ich wusste nicht, ob er sich dazu zwang oder nicht. »Gar nichts«, sagte er. »Aber es könnte zu seiner Verärgerung beigetragen haben, nachdem er den Artikel gelesen hatte.«

Ich dachte an die Dinge zurück, die Morgan im Verlauf unserer beiden letzten Gespräche gesagt, die Vorwürfe, die er mir an den Kopf geknallt hatte, und an seine herablassende Haltung. »Tja, er wird wohl nicht gerade bester Laune sein.«

»Irgendwelche Vorschläge?«

»Abgesehen von einem kompletten Wandel seines Wesens – hast du zufälligerweise etwas von dieser leckeren SchokoladenMousse-Torte mitgenommen?«

Haus Cadogan war ein historisches Herrenhaus in Hyde Park, das in ein Vampir-Studentenwohnheim umgewandelt worden war – ein wiederhergestelltes Schmuckstück.

Haus Navarre hingegen war groß und blendend weiß und nahm einen beachtlichen Platz unter den teuersten Immobilien der Stadt ein. Es hatte drei Stockwerke und einen riesigen Eckturm, und die gesamte Fassade war mit weißem Marmor verkleidet.

»Ich glaube, ihr Eckturm ist größer als unser Eckturm«, sagte ich zu Ethan, als er den Wagen anhielt.

»Celina hatte immer einen Hang zur Übertreibung«, stimmte er mir zu.

Ich legte eine Hand auf seinen Arm, als wir zum Vordereingang gingen, der von der Straße aus nicht zu sehen war, da riesige Laubbäume ihn verdeckten.

Ethan blieb stehen, sah auf meine Hand herab und dann in meine Augen.

»Ein Grund für unsere Streitigkeiten – für Morgan und mich…« Ich überdachte meine Worte, denn ich versuchte eine Erklärung abzugeben, ohne, wie Lindsey es sagen würde, zu anatomisch zu werden.

»Morgan dachte, dass du und ich etwas miteinander hatten. Vorher, meine ich.« Ich hielt inne und hoffte, dass Ethan verstand, damit ich nicht in aller Deutlichkeit aussprechen musste, was Morgan mir vorgeworfen hatte.

»Ah«, sagte er. »Ich verstehe.«

»Das war natürlich nicht der Fall, aber er ließ sich einfach nicht vom Gegenteil überzeugen. Neben den anderen Gründen, warum er sich nicht über meinen Besuch freuen wird, wird er also vermutlich auch nicht begeistert sein, dich mit mir zusammen zu sehen.«

Ethan lachte in sich hinein und schritt dann die Treppenstufen hinauf. Ohne zu klopfen, öffnete er die Tür und winkte mich herein.

»Was ist denn so lustig?«, fragte ich, als ich wieder neben ihm stand.

»Die Ironie. Indem er dich solcher schamlosen Taten bezichtigte, hat er genau das erreicht, was er zu verhindern suchte.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie als ›schamlos‹ bezeichnen würde.«

Ethan beugte sich herab und flüsterte in mein Ohr: »Ich, Merit, würde definitiv von ›schamlos‹ sprechen.«

Ich konnte das Grinsen nicht verhindern, das sich auf meinem Gesicht breitmachte, und auch nicht, dass ich rot anlief.

»Abgesehen davon«, flüsterte Ethan, als er mir ins Haus folgte, »bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass es um seine Fähigkeiten als Meister schlechter als befürchtet steht, sollte er uns heute nicht als Allererstes den Artikel aus der Sun-Times zum Vorwurf machen.«

Vor der Tür des Hauses Navarre hatte kein Wachpersonal gestanden, es gab kein drei Meter hohes Tor und keine Feensöldner, die ihren wachsamen Blick auf das Anwesen richteten. Die Vampire Navarres sparten sich den ganzen Spaß für das Foyer auf … auch wenn die Wachen nicht unbedingt die kräftigen Typen waren, die ich erwartet hatte.

Drei Frauen saßen hinter einer halbkreisförmigen Empfangstheke aus Glas und Stahl, die sich direkt am Eingang befand. Jede Frau war vor einem hochmodernen Computermonitor postiert. Sie hatten alle dunkle Haare und große braune Augen, und sie trugen alle taillierte weiße Kostümjacken. Jede von ihnen hatte eine andere Frisur – von links nach rechts: abgefahren aufgebauscht, Pferdeschwanz und stramm sitzender Dutt.

Sie sahen auf, als wir hereinkamen, und fingen zu flüstern an, während sie auf ihre jeweiligen Tastaturen eintippten.

Ich nehme an, dies sind die Torwächter?, fragte ich lautlos.

Könnten auch die griechischen Schicksalsgöttinnen sein, antwortete er.

»Name«, sagte die in der Mitte und sah von ihrem Monitor auf, um uns misstrauisch zu beäugen.

»Ethan Sullivan, Meister, Haus Cadogan«, sagte Ethan. »Merit, Hüterin, Haus Cadogan.«

Die beiden anderen Frauen hörten auf zu tippen und sahen mich an. Auf ihren Gesichtern standen viele verschiedene Emotionen geschrieben – Abneigung, Neugier, typisch weibliches Misstrauen. Al ihre Empfindungen basierten, das nahm ich zumindest an, auf meinen Auseinandersetzungen mit ihrer früheren Meisterin Celina und ihrem jetzigen Meister Morgan. Was die Meister von Navarre betraf, war ich eine absolute Niete.

»Ausweis«, sagte die Frau, die Ethan am nächsten war. Er griff in seine Anzugjacke, zog eine Karte aus der Innentasche und reichte sie zwischen zwei Fingern an die Frau weiter. Sie betrachtete sie und ließ dann die Finger so richtig über die Tasten fliegen.

Da ich davon ausging, dass wir einige Zeit hier verbringen würden, ergriff ich die Gelegenheit, meine Umgebung gründlich zu betrachten … und war überrascht.

Der offene Empfangsbereich war riesig und von zwei runden Treppenaufgängen eingerahmt, die sich im ersten Stock trafen. Das gesamte Atrium erstreckte sich bis unters Dach, und an der Decke befanden sich viktorianisch anmutende Oberlichter wie in einem Gewächshaus. Die Architektur wirkte zwar sehr europäisch auf mich, aber die Ausstattung sah aus, als stamme sie aus einem Museum für moderne Kunst. Möbel waren kaum vorhanden, auch kein Schnickschnack, und die wenigen Sachen, die zu sehen waren, hatten etwas Bildhauerisches an sich. Ich entdeckte ein weißes Ledersofa, einen Kaffeetisch, der aus einem riesigen, kurvenreichen Stück lackierten Holzes bestand, und in den Wänden versenkte Leuchten, die riesige Leinwände mit Schwarz-Weiß-Fotografien und Pop-Art-Bildern erhellten. Das Ganze war umgeben von einem glänzenden, weißen Marmorfußboden und genauso weißen Wänden.

»Das ist …«, fing ich an, als mein Blick auf ein Bild fiel, auf dem diese Radiergummis dargestellt waren, die am Ende eines Bleistifts zu finden sind, aber ich fand nicht die richtigen Worte, um es zu beschreiben.

»Ja«, sagte Ethan. »Das ist es definitiv.« Er trat unruhig von einem Bein aufs andere – er war vermutlich nicht daran gewöhnt, warten zu müssen – und blickte dann wieder auf die Damen herab.

»Wir werden erwartet.«

Ohne uns eines Blickes zu würdigen, deutete die Frau in der Mitte mit einem langen Finger hinter uns.

Wir drehten uns um. In einer Nische neben der Tür stand eine Bank, auf der drei gelangweilt wirkende, übernatürlich attraktive Vampire warteten – zwei Frauen und zwischen ihnen ein Mann. Sie trugen Anzug und Kostüme und hatten Aktenkoffer auf dem Schoß. Ale waren perfekt gestylt, aber ihr Blick und die Art, wie sie die Schultern hängen ließen, wirkten müde. Sie sahen aus, als ob sie schon eine ganze Zeit hier warteten.

»Großartig«, murmelte ich.

Ethan atmete tief durch, lächelte aber wieder, als er sich noch einmal an die Schicksalsgöttinnen wandte. »Wie Sie wünschen«, sagte er würdevoll.

Wie sich herausstellte, konnten sie sieben Minuten später unsere Wünsche erfüllen. Das Mädel zur Rechten sagte endlich »Merit«, und ich sah auf ihre ausgestreckte Hand, die mir ein durchsichtiges Plastikschildchen in der Größe einer Kreditkarte hinhielt.

Auf einer Seite stand BESUCHER, und es trug das Hologramm einer Biene mit geöffneten Flügeln, was vermutlich eine Anspielung auf den französischen Ursprung des Hauses sein sollte, allerdings mit den technischen Mitteln des einundzwanzigsten Jahrhunderts dargestellt.

»Schick«, sagte ich und befestigte das Schildchen am Saum meines Oberteils.

»Wir haben auch Ausweisschilder für Besucher«, brummte Ethan, als ob ihn die Möglichkeit beleidigte, dass Haus Navarre besser organisiert – oder exklusiver – sein könnte als wir. Er befestigte das Schild an seinem Anzug und sah die Frauen erwartungsvoll an.

Schweigen.

Er deutete auf die Treppe. »Sollen wir einfach …«

»Nadia wird Sie gleich abholen«, sagte die in der Mitte.

»Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte Ethan und trat in die Mitte der Eingangshale.

»Wir brauchen einen drei Stockwerke hohen Lichthof«, teilte ich ihm mit.

»Haus Cadogan ist perfekt, so wie es ist. Wir werden es nicht verändern, nur damit es der Fantasie einer architektonisch eifersüchtigen Hüterin entspricht. Ah«, fügte er strahlend hinzu, »da ist sie schon.«

Ich blickte kurz auf.

Eine Frau kam die Treppe herab. Ihre zarte Hand glitt über das Marmorgeländer, als sie auf uns zuschwebte. Nein – nicht einfach nur eine Frau. Ein Supermodel. An ihr war ales perfekt.

Die Augen waren groß und grün, ihre Nase schmal und gerade, ihre Wangenknochen hoch. Sie war groß gewachsen und schlank und trug Leggings, kniehohe Stiefel und ein langes Stricktop mit Gürtel.

Etwas in der Art hätte ich vieleicht getragen, als ich während meiner College-Zeit in Manhattan durch die Straßen stapfte. Ihre Haare waren lang und mittelbraun, und sie flossen wie pure Seide über ihre Schultern.

Ich beugte mich zu Ethan hinüber. »Du hättest mich vieleicht darüber informieren können, dass Morgans neue Stellvertreterin eigentlich ein Cover-Girl ist.«

»Schon wieder eifersüchtig?«

»Nicht im Geringsten«, antwortete ich knapp und rammte ihm meinen Ellbogen in die Seite. »Aber du leidest unter Schnappatmung.«

Er reagierte mit einem gespielten schmerzhaften Stöhnen auf den Stoß und ging dann mit ausgestreckter Hand auf Nadia zu.

»Ethan«, sagte Nadia mit einem himmlischen Lächeln und gab ihm die Hand.

Sie tauschten Wangenküsse und geflüsterte Worte aus, die mir ein ungutes Gefühl in der Magengegend verursachten. Das ist dann wohl die Eifersucht, die sich hier anmeldet, dachte ich insgeheim.

»Nadia, das ist Merit, meine Hüterin«, sagte er und deutete auf mich. Nadia strahlte mich an und streckte mir beide Hände entgegen.

»Merit«, säuselte sie und beugte sich zu mir vor, um mir auch einen Wangenkuss zu geben. »Ich freue mich, dich kennenzulernen.« Ein leichter französischer Akzent war in ihrer Stimme zu hören, und ihr Parfüm duftete exotisch. Es war zu gleichen Teilen vielschichtig und altmodisch, wie etwas aus einer Boutique in einem längst vergessenen Pariser arrondissement. Es beschwor Bilder von Blumen und Zitronen und köstlichen Gewürzen und Sonnenlicht herauf, ales zusammen abgefüllt.

»Mein Lehnsherr ist in seinem Büro. Wenn ihr mir bitte folgen wollt.«

Ethan nickte und schloss sich ihr an, als sie die Treppe wieder hinaufging. Ihre Haare schwangen bei jedem Schritt hin und her. Wirklich – es sah wie in einer Shampoo-Werbung aus. Oben an der Treppe bogen wir links ab und gingen dann noch einige Meter durch einen breiten Marmorflur. Die Tür stand offen. Ich atmete tief durch und bereitete mich geistig auf jede Menge Theater vor.

KAPITEL ZEHN

Mein (Ex-)Freund ist wieder da

Morgans Büro war ein großer rechteckiger Raum, der ihm einen freien Blick auf den Hinterhof des Hauses Navarre ermöglichte, einen kleinen, aber bestens gepflegten Bereich, der zwischen die Gebäude des Straßenblocks gequetscht worden sein musste. Die gesamte Rückwand bestand aus Glas, und da der Garten unterhalb immer gut ausgeleuchtet war, hatte der Meister einen schönen Ausblick auf den Hof – und die Vampire Navarres hatten einen freien Blick auf ihren Meister.

Diese Art der Architektur entsprach definitiv Celinas Geschmack, denn so wurde ihr Büro zu einer Bühne für das Vampirpublikum im Garten unter ihr.

Hohe Bahnen karminroter Seide hingen zu beiden Seiten der Fenster, vermutlich, um während der Tageslichtstunden zugezogen zu werden. Die restliche Büroeinrichtung war elegant und modern und weniger weiblich. An einem Raumende stand ein Glasschreibtisch, auf dem sich neben einem weißen Computer weißes Schreibtischzubehör befand. Davor standen zwei ultramoderne schwarze Stahlstühle, und am anderen Ende des Raumes erstreckte sich ein Sitzbereich mit modernen Möbeln, die meinen Eltern vermutlich gefallen hätten – gut geschnitten, aber wenig einladend. In dem Büro gab es praktisch keinen Schnickschnack, keine Bücher und auch keine Erinnerungsstücke. Ich war mir nicht sicher, ob das dem Stil modernen Designs geschuldet war oder der Tatsache, dass Morgan in seinen knapp siebzig Jahren nicht die Gelegenheit gehabt hatte, viel zu sammeln.

Der Meistervampir stand mit dem Rücken zur Tür und sah aus dem Fenster.

Nadia sagte leise und respektvol: »Lehnsherr, die Gefolgschaft des Hauses Cadogan.« Er warf einen Blick über die Schulter.

Seine dunklen Haare schienen seit unserem letzten Treffen mehrere Zentimeter gewachsen zu sein, obwohl das erst eine Woche her war. Sie wellten sich um seine tief liegenden dunkelblauen Augen und die langen dunklen Augenbrauen, die sich über ihnen erstreckten.

Es gab eine Menge gut aussehender Männer auf der Welt und viele Männer mit schönen Augen, aber Morgans waren anders. Er hatte nicht nur diesen Schlafzimmerblick, man konnte in seinen Augen versinken; ihre Tiefe schien einen einzuladen, in Versuchung zu führen.

Dieser Blick ruhte nun auf Nadia, wurde finster, als er zu Ethan wanderte, und noch finsterer, als er Dieser Blick ruhte nun auf Nadia, wurde finster, als er zu Ethan wanderte, und noch finsterer, als er auf mich fiel. Morgan hatte eine dramatische Ader, aber er unterdrückte seine Emotionen sofort – Wut, Verrat, Trauer. Vielleicht fand er doch Gefallen an seiner Aufgabe als Meister.

Er drehte sich um. »Danke, Nadia«, sagte er, und Nadia nickte und verließ den Raum. Ich schloss aus ihrer unterwürfigen Art, dass der Meister Navarres eine andere Position hatte als der Meister Cadogans. Oder vielleicht war die Unterwürfigkeit ein Teil der Aufgabe des Stellvertreters – fügsam sein, bis die Krone an einen weitergereicht wurde. Immerhin schien sich Malik Ethans Anweisungen im Allgemeinen zu fügen.

Apropos Ethan. Er war sich seiner Stellung vol bewusst und machte seinen einleitenden Schachzug.

»Merit hatte keinerlei Kontakt mit Nicholas Breckenridge wegen des Artikels. Tatsächlich hat sie seit den damaligen Vorkommnissen überhaupt keinen Kontakt mit ihm gehabt.«

Morgan sah mich an. »Stimmt das?«

Ich nickte.

Er ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich. Ethan deutete auf die Bank vor dem Fenster. »Darf ich mich setzen?«

»Nur zu«, sagte Morgan knapp. Sie tauschten die Plätze, was mich wieder zwischen ihnen stehen ließ. Wie im Drehbuch, dachte ich.

»Du weißt, dass Gabriel uns aufgesucht hat, nachdem die Erpressung aufgeklärt war?«, fragte Ethan, der auf den Hof hinabsah.

»Jetzt ja. Ich weiß auch, dank der Sun-Times, dass du und Merit offensichtlich eine Bar im Ukrainian Village aufgesucht haben. Würdest du mich vieleicht aufklären?«

Ethan drehte sich um und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Ich nahm an, dass er Morgan nicht auf den neuesten Stand gebracht hatte, was unsere Beziehungen zu den Formwandlern anging.

Nicht, dass das überraschend gewesen wäre; er hielt Details immer gern zurück.

»Gabriel hat uns gebeten, bei einem Vortreffen der Alphas anwesend zu sein. Wir sind seiner Bitte nachgekommen.«

Morgan lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Warum wollte er euch dabeihaben?«

»Im Wesentlichen ging es um Sicherheitsfragen. Er wollte außerdem Vampire dabeihaben, um die Formwandler an den Sinn und Zweck der Versammlung zu erinnern.«

»Aha«, sagte Morgan und hob ein gefaltetes Exemplar der Sun-Times hoch. »Es scheint, dass ihr beim Thema Sicherheit nicht gut abgeschnitten habt.«

Ethan sprach mit zusammengebissenen Zähnen. »Der Angriff kam von außen. Einer der Rudelanführer verließ uns. Wenige Minuten später wurden Schüsse auf die Bar abgegeben. Es ist möglich, dass beides miteinander zusammenhängt, aber Gabriel hat seine Zweifel. Sie stellen Nachforschungen an.« Ethan hielt inne und sah zu Boden, als ob er darüber nachdachte, wie viel er Morgan erzählen sollte.

Ethan hatte seine Zweifel, was Morgans Temperament anging und seine Fähigkeit, ruhig zu bleiben, um schwierige politische Entscheidungen zu treffen. Das wusste ich.

Ich sah zu Morgan hinüber, der den Kopf zur Seite gelegt hatte, und bemerkte, wie er mich mit einem Stirnrunzeln bedachte. Er hätte wortlos mit mir sprechen können: Obwohl nur ein Novize und der Meister, der ihn erschaffen hat, die Fähigkeit entwickeln sollten, sich telepathisch zu unterhalten, hatten Morgan und ich dieselbe Verbindung aufgebaut, als er Ethan wegen einer eingebildeten Beleidigung Celinas herausforderte. Vielleicht wollte er nicht reden … Er konnte sich über genügend eigene Probleme den Kopf zerbrechen.

Morgan richtete seinen Blick plötzlich wieder auf Ethan. »Also haben die Wölfe die Schafe in ihre Höhle eingeladen.« Er fuchtelte mit der Zeitung in der Luft herum. »Ich werde dir den Vortrag ersparen, dass du alle Meister Chicagos über solch wichtige Entwicklungen informieren solltest, da ich doch nur auf taube Ohren stoßen würde.«

Einen Punkt für unseren jungen Meister, dachte ich, auch wenn er recht – und damit Pech hatte. Ethan würde sich von einer Standpauke Morgans sicherlich nicht davon abhalten lassen, auch weiterhin Informationen über seine Strategie zurückzuhalten.

»Wenn wir ihnen helfen«, sagte Ethan, und die Erschöpfung war seiner Stimme anzuhören – wahrscheinlich, weil er es nicht gewohnt war, dass Gleichgestellte seine Entscheidungen infrage stellten –, »was wir tun werden, dann beweisen wir unsere Bereitschaft, als vereinte übernatürliche Gemeinschaft zu handeln. Wir tun ihnen einen Gefallen, und vieleicht werden sie uns auch einen Gemeinschaft zu handeln. Wir tun ihnen einen Gefallen, und vieleicht werden sie uns auch einen Gefallen tun.«

»Wenn sie euch tatsächlich zu ihrer eigenen Sicherheit bräuchten«, sagte Morgan, »dann wäre das vielleicht richtig. Aber Formwandler können gut auf sich selbst aufpassen. Zwei Vampire mit Schwertern werden nichts daran ändern, selbst wenn sie sie in nuttiges Leder stecken.«

Ich musste mich bemühen, meinen Zorn nicht zu zeigen. Sicher, Ethan konnte eiskalt sein, Morgan dafür aber richtig widerwärtig.

»Wir haben deine Meinung zur Kenntnis genommen«, teilte Ethan ihm nüchtern mit. »Und wir werden zum Wohle unseres Hauses handeln, so wie wir es für richtig halten.«

»Oh, darüber sind wir uns alle im Klaren«, antwortete Morgan und warf die Zeitung quer durch den Raum. Dank seiner Vampirkräfte flog sie wie ein Frisbee und landete zu Ethans Füßen. Ethan blickte auf sie hinab und richtete seinen Blick dann wieder auf den Meister Navarres.

»Nichts in dem Artikel stammt von uns«, sagte er. »Wir hatten keine Ahnung, dass er geschrieben wurde, und wir haben keinerlei Gespräche mit dem Autor geführt.

Er kam bedrohlich einen Schritt näher, und seine Augen funkelten kühl.

»Was aber wichtiger ist«, sagte er und hatte seine Stimme um eine Oktave gesenkt, »kein einziges Detail in diesem Artikel ist unwahr. Du möchtest dich vielleicht hinter deiner Position als Meister verstecken, aber erinnere dich an das Haus, aus dem du stammst. Celina ist verantwortlich für Morde an Menschen, Morde, die nichts mit ihrem Bedürfnis nach Blut zu tun hatten. Morde, die sie offensichtlich plante, weil die Menschen leicht zu opfernde Bauern waren, als sie nach der Macht strebte.

Alles zu leugnen mag dir vielleicht praktisch erscheinen, aber sie war Meisterin dieses Hauses, und dieses Haus wird die Last der Entscheidungen tragen müssen, die sie getroffen hat, schreckliche Entscheidungen, schwerwiegende Entscheidungen. Wenn du die öffentliche Meinung über dieses Haus ändern willst, dann ändere das Haus. Mache es zu deinem Haus, einem ehrbaren Haus, einem Haus, das bereit ist, mit anderen Gruppen zusammenzuarbeiten, einem Haus, das alle Vampire schützt, anstelle zu den Waffen zu greifen für eine Vampirin, die uns mit ihren Taten einen schlechten Dienst erwiesen hat. Einen wirklich schlechten Dienst«, fügte er hinzu.

Morgan saß einen Augenblick regungslos in seinem Stuhl und schluckte dann schwer. Es herrschte Stille im Raum, zumindest bis Ethans Handy zu summen anfing. Er betastete die Taschen seiner Anzugjacke, bis er es fand, zog es heraus und betrachtete das Display. Er sah zu Morgan auf. »Darf ich euch kurz verlassen, um den Anruf entgegenzunehmen?«

Morgan schwieg einen Moment lang. Die Bürotür öffnete sich und Nadia kam herein.

»Lehnsherr?«, fragte sie. Er musste sie telepathisch herbeigerufen haben.

»Ethan muss ein Gespräch führen. Würdest du ihn bitte in dein Büro bringen?«

»Selbstverständlich«, sagte sie. Sie lächelte und deutete zur Tür. Ethan verließ den Raum, sie folgte ihm und schloss die Tür. Morgan und ich blieben allein in seinem Büro zurück.

Wir zwei.

Ich hielt den Blick auf den Boden gerichtet und versuchte mich mit schierer Gedankenkraft unsichtbar zu machen.

Ohne Vorwarnung sprach mich Morgan an. »Wie läuft es zwischen euch beiden?«

In Anbetracht meiner hochroten Wangen war ich sehr froh darüber, dass ich mich wieder zum Fenster gedreht hatte, aber ich überging den Unterton in seiner Frage ohnehin. »Ich glaube, wir haben ein recht brauchbares Arbeitsverhältnis.«

»Das habe ich nicht gemeint.«

»Nein«, wies ich ihn zurecht, nicht willens, ihm respektvol zu antworten, wenn er sich nicht bemühte, mir gegenüber höflich zu sein. »Das willst du nicht hören, aber das ist die Antwort auf deine Frage.«

»Ich habe gehört, dass du ihn angegriffen hast. War unser Gespräch der Auslöser?«

»Celinas Angriff auf offener Straße war der Auslöser.« Mehr sagte ich ihm nicht, denn ich ging davon aus, dass Ethan ihn wenigstens über die unkluge Rückkehr seiner früheren Meisterin nach Chicago aufgeklärt hatte.

Einen Augenblick herrschte Stille, lange genug, dass ich mich wieder zu Morgan umdrehte. In seinem Blick lag Bedauern.

»Du wusstest es«, lautete meine Vermutung, als ich ihn ansah. »Du wusstest, dass sie in der Stadt ist, und hast es niemandem gesagt.« Dann fiel mir ein, was ich bei Celinas Angriff bemerkt hatte. »Sie trug ein neues Medaillon Navarres. Sie hat dich aufgesucht«, sagte ich in plötzlicher Erkenntnis. »Sie ist in dieses Haus gekommen, und du hast sie getroffen. So hat sie ihr Medaillon bekommen.«

Morgan blickte stur auf den Boden und wich meinem Blick aus, während er seine Ansprache vorbereitete. »Sie hat dieses Haus aufgebaut«, sagte er leise. »Sie ist meine Meisterin, und sie hat mein Haus aufgebaut. Sie hat mich um ein Medaillon gebeten, um das zu ersetzen, was ihr genommen worden war.« Als er seinen Blick auf mich richtete, konnte ich sehen, dass er sich in einem inneren Konflikt befand.

Er wollte die Vampirin wirklich ehren, die ihm sehen, dass er sich in einem inneren Konflikt befand. Er wollte die Vampirin wirklich ehren, die ihm die Unsterblichkeit geschenkt hatte, wollte sich ihr gegenüber anständig verhalten. Aber ich war mir nicht sicher, ob er den richtigen Ansatz damit verfolgte, einer Verbrecherin Unterschlupf zu gewähren – Meisterin hin oder her.

Während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, war ich vieleicht bereit, über eine Mitgliedschaft in der Roten Garde nachzudenken …

»Ist sie noch in Chicago?«

»Das weiß ich nicht.«

Ich machte Ethan nach und hob eine Augenbraue.

»Ehrlich«, sagte er mit hoch erhobenen Händen. »Ich habe ihr gesagt, dass sie nicht hierbleiben kann. Ich sagte ihr, dass ich sie nicht dem Greenwich Presidium melden würde, aber dass sie nicht hierbleiben könne.« Und dann geschah etwas Interessantes – plötzlich war da ein Funkeln in seinen Augen, ein Hinweis auf eine meisterhafte Strategie. »Aber ich habe ihr nicht versprochen, es dir nicht zu erzählen.«

Wie nett von ihm, mich damit zu belasten, aber ich konnte es jetzt auch nicht mehr ändern.

»Irgendeine Idee, wo sie sein könnte?«

Morgan lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Keine konkrete. Aber wir reden hier von Celina – sie liebt Mode, Eleganz.« Er deutete auf das Büro um uns herum. »Das beste Beispiel ist dieser Raum. Er ist praktisch ein Museum.«

»Eine Hommage an sie?«

Er sah zu mir auf, und ihm saß der Schalk im Nacken. Einen Augenblick lang sah ich das, was mich an Morgan von Anfang an interessiert hatte. Ethan beschwerte sich die ganze Zeit darüber, dass Morgan »zu menschlich sei«, aber es war diese Menschlichkeit, die für seinen altklugen Sinn für Humor verantwortlich war und für das Mitgefühl seiner früheren Meisterin gegenüber. Wie unverdient das auch sein mochte.

»So etwas in der Art, ja«, sagte er. »Wenn sie sich also dazu entschlossen hat, in Chicago zu bleiben, dann könntest du etwas richtig Nettes erwarten. Sie würde sich ganz bestimmt nicht mit anderen ein Vierfamilienhaus teilen. Du müsstest in Hyde Park, Gold Coast oder Streeterville nach ihr suchen.

Nach etwas mit einem Portier, einem Aufzug, einem Ausblick. Ein Penthouse. Eine Eigentumswohnung am Michigansee. Eine Villa aus dem Goldenen Zeitalter. Etwas in der Richtung. Aber ich glaube nicht, dass sie hiergeblieben ist. Ihr Gesicht war im Fernsehen, und es gibt einfach zu viele Leute, die sie hier erkennen könnten.«

Ich war mir nicht sicher, ob ich seiner Argumentation Glauben schenken sollte, dass sie den langen Weg in die Staaten auf sich genommen hatte, nur um mich zu schikanieren und dann wieder nach Europa zu fliegen. Aber andererseits folgte Celina auch nicht wirklich denselben Regeln wie der Rest des Planeten. »Was meinst du denn, wo sie steckt?«

Morgan blies die Backen auf. »Ehrlich? Ich würde eine Menge Geld auf Frankreich wetten. Da kommt sie her, und solange sie in Europa ist, hat sie sowohl das Greenwich Presidium als auch das Chicago Police Department vom Hals.«

Trotz meiner Zweifel schien er recht zu haben. »Nun, vielen Dank jedenfalls für die Info.«

Er zuckte mit den Achseln. »Was wirst du jetzt machen?«

»Ich werde es Ethan erzählen.« Ich war mir nicht sicher, was Ethan tun würde.

Wenn auch nur die geringste Chance bestand, dass Celina noch in Chicago war, dann würde er sich ihr mit Sicherheit nach der Versammlung widmen. Aber heute hatten wir schon mehr als genug zu tun.

»Natürlich wirst du das«, sagte Morgan mit beleidigter und gereizter Stimme, wie ein Kleinkind. Das war der Nachteil seiner Menschlichkeit.

»Du wirst dich vieleicht daran erinnern, dass er mein Meister ist. Die Ehrerbietung, die du Celina erweist, erweise ich ihm.«

Morgan setzte sich wieder aufrecht hin und drehte sich mit seinem Stuhl den Papieren auf seinem Schreibtisch zu. »Und natürlich ist deine Beziehung zu ihm rein geschäftlich, da du ja immer auf seiner Seite stehst.«

»Ich stehe immer auf der Seite Cadogans. Darauf kommt es bei der Hüterin an.«

»Was auch immer«, sagte er. »Du hast Ethan angegriffen.«

»Das habe ich.«

»Und dennoch stehst du hier vor mir.« Er musterte mich eingehend, und ich bemerkte, wie der Blick, den ich früher wahnsinnig attraktiv gefunden hatte, unangenehm lüstern wurde. »Keine Bestrafung für den ich früher wahnsinnig attraktiv gefunden hatte, unangenehm lüstern wurde. »Keine Bestrafung für die Lieblingsschülerin?«

»Ich bin bestraft worden«, versicherte ich ihm, auch wenn ich zugeben musste, dass meine Ernennung zur Vorsitzenden des Party-Ausschusses unseres Hauses eine recht milde Bestrafung war, selbst für einen introvertierten Vampir.

»Aha. So, so«, sagte er.

»Ich verstehe ja, dass du nicht besonders glücklich bist, aber könnten wir einfach versuchen zusammenzuarbeiten, ohne uns die ganze Zeit anzublaffen?«

Morgan wollte gerade etwas darauf erwidern, aber bevor er zum Sprechen kam, wurde die Bürotür geöffnet. Ethan kam herein und schob sein Handy in die Tasche. »Wir müssen uns um einige Sachen kümmern«, sagte er und sah uns an.

»Wenn wir hier fertig sind?«

Morgan sah mich einen Augenblick an, bevor er sich schließlich Ethan zuwandte. »Ich weiß euren Besuch zu schätzen.«

»Vieleicht sollten wir uns alle daran erinnern, dass es drei Häuser in Chicago gibt«, sagte Ethan, »und dass diese Häuser nicht verfeindet sind.« Damit drehte er sich zu mir, winkte mir zu, und wir verließen das Büro.

KAPITEL ELF

Es bleibt alles in der Familie

Das Anwesen der Breckenridges – und diese Bezeichnung hatte es wirklich verdient – lag in den hügeligen Landschaften außerhalb Chicagos, und daher mussten wir eine ziemliche Strecke mit dem Wagen fahren.

Da ich wusste, dass wir mehr als genügend Zeit hatten, um uns auf den neuesten Stand zu bringen, wartete ich, bis wir wieder im Wagen saßen, bevor ich die Neuigkeiten über Celina ausplauderte.

»Morgan hat Celina getroffen, bevor sie nach Cadogan gekommen ist«, teilte ich ihm mit. »Er hat ihr ein neues Medaillon Navarres gegeben, das sie trug, als sie mich angegriffen hat.«

»Es klingt zwar traurig, aber das überrascht mich nicht wirklich. Was noch?«

»Morgan glaubt nicht, dass sie noch in der Stadt ist. Er wettet darauf, dass sie sich nach Europa abgesetzt hat. Aber wenn sie noch hier wäre, dann auf jeden Fall in einer eleganten Umgebung.«

»Das würde zu Celinas Selbstbild passen.«

»So sehr ich es auch hasse, das zuzugeben, aber sobald wir die Versammlung der Rudel hinter uns haben, sollten wir wahrscheinlich einige Maßnahmen ergreifen, die, na ja, ich weiß nicht, den Schaden begrenzen, den sie anrichten könnte?«

»In dieser Hinsicht können wir nicht allzu viel machen, wenn man bedenkt, wie das Greenwich Presidium sich vor sie gestellt hat. Sie haben sie immerhin freigelassen.«

»Ich weiß. Aber gerade weil das Presidium sie nicht davon abhalten wird, die Häuser und die Rudel gegeneinander aufzubringen, müssen wir uns ein paar kreative Gedanken zu dem Thema machen.«

»Vielleicht«, sagte er und hielt inne. »Es scheint mir, dass es ein Fehler war, dich zu einer Beziehung mit Morgan zu ermutigen.«

Ich verkniff mir ein Lächeln. »Gibst du damit zu, dass du unrecht hattest?«

»Nur in gewisser Hinsicht. Zwischen euch beiden herrscht eine Spannung, die wir uns hätten ersparen können, wenn ihr nicht miteinander ausgegangen wärt. Ihr beiden könnt ja praktisch nicht im selben Raum sein.«

Seine Schlussfolgerung verschaffte mir ein ungutes Gefühl im Magen, und ich fragte mich, ob der nächste Satz etwas in der Art von » wo wir schon von unklugen Beziehungen sprechen« sein würde… Doch wenn er sich wegen uns Sorgen machte, so sprach er sie nicht an.

»Nun, das ist jetzt Schnee von gestern«, sagte er.

»Weißt du, du hast mir mal gesagt, er wäre zu menschlich. Damals war ich nicht deiner Meinung, da ich ja noch bis vor Kurzem selbst menschlich gewesen bin, aber jetzt verstehe ich es. Er ist intelligent, fähig, witzig …«

»Vielleicht solltet ihr doch zusammen sein.«

» Ha! Aber er kann auch total kindisch sein. Er ist seit vierzig Jahren Vampir und sollte seine Pubertät und seine Midlifecrisis eigentlich hinter sich haben.«

»Hüterin, es gibt Männer, die seit vierzig Jahren Menschen sind und trotzdem weder Pubertät noch Midlifecrisis hinter sich haben.«

Da musste ich ihm recht geben. In dem Moment fiel mir auf, dass ich Ethans Telefon nicht wirklich Da musste ich ihm recht geben. In dem Moment fiel mir auf, dass ich Ethans Telefon nicht wirklich hatte klingeln hören. »Hast du einen Telefonanruf vorgespielt, damit du mich mit Morgan allein lassen konntest?«

»Das habe ich nicht. Obwohl ich dachte, es würde euch beiden guttun, reinen Tisch zu machen.«

»Verstehe. Wer hat angerufen?«

»Bedauerlicherweise Catcher. Die Gerichtsmedizin hat Tonys Motorrad untersucht. Sowohl auf dem Tank als auch auf dem Sitz befanden sich Schießpulverreste.«

»Hm. Das bringt es noch nicht mit hundertprozentiger Sicherheit mit der Schießerei in Verbindung; die Indizien sehen aber nicht gut aus. Haben Tony oder sein Rudel die Verantwortung für den Angriff übernommen?«

»Nicht, dass ich wüsste«, sagte Ethan. »Ich habe vor, Gabriel heute Abend danach zu fragen.«

Ethan schaltete das Radio ein, und wir hörten uns den Rest der Fahrt einen öffentlich-rechtlichen Sender an. Gebäude und Parkplätze wichen nach und nach Bäumen und Ackerland und schließlich dem französischen Château, das sich inmitten der Breckenridge-Ländereien erhob. Ethan fuhr auf die lange Zufahrt, an deren Seite Dutzende Motorräder in zwei Reihen nebeneinanderstanden. Sie boten einen interessanten Kontrast zu dem luxuriösen Herrenhaus und seinen Kaminen, dem Steildach und den hellen Fassadensteinen.

Ethan parkte den Wagen am Ende einer Motorradreihe. Ich zögerte, weil ich nicht wusste, ob ich mein Katana mitnehmen sollte. Ich hielt die Schwertscheide hoch und sah ihn fragend an.

»Nimm es mit«, sagte Ethan und gürtete sein eigenes Schwert um. »Wenn der Angriff auf die Bar ein Angriff auf Gabriel gewesen ist, besteht die Möglichkeit, dass ein Mitglied des Rudels daran beteiligt war.«

»In Ordnung.« Ich gürtete meine Klinge ebenfalls um.

Wir liefen den restlichen Weg bis zur Vordertür. Als wir das letzte Mal hier gewesen waren, hatte ein Diener mit weißen Handschuhen uns aus dem Wagen geholfen, und Mrs Breckenridge – Nicks Mutter – hatte uns im Foyer begrüßt.

Heute fiel die Begrüßung ein wenig anders aus.

Eine Frau riss die Tür auf und stemmte eine Hand in die Seite. »Ich mach schon auf, Mrs Breckenridge«, rief sie nach hinten und sah uns erwartungsvoll an. Sie war groß, gut in Form und trug ein eng anliegendes T-Shirt. Kniehohe schwarze Stiefel verdeckten ihre Jeans, und ihre kurzen Fingernägel hatte sie in glänzendem Schwarz lackiert. An jedem Ohr hing ein Dutzend Ohrringe, und um ihre Handgelenke zogen sich Tätowierungen, die von Stammeskulturen inspiriert waren. Sie hatte ein hübsches, zartes Gesicht und Gabriels goldene Augen. Ihre sonnengebleichten Haare fielen ihr in Wellen über die Schultern.

Noch ein Mitglied der Keene-Familie, nahm ich an.

Sie sah mich kurz an und richtete ihren Blick dann auf Ethan. »Sullivan?«

Ethan nickte. »Und Merit.«

»Ihr seid am richtigen Ort«, sagte sie. »Mrs Breckenridge sagte, dass ihr diese ganze Vampir-Einladungs-Geschichte schon hinter euch habt, also gilt die auch für heute.« Sie machte Platz und hielt uns die Tür auf. »Kommt rein.«

Ethan betrat das Foyer, und als ich ihm folgte und an ihr vorbeiging, wehte mir ein leichter Zitrus-Gewürz-Duft entgegen.

»Ich hatte deinen Namen nicht mitbekommen«, sagte Ethan.

Sie hielt ihm die Hand hin. »Falon Keene.«

»Ethan Sullivan«, sagte er und schüttelte ihre Hand.

Sie wandte sich mir zu.

»Merit«, sagte ich und begrüßte sie ebenso.

»Ich sag Gabriel Bescheid, dass ihr hier seid«, sagte sie und sah uns schief an.

»Vampire auf einer Rudelparty. Es hat definitiv eine neue Ära begonnen.« Ihr Tonfall verriet nicht, ob sie diese neue Ära begrüßte oder ablehnte.

Ethans Antwort hingegen war nicht so zweideutig. »Hoffen wir es. Hoffen wir es.«

Das Haus war voller Leute und guter Laune und prickelnder, natürlicher Magie.

Männer und Frauen aßen und tranken und plauderten miteinander, während Kinder fröhlich zwischen ihnen hin- und herrannten und Spielzeuge in den Händen hielten. Die Türen zu dem eleganten Ballsaal waren geöffnet, und an einer Wand war ein wirklich sehr langes Büfett mit reichlich Ess-und Trinkbarem aufgebaut. Es fühlte sich ales in allem mehr wie eine Urlaubsfeier denn wie eine letzte (Vor-Versammlungs-)Mahlzeit an.

»Merit!«

Bevor ich reagieren konnte, war Jeff bei mir, zerquetschte mich fast und drückte mir einen Kuss auf die Wange. »Wir sind so froh, dass du da bist.«

Ich lächelte und erwiderte seine Umarmung. Ich nahm an, dass seine Freude etwas damit zu tun hatte, dass er in mich verknallt war, zumindest dachte ich das, bis er zu Ethan hinüberging und ihn genauso in die Mangel nahm.

Ethan warf mir einen völlig hilflosen Blick zu, den ich zwinkernd erwiderte.

»Das ist was ganz Besonderes, dass ihr hier seid«, sagte Jeff, nachdem er Ethan losgelassen hatte und einen Schritt zurückgewichen war. »Wirklich was Besonderes. Wir hatten noch nie Vampire bei einer solchen Feier.«

»Und es scheint eine ziemlich ordentliche Feier zu sein«, sagte Ethan und ließ den Blick durch den Raum schweifen.

»Sie ist super. Ihr beiden solltet euch was zu essen holen. Habt ihr Falon kennengelernt?«

Ich nickte. »Sie hat uns reingelassen. Sie ist Gabriels Schwester, oder?«

»Seine einzige Schwester. Und Zweite in der Thronfolge, wenn man es so nennen möchte«, stellte Jeff fest. »Fast alle von ihnen sind heute Abend hier.« Er deutete auf mehrere Männer mit Löwenmähne in der Menge, die alle die golden glänzenden braunen Haare der Keenes hatten. Adam sah zu uns herüber, winkte uns zu und ließ mit einem Lächeln seine Grübchen erscheinen. Zwei Jungs mit Plastikautos in den Händen rannten plötzlich zwischen uns hindurch und verschwanden mit lauten Brumm-Geräuschen.

»Es ist ein freudiger Anlass«, merkte Ethan an.

»Wir sind zusammen«, sagte Jeff. »Eine Familie, die sich endlich wiedertrifft.

Das ist ein guter Grund zu feiern, auch wenn die Versammlung der Rudel bedeutet, dass wir euch möglicherweise alleinlassen.« Er sah mich besorgt an.

»Ich möchte nicht gehen. Ich möchte euch nicht im Stich lassen.«

»Ich weiß«, tröstete ich ihn und drückte seine Hand. »Ich möchte auch nicht, dass du gehst.«

Seine Augen wurden groß, und er lief hochrot an.

»Das ist rein platonisch gemeint, Jeff. Weil du ein wirklich guter Freund bist.«

»Puh!«, sagte er und atmete erleichtert aus. »Genau deswegen wollte ich mit dir reden.«

Seine hochroten Wangen ließen mich eine Vermutung anstellen. »Jeff, gibt es da jemand anderen?«

Er antwortete mit einigen mehrdeutigen »Öhs« und »Ähms«, aber als sein Blick wieder auf die Anwesenden fiel – und dem lockigen, wallenden Haar Falon Keenes durch den Raum folgte –, hatte ich meine Antwort.

»Weiß sie Bescheid?«

Er sah mich an, und sein eben noch jugendlich wirkendes, hochrotes Gesicht hatte sich in etwas viel Erwachseneres verwandelt. »Natürlich weiß sie es. Ich nehme das Ganze ziemlich ernst, Merit.«

Ich lehnte mich vor und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Das weiß ich doch, Jeff. Also, außer dass du von Falon Keene schwärmst – was steht heute sonst noch auf dem Programm?«

Jeff zuckte mit den Achseln. »Das ist so ziemlich ales. In Erinnerungen schwelgen. Sich über die Anwesenheit der anderen freuen. Gabriel wird später noch ein paar Worte sagen. Und natürlich gibt es jede Menge Essen.« Er hob die Augenbrauen. »Habt ihr euch schon das Büfett angesehen?«

»Nur von hier aus.«

Jeff sah Ethan vorwurfsvol an. »Wenn du dich ihr gegenüber anständig verhalten willst, solltest du ihr was zu essen holen.«

Damit verschwand er wieder in der Menge. Ethan und ich standen schweigend einige Augenblicke da und sahen ihm nach. »Ich nehme an, er ist meine Konkurrenz?«

»Damit liegst du richtig.« Ich warf ihm einen Blick zu. »Hast du dir schon eine Strategie überlegt, wie du mir besser den Hof machst?«

Er lächelte langsam und unartig. »Ich glaube, ich habe bereits bewiesen, dass du an meinem Hof nur das Beste erwarten kannst, Hüterin.«

Ich schnaubte nur, grinste aber innerlich, weil ich die schlagfertige Antwort nicht erwartet hatte und sie umso mehr genoss. Waren wir tatsächlich zusammen? Geschah das hier wirklich?

»Nun, ich denke, ich könnte seinen Ratschlag durchaus beherzigen. Hast du Hunger?«

»Überraschenderweise im Augenblick nicht. «

»Hören die Wunder denn nie auf?«

»Ha«, sagte ich und warf einen Blick auf die Formwandler. Eltern trugen Kinder umher, Teller wurden zwischen Familienmitgliedern weitergereicht, und Liebende umarmten sich. »Das ist keine typische Breckenridge-Party.«

»Meine Eltern geben die verschiedensten Partys«, sagte eine Stimme hinter mir.

Wir sahen uns beide um. Nick Breckenridge – groß gewachsen, dunkelhaarig und gut aussehend – stand hinter uns und hatte die Hände in den Taschen. Er trug ein dunkles Hemd, dessen Ärmel er aufgerollt hatte, und dunkle Jeans. Seine Haare waren militärisch kurz geschnitten, seine Augen blau.

Er hatte eine römische Nase und dichte Augenbrauen und war schön wie ein spartanischer Krieger – unerschütterlich gut aussehend. In diesem Augenblick bewies er seine stoische Ruhe mit der Kontrolle seiner Emotionen. Wir würden sehen, wie lange er das durchziehen konnte…

»Schöne Rächerin?«, fragte ich laut.

»Nicht meine Idee.«

»Ich nehme an, der Artikel war es auch nicht?«

Nick nickte kurz. »Der Redakteur hatte es ursprünglich jemand anderem anvertraut. Ich habe sie überzeugt, dass die Geschichte Schwerstarbeit werden würde, und nahm sie ihnen ab. Wir brauchen keinen neugierigen Reporter, der Fragen in der Bar stellt und sich über die Jungs in den ZNA-Jacken wundert.«

»Der Artikel war ziemlich pro Haus Cadogan. Und pro Hüterin.«

»Ich habe wohl vorschnell geurteilt«, sagte Nick. »Ich bin in der Lage, meine Fehler einzugestehen. Aber was wichtiger ist, der Artikel konzentriert sich auf die Vampire…«

»Und nicht auf die Formwandler?«, beendete ich seinen Satz.

Er nickte.

»Verständlich. Ich wusste nicht, dass du für die Zeitung arbeitest.«

»Im Moment nur als Freiberufler.« Nick betrachtete uns beide. »Es ist eine große Sache, dass ihr hier seid. Gabriel prüft euch auf Herz und Nieren.«

»Das haben wir gehört«, sagte Ethan. »Und wir freuen uns darüber, dass sich diese Chance ergeben hat.«

Sie schwiegen einen Moment lang und musterten sich gegenseitig von Kopf bis Fuß. Das war zumindest mein Eindruck, und vieleicht dachten sie darüber nach, Frieden zu schließen oder in den Krieg zu ziehen.

»Wo wir gerade von Gabriel sprechen«, sagte ich und deutete auf den Raum, »begräbt man so das Kriegsbeil?«

»Wie ihr wisst, war ich einer der Hauptakteure bei Dingen, die ziemliche Wellen geschlagen haben und von denen er gar nicht begeistert war«, gab Nick finster zu, »aber ich hoffe, dass ich irgendwann sein Vertrauen zurückgewinnen kann. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Was die Versammlung der Rudel angeht, so glaube ich nicht, dass sie sich dafür entscheiden werden, hierzubleiben.«

»Es besteht definitiv die Möglichkeit, dass sie Chicago verlassen«, sagte Ethan.

»Sollte diese Entscheidung am Ende getroffen werden, dann werden wir lernen, uns an die neue Situation anzupassen.«

Ich fragte mich, ob die Breckenridges sich dann auch anpassen mussten. Nach dem, was ich bisher mitbekommen hatte, schienen sie keine typischen Formwandler zu sein – keine Harleys, kein Leder. Sie waren stattdessen eine Familie mit starken Verbindungen zu Chicago und einer noch stärkeren Verbindung zu ihrem Land.

»Wenn sie sich entscheiden zu gehen«, fragte ich Nick, »würdest du dann auch gehen? Würdest du dir Michael und Fin und Jamie und deine Eltern schnappen und nach Norden gehen?«

»Das kann ich nicht beantworten.«

Ich neigte den Kopf neugierig zur Seite. »Weil es ein Geheimnis ist?«

»Weil ich es nicht weiß.«

In seiner Stimme schwang Niedergeschlagenheit mit – und Schuldgefühle. Es waren die Schuldgefühle eines Mannes, der glauben wollte, der sich aber noch nicht ganz entschieden hatte, ob er dem Anführer bedingungslos folgen würde. Auch wenn man das Chaos bedachte, das er bei den Vampiren ausgelöst hatte, so empfand ich dennoch Mitgefühl für ihn. Wer in seinem Herzen zweifelte, den lähmte die Angst.

Nick wurden weitere Vorhersagen erspart, denn vor uns teilte sich die Menge.

Ich sah die Leute in unsere Richtung drängen, und dann stand Berna vor uns, die sich mit kräftigem Einsatz ihrer Ellbogen einen Weg durch die Formwandler gebahnt hatte und einen Teller in der Hand hielt, auf dem Essen für eine halbe Kompanie aufgehäuft war: verschiedenste Fleischsorten, Aufläufe und Gemüse und obendrauf ein süßes Hefegebäck, wie die Kirsche auf einem Eisbecher.

Die Formwandler um uns herum waren still geworden und wandten ihre Blicke den beiden Frauen zu, die sich gegenüberstanden: ich, die relativ große, schlanke Vampirin mit dem dunklen Pferdeschwanz und der leuchtend roten Schwertscheide, und Berna, die eher kleine und rundliche Frau mit ihren blondierten Haaren und knubbligen Fingern, die mit ausgestreckten Armen auf mich zugekommen war.

Sie hielt mir den Teller hin. »Du musst was essen.« Ich wollte gerade widersprechen, aber das gehässige Blitzen in ihren Augen hielt mich davon ab.

»Vielen Dank, Berna. Es ist sehr aufmerksam von dir, mir einen Teller zu bringen.«

Sie schnaubte nur und zog eine Gabel aus einer Tasche ihres Polyesterhemds, die sie mir ebenfalls überreichte. Ich warf Ethan einen Blick zu. Er nickte mir zu – was die Formwandler, die den Austausch verfolgt hatten, zu belustigen schien –, und ich stach mit der Gabel in den Kartoffelauflauf und nahm einen Bissen.

Meine Augen schlossen sich, als ich den Geschmack von weichen Kartoffeln, Butter, Paprika und Sahne auf der Zunge spürte. Die Menge an Sahne hätte übrigens für fünf weitere Gerichte gereicht.

»Oh, Berna! Das ist fantastisch.«

»Hmm, hmm«, sagte sie, und ihr Tonfall verriet ihre Genugtuung. Ich öffnete die Augen, nur um zu sehen, wie sie auf dem Absatz kehrtmachte, abmarschierte und von der Menge verschluckt wurde.

Ich nahm eine weitere Gabel Auflauf und hielt sie Ethan hin. Er betrachtete sie einen Moment lang, bis ihn mein böser Blick dazu zwang, sich vorzubeugen.

Eine halbe Sekunde später schloss auch er die Augen, als er den Geschmack verspürte.

»Hab ich dir doch gesagt«, sagte ich und zog die Gabel zurück.

»Du hast wirklich ein Talent.«

»Weiß ich doch«, sagte ich geistesabwesend, denn ich befand mich bereits wieder im Schlaraffenland.

Kurze Zeit später tauchte auch Nick in der Menge unter, und Ethan ging kurz nach draußen, um einen Anruf zu tätigen. Das ließ mich allein im Rudel zurück, und in diesem Augenblick nutzte Adam seine Chance.

Er war lässig gekleidet – ein dünnes Baumwollhemd und Jeans, dicke Stiefel und eine lange Kette, an der ein keltischer Anhänger baumelte.

»Ihr beide scheint der Hit zu sein«, sagte er. »Berna kocht nicht für viele. Ich weiß, dass sie das, was du für sie getan hast, sehr zu schätzen weiß.«

»Ich bin nur froh, dass ich rechtzeitig dazwischengehen konnte«, sagte ich und nickte dann in Richtung der Menge. »Es scheint, dass hier alle ziemlich viel Spaß haben.«

»Das haben wir normalerweise auch. So was machen wir zu Hause auch immer. Große Wiedersehensfeiern, Barbecues, so was in der Art.«

»Ich habe gehört, dass Gabriel in Memphis wohnt. Wohnst du da auch?«

Adam lächelte verschlagen, und als sich seine Mundwinkel hoben, wurden seine tiefen Grübchen sichtbar. Ich nehme an, man hätte sein Lächeln als wölfisch bezeichnen können, denn es hatte definitiv etwas Raubtierhaftes an sich.

»Ich wohne, wo immer ich will.«

»Du bist also ein Nomade, oder hast du einfach Angst davor, dich zu binden?«

Nun lächelte er über das ganze Gesicht. »Willst du es mit mir ausprobieren?«

Ich lachte prustend. »Ich habe genug damit zu tun, mit den Vampiren in meinem Leben zurechtzukommen.«

»Woher willst du wissen, dass man mit Formwandlern nicht leichter zurechtkommt?«

»Es hat nichts damit zu tun, wie gut oder wie schlecht man mit jemandem zurechtkommt. Es geht darum, mir die Leute vom Leib zu halten, auf die ich ein Auge haben muss. Ich würde gerne ein Leben ohne großes Theater führen.«

»Dann hättest du besser keine Vampirin werden sollen.«

»Hatte nicht wirklich die Wahl.«

Das ließ ihn innehalten. Sein Lächeln verschwand und wurde durch eine leicht morbide Neugier ersetzt. »Du hattest keine Wahl? Ich dachte, Vampire hätten Eide zu leisten? Der Wandlung ihre Zustimmung zu geben oder so?«

Ich wandte mich ab und befeuchtete nervös meine Lippen. Obwohl die ganze Stadt wusste, dass ich zu einer Vampirin gemacht worden war, waren die Umstände meiner Wandlung – die Tatsache, dass ich ihr nicht wirklich zugestimmt hatte – nur ganz wenigen bekannt. Ich hatte diese flapsige Bemerkung, ohne nachzudenken, von mir gegeben… aber ich war mir nicht sicher, ob ich diesem Kerl die Wahrheit sagen wollte, Grübchen hin oder her.

»Es gab noch andere Dinge zu bedenken außer dem großen Theater«, teilte ich ihm in der Hoffnung mit, dass ich damit die Frage ausreichend beantwortet hatte und weiteren Fragen ausweichen konnte. »Es ging nicht nur darum, ein Vampir zu werden.« Es ging um mein Überleben. »Das trifft auf einige von uns zu.«

Als ich ihm wieder in die Augen sah, lag Überraschung in seinem Blick – und Respekt.

»Du bist eine Kämpferin«, stellte er fest. »Eine Art Kriegerin.«

»Ich bin die Hüterin des Hauses«, sagte ich. »Eine Wächterin, im weitesten Sinne.«

»Ein Ritter unter Königen?«

Ich lächelte. »So ungefähr. Und wie verbringen Sie ihre freie Zeit, Mr Keene? Abgesehen davon, dass Sie mithilfe Ihrer Grübchen Frauen umwerben?«

Er sah schüchtern zu Boden, aber das nahm ich ihm nicht ab, vor allem nicht, als er mich wieder ansah und verführerisch grinste. »Ich bin ein Mann der kleinen Freuden, verehrte Hüterin.«

»Und die wären?«

Er zuckte nachlässig mit den Achseln und winkte dann einen Mann herbei, der mit Saft in Plastikbechern an uns vorbeilief. Familienfreundlich, dachte ich.

Adam nahm zwei Becher und gab mir einen. »Wenn wir das nächste Mal einen Drink nehmen, werde ich etwas Ausgefalleneres anbieten. Wie stehen meine Chancen?«

Ich trank einen Schluck warmen Apfelsaft. »Gering bis gar keine.«

Er lachte gutmütig. »Vergeben?«

»Und nicht mal interessiert.«

»Autsch«, sagte er und zog das Wort in die Länge. »Auch noch frech. Das mag ich.«

Unwillkürlich musste ich lächeln. Sein Angebot reizte mich nicht – und tatsächlich schien ich vergeben zu sein –, aber es war dennoch sehr schmeichelhaft. Adam Keene war eine geradezu tödliche Mischung aus gutem Aussehen, Charme und Frechheit.

»Ich bin außerdem noch neugierig«, gab ich zu. »Und in den wenigen Minuten, die du hier stehst, bist du jeder persönlichen Frage ausgewichen, die ich dir gestellt habe.«

Er hielt seine freie Hand hoch. »Entschuldige bitte. Ich wollte nicht ausweichend wirken. Du bist ein Vampir; ich bin ein Formwandler. Mir gefällt zwar diese Romeo und Julia-Spannung zwischen uns beiden, aber wir sind doch eher vorsichtig, wenn es gilt, den Blutsaugern Antworten zu geben.«

»Das kann ich verstehen«, sagte ich und nickte zustimmend. »Lass es uns noch mal versuchen. Was macht ein Formwandler wie du in seiner Freizeit?«

»Nun«, sagte er, sah zu Boden und blinzelte kurz, während er darüber nachdachte. »Ich grille gern. Ich stemme ein paar Gewichte. Ich hau gerne in die Saiten.«

Ich hob die Augenbrauen. »Du haust in die Seiten? Meinst du etwa Boxen?«

Vor meinem geistigen Auge entstand ein Bild eines Rings, in dem zwei Formwandler sich grün und blau schlugen und dank ihrer magischen Kräfte wahre Feuerwerke auslösten. Die Zuschauer wären begeistert.

Er lachte leise. »Nein, nein. Hauen im Sinne von Gitarre spielen. Ich vertreibe mir die Zeit mit einer zwölfsaitigen. Nichts Ernstes. Einfach nur zum Entspannen, vielleicht draußen auf der Veranda mit einem Bier, und dazu schau ich mir die Sterne an.«

»Hört sich nach einer ziemlich guten Idee an, wie man den Abend verbringen kann.« Ich fragte mich, wo sich diese Veranda befand. »Woher kommst du denn?«, fragte ich erneut.

Er zögerte und spielte mit dem Rand seines Plastikbechers, bevor er mich ansah. »Du hattest mit Memphis recht«, sagte er schließlich. »Wir haben einen Bau auf der East Side – außerhalb der Stadt, damit ihre Lichter uns nicht die Sicht auf die Sterne versperren.« Er runzelte die Stirn. »Es ist seltsam, hier zu sein – große Stadt, viel zu sehen, und ich mag das Wasser, aber es gibt keine Sterne.«

»Nicht viele«, gab ich ihm recht. »Aber ich habe sie auch woanders nicht wirklich gesehen. Ich habe in New York gelebt und in Kalifornien.«

»Du scheinst Beton zu mögen.«

»Scheint so. Obwohl die Vorstellung, in diesem Augenblick auf einer Veranda mit einem Bier in der Hand zu sitzen, ziemlich verlockend ist.«

»Das ist doch genau der Punkt, oder?«

Ich neigte den Kopf zur Seite. »Was meinst du damit?«

Adam deutete in den Raum. »Das hier. All das. Wir könnten alle mit einem Bier in der Hand auf einer Veranda sitzen. Stattdessen sind wir in einem schicken Haus in Chicago und warten darauf, uns wegen unserer Zukunft zu streiten.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich werde das tun, worum mich Gabriel bittet, aber ich kann es verstehen, dass die Leute nach Hause wollen.«

»Wo wir gerade dabei sind, gibt es eigentlich was Neues von Tony? Hat er die Verantwortung für den Angriff übernommen? Hat er Gabriel herausgefordert?«

Adam schüttelte den Kopf. »Soweit ich weiß, nicht. Aber die Frage solltest du Gabriel stellen.«

»Weißt du, ich glaube, wir haben uns gerade tatsächlich normal unterhalten. Das war doch gar nicht so schlimm, oder?«

Er hob eine Hand an den Hals. »Meine Halsschlagader scheint noch in Ordnung zu sein, also nein, so schlimm war es nicht.«

»Einige von uns haben was Besseres zu tun, als ständig die Zähne in jemanden zu schlagen, weißt du.« Außer natürlich man steckte mich in einen Raum mit Ethan Sullivan.

KAPITEL ZWÖLF

Verhüllt den Mond

Wie Adam sagte, schienen wir Gäste bei der Wiedersehensfeier einer großen Familie zu sein. Bis Gabriel in der Mitte des Wohnzimmers der Breckenridges auf die Couch stieg.

Er verschaffte sich die Aufmerksamkeit der Menge mit einem lauten Pfeifen, das mir fast das Trommelfell platzen ließ. Diesem Geräusch folgte das nervenaufreibende Klingeln von hundert Silbergabeln, die auf hundert Weingläser schlugen, und es hörte erst dann auf, als er auf der Couch hochsprang und die Hände in die Luft riss.

»Rudel!«, schrie er, und der Raum halte von hundert Stimmen wider – von Geschrei, Gejohle, Pfiffen, Gebrüll und Geheul. Der Krach wurde begleitet von einer plötzlichen, magischen Entladung.

Die Luft knisterte vor Elektrizität, und all das war lebensbejahend und beängstigend zugleich. Immerhin handelte es sich um eine animalische Energie, die nicht meine war.

Ich konnte kaum stillhalten und wäre fast aus der Haut gefahren, wäre Ethan nicht nah genug an mich herangekommen, um Körperkontakt herzustellen. Ich war mir nicht sicher, ob er sich auf mich zu oder vom Rudel weg bewegte, aber es war ein ungemein tröstliches Gefühl, ihn an meiner Seite zu spüren.

Es war beruhigend und etwas Vertrautes in einem Wirbelwind der Gefühle, auf den meine Vampirsinne nicht sonderlich scharf waren.

Sei ruhig, sagte er und sprach nicht die Worte eines Liebenden aus, sondern den Befehl eines Meisters gegenüber seiner Novizin. Mein Herz schlug langsamer, als ob ich seinen Befehl befolgt hätte.

Jeff blieb kurz bei uns stehen, während er auf dem Weg zu Gabriel war. »Er ruft das Rudel«, erklärte er. »Soweit ich weiß, seid ihr die ersten Vampire, die das miterleben.«

»In Chicago?«, fragte ich.

»Die ersten Vampire überhaupt«, sagte er und ging dann weiter.

»Wir sind das Rudel!«, verkündete Gabriel, und die Formwandler begannen zusammenzurücken und sich um ihn zu versammeln. Als sich der hintere Teil des Raums leerte, sah ich Nick allein am Rand stehen, und ich nahm an, dass er diese Position eingenommen hatte, weil er mit Gabriel noch im Streit lag. Mit Gabriel im Streit zu liegen, bedeutete wohl, dass man mit dem Rudel im Streit lag.

Die anderen legten die Arme umeinander und wurden zu einem menschlichen Knoten, der an ein Rugbyspiel erinnerte. Doch diesmal drang die Magie nicht nach außen. Sie verdichtete sich, während sie sich zusammendrängten, und ihre Grenze war nur von unserem Platz am Rand der Menge zu erkennen. Als sich ihre Reihen nicht mehr enger schließen konnten, begann das Heulen erneut. Einige heulten durchgängig, was sich anhörte wie ein vierstimmiger Satz aus Tiergeräuschen, andere jaulten zufällig auf. Die Geräusche wurden stetig lauter, bis sie einen wilden Höhepunkt erreichten und die untereinander verhakten Reihen hin- und herschwankten, während sie sangen.

Endlich dämmerte es mir – das waren nicht einfach nur Töne, es handelte sich um Kommunikation, um gegenseitige Beteuerungen der Rudelmitglieder, dass sie beieinander und ihre Familien geschützt waren und das Rudel sicher war.

Es ist wunderschön, sagte ich zu Ethan und schätzte mich glücklich, dass ich etwas sehen durfte, was kein Vampir vor mir je gesehen hatte.

Der Ruf dauerte noch zehn oder fünfzehn Minuten an, während derer sich die Formwandler langsam voneinander lösten, bis sie wieder einzeln dastanden.

Gabriel stand noch auf der Couch, die Hände in der Luft, und sein schwarzes T-Shirt war völlig durchnässt. Das Rudel zu rufen – vieleicht auch die gesamte Magie unter Kontrolle zu halten – musste harte Arbeit gewesen sein.

»Willkommen in Chicago«, sagte er müde lächelnd und rief damit weiteres Gejohle beim Publikum hervor. »Schon bald werden wir uns versammeln. Wir werden unser gemeinsames Schicksal mit den Rudeln besprechen, und wir werden entscheiden, ob wir gehen oder bleiben.«

Die Menge wurde still.

»Es wird der Augenblick kommen, wo wir die Entscheidung treffen müssen«, sagte er. »Aber dieser Augenblick ist nicht heute.« Er beugte sich nach unten, und als er sich wieder erhob, hielt er ein pausbäckiges Kleinkind im Arm. Er küsste das Kind auf die Stirn.

»Unsere Zukunft liegt im Dunkeln. Aber wir werden das durchstehen, wie immer es auch ausgehen wird. Das Rudel ist unsterblich und unvergänglich.« Er bückte sich nach unten, um das Kleinkind in die ausgestreckten Arme seiner Mutter zurückzugeben, und richtete sich dann wieder auf. Er betrachtete die Menge und stemmte die Fäuste in die Seiten.

»Heute begrüßen wir Fremde unter uns. Wir nennen sie Vampire, aber wir kennen sie als Freunde. Sie haben sich für eine von uns eingesetzt, und daher begrüßen wir sie heute Abend als Freunde in unseren Reihen.«

Gabriel deutete auf uns, und die Rudelmitglieder drehten sich zu Ethan und mir um. Einige lächelten.

Andere misstrauten uns ganz offensichtlich und bedachten uns mit verächtlichen Blicken. Doch selbst diese Männer und Frauen nickten und akzeptierten die Vampire in ihren Reihen, wenn auch widerwillig, denn diese Vampire hatten eine von ihnen gerettet.

Ich danke dem Herrn, dass es Berna gibt, teilte ich Ethan lautlos mit.

Ich danke dem Herrn, dass du sie schnell genug erreicht hast, antwortete er.

»All unsere Leben sind miteinander verwoben«, sagte Gabriel. »Vampir oder Formwandler, Mann oder Frau, unsere Herzen schlagen im Gleichklang mit dem Puls der Erde. Und unsere Herzen sind nicht die Einzigen, die mit ihr verbunden sind.« Er sah erst Ethan an, dann mich. Jemand reichte ihm einen Becher, und Gabriel hob ihn. »Wir entbieten unsere Freundschaft.«

Ethans Augen wurden schlagartig groß, aber er verbarg seine Gefühle sofort wieder und verbeugte sich demütig vor den Formwandlern, die einen Toast auf uns aussprachen.

»Aber heute Abend versammeln wir uns nicht«, sagte Gabriel. »Heute leben wir und atmen wir und erfreuen uns unserer Freunde und Familien. Heute Abend«, sagte er und zwinkerte mir zu, »essen wir.«

Es dauerte weitere zehn bis fünfzehn Minuten, bevor sich Gabriel einen Weg durch die Menge zu uns gebahnt hatte. Auf seinem Gesicht spiegelten sich viele Emotionen wider; selbst die Magie um ihn herum schien zu bezeugen, dass er sich hin- und hergerissen fühlte.

»Vielen Dank, dass du uns die Gelegenheit ermöglicht hast, hier zu sein«, sagte Ethan zu ihm. »Das zu erleben war etwas ganz Besonderes.«

Gabriel nickte. »Ihr seid ein Risiko eingegangen, das viele andere nicht eingegangen wären.«

»Das war das Mindeste, was wir tun konnten«, sagte Ethan.

Gabriel sah mich an. »Du bist zu ihr gerannt. Du hast dein eigenes Leben riskiert, um sie aus der Schusslinie zu bringen, um sie zu schützen.«

»Ich habe nur das getan, was jeder andere auch getan hätte.«

»Du hast ein Leben gerettet.« Er meinte die Worte ernst, aber sie klangen irgendwie scharf, und er wirkte auch irgendwie unglücklich.

Er scheint deswegen mit sich selbst im Streit zu liegen, teilte ich Ethan mit.

»Machst du dir … wegen etwas Gedanken?«, fragte Ethan.

Er schüttelte den Kopf. »Ich werde auch in Zukunft in Merits Schuld stehen«, sagte er. »Einen Teil meiner bisherigen Schuld habe ich bereits abbezahlt – ich habe mich um die Breckenridges und ihre unbegründete Feindseligkeit gekümmert.«

Den Teil kannten wir bereits – Gabriel hatte es eingeräumt, als er Haus Cadogan aufgesucht hatte.

Welche Schuld er noch meinte, war mir nicht klar, aber ich war mir sicher, es hatte etwas mit Familie zu tun. Ob es nun um seine oder meine ging, um das Rudel oder Vampire, wusste ich nicht. Ich kam zu dem Schluss, dass es nicht schaden konnte zu fragen. »Wieso wirst du in meiner Schuld stehen?«

»Das darf ich nicht preisgeben, Hüterin. Die Zukunft ist in ständiger Bewegung. Ich kann ihre Wellen sehen, in die Tiefen des Wassers, aber das bedeutet nicht, dass die Zukunft unveränderbar wäre, dass Ereignisse nicht verändert werden könnten.« In diesem Punkt unterschieden sich Formwandler von Hexenmeistern: Hexenmeister sprachen ihre Prophezeiungen aus, wann immer sie konnten, auch wenn die Prophezeiungen oft nur schwer zu verstehen waren.

»Kannst du mir einen Hinweis geben? Du hast etwas über Familie gesagt. Meine? Deine?«

Gabriel hob den Kopf und sah zur anderen Seite des Raums. Ich folgte seinem Blick zu einer Frau, die an der Seite stand, umgeben von Freunden und Verwandten. Ihre dunklen Haare umrahmten ihr Gesicht, das frisch und rosarot aussah, und sie stützte ihren angeschwollenen Bauch. Das waren Tonya, seine Frau, und Connor, sein Junge, ein zukünftiges Mitglied des Keene-Clans und des Zentral-Nordamerika-Rudels. Der zukünftige Anführer aller Rudel?

»Ich verrate nicht zu viel«, sagte er, »wenn ich andeute, dass das Wohlergehen meiner Familie in deinem Einflussbereich liegt.«

Wir schwiegen alle für einen Moment, als uns die Bedeutung seiner Aussage klar wurde. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich geschmeichelt fühlen sollte, dass Gabriel mich für fähig hielt, seine Familie zu beschützen – oder ob ich mir Sorgen machen sollte, weil er mir diese Verantwortung aufbürdete.

»Andererseits sollten die Rudel die Last meiner Schuld anderen gegenüber nicht auf sich nehmen müssen.« Er schluckte schwer. »Ich kann keinerlei Bündnisse garantieren. Alles, was ich sagen kann, ist, dass ich den Gedanken nicht gänzlich beiseiteschieben werde. Das ist alles, was ich anbieten kann.«

Mit dieser schlichten Aussage – dass er sich ein Bündnis mit Vampiren vorstellen konnte – machte Gabriel Keene Geschichte.

»Bevor wir gehen«, sagte ich und brachte uns zurück zu den aktuellen Problemen, »habt ihr das von Tonys Motorrad gehört? Die Ergebnisse aus der Gerichtsmedizin?«

Er nickte. »Ich weiß, dass sie Schmauchspuren gefunden haben.«

»Hast du irgendetwas von ihm gehört?«, fragte Ethan.

»Kein einziges Wort. Warum?«

»Wir haben uns gefragt, ob er die Verantwortung für den Angriff auf die Bar übernimmt«, sagte Ethan, »und vielleicht versucht, offen gegen dich oder die Versammlung Stellung zu beziehen. Wenn er die Finger im Spiel hatte und wirklich versucht, die Machtverhältnisse zu ändern, dann wäre das der nächste logische Schritt.«

Gabriel runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Wir haben nichts von ihm gehört, und auch Tonys Stellvertreter hat nichts von ihm gehört. Ich bin davon ausgegangen, dass er sich versteckt, um seinen Arsch zu retten.«

»Das ist eine Möglichkeit«, stimmte Ethan ihm zu.

Gabriels Aufmerksamkeit richtete sich auf Falon, die ihm von der anderen Seite des Raums aus zuwinkte. »Ich muss los. Ich sehe euch morgen Abend.«

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging zurück. Ethan und ich starrten ihm hinterher.

Diesmal hielt sich Ethan mit den guten Neuigkeiten nicht zurück. »Er hat vielleicht kein offizielles Bündnis angeboten, aber so nah waren wir noch nie dran.«

»Wir sind ein gutes Team«, sagte ich mit einem frechen Grinsen.

Er grunzte, aber mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

»Nun, da ich uns mitten in ein Abendessen der Rudel gebracht und dir vielleicht noch ein Bündnis verschafft habe, werde ich einen Blick auf das Büfett werfen.«

»Du hast gerade gegessen.«

Ich sah ihn hämisch an. »Ich bin eine Vampirin mit einem Stoffwechsel, dessen Geschwindigkeit jenseits der Schalgrenze liegt. Außerdem waren auf dem Teller nur Fleisch und Beilagen. Ich habe keinen Nachtisch gekriegt.«

»Los«, sagte er und scheuchte mich mit einer Handbewegung weg. »Such nach Schokolade.«

Ich lächelte würdevoll und ging zu dem riesigen Büfett hinüber. Aus der Nähe betrachtet war es noch viel beeindruckender als aus der Ferne.

Das gesamte Essen war selbst gemacht, von dampfenden Aufläufen und gebratenem Gemüse bis hin zu rosafarben glasierten und mit Ananas überbackenen Kuchen. Ich steuerte zielstrebig auf den Nachtisch zu und nahm auf dem Weg einen kleinen Teller und eine Gabel zur Hand, um meine Beute an mich zu reißen.

Der Ärger begann, als ich gerade ein selbstgemachtes Plätzchen auf meinen Teller legte.

»Vampire, hm?« Ich sah den Formwandler an, der mich angesprochen hatte. Er war groß und hatte breite Schultern. Seine dichten dunklen Haare hatte er zu einem niedrigen geflochtenen Pferdeschwanz gebunden. Der größte Teil seines Gesichts verschwand hinter einem dichten Bart.

»Japp«, sagte ich höflich und schenkte ihm ein Lächeln. »Vampire.«

Er grunzte und beugte sich dann zu mir. Der Gestank von Leder, billigem Whiskey und Zigarrenrauch kam mit ihm. »Du hältst dich wohl für richtig heiß, was? Meine kleine Vampirin.«

Gabriels Bereitschaft, den Vampiren die Freundschaft anzubieten, wurde offensichtlich nicht von allen begrüßt. Aber diese Freundschaft stand auf dem Spiel, also hielt ich meinen wachsenden Zorn unter Kontrolle und ging einige Schritte weiter am Tisch entlang.

»Ich hole mir nur etwas Nachtisch«, sagte ich leichthin. »Es sieht köstlich aus.«

Sein Grunzen hätte eine Warzenschweinherde beeindruckt, und er schien schockiert, dass ich die Frechheit besaß, seinen Versuch, mich zu verärgern, einfach zu übergehen. »Ich habe mit dir geredet«, sagte er schließlich mit tiefer und bedrohlicher Stimme.

»Und ich habe dich höflich ignoriert.« Ich brachte meinen ganzen Mut auf und warf ihm einen warnenden Blick zu. »Ich bin ein Gast in diesem Haus und habe vor, mich wie einer zu verhalten. Vielleicht solltest du das auch tun.«

Das war das Ende unserer Diskussion – denn der nächste Schritt war handgreiflicher Natur. Er packte meinen Arm, zerrte mich an sich heran und beschimpfte mich aufs Übelste. Ich zog meinen Arm zurück, um ihn freizukriegen, und ließ dabei den Teller fallen. Er prallte zu Boden und zersprang, und die Krümel und das Porzellan flogen umher.

Doch bevor ich reagieren konnte, war der Mann verschwunden. Ethan hatte ihn am Kragen gepackt und an die Wand gepresst.

»Lass die Finger von ihr«, flüsterte er durch zusammengebissene Zähne.

Mit einer schnellen Drehung seiner Hände löste sich der Formwandler aus Ethans Armen und schob ihn kraftvoll von sich weg. »Wer zur Hölle glaubst du, wer du bist?«

Ethan stolperte einige Schritte zurück, ging aber schnell wieder vor und wollte sich offensichtlich zum zweiten Mal auf den Mann stürzen. »Wenn du ihr noch einmal zu nahe kommst, bekommst du es mit mir zu tun, Rudel hin oder her.«

Mein Entsetzen wich strategischem Denken – ich packte Ethan am Arm, drehte ihn herum und verhinderte, dass er und der Formwandler aufeinander los-gingen. »Ethan« , flüsterte ich aufgeregt. »Beruhige dich.«

Gabriel kam auf uns zugestürmt, gefolgt von Falon und Adam.

»Was verdammt noch mal ist hier los?«

Stile senkte sich auf den Ballsaal, und alle Augen waren auf die Vampire gerichtet, die inmitten der Feier Chaos anrichteten.

Der Formwandler lockerte seine Schultern, als ob er sich revanchieren wollte, und deutete dann auf Ethan. »Ich habe mich mit dieser Vampirin unterhalten, und dann hat mich dieses Arschloch durch die Gegend geschubst. Und jetzt werde ich es ihm heimzahlen.«

Zum Glück war ich ein Vampir, denn nur meine zusätzliche Stärke erlaubte es mir, Ethan zurückzuhalten. Er versuchte es noch einmal und schaffte es, mich einige Schritte weit mitzuzerren, bevor ich ihn wieder stoppen konnte.

Adam und Falon sprangen zwischen die beiden, bereit einzugreifen, sollte er es erneut versuchen.

Ethan, sagte ich ihm telepathisch. Hör auf! Das reicht!

»Er hat sie gepackt«, sagte Ethan durch zusammengebissene Zähne und schüttelte dann meine Arme ab. »Mir geht’s gut.« Er fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Mir geht’s gut, und du musst deine Formwandler unter Kontrolle bringen.«

Gabriel starrte Ethan an, wütend und wild, und seine Hände waren zu Fäusten geballt. Magie erhob sich im Raum, wie eine Wolke, die ales zu ersticken drohte, als er über unser Schicksal entschied.

Ich fluchte innerlich, denn ich ging davon aus, dass dies das Ende jeglicher Entspannung zwischen Vampiren und Formwandlern war.

Doch in diesem Augenblick trat Tonya von hinten an Gabriel heran. Sie berührte seinen Rücken mit einer Hand, während die andere auf ihrem Bauch lag. Als ob er auf ihre Zärtlichkeit reagierte, sah er von Ethan zu mir. Nach einem Augenblick war zu erkennen, dass er verstanden hatte, und seine Wut wurde besänftigt.

Er hatte erkannt, dass Ethan fast eins seiner Rudelmitglieder angegriffen hatte, weil eins seiner Rudelmitglieder versucht hatte, mich anzugreifen.

Er schwieg einige Sekunden lang, näherte sich dann Ethan und beugte sich zu ihm vor, als ob er einem Kollegen einen guten Rat geben wollte. »Wenn du willst, dass diese Freundschaft funktioniert, dann wirst du dich im Zaum halten müssen. Ich kann deine Gründe nachvollziehen«, sagte er und machte eine dramatische Pause, »aber so eine Scheiße läuft hier nicht. Nicht mit meinem Rudel. Nicht mit meinen Leuten.«

Ethan nickte und blickte zu Boden.

Gabriels Stimme wurde sanfter. »Seid ihr morgen bereit, auf der Versammlung zu arbeiten?«

»Natürlich.«

Nach einem Augenblick nickte er. »Dann nehme ich dich beim Wort, und das reicht mir aus.«

Er richtete sich auf. »Das hier ist erledigt«, sagte er laut genug für alle Anwesenden. »Es ist erledigt, und alles ist in Ordnung. Lasst uns wieder essen, okay?« Dann nahm er Tonya an die Hand und ging auf meinen Angreifer zu, dem er seine mächtige Pranke auf die Schulter legte. »Lass uns was trinken und über gutes Benehmen reden.«

Als er wieder in der Menge verschwand, umfingen uns erneut der Lärm und die Gespräche.

»Wir sollten gehen«, sagte Ethan.

Ich nickte und ließ ihn mich nach draußen führen.

Auf dem Weg zum Wagen schwieg er. Dieses Schweigen und die zunehmende Spannung ließen die Atmosphäre im Wagen fast unerträglich werden, selbst als wir das Anwesen der Breckenridges lange hinter uns gelassen hatten und auf dem Rückweg nach Hyde Park waren.

Ich hatte seinen Beschützerinstinkt zweimal erlebt. Diese Gesten waren von großer Bedeutung, aber sie riefen auch ein unbehagliches Gefühl zwischen uns hervor – als ob sie zu mächtig für eine Beziehung waren, die noch so jung und unbedarft schien.

»Meine Reaktion war unangebracht«, sagte er schließlich.

»Du hast gedacht, dass er mich verletzen würde.«

Ethan schüttelte den Kopf. »Ich habe Morgan kritisiert. Ich habe mich darüber beschwert, dass er überzogen reagiert. Dass seine Gefühle den Bedürfnissen seines Hauses in die Quere kommen.«

Mir drehte sich der Magen um, denn ich verspürte das unangenehme Gefühl, zu wissen, in welche Richtung dieses Gespräch ging. »Ethan«, sagte ich, aber er schüttelte den Kopf.

»Wenn Morgan diese Nummer abgezogen hätte, dann hätte ich ihn niedergeschlagen. Ich hätte ihn aus dem Raum geschleift und an seine Pflichten erinnert. An seine Pflichten gegenüber seinem Haus und allen anderen. Ehrlich gesagt bin ich überrascht, dass Gabriel nicht handgreiflich geworden ist.«

Gabriel ist nicht handgreiflich geworden, dachte ich, weil Tonya ihn mit einer Berührung an den Grund für Ethans Handeln erinnert hat. Ethan hatte das für mich getan.

»Du hast eingegriffen, um mich zu schützen. Das ist verständlich.«

»Das ist inakzeptabel.«

Dieser Satz war wie ein Schlag ins Gesicht, und ich schaute aus dem Beifahrerfenster, damit er die Tränen nicht sehen konnte, die in meinen Augen brannten. Wie großartig seine Geste im Haus der Breckenridges auch gewesen war, Ethan bereitete bereits seine Entschuldigung vor.

»Ich hätte mit meiner Reaktion alle Angebote Gabriels zunichtemachen können. Die engen Beziehungen, die er zwischen Formwandlern und Vampiren aufgebaut hat. Einfach so«, sagte er und schnippte mit den Fingern.

Dann war er einen Moment lang still.

»Es ist lange her, dass ich mir etwas aus jemandem gemacht habe. Dass ich meinen Instinkten erlaubt habe, die Kontrolle über mich zu erlangen.« Seine Stimme wurde sanfter, als ob er vergessen hätte, dass ich mit im Wagen saß. »Ich hätte es kommen sehen müssen. Ich hätte die Möglichkeit bedenken müssen, dass ich derartig reagieren könnte.«

Sollte ich sein Eingeständnis, dass er sich etwas aus mir machte, etwa begrüßen, wenn er es doch so offensichtlich bedauerte?

»Was, wenn Gabriel ein Bündnis, eine Freundschaft anbieten würde aufgrund dessen, was du für Berna getan hast? Wenn wir unsere Beziehung fortführen würden und unsere Gefühle füreinander komplizierter, intimer werden würden und es zu demselben Ende kommen würde wie bei dir und Morgan – was dann? Dieselbe Verbitterung? Dasselbe böse Blut?«

Was sollte ich darauf antworten? Sollte ich mich mit ihm darüber streiten? Sollte ich ihn an den großartigen Sex erinnern? Ihm versichern, dass er nicht Morgan sei und dass unsere Beziehung etwas ganz anderes war?

»Wenn wir ein Bündnis mit dem Rudel eingehen, dann werden wir Geschichte geschrieben haben. Wir werden ein Bündnis geschmiedet haben, das einzigartig in der Geschichte ist. Meine Reaktion hat dieses Bündnis gefährdet. Wenn ich derartig reagiere, dann bin ich dafür nicht bereit – vielleicht bin ich nicht dazu fähig. Nicht, wenn es die Sicherheit und den Schutz des Hauses aufs Spiel setzt.«

Er schwieg für einen Augenblick. »Es gibt dreihundert Vampire Cadogans, Merit.«

Und ich bin eine dieser dreihundert, dachte ich und zwang mich dazu, die nächste Frage zu stellen.

»Was willst du damit sagen?«

»Ich sage, dass ich es nicht tun kann. Nicht jetzt. Die Lage ist zu kompliziert.«

Ich wartete mit meiner Antwort, bis ich wusste, dass meine Stimme nicht mehr zitterte. »Ich möchte nicht so tun, als ob es nicht geschehen wäre.«

»Ich kann es mir nicht leisten, mich zu erinnern. Ein Mädchen ist nicht Grund genug, um mein Haus wegzuwerfen.«

Mir schnürte sich die Kehle zu, und ich traf meine Entscheidung, während Tränen auf meinen Wangen trockneten. Ich hatte Ethans Annäherungsversuche abgewiesen, als es ihm nur um Sex gegangen war. Aber ich hatte nachgegeben, als er gesagt hatte, dass er mich brauche.

Tatsächlich hatte er gerade entschieden, dass ich unbedeutend war.

Ich kam mir so dumm vor – so naiv. Doch das wollte ich ihn nicht sehen lassen.

Ich ließ mich innerlich abstumpfen und merkte, dass ich in demselben eiskalten Tonfall sprechen konnte wie er. »Du hast deine Meinung schon einmal geändert. Wenn du es jetzt beendest und deine Meinung wieder änderst, dann werde ich nicht zurückkommen. Ich werde die Hüterin sein, aber nur als deine Angestellte. Nicht als deine Geliebte.«

Er brauchte einen Augenblick, um mir zu antworten … und mir das Herz zu brechen. »Dann werde ich dieses Risiko eingehen.«

Wir fuhren schweigend nach Hause, abgesehen von Ethans Hinweis, dass wir uns mit Luc vor Sonnenaufgang treffen würden, um die Versammlung zu besprechen.

Mit Mühe hielt ich mich davon ab, über die Mittelkonsole nach ihm zu greifen und ihn zu erwürgen, aber sobald der Wagen in der Garage zum Stehen kam, sprang ich heraus, rannte die Kellertreppe hinauf und verließ das Haus durch die Vordertür.

Bis Sonnenaufgang dauerte es noch mehrere Stunden, und ich konnte sie unmöglich im Haus verbringen.

Es war mir zu peinlich, dortzubleiben. Ich fühlte mich so gedemütigt, nachdem ich wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen worden war, damit Ethan die Chance auf eine Freundschaft mit Gabriel bekäme. Er hatte mich aufgegeben, weil eine Beziehung zu mir sein Bündnis mit dem Rudel gefährdete.

Ein Bündnis, das ich ironischerweise überhaupt erst möglich gemacht hatte.

Ich stieg in meinen Wagen und fuhr nach Norden über den Fluss und hoffte, dass Distanz zwischen mir und dem Haus den Schmerz lindern könnte. Zumindest würde ich nicht in Hörweite der Vampire Cadogans weinen müssen.

Ich hätte es besser wissen müssen. Ich hätte es wissen müssen, dass er sich nicht ändern konnte, dass er seine Pläne immer über die Liebe stellen würde, dass er ungeachtet al seiner Worte immer noch derselbe eiskalte Blutsauger war.

Ich dachte darüber nach, Noah anzurufen und der Aufnahme in die Rote Garde zuzustimmen. Ich würde zustimmen, mit Jonah als Partner die Meister zu überwachen, sie zu beurteilen und gegen sie vorzugehen, wenn sie hinter ihren Möglichkeiten zurückblieben. Aber das war ein Verrat, zu dem ich immer noch nicht bereit war. Ethan hatte seine Gründe, warum eine Beziehung zwischen uns beiden nicht funktionieren konnte. Selbst wenn ich seine Ansicht nicht teilte, so konnte ich sie zumindest nachvollziehen.

Doch nichts davon schmälerte mein Gefühl der Scham, dass ich mich angeboten hatte und als nicht ausreichend befunden worden war, das Gefühl, dass ales meine Schuld war. Was noch viel schlimmer war: Auf dieser Welt gab es nur zwei Menschen, die mich bedingungslos liebten, und als ich für Ethan Partei ergriffen hatte, hatte ich mich gegen einen von ihnen entschieden.

Dieses Bedauern brachte mich nach Wicker Park, ohne zu wissen, ob sie überhaupt da war, aber ich wusste einfach nicht weiter. Ich parkte vor ihrem schmalen Brownstone, stolperte die Treppen hinauf und klopfte an die Tür.

Sie öffnete eine Sekunde später. Ihre eisblauen Haare waren länger und fielen ihr bis auf die Schultern. Sie trug einen schlichten Rock und ein kurzärmeliges T-Shirt, und sie hatte keine Schuhe an. Ihre Zehennägel hatte sie regenbogenfarben angemalt, von indigoblau bis rot.

Ihr Lächeln verschwand praktisch sofort. »Merit? Was ist los?«

Ich hatte eine Rede einstudiert auf dem Weg zu ihr, aber ich konnte mein Bedauern nur mit einem »Es Ich hatte eine Rede einstudiert auf dem Weg zu ihr, aber ich konnte mein Bedauern nur mit einem »Es tut mir leid« zum Ausdruck bringen. »Es tut mir so leid.«

Malory musterte mich kurz, bevor sie mir wieder in die Augen sah. »Oh, Merit. Sag mir, dass du es nicht getan hast.«

KAPITEL DREIZEHN

Du bist meine beste Freundin

Malory kannte mich einfach zu gut. Ich lächelte sie bemitleidenswert an.

Sie trat beiseite und hielt mir die Tür auf. Als ich die Diele betrat, strömten sofort die beruhigenden Geräusche und Gerüche meines Zuhauses auf mich ein – Möbelpolitur mit Zitronenduft, Zimt und Zucker, der leicht muffige Geruch eines älteren Hauses, das leise Rauschen des Fernsehers.

»Auf die Couch!«, lautete ihre Anweisung. »Setz dich hin!« Das tat ich und setzte mich in die Mitte.

Malory rupfte einige Taschentücher aus einer Schachtel auf dem Beisteltisch, setzte sich neben mich, reichte sie mir und strich mir die Haare aus dem Gesicht. »Erzähl mir alles.«

Und das tat ich. Ich erzählte ihr von der Bar der Formwandler, der Pizza, der Schokolade. Ich erzählte ihr von der Party, von Gabriels Freundschaft und dem Schläger, wie Ethan reagiert hatte und von dem »Risiko«, das er einzugehen bereit war. Als ich geendet hatte, lag ich in ihren Armen und heulte an ihrer Schulter. Ich weinte wie ein kleines Mädchen, dessen Herz in tausend Stücke zerheulte an ihrer Schulter. Ich weinte wie ein kleines Mädchen, dessen Herz in tausend Stücke zersprungen war, auch wenn die Schuld dafür allein bei mir lag.

»Trotz allem, was vorher passiert ist, habe ich mich zu seinen Gunsten entschieden«, sagte ich und tupfte mit einem Taschentuch mein Gesicht ab.

»Zuerst dachte ich einfach nur, oh, er hat bloß Angst. Er kann mir einfach nicht mehr geben, weil er dazu im Moment nicht in der Lage ist.« Ich schüttelte den Kopf. »Es hat nichts damit zu tun, dass er es nicht könnte. Es liegt daran, dass er etwas anderes will.« Wieder überkam mich dieses fürchterliche Gefühl, diese unerträgliche Übelkeit, die nur eine solche Ablehnung hervorrufen konnte.

Malory lehnte sich auf der Couch zurück, die Hände im Schoß, und seufzte tief. »In diesem Fall, Merit – und ich möchte ihn bestimmt nicht zum Märtyrer erklären, weil er im Augenblick unsere Aufmerksamkeit nicht verdient –, ist es vermutlich von beidem etwas. Ich habe ihn mit dir gesehen. Ich habe gesehen, wie er dich ansieht. Ich weiß, dass ich hart mit ihm ins Gericht gehe.« Ihre Stimme wurde sanft. »Ich weiß, dass ich dich sehr hart behandelt habe. Aber wenn er dich ansieht, dann liegt mehr in seinem Blick als nur Verlangen. Da ist noch etwas anderes – eine Art Zuneigung vielleicht. Eine Art von Wertschätzung, die nicht nur mit Hormonen und rosaroten Wolken zu tun hat.

Das Problem ist, dass er ein vierhundert Jahre alter Vampir ist. Er ist kein Mensch, und er ist es schon ziemlich lange nicht mehr. Wir wissen nicht einmal, ob er dasselbe denkt oder dieselben Dinge will.«

»Schieb es nicht auf den Vampir«, sagte ich. »Damit kommt er mir nicht davon.«

»Oh, keine Sorge«, sagte sie. »Gib mir zehn Minuten mit ›Darth Vader‹ Sullivan, und er wird meinen ganzen Zorn spüren.« Prickelnde Magie erhob sich in die Luft, und ich hatte plötzlich eine düstere Vorahnung, wie mächtig meine Freundin und Hexenmeisterin war. »Was ich sagen will: Es hört sich so an, als ob er der Meinung ist, dass er keine Wahl hat. Das ist keine Entschuldigung, aber es ist eine Erklärung.«

Ich atmete tief durch und wischte mir Tränen unter den Augen weg. »Es ist ja nicht so, als ob ich das nicht wüsste. Ich weiß, dass er kein Mensch ist, zumindest nicht wirklich, auch wenn er diese unglaublich verletzlichen Momente hat, die mir ans Herz gehen. Du hättest ihn sehen sollen, als der Formwandler mich angegriffen hat. Er ist völlig ausgerastet – er hat den Typen gegen eine Wand gedrückt.«

»Genau das, was ich auch getan hätte. Nur mit Hexenmeisterkräften anstelle von Vampirkräften.«

Ich nickte. »Aber du hättest es nicht bedauert. Er schon. Gabriel hat verstanden, warum er es getan hat – ich weiß das. Aber das war einfach nicht gut genug. Ich meine, es ist ja fast so, als ob ich dafür bestraft werden soll, dass anstelle der gähnenden Leere in Ethans Brust auf einmal wieder ein Herz geschlagen hat.«

»Das ist wirklich nicht fair, Süße. Und ich wünschte, ich könnte irgendwelche magischen Worte sagen, die das ganze Chaos wieder in Ordnung bringen, aber das kann ich nicht.«

»Es ist bloß – ich weiß, dass er nicht perfekt ist. Er kann eiskalt sein und herrschsüchtig. Aber ich habe diese Leidenschaft in ihm gesehen, die Zuneigung, die er vor der Welt versteckt hält. Ich habe gesehen, zu was er fähig ist. Er ist bloß – außerdem ist er … Ach, ich weiß nicht.«

»Er ist Ethan.« Ich sah sie an und schniefte.

»Er ist Ethan. Aus völlig bizarren Gründen scheint er dein Ethan zu sein. Und du scheinst wohl oder übel seine Merit zu sein. Das ärgert mich ohne Unterlass.«

»Ich bin so dumm.«

»Nicht dumm. In deinem eigenen Interesse einfach nur ein bisschen zu menschlich.«

Ich erwähnte nicht, dass wir beide Morgan genau dafür kritisiert hatten.

»Manchmal zu menschlich, manchmal nicht menschlich genug. Und manchmal auch einfach nur eine totale Idiotin.«

»Nun«, sagte Malory, »dem kann ich nicht widersprechen.«

»Er ist verliebt gewesen, weißt du.«

Malory sah mich an. »Verliebt? Ethan?«

Ich nickte und erzählte ihr das, was mir Lindsey über ihn berichtet hatte. »Sie hieß Lacey Sheridan. Sie war mehrere Jahrzehnte lang eine der Wachen, glaube ich. Lindsey meint, dass er sie geliebt hat, aber sie haben es beendet, als sie ihr eigenes Haus gegründet hat.«

»Sie ist eine Meisterin?«

»Eine der zwölf.«

»Würde es nicht wunderbar passen, wenn du als nächste Meisterin das dreizehnte Haus bekämst?«

»Bei meinem Glück würde das total passen.«

Sie stand von der Couch auf und ging in den Flur. »Komm schon, du Intelligenzbestie. Wir sollten dir was zu essen machen.«

Ich legte die Hände auf meinen Bauch, der sich gerade wieder einigermaßen beruhigt hatte. »Ich habe keinen Hunger.«

Sie erwiderte meinen Blick und starrte mich ausdruckslos an.

»Na ja, ich bin nicht wirklich hungrig«, sagte ich, folgte ihr aber trotzdem in die Küche. Immerhin hatte ich den Nachtisch verpasst.

»Grundgütiger«, sagte ich, als ich die Küche betrat. Was früher einmal eine kleine Landhausküche gewesen war, hatte sich verändert in – nun, ich wusste nicht, wie ich es nennen sollte. Vielleicht den Unterrichtsraum für Zaubertränke in Hogwarts?

Ich ging zur Kücheninsel und ließ einen Finger über Bücherstapel gleiten, ein Tarot-Kartenspiel, Salzschachteln, Federn in Gläsern, Weinreben, Flaschen mit verschiedenen Ölen, Streichhölzer und getrocknete Rosenblätter.

Ich nahm eine Karte von dem Tarotspiel – das Ass der Schwerter. Passend, dachte ich und legte die Karte vorsichtig zurück auf den Stapel.

»Was ist das für ein Zeug?«

»Hausaufgaben«, brummte Malory.

»Oh mein Gott, es ist Hogwarts!«

Sie sah mich böse an und fing an, auf der Insel Platz zu machen. »Ich versuche, einige kleine Hexen einzuholen, die den Mist schon seit Jahren machen.«

Ich nahm mir einen Stuhl und setzte mich. »Ich dachte, du würdest alleine lernen?«

»Das tue ich auch. Aber ich bin nicht die erste Studentin meines Lehrers. Bevor sie ihn in das Sibirien der Hexenmeisterei geschickt haben …«

»Schaumburg?«

»Schaumburg«, bestätigte sie. »… hat er eine Menge Kinder unterrichtet.

Kinder, die ihre Zauberkräfte viel früher erhielten als ich. So wie es aussieht, hänge ich hinter den anderen ziemlich hinterher, da ich erst mit siebenundzwanzig magisch in Schwung gekommen bin.«

»Aber ich bin mir sicher, das machst du mit deinem Charme und deiner frechen Art wett.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Ich mache es dadurch wett, dass ich zweimal so mächtig bin wie alle anderen.«

»Das ist nicht dein Ernst?«

»Das ist mein bitterer Ernst.«

Ich betrachtete die unzähligen Sachen auf dem Tisch. »Warum dann die Hausaufgaben? Ich kann mich ziemlich gut an einen von Catchers Vorträgen erinnern, wo er meinte, dass ihr keine Zaubersprüche oder Tränke oder anderes Zeug verwenden müsst« – ich senkte meine Stimme um eine Oktave und ließ meine Schultern auf- und abhüpfen, um eine oscarreife Darstellung Catcher Bells abzuliefern –, »sondern die Magie aus euren Körpern ziehen könnt, allein durch eure Willenskraft.«

»Sollte das eben Catcher sein?«

»Äh, schon?«

»Hm. Hörte sich mehr nach John Goodman an.«

»Ich bin keine Schauspielerin. Ich tue nur so im Fernsehen. Zurück zum Thema.«

»Das wird dich vermutlich schockieren«, sagte Malory, zog sich auch einen Stuhl heran und ließ sich darauf fallen, »aber wie sich herausgestellt hat, ist Catcher ein wenig überheblich, was die Zauberei angeht.«

Ich lachte schnaubend. »Es tut mir leid, dass du das erst jetzt bemerkst.«

»Als ob man das übersehen könnte. Geh einfach mal davon aus, dass alles, was aus seinem Mund kommt und mit Zauberei zu tun hat – abgesehen von den größeren Schlüsseln, die kriegt er richtig hin –, reine Ansichtssache ist. Er behauptet ja, der einzig richtige Weg, Magie zu wirken, sei, Sachen durch bloßen Willen geschehen zu lassen. Das stimmt aber nicht«, sagte sie und sackte in sich zusammen, als sie die Berge an Zutaten um sich herum sah. »Hexenmeister sind so etwas wie die Handwerker der Magie.«

»Handwerker? In welchem Sinne?«

»Nun, die vier Schlüssel sind so etwas wie die Malerei. Es gibt Leute, die malen mit Ölfarben, andere nehmen Acryl- und wieder andere Wasserfarben. Das Ergebnis ist aber immer Kunst. Du hast nur unterschiedliche Werkzeuge auf deinem Weg zum Ziel eingesetzt. Mit jedem der vier Schlüssel kannst du Magie erzeugen.« Sie hielt ein Einweckglas hoch, das mit einem Korken verschlossen war und ein weißes Pulver enthielt, und drehte es in den Händen, wie ein Weinkenner sein Glas schwenken würde, bevor er den ersten Schluck nimmt. Der perlmuttartige Glanz ließ es sehr weiß wirken, extrem weiß.

»Gemahlenes Einhornhorn?«, fragte ich.

»Glitzerzeug aus dem Basteladen auf der Division Street.«

»Fast richtig«, sagte ich. Ich spielte mit dem Cadogan-Medaillon an meinem Hals und versuchte, all meinen Mut zusammenzunehmen, um zu dem zu kommen, worüber wir noch nicht gesprochen hatten – der Rede, die ich noch nicht gehalten hatte. »Ich habe dich vermisst.«

Sie schluckte schwer, sah mich aber nicht an. »Ich habe dich auch vermisst.«

»Ich bin nicht für dich da gewesen. Nicht, wie du für mich da gewesen bist.«

Malory atmete langsam aus. »Nein, Merit, das warst du nicht. Aber ich war unfair, was die Sache mit Morgan anging. Ich wollte dich nicht bedrängen; ich wollte nur, dass du nicht verletzt wirst. Und die andere Sache, die ich da gesagt habe …«

»Das mit meinem Vater?« Das tat immer noch weh.

»Das war völlig unangebracht. Es tut mir ehrlich leid.«

Ich nickte, aber dann kehrte die Stille zurück, als ob wir die Mauer der Verlegenheit zwischen uns noch nicht überwunden hätten.

»So wie es aussieht, hatte ich vollkommen recht, was das mit Ethan angeht.«

Ich verdrehte die Augen. »Und bescheiden bist du auch noch. Okay – ja, du hattest recht. Er war – er ist – gefährlich, und ich bin ihm in die Falle gegangen.«

Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, ließ ihn aber wieder zuklappen. Sie schüttelte den Kopf, als ob sie sich nicht im Klaren sei, ob sie ihre Gedanken nun aussprechen sollte oder nicht. Als sie sich dann doch entschied, purzelten die Worte nur so aus ihr heraus. »Okay, es tut mir leid, aber ich muss einfach fragen. Wie war es? Ich meine, mal ehrlich: Größtes Arschloch der Welt oder nicht, der Mann ist einfach der Knaller.«

Ich schenkte ihr ein schiefes Lächeln. »Es war fast das emotionale Trauma wert.«

»Was heißt fast?«

»Er war mehrfach nah dran.«

»Aha«, sagte sie. »Das passt zu ihm – so gut, wie er aussieht –, und es macht einen wütend. Man geht ja davon aus, dass ein Typ, der so was Bescheuertes wie er heute Abend abzieht, wenigstens im Bett ein Versager ist. Und wie warst du so?«

»Malory.«

Sie hob die Hand. »Ich frage aus einem bestimmten Grund, ich schwöre.«

Ich verdrehte die Augen, musste aber ein bisschen grinsen. »Ich war beeindruckend.«

»So beeindruckend, dass er bedauern wird, dich verlassen zu haben, wenn er dich das nächste Mal in Lederklamotten sieht?«

Ich grinste sie an. »Jetzt fällt mir wieder ein, warum ich dich zu meiner besten Freundin gemacht habe.«

»Deine Erinnerung lässt dich im Stich. Ich habe dich zu meiner besten Freundin gemacht.«

Wir sahen uns eine Minute lang an und grinsten wie kleine Schulmädchen. Wir waren wieder im Geschäft.

Einige Minuten später – einschließlich der Wiederholung einiger Details, die Sex and the City-würdig waren – sprang Malory von ihrem Stuhl auf und ging zum Kühlschrank.

»Ich habe noch kalte Pizza da, wenn du möchtest«, sagte sie, »aber ich warne dich, sie ist ein wenig… anders.«

Ich nahm eine dreißig Zentimeter lange schwarze Feder in die Hand und drehte sie zwischen meinen Fingern. »Wie anders?«

»Catcher Bell anders.« Sie öffnete den Kühlschrank, holte eine breite, niedrige Pizzaschachtel hervor und ließ die Tür mit einem lauten Knall zuschlagen. Ich beugte mich vor und benutzte beide Hände, um Behälter aus dem Weg zu räumen und der Pizzaschachtel genügend Platz zu verschaffen. Sie stammte aus einem anderen Laden in Wicker Park, wo Ziegenkäse und Kräuter aus biologischem Anbau verwendet wurden, Pizzamachen also als Handwerk verstanden wurde. Nicht gerade mein Favorit, aber in meinem Repertoire fand auch diese Pizza ihren Platz. Von Hand gezogene Kruste, selbst gemachte Sauce, frische Mozzarella-Scheiben.

»Wie anders kann sie schon sein?«, fragte ich.

Malory stellte die Schachtel auf der Insel ab und klappte sie auf.

Ich starrte die Pizza an, legte verwirrt den Kopf zur Seite und versuchte nachzuvollziehen, was genau er der Pizza angetan hatte. »Ist das Sellerie? Sind das Möhren?« »Und Kartoffelbrei.«

Es fühlte sich an, als ob ich noch einmal abserviert würde, aber diesmal von etwas, von dem ich mir niemals hatte vorstellen können, dass es mir wehtun würde. Ich sah Malory verzweifelt an und deutete dann auf die Pizza vor uns.

»Ist das eine Erbse? Auf einer Pizza?«

»Es soll irgendwie in Richtung Shepherd’s Pie gehen. Seine Mutter hat irgendwann mal herumprobiert und sie gemacht, und es ist wohl die einzig schöne Erinnerung an seine Kindheit oder so, und er hat dem Restaurant einen Sack voll Geld gezahlt, damit sie die machen.«

Ich sackte in mich zusammen, und meine Stimme klang bockig. »Aber … es ist eine Pizza.«

»Falls es dich tröstet – sie haben sich ziemlich gewehrt«, sagte Malory. »Sie haben versucht, uns eine mit Frischkäse und Speck zu verkaufen …«

»Die offizielle Pizza des Teams Merit/Carmichael«, warf ich ein.

»Aber Catcher kann genauso betteln wie die anderen auch«, lächelte Malory wissend. »Nicht, dass ich viel darüber wüsste.«

Ich stöhnte, musste aber grinsen. Wenn Malory mit mir wieder über ihren Sex mit Catcher sprach, dann erholte sich unsere Freundschaft wohl langsam. Dennoch – es war nichts, was ich unbedingt wissen musste. »Das ist ekelhaft. Er war mein Trainer.«

»Das war Ethan auch«, wies sie mich zurecht. »Und sieh nur, was dir das eingebracht hat. Immerhin kannst du jetzt einen Haken neben ›Meistervampir‹ setzen und das Ganze hinter dir lassen.« Sie wurde still und sah mich an. »Du lässt das Ganze doch hinter dir, oder?«

Das bereitete mir echte Magenschmerzen. Es dauerte ziemlich lange, bevor ich ihr antworten konnte.

»Ja. Ich habe ihm gesagt, dass das seine einzige Chance ist. Dass das Risiko bei ihm liegt, wenn er mich verlässt.« Ich zuckte mit den Achseln. »Er hat sich für das Risiko entschieden.«

»Und so für einen schweren Verlust, Merit. Einen sehr schweren Verlust.«

»Das lässt sich leicht sagen, aber ich würde mich besser fühlen, wenn er jetzt in eine schwere depressive Phase oder etwas Ähnliches gerät.«

»Ich wette, dass genau das im Augenblick passiert. Vermutlich geißelt er sich gerade, während wir hier miteinander reden.«

»Es gibt keinen Grund, theatralisch zu werden. Genauso wenig sollten wir dieses – Pizza können wir es kaum nennen – Möhren-Ding einfach wegschmeißen.«

Also ließ ich sie mich mit den Überresten einer Shepherd’s-Pie-Pizza füttern.

Nachdem ich zu Ende gegessen hatte, gab ich ihr das, was ich ihr früher nicht zu geben bereit gewesen war – Zeit. Denn sie hatte mir endlich das gegeben, was sie mir früher nicht hatte geben wollen – Verständnis für Ethan.

»Kann ich dir jetzt was über die Magie erzählen?«, fragte sie schüchtern.

»Leg los«, sagte ich nur und schenkte ihr meine ungeteilte Aufmerksamkeit.

Sie saß im Schneidersitz auf ihrem Küchenstuhl, die Hände erhoben und bereit, mir die Dinge zu erzählen, für die ich bisher keine Zeit gefunden hatte. Sie fing mit den Grundlagen an.

»Okay«, begann sie, »du kennst ja die vier größeren Schlüssel.«

Ich nickte. »Die Bereiche der Magie: Waffen, Wesen, Zaubermacht, Schriften.« Das hatte mir Catcher beigebracht.

»Korrekt. Nun, wie ich eben schon sagte, sind sie so etwas wie Farben – Werkzeuge, mit denen eigentlich ales passiert.«

Ich runzelte die Stirn, stützte einen Ellbogen auf die Insel und mein Kinn in die Hand. »Und was für Sachen kannst du passieren lassen, um genau zu sein?«

»So ziemlich ales«, sagte sie, »von Merlin bis zur Voodoopriesterin. Dazu benutzt man einen oder mehrere Schlüssel. Zaubermacht, das ist der erste Schlüssel. Das ist die grundlegende Kraft, der reine Ausdruck des Willens.«

»Der einzig richtige Weg, um Magie zu wirken, laut Catcher.«

Malory nickte. »Und die Ironie ist, dass er ein Meister des zweiten Schlüssels ist.«

»Waffen«, warf ich ein, und sie nickte wieder.

»Richtig. Aber Waffen können eine Menge Dinge sein.« Sie breitete die Arme über ihren Zutaten aus.

»All das hier – Zaubertränke, Runen, Fetische. Nicht die, die man beim Sex verwendet«, fügte sie hinzu, als ob sie davon ausging, dass ich einen anzüglichen Kommentar machen würde. Na gut, hätte ich auch.

»Nichts davon ist von sich aus magisch, aber wenn du die Dinge richtig miteinander kombinierst, dann bekommst du einen Katalysator für eine magische Reaktion.«

Ich runzelte die Stirn. »Was ist dann mit meinem Schwert?«

»Erinnerst du dich, dass dir Catcher in die Hand gestochen hat? Und die Klinge mit Blut temperiert hat?«

Ich nickte. Er hatte das auf dem Hinterhof meines Großvaters am Abend meines achtundzwanzigsten Geburtstags getan. Von dieser Nacht an war ich in der Lage, Stahl wahrzunehmen. »Klar«, sagte ich und rieb mir bei der Erinnerung daran über die Handfläche.

»Deine Klinge hat Potenzial. Als du die Klinge temperiert hast, hast du dieses Potenzial nutzbar gemacht. Nun, die beiden letzten größeren Schlüssel sind offensichtlich: Wesen – Kreaturen, die von sich aus magisch sind. Hexenmeister können Magie erzeugen. Vampire ›geben sie ab‹. Formwandler bestehen praktisch daraus. Und Schriften – Bücher, Zaubersprüche, niedergeschriebene Namen. Worte, die genauso funktionieren wie das Blut, das du auf die Klinge vergossen hast.«

»Als Katalysatoren für Magie?«

»Genau. Darum funktionieren Zaubersprüche und Beschwörungen. Alle Worte zusammen, in der richtigen Reihenfolge und mit genügend Macht dahinter.«

»Du hast dieses ganze Zeug gelernt«, sagte ich und setzte mich gerade hin.

»Kannst du es denn auch nutzen?«

»Äh, vielleicht.« Sie streckte die Beine aus und wandte sich wieder der Kücheninsel zu, besah sich das Chaos und nahm dann einen Glasbehälter hoch, der mit Birkenrinde gefüllt zu sein schien.

»Könntest du mir was holen? Auf dem Beistelltisch im Wohnzimmer liegt ein kleines schwarzes Notizbuch, mit einem goldenen Schriftzug auf dem Einband.«

»Wirst du mir damit etwas von deiner Magie zeigen?«

»Wenn du noch rechtzeitig deinen Hintern hochbekommst, bevor ich dich in einen Frosch verwandle, dann ja.«

Ich sprang von meinem Stuhl herunter. »Wenn du mich in einen Frosch verwandelst, dann hättest du mir ja schon deine Magie gezeigt.«

»Deine Intelligenz ist einfach nicht gut für dich«, rief sie mir hinterher, aber ich war schon auf halbem Wege durch den Flur. Das Haus sah noch ziemlich genauso aus wie vor ein paar Wochen, als ich das letzte Mal hier gewesen war, abgesehen von einigen Hinweisen auf einen männlichen Mitbewohner – vereinzelte Kassenbelege, die in der Gegend herumlagen; ein Paar abgetragene Sportschuhe; eine Ausgabe von Men’s Health auf dem Esszimmertisch; Teile einer Stereoanlage in einer Ecke.

Während ich also in Richtung Wohnzimmer ging, bereitete ich mich seelisch darauf vor, noch weitere typisch männliche Sachen vorzufinden. Zusammengerollte Socken vieleicht oder halb leere Bierdosen. Was immer Catcher auch trank.

Ich war nicht auf einen leeren Raum vorbereitet … der eben noch voller Möbel gewesen war.

»Heilige Scheiße!«, fluchte ich, stemmte die Hände in die Seiten und sah mich im Zimmer um.

Malory, rief ich. »Komm her! Ich glaube, du bist ausgeraubt worden.«

Aber wie hatten sie ein ganzes Zimmer voller Möbel und Krimskrams ausräumen können – ohne dass wir es merkten?

»Schau nach oben!«

»Nein, ernst jetzt – komm her! Ich mach keine Witze!«

»Merit«, brüllte sie zurück. »Verflucht noch mal, sieh nach oben!«

Das tat ich. Mir klappte die Kinnlade herunter. »Heilige Scheiße!«

Der Raum sah aus wie in Poltergeist. Alle Sachen – von der Couch über den Beistelltisch bis hin zur Spielekonsole und dem Fernseher – hingen an der Decke. Alles stand genau an seinem Platz, nur auf den Kopf gestellt. Es wirkte so, als ob ich unter einem Spiegel stünde – ein Spiegelbild dessen, was vorher gewesen war.

Es machte den Eindruck, als ob die Schwerkraft gerade in Urlaub sei. Ich sah das kleine schwarze Buch, das ich für Malory holen sollte, aber es lag auf (unter?) dem Beistelltisch, der nun gut einen Meter über mir hing.

»Ich könnte wohl danach springen«, murmelte ich mit einem schwachen Lächeln und sah dann instinktiv zur Tür. Sie stand im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt, die Beine gekreuzt, und schenkte mir ein selbstzufriedenes Lächeln.

»Weißt du, du siehst aus wie Catcher, wenn du da so stehst.«

Malory, das Mädel, das die Schwerkraft zur Diskussion gestellt hatte, streckte mir die Zunge heraus.

»Wie es scheint, hast du ein paar Sachen gelernt.«

Sie zuckte mit den Achseln und stieß sich dann von der Tür ab.

»Wie hast du das gemacht?«, fragte ich und ging mit dem Kopf im Nacken durch das Zimmer, um es genauer zu betrachten.

»Der erste Schlüssel«, sagte sie. »Zaubermacht. Es gibt Energien im Universum, die auf uns alle einwirken. Diese Energien habe ich bewegt, die Ströme ein wenig umgeleitet, und schon rückte das Universum ein wenig zur Seite.«

Nun, es kam mir fast so vor, als ob Ethan zumindest zum Teil recht gehabt hatte. »Es ist also so was wie die Macht?«

»Das ist tatsächlich kein schlechter Vergleich.«

Meine beste Freundin konnte das Universum zur Seite rücken. So viel zum Thema, wie knallhart ich war. »Das ist einfach … grandios.«

Sie kicherte und sah dann zur Decke. »Das Problem ist, dass ich es nicht besonders gut draufhabe, das Zeug wieder runterzubekommen.«

»Und was machst du in dem Fall? Lässt du Catcher das erledigen?«

»Oh mein Gott, nein! Er hat das diese Woche schon dreimal wieder in Ordnung gebracht. Ich werde einfach mein Bestes geben.« Sie räusperte sich, hob die Arme und sah mich kurz an. »Du solltest vieleicht aus dem Weg gehen. Es könnte ein wenig chaotisch werden.«

Ich nahm mir ihre Warnung zu Herzen, flitzte zur Schwele zwischen Ess- und Wohnzimmer und drehte mich dann um, um ihr zuzusehen.

Malory schloss die Augen, und ihre Haare erhoben sich in die Luft, als ob sie eine Hand auf eine Teslaspule gelegt hätte. Ich spürte, wie mein eigener Pferdeschwanz in die Höhe gezogen wurde, als Energie durch die Luft zu wirbeln begann, und das so stark wie die Ströme und Strudel in einem Fluss.

»Es ist nur eine Frage der Veränderung der Ströme«, sagte Malory.

Ich sah hoch. Die Möbel begannen zu vibrieren und dann auf ihren Füßen zu hüpfen. Ihr Zittern sorgte dafür, dass Putz von der Decke auf uns herabrieselte.

»Jetzt kommen wir zum schwierigen Teil der Übung«, sagte sie.

»Du schaffst es.«

Die Möbel begannen sich in Linien zu formieren und wie eine Blaskapelle in der Spielpause zu marschieren. Ich sah ehrfürchtig zu, wie das Zweiersofa der Couch folgte, die wiederum dem Beisteltisch folgte, während sie sich im Kreis drehte und nach einem kleinen Sprung auf der Wand landete. Die Schwerkraft schien dort genauso wenig von Bedeutung zu sein wie an der Decke, und die Möbel begannen sich wie im Disney-Klassiker Fantasia die Wände herab zu den Scheuerleisten zu bewegen.

»Jetzt wird’s kompliziert«, sagte Malory, als das erste Möbelstück wieder den Boden berührte.

Ich sah zu ihr hinüber. Ihre ausgestreckten Arme zitterten vor Anstrengung und glänzten vor Schweiß. Ich hatte sie schon einmal so erlebt, bei einer der ersten Gelegenheiten, als sie Magie gewirkt hatte. Damals waren wir am Schauplatz eines Raves gewesen, und sie hatte eine Prophezeiung verkündet.

Aber es hatte sie viel Kraft gekostet, und auf dem Rückweg hatte sie im Auto geschlafen. Das hier sah genauso aus – nur würden die Folgen viel schwerwiegender sein.

»Malory? Brauchst du Hilfe?«

»Ich schaff das schon«, sagte sie mit gepresster Stimme, und die Möbel fuhren mit ihrem Tanz fort.

Der Boden unter uns vibrierte, als sie sich wieder an ihren alten Platz begaben.

»Oh-oh«, sagte sie.

»Oh-oh?«, wiederholte ich und wich einen Schritt zurück. »Mir gefällt das ›Oh-oh‹ nicht.«

»Ich glaube, ich werde ein wenig Staub aufwirbeln.«

Ich schaffte es gerade noch zu fluchen, bevor sie nieste und der Rest der Sachen an der Decke zu Boden krachte. Glücklicherweise waren alle elektronischen Geräte schon unten. Doch alles andere, was ich sehen konnte, nachdem ich mit einer Hand durch den von Malory aufgewirbelten Staub gewedelt hatte, glich einem einzigen Schlachtfeld.

»Malory?«

»Alles in Ordnung«, sagte sie und tauchte aus dem Staub auf, der sich in den zwanzig Jahren, die ihre Tante in dem Brownstone lebte, angesammelt hatte.

Malory kam neben mich, drehte sich um, und wir begutachteten den Schaden.

Ziemlich viel verstaubter Schnickschnack lag vor uns auf dem Boden – Kätzchen und Porzellanrosen und andere Gegenstände, die ihre Tante in regelmäßigen Ab-ständen anfallartig im Einkaufsfernsehen und andere Gegenstände, die ihre Tante in regelmäßigen Abständen anfallartig im Einkaufsfernsehen erstanden hatte. Die Couch hatte ihre Rückreise richtig herum beendet, doch das Zweiersofa lag wacklig auf der Seite.

Das Bücherregal stand auf dem Kopf, aber der Inhalt befand sich sauber aufgestapelt daneben.

»He, die Bücher sehen nett aus.«

»Pass auf, was du sagst, Klugscheißer.«

Ich verkniff mir ein Kichern, das sich mit aller Macht bemerkbar machen wollte, und es kostete mich alle Kraft, nicht in schalendes Gelächter auszubrechen.

»Ich lerne noch«, sagte sie.

»Selbst Vampire brauchen Übung«, sagte ich, um sie zu unterstützen.

»Ja, genau. Wo dich doch Celina durch die Gegend gekickt hat, als ob du Tom und sie Jerry gewesen wäre.«

Ich sah sie schräg – und nicht sonderlich wohlwollend – von der Seite an.

»Was denn?«, fragte sie mit einem Achselzucken. »Celina spielt halt gern mit ihrem Fressen.«

»Zumindest hat Celina Haus Cadogan nicht zerstört.«

»Ach ja? Dann pass mal gut auf.« Sie stampfte – wortwörtlich – zurück in die Küche, umrundete die Kücheninsel und zog die lange Schublade heraus, die meinen Geheimvorrat an Schokolade enthielt.

Sie langte hinein, stöberte herum, ohne den Blick von mir zu wenden, bis sie einen langen Riegel dunkler Gourmet-Schokolade herauszog. Mit einem bösartigen Grinsen sah sie auf ihre Beute, die sie mit beiden Händen vor sich hielt, und riss die Verpackung an einer Ecke auf.

»Die gehört zu meinen Lieblingen«, warnte ich sie.

»Oh, tatsächlich?«, fragte sie und biss eine riesige Ecke von dem Riegel ab.

»Malory! Das ist einfach nur gemein.«

»Manchmal muss eine Frau gemein sein«, glaubte ich sie sagen zu hören, den Mund voller dreiundsiebzigprozentiger Schokolade, die ich in einem winzigen Laden in der Nähe der Universität aufgestöbert hatte. Andererseits hatte ich schon so lange darauf verzichtet…

»Na gut«, sagte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Wenn wir uns schon wie halbwüchsige Schwestern streiteten, dann konnten wir es auch bis zum Ende durchziehen. »Dann iss sie. Iss das ganze Ding, während ich hier stehe.«

»Vieleicht werde ich …« Sie hob ihre freie Hand und kaute einen Mundvoll Schokolade. »Vielleicht werde ich das«, brachte sie schließlich hervor. Als ob sie an einer Mutprobe teilnahm, biss sie ein weiteres Stück ab – allerdings diesmal nur ein sehr kleines.

»Wehe, du brichst noch mehr von meiner Schokolade ab.«

»Ich breche ab, was ich will und wann ich es will. Das hier ist mein Haus.«

»Es ist meine Schokolade.«

»Dann hättest du sie besser nicht hiergelassen«, ertönte eine männliche Stimme an der Tür. Wir drehten uns beide um, und dort stand Catcher, die Hände in die Seiten gestemmt. »Kann eine von euch mir vieleicht erklären, was zur Hölle mit meinem Haus passiert ist?«

»Wir haben nur Spaß gemacht«, sagte Malory, die immer noch verzweifelt versuchte, die Schokolade in ihrem Mund zu bewältigen.

»Indem ihr das Wohnzimmer zerstört und einen Zuckerschock herbeiführt?«

Sie zuckte mit den Achseln und schluckte. »Es schien eine gute Idee zu sein.«

Als ob ihr plötzlich auffiel, dass der schroffe Junge, den sie liebte, nach Hause gekommen war, fing sie an zu strahlen. »Hallo, Schatz.«

Er schüttelte belustigt den Kopf, stieß sich von der Tür ab und ging zu ihr.

Ich verdrehte die Augen. »FSK 6 bitte, okay? Denkt an die Kinder!«

Catcher blieb vor ihr stehen, nahm ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und machte lockende Geräusche. »Allein dafür sollten wir eine heiße Knutschszene spielen.«

Ich verdrehte die Augen und sah weg, bemerkte aber noch, wie er sich für einen Kuss zu ihr hinabbeugte.

Ich gab ihnen einige Sekunden und räusperte mich dann, was als weltweit anerkanntes Zeichen peinlich berührter Freunde und Mitbewohner galt.

»Also«, sagte Catcher und kam, nachdem sie endlich voneinander abgelassen hatten, zu mir, um sich das letzte Stück auflaufartiger Pizza aus der Schachtel zu schnappen. »Wie läuft’s in Haus Cadogan?«

»Merit und Ethan haben miteinander geschlafen.«

Er verschluckte sich fast, drehte sich zu mir und starrte mich an.

Meine Wangen glühten vor Scham.

»Wenn du hier bist, anstatt dich darüber zu freuen, dann gehe ich davon aus, dass er etwas unglaublich Dummes getan hat.«

»Das ist mein Kerl«, sagte Malory, gab ihm einen Klaps auf den Hintern und ging zum Kühlschrank.

Sie öffnete ihn, holte zwei Dosen Limonade heraus, reichte mir eine und machte sich dann ihre auf.

»Was für ein Idiot!«, sagte Catcher, legte sein angebissenes Stück Pizza zurück in die Schachtel und stemmte die Hände in die Seiten. »Du weißt, dass ich Sullivan schon lange kenne, oder?«

Als er mich mit erhobenen Augenbrauen ansah, nickte ich. Ich wusste nicht, woher sie sich kannten, aber ich wusste, dass sie sich »schon seit Urzeiten kannten«, um es mal mit Catchers Worten auszudrücken.

»Es mag dir kein großer Trost sein, nachdem es nun mal passiert ist, aber er wird es bereuen, und das wahrscheinlich früher, als ihm lieb ist. Aber immerhin hat es dir ja auch was gebracht.«

Als ich die Stirn runzelte, deutete er auf Malory. »Ihr beiden redet endlich wieder miteinander.«

Malory sah mich über die Kücheninsel an. »Ist doch eigentlich witzig, wenn man bedenkt, dass ›Darth Vader‹ Sullivan uns wieder zusammengebracht hat?«

»Na ja, er hat uns überhaupt erst auseinandergebracht.«

Sie streckte mir die Arme entgegen und winkte einladend. »Komm her! Kostenlose Umarmung.« Und die habe ich mir abgeholt.

Als Catcher seinen Appetit wiederfand, kümmerte er sich um das letzte Pizzastück, während Malory und ich meine Schokoladensammlung durchstöberten.

Den größten Teil davon spendete ich im guten Glauben dem Haus Carmichael-Bel, was mich aber nicht davon abhielt, mir selbst auch die Taschen mit Schokoriegeln – mit Mandeln und getrockneten Kirschen – vollzustopfen, bevor ich sie verließ. Ich schnappte mir außerdem eine Tüte schokoladenumhüllter Pekannüsse und setzte mich dann mit Malorys Schönling hin, um auf den neuesten Stand gebracht zu werden. Es gab noch nichts Neues zur Schießerei in der Bar, aber ich konnte ihn über die grundlegenden Dinge zum Rudeltreffen bei den Breckenridges ins Bild setzen.

Schließlich dachte ich daran, einen Blick auf die Uhr zu werfen. Der Sonnenaufgang nahte, und ich musste mich noch mit Ethan und Luc treffen, um die Versammlung zu besprechen. »Ich muss wieder zurück zum Haus.«

»Vieleicht ist Ethan wieder zur Vernunft gekommen, während du weg gewesen bist«, sagte Malory.

»Vieleicht wartet er schmachtend an der Tür.«

Wir stellten uns dieses Bild beide eine Sekunde lang vor und brachen dann in schallendes Gelächter aus.

»Und Kobolde könnten dir Regenbögen auf dein Kissen kacken«, sagte sie.

»Was mach ich bloß, Malory? Streite ich mit ihm? Soll ich sagen, dass er unrecht hat und wir schon eine Lösung finden werden? Soll ich ihn ignorieren? Ihn anschreien? Wie soll ich denn mit ihm zusammenarbeiten?«

»Ich glaube, genau das ist sein Problem, Merit. Was die Streiterei angeht, stell dir einfach mal folgende Frage: Willst du mit einem Mann zusammen sein, den man davon überzeugen muss, dass er mit dir zusammen sein will?«

»Nein.«

Sie nickte und tätschelte meine Wange. »Du bist so weit. Fahr nach Hause.« Ich wusste, wann ich einem Befehl Folge zu leisten hatte.

KAPITEL VIERZEHN

Das Haus des Schmerzes

Ich fand Luc auf einer Ecke des Konferenztisches sitzend vor, der in der Mitte der Operationszentrale stand. Lindsey einer Ecke des Konferenztisches sitzend vor, der in der Mitte der Operationszentrale stand. Lindsey saß Luc gegenüber an ihrem Computer, auf dessen Monitor sie sah, was die Sicherheitskameras innerhalb und außerhalb des Hauses aufzeichneten. So konnte sie jede Form von übernatürlichem Chaos, das in Hyde Park auszubrechen drohte, analysieren.

Sie sahen beide auf, als ich hereinkam.

»Wie schlimm war’s?«, fragte Luc. Ich nahm an, dass er und Ethan darüber gesprochen hatten, was bei den Breckenridges passiert war.

»Es war nicht gerade großartig.«

Lindsey drehte sich auf ihrem Stuhl zu mir um. »Gibt es sonst noch was, worüber du reden möchtest?« Ihre sanfte Stimme klang besorgt.

»Nicht wirklich.«

»Ethan war irgendwie seltsam«, sagte sie. »Er hat uns nichts über dich und ihn erzählt, aber er wirkte wirklich seltsam.« Ich wollte sie schon anblaffen, aber als ich ihren besorgten Gesichtsausdruck sah und in ihrer Stimme hörte, dass sie sich Sorgen um mich machte, warf ich ihr einen Knochen hin.

»Er hat Schluss gemacht, und ich möchte zumindest eine Zeit lang gerne an etwas anderes denken.«

Ich deutete auf die ausgebreiteten Dokumente auf dem Konferenztisch. »Was ist das?«

»Ich – er hat was?«

Das Entsetzen und die Betroffenheit in Lindseys Stimme wärmten mir das Herz, aber ich schüttelte den Kopf. »Zurück zur Tagesordnung, bitte!«

»Deine Show, Hüterin«, sagte Luc, hüpfte vom Tisch und wandte sich den Dokumenten zu. »Das ist die Vorbereitung für deinen Versammlungsausflug – die Baupläne der St. Bridget’s Cathedral.«

Die Tür hinter uns öffnete sich, und Ethan kam herein. Er nickte mir kurz anerkennend zu, bevor er seinen Blick auf den Tisch richtete.

Ich rief mir ins Gedächtnis, dass ich eine ziemlich professionelle Beziehung zu ihm aufrechterhalten hatte, seit wir uns kannten, abgesehen von einer Nacht. Wenn er mich zurückwies, weil er Angst davor hatte, das Geschäftliche mit dem Privaten zu vermischen, so konnte von mir aus ales seinen gewohnten Gang gehen.

»Pläne?«, fragte Ethan.

Luc nickte. »Bittet, und ihr werdet bekommen.«

»Eigentlich«, sagte Lindsey, die sich wieder zu ihrem Computer umdrehte, »heißt das: Schau in deine E-Mail, und du wirst sie vom Anführer des Zentral-Nordamerika-Rudels bekommen.«

»Unwichtiges Detail«, sagte Luc. »Wir haben sie hier vorliegen.«

Ethan umrundete den Konferenztisch, um sich neben Luc zu stellen. Ich folgte ihm und stellte mich an Lucs andere Seite.

»Wie lautet deine Analyse?«, fragte Ethan.

Luc machte ein ernstes Gesicht. »Ich hatte zwei Hauptziele. Erstens – Problembereiche identifizieren. Bereiche, in die sich Scharfschützen einschleichen könnten, Kellerräume, solche Sachen. Zweitens – Ausgänge identifizieren.«

»Und was hast du gefunden?«, fragte Ethan.

Luc begann durch die Pläne zu blättern. »Die Kirche besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil, das ursprüngliche Gebäude, wurde Ende des neunzehnten Jahrhunderts gebaut. Alte sakrale Bauten in Chicago bedeuten architektonische Besonderheiten. Dieser Architekt war offensichtlich paranoid, denn es gibt unzählige Verstecke.«

»Formwandler«, rieten Ethan und ich gemeinsam.

»Sehr wahrscheinlich«, sagte Luc. »Wir haben im Hauptteil des Gebäudes zwei Falltüren gefunden.«

Er deutete auf die entsprechenden Stellen in den Plänen – eine mitten im Altarraum, direkt hinter der Kanzel, und eine im Chorstuhl hinter der Kanzel.

»Was sonst noch?«, fragte Ethan.

Luc blätterte einige Seiten weiter. »In den Siebzigern haben sie das Gebäude umgestaltet und einen Klassenraumflügel angebaut. Und damals haben sie auch noch etwas hinzugefügt, was wie ein Schutzraum aussieht.« Er zeigte auf den Bauplan. »Er befindet sich im Keller. Sieht aus, als ob er zuerst ein Luftschutzbunker werden sollte, aber bei der Umgestaltung haben sie ihn mit Beton verstärkt und auch noch verkabelt. Das sind dann die großen Fragezeichen.«

Ethan nickte. »Ausgänge?«

Luc blätterte zum Plan des ursprünglichen Gebäudes zurück. »Die Vordertür natürlich. Im Altarraum gibt es außerdem noch einen Ausgang zur Rechten.« Er deutete darauf und fuhr dann mit dem Finger den langen, schmalen Altarraum entlang und durch eine Tür zur Linken zu weiteren Räumlichkeiten.

»Hier sind die Büros und Klassenräume.« Er deutete auf den Ausgang am Ende des Flurs. »Hier geht’s raus, aber in allen Räumen sind Fenster, sollte die Lage völlig außer Kontrolle geraten.«

Ich beugte mich zu Lindsey hinüber, die aufgestanden war und sich zu uns gesellt hatte. Sie trug das schmale, kabellose Headset, über das sie ständigen Kontakt mit den Wachen, die heute Abend auf Streife waren (entweder Kelley oder Juliet, da sie die einzigen verbliebenen Wachen waren), und mit den Feen vor dem Tor hatte. »Er scheint Spaß zu haben«, sagte ich zu ihr.

»Er ist im Himmel«, flüsterte sie zurück. »Es war sehr lange sehr ruhig, und solche Vorbereitungen hat er schon lange nicht mehr treffen müssen. Und plötzlich haben wir eine Hüterin, und Formwandler laden Vampire zum Spielen ein.«

»Ja«, sagte ich trocken. »Diese ganze Versammlungsgeschichte hat offensichtlich nur den einen Sinn: mich besser kennenzulernen. Das ist die Kennenlernparty, von der du schon immer geträumt hast.«

»Aber haariger«, sagte sie. »Viel haariger.«

Ethan rieb sich mit der Hand übers Kinn. »Was müssen wir sonst noch wissen?«

»Das wäre so ziemlich alles, was die Architektur betrifft«, sagte Luc. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich hin. Ethan und ich taten es ihm gleich, und Lindsey ging zurück an ihren Computer.

»Aber da es sich um euch zwei gegen gut dreihundert Formwandler handelt, müssen wir auch über Ausweichpläne sprechen. Über Worst-Case-Szenarien.«

Ethan schlug die Beine übereinander und bereitete sich damit offensichtlich auf eine strategische Besprechung vor. »Was denkst du darüber?«

»Mir fallen drei Szenarien ein. Erstens, ein Angriff von außerhalb der Versammlung, ähnlich wie die Schießerei in der Bar. Zweitens, die Formwandler finden es scheiße, dass ihr da seid, und greifen euch an.«

»Rosige Aussichten«, flüsterte Lindsey. Ich nickte, und mein Magen krampfte sich zusammen. Hinter einer Theke in Deckung zu gehen, damit man keine Kugel abbekommt – oder selbst ein Schläger aus dem Rudel, der einen am Arm packt –, war eine Sache; eine direkte Konfrontation mit Mitgliedern von vier Formwandlerrudeln eine ganze andere.

»Drittens, die Formwandler können sich nicht entscheiden, sie werden sauer aufeinander, und die Sache läuft magisch aus dem Ruder.«

Ethan sah Luc schräg von der Seite an. »Sie läuft aus dem Ruder? So lautet deine offizielle Schlussfolgerung?«

»Gezeichnet und gesiegelt. Ich nehme an, du verstehst, was ich meine.«

Ethan atmete tief durch. »Ich verstehe es durchaus. Ich bin nicht begeistert davon, aber ich verstehe es. Also, was können wir tun, um die Lage zu beruhigen?«

»Wie viel Eigeninitiative können wir zeigen?«, fragte ich.

Köpfe drehten sich in meine Richtung. »Woran denkst du, Hüterin?«, fragte Ethan.

»Vampire haben die Fähigkeit, zu verzaubern. Ich kann es leider nicht« – ich sah Ethan an –, »aber ich wette, dass du es kannst.«

Im Raum herrschte für einen Augenblick Schweigen.

»Du denkst daran, eine ganze Kirche mit Formwandlern zu verzaubern, damit sie ruhig bleiben? Sie zu betäuben?«

»Würde das klappen?«

Luc beugte sich über den Tisch, stützte einen Ellbogen auf und das Kinn in die Hand. »Theoretisch ist es möglich, aber wir haben keine wirklichen Beweise vorliegen, dass Formwandler sich für eine Verzauberung eignen. Sie sind magische Wesen. Ich würde mir Sorgen machen, dass sie es merken könnten, spüren könnten. Und wenn sie uns verdächtigen, sie manipulieren zu wollen…«

»Dann wäre der Teufel los«, beendete Ethan den Satz. »Interessanter Vorschlag, Hüterin, aber wir sollten es bei einfachem Bluffen belassen. Wir werden mit unseren Schwertern dastehen und höflich lächeln und unsere Klingen ziehen, wenn die Sache unangenehm wird.«

»Oh, und wo wir gerade davon sprechen«, sagte Luc, setzte sich gerade hin und schob seinen Stuhl zurück. Er ging zu seinem Tisch, wo er eine kleine, glänzende weiße Schachtel hochhob. »Das Ende des Steuerjahres naht, und wir hatten noch ein wenig Geld über.«

»Die Schatzkammer des Hauses hätte sich darüber gefreut«, murmelte Ethan, aber seine Augen strahlten voll kindlicher Freude, als Luc den Deckel öffnete und zwei sehr kleine Ohrhörer herauszog.

»Die kleinsten auf dem Markt«, sagte Luc, ließ die Ohrhörer in seine Hand fallen und kam mit ihnen zu uns zurück. Er drehte die Hand um und legte sie auf den Tisch. »Empfänger, Mikrofon, Drahtlossender. Einer für jeden von euch. Wir hören euch über den Empfänger. Wenn die Sache tatsächlich aus dem Ruder läuft, dann müsst ihr es nur sagen, und wir haben ein Dutzend Wachen vor der Kirche.«

»Ein Dutzend?«, fragte ich überrascht. »Uns fehlt eine Wache, und selbst wenn du, Lindsey, Juliet und Kelley da wären, hätten wir immer noch acht zu wenig, und niemand würde auf das Haus aufpassen.«

»Seit deinem kleinen Ausflug nach Navarre«, sagte Luc, »haben wir mit den Hauptleuten der Wachen von Navarre und Grey gesprochen. Sie haben uns Vampire für den Notfall ausgeliehen.«

Ich setzte mich gerade hin, als Jonahs Name fiel, der mein Partner bei der Roten Garde werden könnte. Ich nahm an, dass er nichts dagegen hatte, der Hüterin Cadogans ein wenig auszuhelfen, auch wenn er von ihren Fähigkeiten nicht sonderlich viel hielt.

Ethan nickte mir kurz zu. »Alles in Ordnung, Hüterin? Du bist ein wenig rot im Gesicht.«

»Mir geht es gut«, sagte ich mit einem schwachen Lächeln. »Ich bin nur überrascht über das neue Ausmaß der Kooperation zwischen den Häusern.«

Ethan schüttelte den Kopf. »Wir haben zusätzliche Wachen nicht mit Gabriel abgesprochen. Ich bin mir nicht sicher, ob er von dem Gedanken begeistert wäre, fast ein Dutzend weitere Vampire auf der Versammlung zu haben.«

Luc zuckte mit den Achseln. »Da kann man nichts dran ändern. Ich werde euch ganz bestimmt nicht da reingehen lassen, ohne euch Verstärkung schicken zu können. Wenn das hier schiefläuft und wir gezwungen sind, euch ein Dutzend Leute hinterherzuschicken, dann gehe ich davon aus, dass Gabriel sich darüber nicht den Kopf zerbrechen wird.«

Ethan nickte.

»Wir hätten nicht sonderlich viel Zeit, um die Details eines vollständigen Vertrags auszuhandeln, aber ich könnte auch die Feen anrufen und nachfragen, ob sie vieleicht Interesse daran haben, einige Wachen oder Scharfschützen nahe der Kirche zu postieren.«

Ethan runzelte nachdenklich die Stirn und verschränkte die Arme. »Ich glaube, die Kosten für eine Verhandlung mit den Feen und ihre Anwerbung würden zu diesem Zeitpunkt in keinem Verhältnis zum Nutzen stehen. Vor allem, wo es keinerlei Garantie dafür gibt, dass wir sie überhaupt brauchen.«

»Was immer Ihr für das Beste haltet, Lehnsherr«, sagte Luc mit einem leisen Lachen.

»Ich habe zu diesem Thema eine sehr klare Meinung«, sagte Ethan knapp.

Sein Tonfall war sehr deutlich. »Und unser Kennwort?«

»Wonderwal.«

Lindsey drehte sich um und warf Luc einen hämischen Blick zu. »Dein Kennwort ist der Titel eines Oasis-Lieds?«

»Blondie, ich bin in diesem Haus der Mann, der ansagt, was gerade in ist. Warum also nicht auch im Musikbereich?«

Lindsey lachte prustend, drehte sich wieder zu ihrem Computer und klickte sich durch verschiedene Anzeigen. »Das sagt ein Kerl, der Cowboystiefel trägt. Jetzt mal im Ernst: Wer trägt schon Cowboystiefel?«

Ethan und ich warfen einen Blick auf seine Schuhe. Er trug tatsächlich Stiefel aus Alligatorenleder, und sie waren ziemlich ausgetreten.

»Das ist total angesagt«, sagte Luc. »Ich sehe mir MTV an. Ich weiß, was die Kids heutzutage tragen.«

»Die Kids sind alle hundert Jahre jünger als du, Chef.«

»Kinder«, warf Ethan ein, »könnten wir beim Thema bleiben. Ich muss mich noch um ein paar andere Dinge kümmern.« Er schien jedoch belustigt zu sein.

Lindsey wandte sich einsichtig wieder ihrem Computer zu. Ich wollte mich auch abwenden, hatte aber keinen Computer. Ihren ständigen verbalen Schlagabtausch war ich gewohnt, und normalerweise machte ich auch mit. Aber heute fühlte ich mich einfach nur leer. Es war zu nebensächlich, und ich suchte noch nach einem neuen emotionalen Halt. Es half ein wenig, dass es für Ethan anscheinend genauso unangenehm war wie für mich; die Hälfte seiner Fragen hatte nur aus einem oder zwei Wörtern bestanden, und er hatte kaum ein Wort über die Vorbereitung zur Versammlung verloren.

Es ging hier sicher um unsere Pflicht, aber selbst Ethan hatte einen Sinn für Humor. Zumindest manchmal.

»Wie sieht nun der Plan für diese Notfälle aus?«, fragte Ethan.

Luc stand wieder auf, ging zu den Plänen und holte eine Karte des Ukrainian Village hervor. »Wenn Luc stand wieder auf, ging zu den Plänen und holte eine Karte des Ukrainian Village hervor. »Wenn die Dinge schieflaufen, dann verlasst das Gebäude, egal wie«, sagte er. »Wir treffen uns dann hier.«

Er deutete auf einen Punkt auf der Karte, der etwa zwei Blocks von der Kirche entfernt war, und wir kamen alle näher, um ihn uns anzusehen.

»Wir treffen uns bei Joe’s Chicken and Biscuits«, sagte Luc. »Wie der Name schon erahnen lässt, liefert Joe die leckersten Hühnchen und Kekse in der Windy City. Das ist euer Treffpunkt. Wenn irgendwas passiert, dann kommt dorthin. Wir holen euch dann ab. Ich würde euch nur bitten, mir und der Dame hier einen Zehnerpack mitzubringen.«

»Wenn die Sache schiefläuft, schlagen wir dann zurück?«

Ethan sah mich an.

»Einige der Formwandler waren uns gegenüber schon misstrauisch«, sagte ich, erwähnte aber nicht, dass sie nach dem heutigen Abend noch misstrauischer sein könnten. »Ich will nicht, dass es noch schlimmer wird.«

Ethan runzelte die Stirn und rieb sich darüber. »Das Greenwich Presidium hat dazu eine Stellungnahme abgegeben.«

»Feuer nur erwidern, nicht eröffnen«, antwortete Luc für ihn.

Ethan nickte sachlich. »Wir setzen keine Waffen ein, außer wir werden bedroht oder jemand droht Gabriel Gewalt an.«

Wir schwiegen alle für einen Moment und fragten uns vieleicht, ob die Bedrohung mir gegenüber groß genug gewesen war, um Ethans Reaktion zu rechtfertigen… oder ob das Greenwich Presidium einige Worte mit unserem Meister wechseln wollte.

Wir schreckten alle ein wenig auf, als Ethans Handy klingelte. Er zog es aus seiner Tasche, sah auf das Display, schob dann seinen Stuhl zurück und erhob sich.

»Ihr dürft wenn nötig reagieren, aber wir sind zur Unterstützung dort, nicht um uns Feinde zu machen, ohne provoziert worden zu sein. Innerhalb wie außerhalb der Rudel gibt es vermutlich Bündnisse, und wir möchten mit keinem in Konflikt geraten.«

Ich war in eine von Chicagos reichsten Familien geboren worden. Ich wurde dazu erzogen, reserviert zu sein.

»Ich habe einen Termin«, sagte Ethan und ließ das Handy wieder in seine Tasche gleiten. »Ihr dürft wegtreten. Wir werden uns zwei Stunden vor Mitternacht treffen.«

»Lehnsherr«, sagte ich respektvol und bemerkte im Augenwinkel, wie Lindsey aufgrund meiner »Entgegenkommenden Dankbarkeit« die Augen verdrehte – was im Vampirjargon so viel bedeutete wie: Du Schleimer! Nachdem Ethan den Raum verlassen hatte, vermutlich um an irgendeinem wichtigen Treffen teilzunehmen, und die Tür hinter ihm zugefallen war, schnaubte Lindsey laut.

»Ich kann einfach nicht glauben, dass du einen auf höflich machst, nachdem er dich hat sitzen lassen.«

»Ich habe dich eben schon gewarnt – keinerlei persönliche Kommentare.«

»Ein oder zwei Fragen? Sie sind ziemlich konkret. Biologisch konkret, meine ich.«

»Luc, deine Angestellte ist gerade sehr bockig.«

»Willkommen in meiner Welt, Hüterin. Willkommen in meiner Welt.«

Da nur noch wenige Minuten bis zum Sonnenaufgang blieben, fuhren Lindsey und Luc die Computerkontrolle über das Haus herunter und übergaben den Schutz des Hauses offiziell in die Hände der Feensöldner, die es bewachten, solange wir schliefen. Lindsey bot mir an, mich nach oben zu begleiten und damit moralisch zu unterstützen; allerdings schien es mir wahrscheinlicher, dass sie mich ausquetschen wollte, warum Ethan sich gegen eine Beziehung entschieden hatte.

»Ich brauche doch nur ein oder zwei Einzelheiten«, sagte sie in dem Moment, als wir die Operationszentrale verlassen hatten.

»Es gibt keinerlei Details. Wir hatten eine kurze Affäre; er hat entschieden, dass er es sich nicht erlauben kann, mit mir zusammen zu sein, also überlege ich mir gerade eine I will survive-Strategie.«

Wir gingen die Treppe zum Erdgeschoss hinauf und wollten gerade um die Ecke biegen, als wir von einer Truppe Vampirinnen aufgehalten wurden – Margot, Katherine und eine Frau mit kahl rasiertem Kopf und kakaobrauner Haut, die ich noch nicht kannte. Sie blieben direkt vor uns stehen und versperrten uns den Weg zum Rest des Erdgeschosses.

»Mädels«, sagte Lindsey und stemmte die Hände in die Seiten, »was gibt’s?« Die Frauen wechselten Blicke, sahen mich an und wandten sich dann wieder Lindsey zu.

»Ich hasse es, der Überbringer schlechter Nachrichten zu sein«, sagte Margot, »aber wir haben Besuch.«

Lindsey sah mich an und runzelte die Stirn. »Um die Uhrzeit? Die Sonne geht gleich auf. Außerdem war in den Tagesaufgaben niemand angekündigt.« Die Tagesaufgaben waren unsere Unterlagen, die einmal täglich aktualisiert wurden und Informationen über die Ereignisse im Haus enthielten sowie über angemeldete Gäste und Ausflüge, die entweder Ethan oder Malik planten. Heute hatten die Unterlagen hauptsächlich Informationen zur Formwandlerparty enthalten, also schüttelte ich den Kopf.

Margot, die sich sichtlich unwohl fühlte, kaute an ihrer Lippe. »Ich darf nichts darüber sagen.«

Katherine stupste sie mit dem Ellbogen in die Seite. »Raus damit!«

»Es ist bloß – vor ein paar Stunden hat er mich gebeten, zum Sonnenuntergang ein großes Abendessen zuzubereiten«, sagte Margot. »Steak au poivre, Soufflé, das ganze Programm. Und ich hielt das für ziemlich seltsam, denn er hat mich seit Jahren nicht mehr um ein Steak au poivre gebeten.«

Da es sich um französisches Essen handelte und die Ankunft geheim gehalten wurde, war mein erster Gedanke, dass Ethan Celina eingeladen hatte, um sich bei einem guten Essen zu unterhalten. Da sie versucht hatte, mich umbringen zu lassen, machte es durchaus Sinn, dass er das Treffen geheim hielt.

»Dann haben wir mitbekommen, dass er einen Gast erwartet«, sagte das neue Mädel, »und dass sie auf dem Weg vom Flughafen hierher ist.«

»Oh, darf ich dir Michele vorstellen?«, flüsterte Lindsey geistesabwesend und deutete auf die mir unbekannte Frau. Ich lächelte Michele zu und winkte.

»Auch wenn es keine Rolle spielt«, sagte Katherine, »und keinen Unterschied macht: Er ist und bleibt ein Riesenarschloch, und wir haben dir echt alle die Daumen gedrückt.« Sie sah mich bedauernd an.

Mir wurde vor Nervosität ganz flau im Magen.

»Okay, Mädels«, sagte Lindsey und hielt die Hände hoch. »Der Sonnenaufgang naht, also muss eine von euch noch mal von vorn anfangen. Was zum Teufel ist hier los?«

Die drei Frauen wechselten erneut Blicke, bevor Michele sich wieder an Lindsey wandte. Der Kummer stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Es ist die Eiskönigin.«

»Oh scheiße! «, murmelte Lindsey.

Margot nickte. »Lacey Sheridan ist auf dem Weg in unser Haus.«

Mir blieb fast das Herz stehen. Das Gefühl der Übelkeit kehrte zurück, nur viel stärker, und drohte die Pizza, die ich vor einigen Stunden gegessen hatte, wieder ans Tageslicht zu bringen.

Ethan hatte nicht nur entschieden, dass ich nicht die Mühe wert war – er hatte bereits alle notwendigen Vorbereitungen getroffen, um die Scherben unserer kümmerlichen Beziehung mit einer anderen zu kitten.

Ich wusste nicht, wie ich das nicht persönlich nehmen sollte.

»Guter Gott«, murmelte Lindsey. »Der Junge mag heiß sein, aber er hat ernsthafte Probleme.«

»Ich kann einfach nicht glauben, dass er sie hierher eingeladen hat«, sagte Margot. »Vor allem jetzt.«

Vor allem jetzt, wo er mit mir geschlafen oder wo er sich von mir getrennt hatte?

Das Mitleid in Margots Stimme ließ mich mit heißen Tränen ringen, aber ich hielt sie zurück und sah zu der verputzten Decke hinauf, damit sie mir nicht über die Wangen liefen. In diesem kurzen Augenblick der Schwäche, als ich mich nur noch darauf konzentrierte, nicht vor diesen praktisch fremden Vampiren zu weinen, stürzten einige der Mauern ein, die ich gegen den Krach und die Geräusche errichtet hatte. Das Geflüster, das ich nicht mehr blockieren konnte, begann mich einzukreisen. Ich merkte zu spät, dass wir nicht die einzigen Vampire waren, die in einer kleinen Gruppe im Foyer zusammenstanden und darauf warteten, dass etwas geschah.

Schwarzgekleidete Vampire standen zu dritt oder viert zusammen. Einige steckten die Köpfe zusammen, als sie flüsterten, und sahen zu mir herüber, andere blickten aus den Fenstern neben der Eingangstür nach draußen.

»Sie ist auf dem Weg zum Haus«, sagte jemand.

»Was ist mit Merit?«, fragte jemand anders.

Ich kniff verzweifelt die Augen zusammen. Mein Name wurde im gesamten Raum geflüstert. Neunzig Vampire konnten nicht nur die letzte Nacht bezeugen, Vampire konnten nicht nur die letzte Nacht bezeugen, sondern auch, dass er Lacey darum gebeten hatte, ihren hübschen Hintern so schnell wie möglich nach Chicago zu schaffen.

Ich schlug die Augen wieder auf. Ich konnte spüren, wie meine Haut zu brennen begann, als Demütigung und Ablehnung einer viel befriedigenderen Emotion Platz machten – Zorn. Kummer verwandelte sich in Wut, und ich konnte genau nachvollziehen, warum für Celina die Zurückweisung durch irgendeinen hübschen Engländer zu einem Impuls werden konnte, der Traurigkeit in Hass verwandelte. Ich bin mir sicher, dass sie nicht die einzige Frau – bei den Männern nicht anders – in der Geschichte der Menschheit war, bei der eine Zurückweisung einen Brand entfacht hatte und zum Antrieb geworden war – anderen Gewalt anzutun, Kriege anzuzetteln und eine Spur der Verwüstung zu hinterlassen.

Das Ego von Vampir und Mensch schien sich nicht wirklich zu unterscheiden.

Dieser Zorn war sehr tröstlich; die Möglichkeit, meine Wut auf Ethan zu richten, ließ die Zurückweisung nicht mehr als mein Versagen erscheinen. Ich schloss die Augen, als sich eine Gänsehaut auf meinen Armen ausbreitete, und ließ meinen Körper in meinen Emotionen versinken wie in kochendem Wasser.

Als sich Stille im Raum ausbreitete, öffnete ich die Augen wieder.

Die Mädels beendeten ihre Mitleidsorgie, als alle ihre Augen auf Ethan richteten, der durch den Hauptflur und an uns vorbei zur Vordertür ging.

»Sie muss hier sein«, murmelte Margot, und gemeinsam sahen wir hinter ihm her.

Sie musste der Grund für den Anruf gewesen sein, den er beim Verlassen der Operationszentrale entgegengenommen hatte – der Grund, warum er uns hatte wegtreten lassen.

Ethan öffnete die Tür und beugte sich vor, um eine Frau zu umarmen.

»Lacey«, sagte er, »danke, dass du so kurzfristig kommen konntest.«

Seine Stimme klang herzlich, und die Bedeutung seiner Worte war klar – er hatte sie eingeladen.

Sie war für ihn vermutlich das kühle Fruchteis, das er nach der Knoblauchsauce brauchte. Der Lückenbüßer, den er nach einer Nacht mit mir benötigte.

Plötzliche Übelkeit schien mich zu überwältigen, aber ich kämpfte sie nieder.

Als er sie losließ und einen Schritt zur Seite machte, um ihr restliches Gefolge per Handschlag zu begrüßen, sah ich sie zum ersten Mal.

Sie war groß gewachsen, schlank und hatte ihre blonden Haare zu einem kurzen Bubikopf geschnitten, der direkt unter ihrem Kinn endete. Ihr Gesicht war das eines Models – gerade, lange Nase, breiter Mund, blaue Augen mit einem kühlen Schimmer. Sie trug einen hellblauen Hosenanzug, der sich an ihren schlanken Körper schmiegte, und an ihrer rechten Hand einen einzelnen Ring mit einer überdimensionierten Perle.

Sie war schön, perfekt kombiniert, elegant. Sie war alles, was er haben wollte. Und sie war hier, in Chicago, und war aus San Diego hergeflogen, weil er sie darum gebeten hatte.

»Das Haus sieht bezaubernd aus, Ethan. Ich mag, was du daraus gemacht hast.«

Er wandte sich zu ihr und lächelte. Aber als er seinen Kopf drehte, um sich umzusehen, und ihm die zusammenstehenden Vampire im Flur auffielen, verschwand sein Lächeln. Er musterte uns alle, verspannte sich, und dann trafen sich unsere Blicke.

Als wir uns anstarrten, fragte ich mich, warum er sie eingeladen hatte, welche Hilfe er sich von ihr erhoffte. Ich fragte mich, warum er sich für eine Beziehung mit mir hätte opfern müssen, aber eine Ex einzuladen in Ordnung war.

Ich erkannte nichts in seinem Blick, das es hätte erklären können, nur ein leichtes Entsetzen, dass ich ihn in flagranti erwischt hatte. Ich weiß nicht, was ich ihm sagen wollte, aber ich machte einen Schritt nach vorn, weil ich wusste, dass ich ihm etwas sagen wollte.

»Langsam, langsam«, sagte Lindsey und stellte sich mir in den Weg. »Du rennst da jetzt nicht rüber. So eine Frau willst du nicht sein.«

Ich schnaubte und hatte mittlerweile die Aufmerksamkeit des halben Raums auf mich gezogen. »Was für eine Frau? Die Sorte Frau, die innerhalb von Stunden ersetzt wird?«, flüsterte ich wütend und sah mich dann um. »Sie haben vieleicht nichts von der Trennung gewusst, aber mittlerweile sind die Anzeichen doch ziemlich klar. Gibt es jetzt noch jemanden, der das nicht glaubt?«

Margot, Katherine und Michele wichen meinem Blick aus.

»Merit«, sagte Lindsey und legte ihre Hände auf meine Arme, »wir sind deine Freundinnen und gemeinsam mit dir Novizen dieses Hauses. Aber Ethan ist ein Meister, und Lacey ist es auch. Dich vor ihnen lächerlich zu machen, wäre eine ganz andere Form der Demütigung.«

Sie hatte nicht ganz unrecht. Okay, ich traf eine Entscheidung. Ich würde ihm nicht entgegentreten, aber ich würde mir nicht weiter Schmerzen zufügen, indem ich ihnen zusah.

Ich drehte mich um und ging ohne ein weiteres Wort die Treppe in den ersten Stock hinauf. Ich betrat mein Zimmer und verschloss die Tür. Ich weinte nicht – ich würde nicht weinen. Nicht noch einmal.

Ich würde auch nicht schlafen.

Da die Sonne in wenigen Minuten aufgehen würde, zog ich meinen Pyjama an und stieg ins Bett. Es war eine lange Nacht gewesen, aber ich lag wach, einen Arm unter das Kissen geschoben, und starrte an die Decke. Die Morgendämmerung brach an, und ihr verführerischer Sog ließ meine Augenlider flattern und verhieß meinem Gehirn Entspannung. Doch der menschliche Teil in mir dachte immer wieder an die schönen Momente, die wir miteinander erlebt hatten, so wenige es auch gewesen sein mochten. Ich fragte mich, ob es etwas gegeben hatte, das ich hätte tun können, hätte sagen können, um uns noch eine Chance zu geben.

Ich hatte mich verwundbar gemacht, und dafür bezahlte ich jetzt. Doch die eigentliche Demütigung war, dass das gesamte Haus wusste – oder schon bald wusste –, dass ich nicht nur wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen, sondern auch noch ersetzt worden war.

Ich hatte ihm zugegebenermaßen eine Chance gegeben. Aber das hieß ja nicht, dass ich weiterhin schlechte Entscheidungen treffen musste. Ich atmete gleichmäßig aus und ein und schwor mir, nie wieder eine Beziehung mit einem Vampir einzugehen.

Ironischerweise entschloss sich genau in diesem Augenblick mein potenzieller Rote-Garde-Partner, mich anzurufen. Da ich davon ausging, dass er mit mir sprechen wollte, weil er über Luc von der Versammlung der Rudel gehört hatte, nahm ich mein Handy und klappte es auf. »Merit.«

»Hier spricht Jonah«, sagte er. »Bist du bereit für dieses Ding morgen Abend?« Ich wusste die Besorgnis in seiner Stimme zu schätzen, aber ich war mir nicht sicher, ob er wegen mir besorgt war oder weil ich möglicherweise ein Gewinn für die Rote Garde wäre.

»Wir haben uns mit den Anführern der Rudel getroffen, einige Zeit mit dem Zentral-Nordamerika-Rudel verbracht und die Baupläne des Gebäudes in Augenschein genommen. Wir haben einen Kommunikationsplan, und ihr Jungs seid im Notfall unsere Verstärkung.« Ich zuckte mit den Achseln.

»Besser vorbereitet können wir nicht sein.« Ich überging unseren kleinen Zwischenfall, der für Ethan hätte peinlich sein können; es gab keinen Grund, dass wir uns beide schlecht fühlten.

Jonah machte ein vermutlich zustimmendes Geräusch. »Wenn mich später jemand fragt, werde ich sagen, dass wir dieses Gespräch nie geführt haben. Aber ich frage mich, ob das nicht der richtige Augenblick wäre, die Rote Garde um Unterstützung zu bitten? Ob Wachen auf Abruf sein sollten?«

Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus. »Das ist definitiv nicht der richtige Augenblick. Ich weiß das Angebot sehr zu schätzen, aber es gibt so schon genügend Formwandler, die uns hassen.« Die Erfahrung hatte ich selber machen müssen.

»Spezialeinheiten und schwarze Helikopter werden uns auch nicht helfen. Das würde nur Öl ins Feuer gießen. Vertrau mir – wir sind in einer besseren Position, als wir es hätten sein können, wenn wir nicht in der Bar gewesen wären, aber die Formwandler sehen uns immer noch nicht als beste Freunde an.«

Er schwieg einen Augenblick. »Und wenn es Probleme gibt?«

»Dann wird Luc dich anfordern. Wenn du vor Ort bist, hast du als Mitglied der Roten Garde die Befugnis, in ihrem Auftrag die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Aber du darfst in diesem Fall nicht zu früh einschreiten. Sie halten uns für zu berechnend. Nicht vertrauenswürdig. Wenn wir mit einer Horde zusätzlicher Vampire auftauchen – und das ohne einen Notfall, der das begründen würde –, dann haben wir ihnen den Beweis dafür geliefert. Lass uns das Ganze angehen, als ob es nur Probleme gäbe, mit denen wir fertigwerden. Sollte es dann aus dem Ruder laufen, dann unterliegt es deiner Zuständigkeit, und du kannst zuschlagen.«

Er überlegte einige Sekunden. »Wir stehen vorläufig nur auf Abruf bereit. Viel Glück.« Ich hoffte, dass uns unser Glück nicht im Stich ließ.

KAPITEL FÜNFZEHN

Meine Stimme kriegt sie nicht

Als die Sonne wieder unterging, blieb ich noch fünfzehn Minuten im Bett liegen.

Ist euch schon mal aufgefallen, dass sich euer Bett in das platonische Ideal eines Betts verwandelt, wenn ihr aufstehen sollt, egal wie unbehaglich ihr euch gefühlt habt, als ihr schlafen gegangen seid – weil das Zimmer zu warm oder zu kalt war, die Kissen nicht in Ordnung waren, die Matratze uneben war, die Laken kratzig waren? Jetzt ist es angenehm kühl im Zimmer, das Bett ist weich, und euer Kissen könnte dem Herrn persönlich als Kopfauflage dienen. Die Verwandlung passiert natürlich zwangsläufig, wenn man aufwachen und aufstehen muss, obwohl nichts besser wäre, als sich unter einem Berg kühler Baumwolle zu verstecken – und vor allem dann, wenn man sich alternativ seiner kürzlich beendeten Affäre und deren Ex stellen muss.

Aber selbst Hüterinnen müssen sich wie Erwachsene benehmen, also setzte ich mich auf und warf die Decken beiseite.

Seit meinem letzten Lauftraining war schon über eine Woche vergangen. Da ich noch einige Stunden bis zu unserem Treffen vor der Versammlung hatte, zog ich einen Sport-BH, ein Tank-Top und Lauf-Shorts an, damit ich meine fünf Kilometer durch Hyde Park joggen konnte. Das Training mit Ethan oder den Wachen war natürlich anstrengend, aber nicht die Sorte, die die Muskeln und den Geist lockert. Es ging einfach nichts über einen Trab auf dem Bürgersteig, den Rhythmus der eigenen Atemzüge und eine ordentliche Portion Schweiß.

Doch zuerst brauchte mein Motor Nahrung. Ich war noch nicht bereit, mich den anderen Vampiren im Haus zu stellen oder gar ein Aufeinandertreffen mit Sheridan-Sullivan zu riskieren. Also entschloss ich mich, jedem nur erdenklichen Theater aus dem Weg zu gehen, das mich unten erwarten könnte, und mir mein Frühstück im ersten Stock zusammenzuklauben. Ich ging den Flur entlang und durch eine Schwingtür in die kleine, rechteckig geschnittene Küche. Ahornholzschränke mit Granitplatten standen zu beiden Seiten. Ein Kühlschrank und andere Gerätschaften waren in die Küchenschränke eingebaut, und auf den Arbeitsplatten standen Körbe mit Servietten, Zubehör und kleine Küchengeräte. An dem Kühlschrank klebten Magnete und Bestelzettel chinesischer, griechischer und italienischer Lieferdienste in Hyde Park. Das war der Vorteil, wenn man in der Nähe der Universität wohnte – die Studenten sorgten dafür, dass diese Lieferdienste rund um die Uhr geöffnet hatten, und wir waren dankbare Nutzer.

Ich ging zum Kühlschrank und öffnete ihn. Der Inhalt unterschied sich nicht von dem, was man in einem Bürogebäude vorfinden würde – eine Menge übrig gebliebenes Essen der Lieferdienste, Joghurtpackungen und halb gegessene Desserts, die mit Initialen markiert waren. Es waren die Überbleibsel vampirischer Mahlzeiten und Rendezvous, die man beschriftet hatte, um sie vor fremden Fangzähnen zu schützen.

Aber es gab auch eine Menge vom Haus zur Verfügung gestellter Leckereien, einschließlich unzähliger Blutbeutel mit Ausguss und kleinerer Trinkkartons. Ich brauchte einen Augenblick, um meinen Durst einzuschätzen, und entschloss mich dann dazu, meine Vorräte aufzufüllen. Ich nahm zwei Trinkkartons, schüttelte sie und stach den dazugehörigen Strohhalm hinein, nahm einen Schluck… und verzog das Gesicht. Ethan zu beißen war wie der Genuss eines auserlesenen Weins gewesen – kräftig, vielschichtig, berauschend. Aus einer Plastikbox zu trinken schmeckte so, wie es die Verpackung erahnen ließ – nach Plastik, steril, fade. Es schmeckte wie abgestorben, als ob das Blut jede Energie verloren hätte, die man gewann, wenn man direkt von der Quelle trank.

Aber da mir diese besondere Quelle nicht mehr zur Verfügung stand, schluckte ich es herunter und wiederholte den Vorgang mit dem zweiten Trinkkarton.

Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um persönlichen Vorlieben den Vorrang vor biologischen Bedürfnissen einzuräumen, vor allem nicht, wenn ich mir die körperlichen und emotionalen Herausforderungen vor Augen führte, denen ich mich in einigen Stunden stellen musste.

Ich warf die leeren Kartons in den Mülleimer und öffnete aus purer Neugier einige der oberen Schränke. Sie enthielten gesunde Knabbereien – Müsliriegel, Nüsse, eiweißreiche Zerealien, naturbelassenes Popcorn.

»Bäh«, murmelte ich, schloss die Schranktüren und verließ die Küche. Erst wenn sich Twinkies in den Schränken befanden, würde ich diesen Ort wieder aufsuchen. Ich machte mir eine mentale Notiz, Helen darauf anzusprechen, den guten Geist des Hauses.

Mit meinem Frühstück in der Tasche ging ich nach draußen. Es war eine warme und schwüle Juni-Nacht. Zwar war es noch nicht besonders spät, aber es war dennoch schon ruhig auf den Straßen.

Die Paparazzi komplett zu ignorieren hätte sie meiner Meinung nach zu neugierig gemacht, was unsere Aktivitäten betraf, also entschloss ich mich, die Straße hinunter und rechts zu der wartenden Gruppe an der Ecke zu laufen. Ich lächelte und winkte ihnen zu, als ich näher kam und die ersten Blitze aufleuchteten.

»He«, rief einer von ihnen, »es ist die schöne Rächerin.«

»Guten Abend, Gentlemen.«

»Ein Kommentar zur Schießerei in der Bar, Merit?«

Ich lächelte den Reporter nachdenklich an, einen ziemlich jung wirkenden Kerl in Jeans und T-Shirt, der einen laminierten Presseausweis um den Hals trug.

»Nur so viel: Ich hoffe, dass die Täter erwischt werden.«

»Ein Kommentar zu den Pfählungen in Alabama?«, fragte er.

Mir gefror augenblicklich das Blut in den Adern. »Welche Pfählungen?«

Der Mann neben ihm – älter, rundlicher, mit einem beachtlichen Krauskopf weißer Haare und einem Der Mann neben ihm – älter, rundlicher, mit einem beachtlichen Krauskopf weißer Haare und einem ähnlichen Schnurrbart – gestikulierte mit seinem kleinen Reporter-Notizbuch. »Vier Vampire wurden aus ihrem sogenannten ›Nest‹ geholt. Allem Anschein nach von einer Art Untergrundbewegung, die sich gegen Blutsauger richtet.«

Gabriels Sorgen über diese Gerüchte waren also berechtigt gewesen. Vieleicht war es nur ein Einzelfall. Vieleicht war es ein schrecklicher, aber rein zufälliger Gewaltakt, der nicht den Anfang eines drohenden Sturms bedeutete, der uns alle zu verschlingen drohte.

Aber vieleicht war es kein Zufall.

»Ich habe davon noch nichts gehört«, sagte ich leise, »aber meine Gedanken und Gebete sind bei ihren Freunden und ihrer Familie. Diese Art von Gewalt, die nur aus Vorurteilen erwächst, ist unentschuldbar.«

Die Reporter schwiegen einen Augenblick, während sie meinen Kommentar notierten. »Ich muss leider los. Vielen Dank für die Information, Gentlemen.«

Sie riefen meinen Namen und versuchten, weitere Fragen zu stellen, bevor ich in die Nacht verschwand, aber ich hatte meine Pflicht erfüllt. Ich brauchte diesen Lauf, die Chance, meinen Kopf freizubekommen, bevor ich ins Haus Cadogan zurückkehren und mich dem Theater stellen musste, das mich dort ohne jeden Zweifel erwartete – ob nun politischer Natur oder nicht.

Der erste Kilometer fühlte sich nicht gut an – machbar, vor allem als Vampir, aber schmerzhaft, wie es der erste Kilometer oft ist. Aber schließlich fand ich meinen Rhythmus, und meine Atemzüge und meine Laufschritte passten sich einander an. Ich lief eine Runde durch die Nachbarschaft, mied aber die Universität, denn die Wunde, nicht mehr als Doktorandin in meiner Alma Mater eingeschrieben zu sein, war noch zu frisch.

Eine leichte Brise war aufgekommen, als ich zum Haus Cadogan zurückkehrte und den Wachen zunickte, bevor ich das Anwesen wieder betrat. Ich versuchte, meine Atmung zu verlangsamen, und ging einige Schritte, die Arme in die Seiten gestemmt. Als Vampir musste ich schneller rennen, um meinen Puls auf Touren zu bringen, und ich war mir nicht sicher, ob es überhaupt etwas gebracht hatte, aber ich fühlte mich besser, weil ich es getan hatte. Es fühlte sich gut an, der Enge des Hauses Cadogan für eine kurze Zeit zu entkommen und sich einfach nur auf das Laufen und den Rhythmus und die eigenen Bewegungen zu konzentrieren.

Da auf meiner To-do-Liste Körperhygiene als Nächstes stand, kehrte ich in mein Zimmer zurück, um zu duschen. Zumindest schaffte ich es bis zur Tür.

An jedem Studentenwohnheimzimmer befand sich ein kleines Schwarzes Brett. An meinem war ein Flyer befestigt – aus schwerem Tonkarton –, auf dem in kunstvoller Schreibschrift geschrieben stand: Begrüßt die Meisterin!

Wir laden Euch herzlich ein, am Samstag um 22 Uhr Lacey Sheridan zu begrüßen, Meisterin des Hauses Sheridan.

Cocktails und Musik

Freizeitkleidung

Ich verdrehte die Augen, riss die Einladung ab und ging einen Schritt zurück, um den Flur entlangzusehen. Der gleiche schwarzweiße Flyer war an allen Schwarzen Brettern angebracht, die ich von meiner Tür aus sehen konnte – eine Werbeaktion in letzter Minute. Ich fragte mich, ob das seine Idee gewesen war – eine Chance, den Novizen des Hauses Cadogan zu zeigen, zu welchem Team er gehörte?

Mich interessierte vor allem, wie verpflichtend dies war. Musste ich etwa anwesend sein? Einen Toast auf Lacey Sheridan ausbringen? Ihr ein Geschenk mitbringen?

Ich zerknüllte die Einladung, öffnete meine Zimmertür und ging hinein, doch bevor ich sie wieder schließen konnte, hörte ich Schritte auf dem Flur. Durch diesen Teil des Gebäudes gingen nur selten Vampire, und deswegen warf ich neugierig einen Blick durch den Türspalt … und bekam etwas geboten.

Ethan und Lacey gingen nebeneinander den Flur entlang. Ethan trug Jeans und ein eng anliegendes, langärmeliges Shirt in einem hellen Rauchgrün. Die Haare hatte er zurückgebunden, und um seinen Hals hing sein Cadogan-Medaillon. Er machte einen sehr lässigen Eindruck, und ich ging davon aus, dass er das auch zur Versammlung tragen würde.

Lacey trug ein graues Tweedkostüm mit einem modern gefalteten Ausschnitt und ein Paar gemusterte schwarze Stöckelschuhe. Jede einzelne Strähne ihrer blonden Haare war am vorgesehenen Platz, und ihr Make-up sah so perfekt aus wie bei den Models, denen man alle Makel mit dem Computer wegretuschiert hatte.

»Es sollte dich beunruhigen«, sagte Lacey gerade.

»Was meinst du damit?«, fragte Ethan.

»Hüterin oder nicht, sie ist gewöhnlich, Ethan. Eine gewöhnliche Kriegerin. Ich muss gestehen, dass ich den Wirbel überhaupt nicht nachvollziehen kann.«

Mir blieb ungläubig der Mund offen stehen. Hatte sie mich gerade als gewöhnlich bezeichnet?

»Ich bin mir nicht sicher, ob gewöhnlich das Wort wäre, das ich mit Merit in Verbindung bringen würde, Lacey. Ich leugne nicht, dass sie eine Soldatin ist, aber ich glaube nicht, dass gewöhnlich ihr gerecht wird.«

»Trotzdem – Muskelkraft macht noch keine Meisterin.«

»Nun, entweder wird sie eines Tages die Aufnahmeprüfung ablegen oder nicht.«

Lacey kicherte. »Du meinst, entweder nominierst du sie oder nicht.«

Lacey war die einzige andere Meistervampirin, die Ethan in seinen fast vierhundert Jahren als Vampir nominiert hatte. Er selbst hatte die Aufnahmeprüfung nicht abgelegt. Meister wie Ethan und Morgan, die nach dem Tod ihrer eigenen Meister aufgestiegen waren, durften die Prüfung übergehen.

Ärgerlicherweise schien sie sich sicher, dass Ethan mich nicht nominieren würde.

»Zugegeben, sie ist jung«, sagte Ethan. »Sie muss noch eine Menge lernen, bis sie so weit ist – eine gehörige Portion Unsterblichkeit hinter sich bringen. Nur die Zeit kann diese Frage beantworten. Aber ich glaube, sie wird sich als fähig erweisen.«

Er wählte diesen Moment, um aufzublicken – und merkte, wie ich ihn durch den Türspalt betrachtete.

Im Bruchteil einer Sekunde traf ich eine Entscheidung und öffnete die Tür, als ob ich gerade nach draußen unterwegs wäre.

Ethan hob überrascht die Augenbrauen. »Mer… – Hüterin?«

Lacey trat hinter ihn.

Ich spielte die Unschuldige. »Oh, hallo. Ich war gerade auf dem Weg nach draußen.«

Sie betrachteten meine verschwitzten Trainingsklamotten, und ich fühlte mich wie die Heldin in einem John-Hughes-Film: verlegen, peinlich berührt und vor Angst wie gelähmt.

»Nach draußen?«, wiederholte er.

Denk nach!, verlangte ich innerlich von mir, und als mich der geniale Einfall überkam, nickte ich, griff nach hinten und zog meinen rechten Fuß hoch, um zu zeigen, dass ich ihn dehnen wollte. »Ich war gerade laufen und wollte noch die Treppe runter, um ein paar Dehnübungen zu machen.«

Ethan runzelte die Stirn und wirkte plötzlich besorgt. Würde es ihm etwas aus-machen, wenn er wüsste, dass ich ihr Gespräch mitgehört hatte? Würde es ihn belasten, wenn sie mich verletzt hätte?

»Wirst du uns vorstellen?«, fragte Lacey.

Einen Sekundenbruchteil lang legte ich den Kopf zur Seite, lange genug, damit er sehen konnte, sie aber nicht, dass mir eine hämische Frage auf den Lippen lag: Genau, Ethan. Wirst du uns vorstellen?

»Lacey Sheridan«, sagte sie und nahm Ethan die Entscheidung ab. Sie reichte mir nicht die Hand, sondern stand einfach nur selbstgefällig da, als ob die bloße Erwähnung ihres Namens mich richtig umhauen würde.

»Merit. Hüterin«, erwiderte ich, nur für den Fall, dass sie daran erinnert werden musste, dass ich diesen Posten in Ethans Haus hatte. Ich verkniff mir ein Lächeln, als ich merkte, wie ihr Kinn nervös zuckte.

»Ich war auch bei der Wache«, sagte sie und musterte mich von Kopf bis Fuß wie ein Angreifer, der seinen Gegner einzuschätzen versucht. Kämpften wir um Ethan? Um die Überlegenheit hier im Haus?

Worum auch immer – ich würde nicht mitspielen. Ich hatte ales gesetzt und meinen gesamten Jeton-Vorrat verloren.

»Das habe ich gehört«, sagte ich höflich. »Ich bin mit Lindsey befreundet. Sie waren mit ihr zusammen bei der Wache, wenn ich das richtig verstanden habe, bevor Sie sich der Aufnahmeprüfung gestellt haben.«

»Ja, ich kenne Lindsey. Sie ist auf Wache sehr zuverlässig. Besonders geschickt, wenn es darum geht, Beweggründe herauszufinden.« Sie sprach die Bewertung Lindseys so aus, als ob sie nach einem professionellen Gutachten gefragt worden wäre und nicht eine Freundin oder Kollegin beurteilte.

Ich richtete meinen Blick wieder auf Ethan. »Ich nehme an, du hast von Alabama gehört?«

Seine Miene verdüsterte sich. »Das habe ich. Gabriels Gerüchte?«

Ich nickte. »Das war mein Eindruck.«

Er holte tief Luft und nickte dann. »Es ist, wie es ist. Ich möchte mich innerhalb einer Stunde auf den Weg zur Kirche machen.«

»Lehnsherr«, sagte ich gehorsam. Er knurrte nicht wirklich, aber meine folgsame Art verärgerte ihn offensichtlich. Ich lächelte, als ich sie stehen ließ.

Ich hatte geduscht, mich angezogen – Jeans, Stiefel und ein Tank-Top unter meine Lederjacke – und war auf dem Weg nach unten in Ethans Büro, als mein Handy klingelte. Ich zog es aus der Tasche und sah auf das Display. Es war Malory.

»He!«, lautete meine Begrüßung.

»Ich weiß, du bist auf dem Sprung, aber ich bin gleich vor Haus Cadogan. Catcher will mit Ethan sprechen, und ich hab was für dich. «

»Etwas Leckeres?«

»Liebst du mich nur wegen meiner Kochkünste?«

»Nun, nicht nur, aber ich gebe zu, dass das einer der Gründe ist.«

»Solange es viele davon gibt, und sie nicht alle gleich lauten… Beweg deinen Hintern nach draußen.«

Ich wusste, wann ich einem Befehl Folge zu leisten hatte. Ich klappte das Handy zu, steckte es wieder in die Tasche und ging zur Vordertür. Im Foyer war kein Meistervampir zu sehen, weswegen ich das Gebäude verlassen konnte, ohne mir weiteres Theater antun zu müssen.

Malory stand in Röhrenjeans und einem langen Tank-Top am Tor, die Arme in die Seiten gestemmt.

Sie schien den Wächter auszufragen. Ich hüpfte die Stufen hinunter und ging über den Fußweg zum Tor. Catcher trat neben sie, als ich sie gerade erreichte. Vermutlich hatte er den Wagen geparkt, und sein Gesichtsausdruck zeigte eine Mischung aus Belustigung und Resignation.

»Ich habe gehört, dass ihr Leute den dritten Schlüssel richtig gut beherrscht«, sagte sie gerade. »Habt ihr da einen Tipp für mich?«

Der Feensöldner am Tor starrte sie boshaft von oben herab an. »›Ihr Leute‹?«

Malory grinste. »Entschuldige, es ist nur so, dass eure Traditionen so interessant sind. So natürlich. So waldig. Hättet ihr vieleicht Lust und Zeit, mir ein paar Dinge …«

Mit einem »Okay« unterbrach Catcher ihren Wortschwall, legte ihr die Hände auf die Schultern und drehte sie in Richtung Haus. »Genug davon. Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er zu dem Wächter und lenkte Malory zum Fußweg.

»Na, neue Freunde?«, fragte ich.

»Sie sind ein wirklich faszinierendes Volk.«

»Ich wette darauf, dass sie gerne bei ihrem Namen genannt werden.«

Malory warf Catcher einen nüchternen Blick zu. »Kennst du seinen Namen?«

Er sah mich an. Ich zuckte mit den Achseln. »Ich arbeite hier nur.«

»Diskriminierung zwischen den übernatürlichen Spezies scheint in diesem Land immer noch an der Tagesordnung zu sein«, sagte Malory, bevor sie zu bemerken schien, dass ich Lederklamotten anhatte und mein Schwert in der Hand hielt. »Du siehst aus, als ob du ein paar Formwandler jagen wolltest.«

»Lasst uns mal hoffen, dass es nicht dazu kommt. Du bist heute Abend nicht in Schaumburg?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe heute Abend wieder Praktikum, das heißt, ich soll zu Hause Tränke und dergleichen zubereiten.«

»Viel Glück dabei.«

»Viel Glück mit den Formwandlern. Darum bin ich übrigens hier.« Sie schob ihre Finger in die enge Tasche an ihrer Hüfte und kramte darin herum. »Streck deine Hand aus.«

Ich hob skeptisch eine Augenbraue, tat aber wie geheißen. Malory zog etwas hervor und legte es auf meine Hand.

Es war ein sehr altes Armband – eine Kette mit goldenen Gliedern, die das lange Tragen hatte dunkler werden lassen, und einem runden Medaillon. Ich hielt es hoch. Das Bild eines Vogels war darin eingraviert.

»Das ist ein Schutzzauber.«

»Ein was?«

»Ein Schutzzauber. Er soll dir Glück bringen und böse Kräfte abwehren.« Sie beugte sich vor und deutete auf die Gravur. »Das ist ein Rabe, ein Schutzzeichen. Ich habe das Armband im skandinavischen Viertel gefunden.«

Ich runzelte verwirrt die Stirn. »Chicago hat ein skandinavisches Viertel?«

»Nee«, sagte Catcher. »Aber der Laden war neben einem Restaurant, das Rollmöpse anbietet. Sie hat beschlossen, dass es sich um das skandinavische Viertel handeln muss.«

»Zuerst schiebst du Möbel in der Gegend herum, dann sind es ganze Stadtviertel.«

»Ich bin ein Durchstarter«, sagte sie. »Egal, ich habe etwas Magie des zweiten Schlüssels hinzugefügt. Bitte schön.«

»Nun, das ist sehr aufmerksam von dir, trotz der überflüssigen neuen Stadtplanung. Danke, Malory.«

Sie zuckte mit den Achseln. »Ich wollte dir noch eine Eisenhut-Tinktur geben, aber der Spielverderber hat Nein gesagt.«

»Eisenhut?«, fragte ich und sah sie beide an.

»Es ist giftig für Formwandler. Früher nannte man es Wolfswurz«, sagte Catcher und verdrehte die Augen.

Ich nickte wissend. »Ja, es gehört sich vermutlich nicht, Wolfsgift bei einer Formwandlerversammlung zu tragen.«

»Ich hätte ja nur ein bisschen draufgetan«, sagte Malory. »Nicht genug, um jemandem wirklich Magenschmerzen zu bereiten, und schon gar nicht genug, um jemanden damit umzubringen. Muss ja keiner was von wissen.«

»Es ist doch besser, beim Raben zu bleiben. Danke, dass du es mir vorbeigebracht hast.« Ich hielt ihr mein rechtes Handgelenk hin, damit sie mir das Armband umlegen konnte, und sah auf, als Catcher leise und warnend pfiff.

»Wir haben Gesellschaft«, sagte er, und da er zur Vordertür blickte, konnte ich mir denken, wer es war.

»Oh, sie ist hübsch«, flüsterte Malory, als sie aufsah, nachdem sie das Armband fest verschlossen hatte. »Wer ist sie?«

»Das müsste Lacey Sheridan sein.«

Malory blinzelte mich an. »Lacey Sheridan? Die Vampirin, die Ethan …«

Ich unterbrach sie mit einem Nicken.

»Wolltest du mir noch erzählen, dass seine Ex in der Stadt ist?«

»Ich war davon ausgegangen, dass du zum Thema Merit und Demütigung für diese Woche genug hast.«

Sie tätschelte meinen Arm. »Red keinen Unsinn. Die Demütigung eines Vampirs ist wie ein guter Wein. Man sollte sie mit Freunden teilen.«

Ich streckte ihr die Zunge heraus, aber Catcher schüttelte seine Hand. »Da sind sie«, warnte er. »Setz dein fröhliches Gesicht auf.«

Ich setzte ein falsches Lächeln auf und drehte mich um, um sie zu begrüßen.

Ethan deutete mit seiner freien Hand auf Lacey. In der anderen hielt er sein Katana.

»Malory Carmichael und Catcher Bel«, sagte er. »Catcher, ich glaube, du und Lacey habt euch kennengelernt, als sie im Haus war.«

»Japp.« Mehr sagte Catcher nicht. Er machte sich auch nicht die Mühe, ihr die Hand zu geben.

»Es freut mich, dich wiederzusehen, Catcher.«

Er nahm ihre Begrüßung kaum zur Kenntnis, und mir wurde warm ums Herz.

Catcher war schroff, sicher, aber das ging normalerweise nicht so weit, dass er Leute brüskierte, zumindest, soweit ich es mitbekommen hatte. Ich hatte ihm und Malory vieleicht viel Mist an den Kopf geknallt, was ihren nackten Blödsinn betraf, aber er wusste, zu welchem Team er gehörte.

»Malory ist Merits frühere Mitbewohnerin«, sagte Ethan zu Lacey, »und seit Kurzem als Hexenmeisterin anerkannt. Sie ist momentan bei einem Vertreter des Ordens in Schaumburg in Ausbildung.«

Lacey neigte den Kopf zur Seite. »Ich dachte, der Orden hätte keine Vertretungen in der Nähe von Chicago.«

Malory legte eine Hand auf Catchers Arm, bevor er Lacey anknurren konnte, aber man konnte ihm deutlich ansehen, dass er gerne einen Schritt auf sie zu gemacht hätte. Catcher war wegen Umständen aus dem Orden geworfen worden, die mir nicht ganz klar waren, aber die Tatsache, dass der Orden kein Büro in Chicago unterhielt, hatte etwas damit zu tun.

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Malory, »und es freut mich, dich kennenzulernen.« Sie sah Ethan an. »Wirst du dich heute Abend um mein Mädchen kümmern?«

»Ich kümmere mich immer um meine Vampire.«

Malory lächelte ihn zuckersüß an. »Aller Gegenbeweise zum Trotz.«

Catcher legte Malory eine Hand auf die Schulter und sah Ethan ernst an. »Wir sind eigentlich aus einem anderen Grund hier, als dich zu kritisieren, und der Grund ist kein erfreulicher. Man hat in einem Lagerhaus acht Blocks von der Bar entfernt eine Leiche gefunden. Es war Tony.«

Ethan atmete tief durch. »Das beunruhigt mich aus mehreren Gründen, und einer davon ist sicherlich die Tatsache, dass er unser Hauptverdächtiger gewesen ist.«

»Er könnte trotzdem hinter dem Anschlag gesteckt haben«, merkte ich an.

»Aber vieleicht ist jemand anders damit nicht glücklich gewesen – oder wollte ihn zum Schweigen bringen.«

Catcher nickte. »Zumindest ist mehr als eine Person an dem Chaos unter den Formwandlern beteiligt.«

»Weiß Gabriel Bescheid?«, fragte Ethan.

Catcher nickte. »Jeff hat ihn eben angerufen.«

»Das ist nicht die Sorte Information, die ich zwei Stunden vor dieser Versammlung haben will.«

»Nein«, stimmte ihm Catcher zu, »das ist sie nicht. Und das wird heute Abend vermutlich nicht dein einziges Problem sein.«

»Ich denke, es gibt Schwierigkeiten«, sagte Lacey, die sich offensichtlich am Gespräch beteiligen wollte. »Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass der erste Angriff reiner Zufall war, und da die Täter die Versammlung nicht verhindern konnten, gehe ich davon aus, dass eine zweite Attacke bevorsteht.«

»Wir haben für Verstärkung gesorgt«, sagte Ethan, doch sein Blick war auf den Rasen gerichtet und ausdruckslos, als ob er unangenehme Entwicklungen voraussähe. »Wachen von Grey und Navarre. Wir halten die Kommunikation offen.«

»Mehr kann man nicht machen«, sagte Catcher.

Wir standen einen Augenblick schweigend da und dachten vermutlich alle daran, was diese Nacht auf uns zukommen konnte.

»Ich werde mich kurz um Lacey kümmern, damit sie in meinem Büro arbeiten kann, während wir weg sind«, sagte Ethan und sah mich an. »Wir treffen uns in fünf Minuten an der Treppe.«

»Lehnsherr«, sagte ich und verbeugte mich mit perfekter ›Entgegenkommender Dankbarkeit‹.

Seine Oberlippe verzog sich, offensichtlich war er unzufrieden, aber nachdem er Malory und Catcher zum Abschied gewunken und Lacey und Malory sich unbeholfen voneinander verabschiedet hatten, begleitete er Lacey zurück ins Haus.

»Lehnsherr?«, wiederholte Catcher. »Ich wette, ich kann an einer Hand abzählen, wie oft ich dich das habe sagen hören.«

»Ich habe mich entschieden, gehorsam zu sein«, sagte ich, ohne den Blick von den beiden Meistern zu wenden.

Catcher grinste bösartig. »Ich wette, das macht ihn richtig sauer.«

Ich grinste zurück. »Ich glaube, er hasst es. Was es natürlich umso unterhaltsamer macht.«

»Und da er Merit die Gehorsame seit dem Tag haben wollte, als sie Haus Cadogan zum ersten Mal betreten hat«, merkte Malory an, »ist es nicht einmal kindisch. Du gibst ihm einfach nur das, um was er dich gebeten hat.«

»Exakt«, stimmte ich ihr mit einem Nicken zu, obwohl ich nicht ganz ihrer Meinung war – es machte Spaß, offensichtlich, und es war irgendwo auch angebracht, aber es war trotzdem kindisch.

»Weißt du«, sagte Malory und neigte den Kopf zur Seite, während sie die beiden entschwinden sah, »sie ist so blond und altmodisch … wie eine Anwältin oder so. Und das ist kein Kompliment.«

»Das sind auch Blutsauger«, murmelte Catcher.

Ich tätschelte seinen Arm. »Weißt du, das war sehr süß von dir, was du eben getan hast. Zu Fräulein Sonnenschein böse zu sein.«

»Bild dir bloß nichts ein. Das heißt nicht, dass ich auf deiner Seite bin«, sagte Catcher und nickte in Richtung Malory. »Ich würde eine Woche lang auf der Couch schlafen, wenn ich nicht auf ihrer Seite wäre.«

»Und meine Seite ist deine Seite«, fasste Malory zusammen und streckte mir die Arme entgegen.

»Wir müssen los. Ich muss mit dem Kochen anfangen. Sei heute Abend ein braves Mädchen, okay?«

Ich ging auf sie zu und umarmte sie, bevor ich wieder einige Schritte zurücktrat. »Ich werde so brav wie möglich sein, und ich würde euch um dasselbe bitten.« Ich starrte sie so mütterlich an, wie ich nur konnte.

Catcher lachte schnaubend. »Wenn wir nicht nackt Twister spielen, gammeln wir in unseren wachen Stunden rum.«

»Japp«, sagte Malory, als sie ihn den Fußweg entlangzerrte, »das ist die Liebe meines Lebens. Tief innen drin ist er ein Romantiker.«

Ethan hielt sein Wort und wartete fünf Minuten später auf mich in der Lobby ohne die Meisterin des Hauses Sheridan, doch Luc und Malik folgten ihm. Luc trug Jeans und ein weißes T-Shirt. Malik – groß gewachsen, dunkelhäutig, grüne Augen – trug eine schwarze Anzughose, schwarze Schuhe mit eckiger Kappe und ein frisches weißes Hemd, dessen erster Knopf geöffnet war und so den Blick auf sein Cadogan-Medaillon freigab. Malik war nicht nur der einzige verheiratete Vampir in meinem Bekanntenkreis, er war auch einer der bestaussehenden – rasierter Kopf, große, strahlende Augen, hohe Wangenknochen. Ich hatte aber noch keinen anderen Vampir getroffen, der ein so ernstes Gesicht machte.

»Ich glaube, wir sind so weit«, sagte Ethan und sah uns der Reihe nach an.

»Malik, ich übergebe das Haus vertrauensvol deiner Fürsorge. Luc, stell den Kontakt zu unseren Leuten her. So Gott will, werden wir sie nicht brauchen. Aber nur für den Fall …«

»Schon erledigt«, sagte Luc. »Wir haben uns eben abgesprochen und sind in ständigem Kontakt. Grey und Navarre sind einsatzbereit. Habt ihr beide eure Ohrhörer?«

Wie gehorsame Studenten zogen wir unsere Ohrhörer hervor, die wir in unseren Taschen untergebracht hatten, und zeigten sie Luc.

»Brave Kinder«, sagte er leise lachend. »Ihr braucht sie nicht einzustöpseln, bevor ihr vor Ort seid. Am besten macht ihr das in einem unbeobachteten Moment, wenn euch keine Formwandler im Nacken sitzen. Sonst könnten sie auf die Idee kommen, wir wären hinterhältiger, als sie es ohnehin schon glauben. Sobald ihr die Ohrhörer eingestöpselt habt, sind wir am anderen Ende.«

»Sol ich noch mal versuchen, Darius zu erreichen?«

Wir drehten uns alle zu Malik. Darius war der Vorsitzende des Greenwich Presidium, der Regulierungsbehörde aller Vampire Westeuropas und Nordamerikas.

Ethan schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt. Wir haben einmal versucht, ihn zu erreichen, und er hat sich nicht gemeldet. Wir haben den Punkt erreicht, wo es besser ist, später um Verzeihung zu bitten, als jetzt um Erlaubnis zu fragen.«

»Du glaubst, er könnte Nein sagen?«, fragte ich. Ethan warf mir einen Blick zu.

»Ich glaube, das Greenwich Presidium ist in seiner momentanen Zusammensetzung unberechenbar. Wenn wir ihnen erzählen, dass wir uns auf Formwandler einlassen – dass wir Hunderten von Formwandlern strategische Unterstützung zukommen lassen –, dann drücken wir beim Presidium den Alarmknopf.«

»Dann ist die Kacke am Dampfen«, übersetzte Luc.

Als ich zum Zeichen nickte, dass ich verstanden hatte, atmete Ethan tief ein.

»Wenn ihr euch mit euren entsprechenden Aufgaben wohlfühlt, dann sollten wir losziehen.«

»Viel Glück«, sagte Luc und klopfte mir auf die Schulter. »Tritt sie in den Arsch, Hüterin.«

»Ich hoffe wirklich, dass es nicht dazu kommt.«

»Da sind wir schon zwei«, sagte Ethan. Er und Malik tauschten noch einige geflüsterte Worte aus – was vermutlich zu den Ritualen gehörte, wenn Ethan das Haus Maliks Fürsorge übergab –, und dann gingen wir die Treppe hinab in den Keller.

KAPITEL SECHZEHN

Die großen, bösen Wölfe

Wir fuhren schweigend ins Ukrainian Village. Als wir dort ankamen, parkte Ethan den Wagen an der Straße. Wir waren zu früh für die Versammlung der Rudel, aber für den Rest des Viertels war es schon recht spät am Freitagabend, und daher gab es kaum Verkehr, und es war recht ruhig. Wir stiegen aus, gürteten unsere Katanas um und gingen zur St. Bridget’s Cathedral, die durch die Straßenlaternen und Scheinwerfer auf dem Außengelände gut beleuchtet war.

Ich blieb einen Moment stehen, um zu der Kathedrale hochzusehen.

»Kathedrale« war definitiv eine passende Bezeichnung. St. Bridget’s war ein bezauberndes Gebäude, mit pfirsichfarbenen Steinen und einer Reihe von Türmen, deren türkisfarbene Kuppeln etwas von einer Skimütze hatten. An der Front befand sich ein riesiges buntes Kirchenfenster, auf dessen drei rechteckigen Scheiben eine idyllische Szene mit Bäumen und Schmetterlingen dargestellt war, mit einem friedlich daliegenden Rehkitz in der Mitte.

Die Kirche war ein architektonisches Juwel inmitten eines Arbeiterviertels, wie ein Relikt aus einem uralten Märchen – eine Seite, die im Buch der Geschichte vergessen worden war aufzuschlagen und die aus den tiefen Wäldern Osteuropas an die West Side von Chicago gebracht worden war.

In einer Hinsicht war die Kirche aber genauso wie das Viertel, das sie umgab – hier war es sehr, sehr leise. Ich erwartete ja keine Demonstranten und Proteste, aber ausgehend von dem, was ich bisher erlebt hatte, schienen mir Formwandler nicht die Sorte Übernatürliche zu sein, die an diese Nacht ruhig herangehen würden.

»Ich bleibe dabei: Ich finde es seltsam, dass sie sich in einer Kirche treffen«, sagte ich.

»Es ist ungewöhnlich«, sagte Ethan neben mir, »aber diese Entscheidung hatten nicht wir zu treffen.«

Wir standen schweigend einen Augenblick lang da, lange genug, dass ich zu ihm hinübersah. Ich merkte, dass er mich betrachtete.

»Was?«, fragte ich.

Er sah mich ausdruckslos an.

»Wir sind geschäftlich hier.«

»Ich möchte die Sache zwischen uns klargestellt haben.«

»Die Sache ist so klar, wie sie klarer nicht sein könnte. Wir haben einen Fehler gemacht. Wir haben das in Ordnung gebracht, also können wir weitermachen, okay?«

»Einen Fehler.« Er besaß tatsächlich die Frechheit, überrascht über meine Antwort zu klingen, aber das kaufte ich ihm nicht ab. Er hatte das Wort »Fehler« während seiner Selbstmitleidsnummer nach der Party bei den Breckenridges zwar nicht ausgesprochen, aber im Endeffekt hatte er genau das gesagt.

»Einen Fehler«, wiederholte ich. »Können wir uns jetzt an die Arbeit machen?«

»Merit …«, fing er an, Bedauern in der Stimme, aber ich hielt eine Hand hoch. Sein Schuldgefühl würde mich auch nicht besser fühlen lassen.

»Lass uns arbeiten.«

Wir gingen die Treppenstufen hinauf zu den Flügeltüren aus Schiefer an der Kirchenvorderseite. Ich nahm an, dass sich die Leute hier nach den Messen versammelten, vielleicht, um den Geistlichen die Hand zu schütteln oder sich zum Mittag- oder Abendessen zu verabreden.

Die Tür stand offen und mündete in einen kleinen Empfangsraum, an dessen Wänden Schilder hingen, die den Gemeindemitgliedern die Richtung der Kindertagesstätte und des Morgenkaffees wiesen.

Wir gingen durch eine zweite Tür hindurch, und mir blieb der Mund offen stehen, als ich an Ethan vorbeiging, um den Anblick zu genießen. Das Äußere der Kirche war beeindruckend, aber nichts im Vergleich zu ihrem Inneren. Der Altarraum wirkte wie eine Schatztruhe: mit glänzenden Steinböden, bunten Kirchenfenstern, golden gerahmten Ikonen, vergoldeten Nischen und Fresken. Glänzende Säulen und verzierte Messinggitter trennten die Gangreihen voneinander ab.

Robin, Jason, Gabriel und Adam standen an der Frontseite des Altarraums, aber es war Berna, die unsere Aufmerksamkeit als Erste auf sich lenkte.

»Du wirst jetzt essen«, sagte sie, baute sich vor uns auf und streckte mir eine Wegwerfaluminiumschale entgegen. Die Schale war mit Folie bedeckt, aber sie dampfte vor Hitze, und ich konnte riechen, was sich darunter verbarg: Fleisch, Kohl, Gewürze – osteuropäische Leckereien.

»Nimm das«, sagte sie und schob mir die kochend heiße Schale in die Hand.

»Ich weiß deine Fürsorge sehr zu schätzen, aber du musst mir nicht immer etwas kochen.«

Sie schnalzte mit der Zunge. »Zu dünn«, sagte sie, streckte zwei knubblige Finger nach meinem Arm aus und kniff zu. Fest zu.

»Autsch!«

»Kein Fleisch«, sagte sie missbilligend. »Kein Fleisch auf deinen Knochen, du findest nie einen Mann.« Dann warf sie mit gehobener, blond gefärbter Augenbraue einen abwägenden Blick auf Ethan. »Du bist … ein Mann.«

Nicht, dass ich ihr widersprochen hätte, aber da brachte sie die falschen Leute zusammen.

»Vielen Dank, Berna«, sagte ich und hoffte, ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich zu lenken und sie von ihrer Kupplertätigkeit abzulenken.

Langsam, als ob sie mir auf die Schliche gekommen wäre, richtete sie ihren Blick wieder auf mich und musterte mich eingehend, wenn auch nicht gerade schmeichelhaft. Nachdem sie erneut mit der Zunge geschnalzt hatte, ging sie an uns vorbei und verschwand in der Eingangshalle.

Ich sah zu Ethan hinüber und hielt ihm die Kohlrouladen hin. »Soll ich die einfach in den Wagen legen, solange wir hier sind?«

Er wurde blass, denn ihm schien die Idee überhaupt nicht zu gefallen, dass sein Mercedes wie das Hinterzimmer einer ukrainischen Kneipe riechen könnte.

»Guten Abend, Vampire.« Ich drehte mich um und sah, wie Adam grinsend auf die Schale in meinen Händen blickte. Er war schlicht gekleidet – ein Karohemd über einem grauen T-Shirt und Jeans mit schweren schwarzen Stiefeln.

Seiner wölfischen Attraktivität tat das keinen Abbruch.

»Guten Abend.« Ich hielt ihm die Schale hin. »Sie drückt mir andauernd Essen in die Hand.«

»So ist Berna. Sie zeigt dir damit, dass sie dich gern hat.«

Meiner Figur schien sie mit weniger Sympathie zu begegnen. Ungeachtet dessen musste ich jedoch erst einmal die dampfende Schale in den Griff bekommen. »Kann ich das irgendwo für ein paar Stunden abstellen?«

»Glaubst du, Kohlrouladen in der Hand zu halten, wird deinen vampirischen Zauberkräften Probleme bereiten?«

»Es wird mir ein wenig schwerer fallen, mein Schwert zu benutzen.«

»Nun, das wollen wir natürlich auf gar keinen Fall«, sagte er geziert. »Ich bring dich in die Küche, und dort kannst du es abstellen. Dann haben wir auch die Gelegenheit, uns die Kirche näher anzusehen.«

»Danke.«

Ich warte hier, sagte Ethan in meinem Kopf. Ich möchte mit Gabriel über Tony sprechen.

Viel Glück, wünschte ich ihm und fragte mich, ob die Beinahe-Schlägerei bei den Breckenridges wirklich Vergangenheit war oder ob Gabriel uns das vorhalten würde. Andererseits hatte er sich nicht dagegen entschieden, dass wir ihm Schutz boten, und musste sich dementsprechend wohlgefühlt haben.

Bleib wachsam!

Lehnsherr, antwortete ich pflichtbewusst.

Ich folgte Adam den Gang auf der linken Seite der Kirche entlang und winkte Gabriel und Jason kurz zu, als wir an ihnen vorbeikamen. Adam ging durch eine Tür in den Seitenflügel, den Luc uns vorhin gezeigt hatte. Es war offensichtlich, dass wir uns vom Originalbau in den renovierten Teil von 1970 begaben. Wo die Kirche geradezu verschwenderisch eingerichtet war, kannte der Seitenflügel nur gerade Linien und wirkte irgendwie steril. Funktion hatte über Form gesiegt, von den industriel hergestellten Bodenteppichen bis hin zu den Wänden aus Schlackenbeton.

Doch als wir an der Kindertagesstätte vorbeikamen, wurde mir klar, dass die Gemeindemitglieder sich weniger Gedanken darüber machten, wie die Kirche aussah, als darüber, was in ihr geschah. Ich blieb vor einer offenen Tür stehen und warf einen Blick hinein. Zeichnungen und Unterrichtsplakate hingen an den Wänden. Tische und Stühle im Kleinkindformat standen verteilt im Raum, und zerknautschte Stofftiere und abgenutzte Holzklötze waren ordentlich auf einer Fensterbank gestapelt.

»Sie sind eine eng verbundene Gemeinschaft«, sagte Adam neben mir.

»Das kann man sehen.«

Als wir genug gesehen hatten, ging Adam den Flur weiter entlang und bog dann in eine Großküche ab, die eindeutig für die Versorgung einer großen, hungrigen Gemeinde gedacht war. Er hielt die Kühlschranktür auf, während ich die Schale auf eine Ablage stellte. Dann schloss er die Tür und lehnte sich an eine der Kücheninseln aus rostfreiem Stahl in der Mitte des Raumes.

Ich entdeckte ein Schwarzes Brett an der gegenüberliegenden Wand und ging hinüber, um es mir Ich entdeckte ein Schwarzes Brett an der gegenüberliegenden Wand und ging hinüber, um es mir anzusehen. Ein Anmeldeformular für ein Mittagessen nach der Messe hing neben einem Aufruf, Konserven für einen guten Zweck zu spenden. Eine Hand wäscht die andere, dachte ich.

Und wo wir gerade bei solchen Themen waren, entschloss ich mich, die Gelegenheit zu nutzen und ein wenig mehr über Adam und seine Leute herauszufinden. Ich fing mit Geografie an.

»Hör mal, ich bin neugierig – warum Ukrainian Village? Welche Verbindungen habt ihr zu diesem Viertel?«

»Wir Formwandler?«

Ich nickte.

»Unsere Wurzeln liegen in Osteuropa. Unsere Familien sind eng verbunden. Wenn man beides zusammennimmt, hat man Ukrainian Village.«

»Aha«, sagte ich. »Interessant.«

Er hob die Augenbrauen. »Ist es interessant, oder bist du bloß nett, weil du deinen Teil zu einem Bündnis zwischen Formwandlern und Vampiren beitragen willst?«

Die Worte hatten reichlich sarkastisch geklungen, aber es schien noch mehr dahinterzustecken. War er verärgert? Wütend? Angewidert? Ich war mir nicht sicher, ob seine Feindseligkeit gegen Vampire oder Politik im Allgemeinen gerichtet war. Aber beides schien typisch für Formwandler zu sein.

Da ich es nicht ausfechten wollte, machte ich einfach sein achtloses Achselzucken von eben nach.

»Ich unterhalte mich nur nett mir dir. Da ist doch nichts falsch dran, oder?«

Mit einem Funkeln in den Augen antwortete er: »Nein, Ma’am, auf gar keinen Fall.«

Wir quatschten noch ein wenig, und ich hatte die Gelegenheit, ihn besser kennenzulernen. Ich hatte eigentlich etwas von der »Jüngste Bruder des Rudelführers«-Haltung erwartet, aber er schien sich ernstlich Sorgen um das Rudel zu machen, auch wenn er natürlich ein Klugscheißer war.

»Ich bin wegen heute Abend ziemlich nervös«, gab er zu, als wir durch den Flur zurück zur Kirche gingen. »Ich zweifle nicht daran, dass Gabriel mit allem zurechtkommt, was sich hier ereignen wird, aber ich ziehe es vor, Gewalt aus der Sache so weit wie möglich rauszuhalten.«

»Irgendeine Idee, wer der Verantwortliche für die Schießerei in der Bar war?«

Er schüttelte den Kopf und kniff die Lippen zusammen. Es war deutlich, dass er etwas zurückhielt.

»Ich habe gehört, dass Tony …« Ich war mir nicht sicher, wie ich den Satz beenden sollte, und ließ es.

»Sein Tod ändert eine Menge«, sagte Adam, »aber ich weiß nicht, ob das bedeutet, dass er hinter dem Angriff gesteckt hat.«

»Das haben wir auch gedacht.«

Adam runzelte die Stirn. »Es ist bloß so, dass ein Mordanschlag untypisch für das Rudel ist. Ein Verbrechen aus Leidenschaft, sicher, aber ein Mordanschlag? Das hört sich mehr nach, na ja, Vampir an?«

Ich hob eine misstrauische Augenbraue. Vorurteile gegen Vampire waren nicht gerade das, was ich mir erhoffte. Dafür war ich zu sehr in der Unterzahl. Da wir aber gerade von Vorurteilen sprachen, fragte ich: »Hat Gabriel etwas über den Vorfall bei den Breckenridges gesagt?«

Adam lachte freudlos. »Den Vorfall mit Ethan?«

Ich nickte.

»Nun, er war von der Unterbrechung nicht begeistert, aber ich glaube, es hat ihn eher belustigt.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Es hat ihn belustigt?«

Adam zuckte mit den Achseln. »Sie kennen sich schon recht lange. Gabriel kennt Sullivan nur als kalten, ruhigen, berechnenden Mann. Und das war definitiv weder kalt noch ruhig noch berechnend. Gabriel ist der Meinung, dass es Sullivan ziemlich schwer erwischt hat, was dich angeht.«

»Du wärst überrascht«, sagte ich trocken. Der Vibrationsalarm meines Handys rettete mich davor, in die Details gehen zu müssen. Ich zog es aus der Tasche und sah auf das Display. Es war eine SMS, aber nicht von Luc oder Malik oder den Wachen Cadogans. Sie stammte von Nick – und sie klang gar nicht gut.

»INFORMANT REDET VON UNMITTELBAR BEVORSTEHENDEM ANSCHLAG AUF RUDELFÜHRER«, lautete die Nachricht. Unterschrieben war sie mit NB.

Ich blieb mitten im Flur stehen, und mir schlug das Herz bis zum Halse. Wir hatten recht gehabt – wer immer auch der Täter war, der Angriff auf die Bar würde nicht der einzige bleiben.

Jemand wollte Gabriel erledigen, mit oder ohne Tony.

Ich sah zur Tür, die vor uns in die Kirche führte. Ich musste Ethan und Gabriel informieren, aber zuerst wollte ich einige Fakten haben. Wenn Nick über Informationen verfügte – eine Quelle, eine Uhrzeit, irgendetwas –, dann wollte ich es aus seinem Mund hören, bevor ich es den Männern erzählte, die die Wahrheit wahrscheinlich anzweifelten. Dem Vampir und dem Formwandler, die Nick ohnehin schon misstrauten.

Ich warf Adam einen Blick zu. Er war ein paar Meter weiter stehen geblieben, den Kopf zur Seite Ich warf Adam einen Blick zu. Er war ein paar Meter weiter stehen geblieben, den Kopf zur Seite geneigt, und sah mich an. »Alles in Ordnung?«

Ich deutete mit dem Daumen auf einen der Räume der Kindertagesstätte. »Ist es okay, wenn ich den ein paar Minuten lang benutze? Ich muss nur kurz telefonieren.«

»Gibt es ein Problem?«

Ich täuschte Lässigkeit vor. Es machte keinen Sinn, Alarm zu schlagen, wenn ich noch keinen Beweis in der Hand hatte. »Nicht wirklich, aber ich muss das zeitnah klären.«

Er überlegte einige Sekunden lang, nickte aber schließlich. »Bitte. Komm einfach zu uns in die Kirche, wenn du fertig bist.«

Ich lächelte ihn freudestrahlend an. »Danke, Adam. Und danke für das Gespräch.«

»Immer wieder gerne, Kätzchen. Falls du mal mehr als ein Gespräch willst, dann weiß Gabriel, wo er mich finden kann.«

Im Moment jedenfalls war das einzig Wichtige, Nick zu erreichen.

Nick zu erreichen war leichter als gedacht. Sobald ich den Raum der Kindertagesstätte betreten und hinter mir die Tür geschlossen hatte, rief ich einfach die Nummer an, von der die SMS abgeschickt worden war, und er nahm beim ersten Klingeln ab.

»Breckenridge.«

»Nick? Hier ist Merit.«

»Das ging schnell.«

»Schien mir wichtig zu sein, wenn es um eine Morddrohung geht. Was hast du herausgefunden?«

»Jemand hat die Hotline unserer Zeitung angerufen und mich verlangt.«

Ich runzelte die Stirn. »Also kannten sie sich gut genug aus, um Informationen über Formwandler nicht dem Kerl in der Telefonvermittlung mitzuteilen?«

»Das war auch mein erster Gedanke. Es muss ein Formwandler gewesen sein, aber ich kann nicht sagen, wer. Kennst du diese Stimmenverzerrer, die Entführer in Filmen immer benutzen, um die Tonhöhe ihrer Stimme zu verändern? Er hatte so einen.«

»Was hat er gesagt?«

»Die Nachricht war kurz und schlicht.« Ich hörte Papier rascheln, als ob Nick durch ein Notizbuch blätterte. »Er sagte, die Schüsse auf die Bar seien kein Zufall gewesen. Er sagte, jemand habe Geld auf Gabriels Kopf ausgesetzt und dass der zweite Versuch heute Abend stattfinden werde.«

»In einer Kirche voller Formwandler? Nicht gerade die unauffälligste Art, jemanden umzubringen.«

»Übrigens, ein Hinweis für Uneingeweihte: Ab einem gewissen Zeitpunkt wird absolutes Chaos ausbrechen. Ich halte einen Schuss oder so etwas wie einen Messerstich aus nächster Nähe für denkbar.«

Nun, diese Information wäre vor dem heutigen Tag nützlich gewesen. »Sonst noch was?«

»Das war’s, außer einer Sache«, sagte er und hielt inne. Das erhöht die Spannung, dachte ich, wie bei jedem guten Autor.

»Er sagte, um den Schuldigen zu finden, sollten wir innerhalb der Rudelspitze suchen.«

»Hast du mitbekommen, dass sie Tony gefunden haben?«

»Ja. Aber das heißt nicht, dass er nichts damit zu tun hatte. Er hatte die Gelegenheit – sie haben immerhin sein Motorrad gefunden. Außerdem hätte er ein Motiv gehabt.«

»Was denn für eins?«

»Jemand anders anstelle von Gabriel einzusetzen. Vieleicht die Rudel zusammenzuführen. Das wäre nicht das erste Mal. Oder vieleicht die einfachste Variante – alle in Angst und Schrecken zu versetzen und zurück nach Aurora zu schicken.«

»Etwas anderes ist daran noch seltsam.«

»Was denn?«

»Der Tipp«, sagte ich. »Denk mal darüber nach: Jemand findet heraus, dass Gabriel in Schwierigkeiten steckt, und sie treffen Vorsorge, indem sie dich anrufen, aber sie benutzen ein Gerät, um ihre Stimme zu verstellen?«

»Vieleicht hatten sie Angst davor, erwischt zu werden.«

»Bei einer Hotline, die für anonyme Hinweise gedacht ist?«

»Wenn man solche Informationen hat, dann ist man vermutlich nah genug am Verbrechen, um selbst darin verwickelt zu sein.«

»Oder vieleicht wussten sie, dass du ihre Stimmen wiedererkennen würdest.«

Darüber dachten wir einen Moment lang nach. »Ich glaube, es wäre besser, wenn du ihnen nicht sagst, dass der Hinweis von mir kam«, sagte er schließlich.

Ich wusste, warum er anonym bleiben wollte – die Breckenridges waren immer noch nicht im Rudel aufgenommen. Sie versuchten wieder dabei zu sein, natürlich, aber wenn man herausfand, dass Nick die Informationsquelle zu dem Anschlag war, würde Gabriel nur noch misstrauischer werden.

Andererseits: »Ich bin ein Vampir, Nick. Wenn jemand derartige Informationen besitzt, warum sollte er sie an mich weitergeben?«

»Weil du die schöne Rächerin bist?«

»Ich bin wohl kaum in der Lage, irgendjemanden zu rächen. Und wie du schon erwähnt hast, bin ich ein Vampir. Es ist ja nicht so, als ob meine Hilfe für Berna alle zu Vampirfreunden gemacht hätte.«

Ich atmete tief durch. »Ich werde Gabriel sagen, dass der Hinweis anonym war. Aber wenn Ethan mich fragt, dann werde ich ihn nicht anlügen.«

Nick schwieg am anderen Ende der Leitung. »Einverstanden«, sagte er schließlich.

»Werdet ihr heute Abend da sein?«

»Nein. Wir haben andere Mitglieder des Rudels zu unseren Stellvertretern ernannt – das ist eine symbolische Handlung, mit der wir auch Wiedergutmachung betreiben.«

»Nun, dann werde ich dich bei Gelegenheit sehen. Oder auch nicht«, musste ich einräumen, sollte die Abstimmung den Rückzug der Formwandler bedeuten.

»Viel Glück«, sagte er ernst und legte auf.

Mit dieser Information trabte ich zurück in die Kirche, um Ethan zu suchen. In den Bankreihen saßen jetzt mehr Formwandler, und einige liefen mit Teilen einer Soundanlage und Klemmbrettern herum.

Wie die Anführer der amerikanischen Rudel waren es allesamt Männer, abgesehen von Falon Keene, die am Eingang der Kirche in einem eng anliegenden, langärmeligen Shirt, einem kurzen schwarzen Faltenrock und kniehohen Militärstiefeln stand. Sie ließ ihren misstrauischen Blick über die Anwesenden schweifen.

Ich entdeckte Ethan am anderen Ende des Raums bei Gabriel. Sie standen nebeneinander in einer Ecke und betrachteten die Menge. Sie sahen auf, als sie meine Stiefelabsätze auf den Stein schlagen hörten.

Hüterin?, fragte Ethan telepathisch.

Ich antwortete nicht, denn diese Information musste ich an beide weitergeben.

Ich entschloss mich, so nah wie möglich an der Wahrheit zu bleiben. »Ich habe einen Anruf erhalten«, sagte ich, als ich bei ihnen stand. »Keine Nummer auf dem Display, und der Anrufer hat einen von diesen Stimmenverzerrern verwendet.« Ich sah Gabriel an. »Er sagte, dass auf deinen Kopf Geld ausgesetzt worden ist und dass die Sache heute Abend stattfinden soll.«

Er schloss die Augen einen Moment lang. »Ich bin ja nicht wirklich überrascht, aber das Timing könnte nicht schlechter sein. Gewalt ruft immer Gegengewalt hervor, und ich will nicht noch mehr Ärger haben, weil jemand glaubt, er hätte gegen den Anführer eine Chance. Ich will nicht, dass sich das herumspricht und die Abstimmung beeinflusst. Das Rudel muss hier sein. Die Entscheidung muss getroffen werden – und sie muss vom Rudel getroffen werden.«

Ethan runzelte die Stirn, was seine typische Sorgenfalte zum Vorschein brachte. »Was genau hat der Anrufer gesagt?«

»Genau das, was ich gerade gesagt habe – dass es einen Anschlag auf Gabriel geben wird, und zwar heute Abend. Dass er unmittelbar bevorsteht«, fügte ich hinzu. »Ich glaube, er sagte ›unmittelbar‹.«

»Ich kann und werde die Versammlung der Rudel nicht absagen. Die Rudel kommen heute Abend mit all dem Scheiß hierher, der sie belastet. Wir können sie nicht einfach wieder wegschicken – sie müssen Dampf ablassen können, die aufgestaute Energie loswerden, bevor wir sie wieder in die Welt hinausschicken. Alles andere wäre eine verdammt schlechte Idee für die Rudel und diese Stadt.«

Angesichts seiner ernsten Stimme und des elektrischen Summens, das mit der wachsenden Anzahl von Formwandlern in der Kirche lauter wurde, nahm ich ihn beim Wort. Chicago konnte Hunderte von frustrierten Formwandlern wirklich nicht gebrauchen.

»Wir verstehen deinen Standpunkt«, sagte Ethan, »und bewundern deine Opferbereitschaft für dein Volk. Aber die Durchführung der Versammlung ist nicht das einzige Problem. Wenn sie dich erwischen, bringen sie das Kräftegleichgewicht durcheinander. Nein – sie zerstören es vollständig. Das wäre genauso schwerwiegend.« Da Ethan so offen war, nahm ich an, dass er und Gabriel die Spannung zwischen sich überwunden hatten.

»Was schlägst du vor?«

»In der verbliebenen Zeit so viele Vorkehrungen wie möglich zu treffen«, sagte Ethan. »Ich möchte nicht morbide klingen, aber wenn sie einen Anschlag verüben wollen, was gibt es deiner Meinung nach für Möglichkeiten?«

»Die Diskussion kann lautstark und chaotisch werden. Es ist möglich, dass sie sich das Chaos zunutze machen und dabei zuschlagen.«

»Dann werden wir direkt bei dir bleiben, sobald die Versammlung beginnt. Wir wissen, dass du stark bist, aber du bist nicht unsterblich. Wie Merit schon bewiesen hat, können wir mehr wegstecken als du.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob wir irgendwie weiterkommen, wenn ihr mich beleidigt«, brummte Gabriel.

»Du weißt, was ich meine«, sagte Ethan. »Wem traust du in diesem Altarraum?«

Gabriel überblickte die Menge. »Falon. Ich vertraue Falon.«

»Obwohl sie deine Nachfolgerin als Rudelanführer wäre?«

Gabriel wandte sich mir wie in Zeitlupe zu und sah mich finster an. »Willst du Falon beschuldigen, Hüterin?« Magie – ihr bitterer und beißender Geruch – elektrifizierte die Luft um uns herum.

Ich wich seinem Blick nicht aus, sondern erwiderte ihn ausdruckslos, als ob ich einen angreifenden Hund niederzwingen wollte. »Ich beschuldige niemanden. Ich spiele aber des Teufels Advokat, um deine Sicherheit garantieren zu können. Heute Abend ist das meine Aufgabe.«

Die Magie brauchte einige Sekunden, um sich in Nichts aufzulösen, aber schließlich nickte er.

Ethan legte mir eine Hand auf den Rücken. »Wir werden einen Rundgang durch die Kirche machen, um uns einen Überblick zu verschaffen, ob es irgendwelche ungewöhnlichen Vorkommnisse gibt. Wir reden auf unserem Weg mit Falon. Bleib mit ihr in Sichtkontakt, solange wir weg sind.«

»Kommandiert er dich auch so herum, Hüterin?«

»Du hast ja keine Ahnung.«

»Wie dem auch sei«, sagte Ethan, »tu uns einen Gefallen und bleib die nächste Zeit am Leben.« Als Gabriel uns zunickte, machten wir uns zu Falon auf.

»Manchmal«, flüsterte Ethan neben mir, »bedeutet die Aufgabe, einen anderen zu beschützten, ihn erst einmal davon zu überzeugen, dass er Schutz tatsächlich braucht.«

KAPITEL SIEBZEHN

Politische Tiere

Falon sah nicht in unsere Richtung, als wir uns ihr näherten, aber es bestand kein Zweifel, dass sie genau wusste, wo wir uns befanden, so wie sie die Schultern hielt und die Menge betrachtete. Wir blieben neben ihr stehen, um ihr weiterhin einen freien Blick auf den Altarraum zu ermöglichen.

»Wir schauen uns ein wenig um«, sagte Ethan. »Gabriel hat angedeutet, dass er sich darauf verlässt, dass du in der Zwischenzeit auf ihn aufpasst.«

Falon warf ihm einen Blick zu. »Mein Bruder hat das gesagt?«

»Das hat er.«

»Aha«, sagte sie, und ihre Augen leuchteten erfreut auf. »Das ist doch mal eine angenehme Veränderung. Schaut euch ruhig um. Ich habe hier alles unter Kontrolle.«

Darauf hätte ich gewettet, denn die veränderten magischen Ströme um ihren Körper ließen darauf schließen, dass sie Waffen (Plural) aus bestem Stahl trug.

Ethan nickte ihr zu und ging dann zur Tür des Altarraums, doch Falon war noch nicht fertig mit uns.

»Ihr seid doch mit Jeff befreundet, oder?«

Ich blieb stehen und warf einen Blick über die Schulter. »Er ist ein guter Freund, ja.«

Sie knabberte an ihrer Lippe. »Ist er – macht er – wie sieht’s bei ihm aus? Frauentechnisch, meine ich.«

Ich musste mir ein Lächeln verkneifen. »Single. Du solltest dein Glück versuchen.«

Sie hob ihre Nase und sah hinter sich auf die Menge. »Heute Abend wird viel los sein.«

»Das ist wohl wahr«, sagte ich und sah dann zur Tür, die zum Seitenflügel der Kirche führte, wo Ethan bereits auf mich wartete. »Aber während einer Krise einen Partner an seiner Seite zu wissen, kann eine große Hilfe sein. Wie auch immer, wir sind in ein paar Minuten zurück.«

»Alles klar.« Wir nickten uns zu, und ich ging zu meinem eigenen Partner.

Als wir den Seitenflügel betraten, veränderte sich der Luftdruck. Erst jetzt, wo wir die Kirche verließen, bemerkte ich, wie viel Magie sich dort aufgestaut hatte.

Es kam mir fast so vor, als ob ich bisher den Kopf in den Sand gesteckt hätte. Ich erzählte Ethan davon, als wir den Flur entlanggingen.

»Ist es nur Magie«, fragte er, »oder auch Stahl?«

Ich runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das unterscheiden kann. Vermutlich beides?«

»Vermutlich«, stimmte er mir zu und deutete auf die Türen, die vom Hauptflur abgingen. »Wohin führen die?«

»Klassenräume. Kindertagesstätte.«

»Nicht gerade die optimalen Räumlichkeiten, um einen Mordanschlag vorzubereiten.«

»Sollte man meinen. Falls jemand einen Anschlag auf Gabriel verübt, dann haben sie ihre Vorkehrungen bereits woanders getroffen.« Ich deutete auf die letzte Tür. »Am Ende ist die Küche.«

Er blieb stehen, drehte sich halb um und musterte den Flur. Sein Blick blieb an Flugblättern, religiösen Plakaten und Zeichnungen hängen, die die Kinder angefertigt hatten. »Gibt es hier irgendetwas Interessantes?«

»Zählt meine Schale mit den Kohlrouladen?«

Er schnaubte sarkastisch. »Nur für dich, Hüterin: Jetzt, wo uns Gabriel nicht mehr hören kann – gibt es etwas, das du mir über den anonymen Anruf erzählen möchtest?«

»Willst du etwa andeuten, ich hätte dir nicht die ganze Wahrheit gesagt?«

Er sah mich ausdruckslos an.

»Es wäre vermutlich nicht unangebracht anzunehmen, dass der Anrufer einen Hang zum Journalismus hat.« Ethan öffnete den Mund, um darauf zu antworten, aber bevor er etwas sagen konnte, flog die Tür am Flurende lautstark auf. Ethan und ich drehten uns blitzschnell um und packten unsere Schwertgriffe. Zwei groß gewachsene Männer, die Sonnenbrillen und schwarze Anzüge trugen, kamen herein.

Einer der beiden trug ein Paket, das in braunes Papier gewickelt und an der Seite mit schwarzem Isolierband zugeklebt war.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich hatte ähnliche Pakete im Fernsehen gesehen – in Polizeiserien –, kurz bevor sie in die Luft gingen. Auch Vampire hielten nichts von Schrapnellen, vor allem nicht, wenn sie aus Holz waren.

Ganz ruhig, Hüterin, sagte Ethan lautlos zu mir, als ob er meine plötzliche Angst spüren konnte.

Und da der Bereich um mich herum plötzlich mit Magie aufgeladen war, konnte er sie vermutlich wirklich spüren.

»Können wir Ihnen behilflich sein, Gentlemen?«, fragte Ethan.

Beide Männer hoben unter ihren Sonnenbrillen die Augenbrauen, kamen aber weiter auf uns zu.

Obwohl ich mein Herz laut klopfen hören konnte, trat ich an Ethans Seite, um mit ihm eine fangzahnbewehrte Sperre zu bilden. Ein Lied aus Les Misérables ertönte in meinem Kopf, wie unpassend es auch sein mochte.

»Wir haben eine Lieferung«, sagte der Mann, der nicht das Paket trug. Er griff in seine Anzugtasche, doch Ethan hatte sein Schwert gezogen, bevor der Mann herausholen konnte, wonach er suchte.

Ich lockerte mein Katana.

»Langsam«, sagte der Mann mit dem Paket. Sein Chicagoer Akzent war so ausgeprägt, dass man ihn sogar bei diesem einzelnen Wort hören konnte. »Wir sind bloß hier, um was abzuliefern, okay?« Er hielt uns das Paket hin.

»Du hältst das einfach fest«, befahl ihm Ethan und richtete seinen Blick wieder auf den Mann, dessen Drosselvene nur wenige Zentimeter von der Schwertspitze entfernt war. »Und du«, befahl er, »ziehst deine Hand ganz, ganz langsam raus.«

Der Mann schluckte schwer, tat aber, wie ihm befohlen worden war. Als die Hand zum Vorschein kam, hielt er ein schwarzes Lederportemonnaie hoch. »Ich hole nur den Ausweis raus, mein Freund.«

»Öffnen«, sagte Ethan.

Der Mann klappte das Portemonnaie auf und hielt den Ausweis erst Ethan und dann mir hin.

»Ich habe ein Import-Export-Geschäft«, sagte er. »Ich bin ein ganz einfacher Geschäftsmann.«

»Was ist in dem Paket?«

Die Männer tauschten einen Blick. »Es ist ein Geschenk für den, äh, Boss aller Bosse, wenn ihr versteht, was ich meine.« Er hob eine Augenbraue, als ob Ethan ihn damit besser verstehen würde.

»Für euren Boss aller Bosse?«, fragte Ethan.

Die Männer nickten erleichtert. Offensichtlich waren sie Mitglieder des Zentral-Nordamerika-Rudels (die sich das praktisch nicht anmerken ließen) und froh darüber, dass sie es nicht offen aussprechen mussten. Vieleicht war es gar nicht so einfach, im Verborgenen zu leben, wie Tony gedacht hatte…

»Und was ist in der Schachtel?«, fragte Ethan.

Der Mann mit dem Paket beugte sich vor und befeuchtete nervös seine Lippen.

»Ist ein ziemlich guter Jahrgang. Ein Jahrgang von der roten Sorte? Es ist ein Geschenk von einer ziemlich bekannten Familie hier in Chicago an die Familie von Mr Keene.«

»Ah«, sagte Ethan laut und wechselte dann in den lautlosen Modus. Was ist in der Schachtel?

Chicagoland Vampires 03 - Mitternachtsbisse
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