Der Tag der Abreise war gekommen. Kitty und Kieran hatten mit der fragwürdigen Hilfe ihres Hundes Sly begonnen, die Kühe auf der anderen Seite den Crohan-Berg hinabzutreiben. Am Straßenrand stand der Laster und wartete auf die Fahrt zu Kierans Bruder, der südlich von Blarney, nicht weit von Cork wohnte. Noch stand die Sonne über der Bergkuppe, würde aber bald tiefer stehen und schließlich im Meer versinken. Kieran packte die Unruhe, die Kühe mussten fort und in ihre neuen Behausungen geschafft werden und waren noch nicht gemolken.
Das gemeinschaftliche Abendessen am Tag zuvor – ohne Declan – war nur zum Teil ein Erfolg gewesen. Kitty hatte Lolly angerufen und sich entschuldigt, unkluge Anspielungen gemacht zu haben. Sie wäre zugegebenermaßen diejenige gewesen, die sich dämlich verhalten hatte, und Lolly solle ihr bitte vergeben. Sie war nicht so weit gegangen zu sagen, »wie ja auch ich dir unzählige Male vergeben habe«. Und da sie sich diese Bemerkung verkniffen hatte, hatte Lolly ihr nicht nur verziehen, sondern war mit unendlich guter Laune zum Essen erschienen. Kitty hatte sich schon gefragt, ob diese plötzliche Herzenswärme etwas mit ihrer Abreise zu tun hatte, aber da sie keinen Unfrieden heraufbeschwören wollte, verfolgte sie den Gedanken nicht länger.
Mit besonderer Rücksicht auf Aaron hatte Kieran ein amerikanisches Gericht bereitet: Corned Beef und Kohl, allerdings mit einer irischen Zugabe – Kartoffeln –, um dem Ganzen noch einen Farbtupfer aus dem Garten zu verleihen.
Nach dem anfänglichen Gespräch, das sich mehr um Kittys bevorstehende Verteidigung ihrer Bücher unter dem Deckmantel des Unterrichtens gedreht hatte, hatte Lolly harmlos und heiter die Rede auf Declans vermeintliches Begräbnis gebracht und die neuerliche Erkenntnis über das wahre Skelett, das im Kohlbeet vergraben worden war. So, wie Lolly mit der Geschichte umging, deutete nicht das Geringste darauf hin, dass sie das Thema Declan lieber gemieden hätte; auch hatte man nicht den Eindruck, dass sie es als Vorwand benutzte, Declan wenigstens in irgendeiner Form mit am Tisch zu haben. Kitty hatte ihrer Freundin in der Tat unrecht getan. Und als sie am Telefon gesagt hatte, sie hätte sich dämlich verhalten, hatte das durchaus der Wahrheit entsprochen. Die Unterhaltung plätscherte munter und im gegenseitigen Einvernehmen dahin.
Schon bald ließen sie sich über die Geständnisse aus, die jeder gemacht hatte, denn man war seinerzeit davon ausgegangen, dass Declan Tovey nicht einfach tot, sondern ermordet worden war. Ein jeder erklärte sein Tatmotiv (Kieran seins und Kitty und Lolly ihrs), mit dem er hatte beweisen wollen, der Täter gewesen zu sein.
Da Kitty damals bei der Totenwache sich als Erste zu der Tat bekannt hatte, gestand sie, sich schützend vor Lolly gestellt zu haben, die, wie sie fest geglaubt hätte, den Mord aus Rache verübt hatte, weil Declan sie verführt hatte. Insofern war es seitens Kitty, die Keuschheit in Person, ein schwesterlicher Akt gewesen, ein schwesterliches Opfer geradezu.
Kieran verbarg nicht länger, dass in Wahrheit sein Tatmotiv nicht Declans Bemerkung gewesen war, dass Kitty eine blöde Kuh wäre. Vielmehr hätte er geglaubt, dass entweder Lolly oder Kitty den Mord begangen hätten, da sich beide ziemlich eifersüchtig aufeinander gebärdeten und eine fähiger und kompetenter als die andere hatte sein wollen, eine solche Tat zu verüben. Als Gentleman konnte er es schwerlich zulassen, dass die eine oder die andere zur Rechenschaft gezogen wurde. Sie waren schließlich Frauen, und ihm, dem Mann, kam es zu, alles auf sich zu nehmen.
Voller Dankbarkeit hauchte ihm Lolly einen Kuss auf die Wange. Kitty schien von seiner Galanterie weniger gerührt. Um die Enttäuschung seiner Frau, dass nicht sie allein sein Motiv gewesen sei, etwas zu mildern, fügte er, gewissermaßen als Fußnote, hinzu, dass er sehr wohl versucht gewesen wäre, den Mann zu ermorden – just aus dem Grund, den er während der Totenwache am Sarg genannt hatte. Declan, so war ihm hinterbracht worden, hatte Kitty tatsächlich eine blöde Kuh geschimpft. Nur die unmittelbare Intervention seiner, Kierans, gesegneten Mutter im Himmel hätte ihn davon abgehalten, seinen mörderischen Impulsen nachzugeben, und den Mann am Leben zu lassen.
Kittys Stimmung wurde durch sein Bekenntnis nicht besser. Sie bedachte Kieran immer wieder mit einem ungehaltenen Seitenblick, der gut und gerne von einem Basilisken hätte kommen können. Lolly hielt es für klüger, den Unmut ihrer Freundin zu übersehen, und erzählte vergnügt, dass es ihr darum gegangen sei, ihre Freundin Kitty in Schutz zu nehmen. Nach allem schien es nur allzu verständlich, dass Kitty die Tat begangen hatte. War doch Declan zu ihr, Lolly McKeever, gekommen, nachdem er an Kitty keinen Gefallen mehr gefunden hatte. Kein Wunder also, dass Kitty getan hatte, was sie getan hatte, und Lolly als ihre beste Freundin sich selbstverständlich für sie zu der Tat bekannte.
Bevor sich Kitty zu etwas hinreißen ließ, was sie später bereut hätte, rief Kieran: »Wer möchte Apple Brown Betty? Kitty hat den Nachtisch selbst gemacht, ein Rezept aus der Bronx in den Vereinigten Staaten von Amerika.« Kitty, die für sich beschlossen hatte, Lolly noch einmal glimpflich davonkommen zu lassen, erklärte großspurig, dass das Apple-Brown-Betty-Rezept sich gut in den amerikanischen Rahmen fügte, den sie mit Corned Beef und Kohl gesetzt hatten. Es war nicht das erste Mal, dass sie etwas brauchte, um der Verlockung zu widerstehen, Miss McKeever den Hals umzudrehen. Aus purer Nächstenliebe hatte sie schon oft Gnade vor Recht ergehen lassen, und auch diesmal gelang ihr das mit erstaunlicher Gelassenheit. Der Abend, an dem genügend Bier und Tullamore Dew geflossen war, endete mit großem Abschiednehmen, mit den üblichen Umarmungen und Küssen, bis zu Tränen kam es jedoch nicht.
Die größte Herausforderung am Bergabhang bestand darin, die Kühe in Bewegung zu halten, denn viel lieber hätten sie an den Wegrändern noch Gras gerupft. Die Geisterschweine, die sich auf der anderen Seite des Berges gedrängt hatten – es waren derer so viele, dass man sie nicht mehr zählen konnte –, hatten sie vermieden, indem sie den unteren Abhang umgangen und am Morgen den etwas längeren Aufstieg auf dieser Seite gewählt hatten. Weder die Kühe noch der Hund schienen sich an der Gegenwart der Schweine zu stören, ein sicheres Zeichen für Kitty und Kieran, dass ihre Tiere nichts Außergewöhnliches sahen oder spürten, und dafür waren sie ganz im Stillen dankbar.
Unter der Zusicherung von Declan Tovey, dass die »Mieter« der Burg unterwegs waren, um die Kühe zusammenzutreiben, und nicht vor Sonnenuntergang wieder da sein würden, stellte George Noël Gordon Lord Shaftoe, kostümiert wie einer seiner Vorfahren, seinen Bentley abseits der Straße in einem kleinen Wäldchen unweit der Burg ab. Er zog sich den Burberry Trenchcoat über, drückte sich sorgfältig den Dreispitz auf die wallende Perücke und begann den anstrengenden Marsch über das schon im Schatten liegende Feld.
Alsbald würde sich sein sorgsam vorbereitetes Komplott vollenden, seine gespenstische Erscheinung würde die Usurpatoren wahnsinnig erschrecken, was zwangsläufig dazu führen würde, dass sie die Burg fluchtartig verließen. Die Vision eines Geistes, durch eine einzige Kerze ins Halbdunkel getaucht, würde ihnen auf Nimmerwiedersehen Beine machen. Um nicht gänzlich dem Wahnsinn zu verfallen und ihre Verluste auf ein vernünftiges Maß zu beschränken, würden sie ohne zu zögern auf ein Angebot eingehen, das er ihnen über einen Unterhändler machen und das die Burg in seinen Besitz übergehen lassen würde. Wie sollten sie ein solches Angebot auch ablehnen? Die gebotene Summe war höchst generös, schon angesichts der Tatsache, dass er ein im Grunde genommen unbewohnbares Anwesen übernahm, das nur für jemanden in Frage kam, der keine gespenstischen Erscheinungen fürchtete. Der Plan, den er ausgeheckt hatte, war einfach genial. Nur so einer wie er konnte einen derart geistreichen Ausweg aus seiner Kalamität ersinnen. Wer kommt sonst schon darauf – ein Gespenst!
Mit stolzgeschwellter Brust marschierte er querfeldein und drohte vor Eigenlob fast zu platzen. Nein, er musste seine Erwartungen noch ein wenig zügeln. Der Augenblick des Triumphs stand zwar unmittelbar bevor. Ein Schwelgen in Hochgefühlen verbot sich jedoch, bis er mit hochgehaltener Kerze durch die dann leeren Räume und Hallen schreiten und Besitz ergreifen würde von dem, was sich andere anmaßend unter den Nagel gerissen hatten. Die Banausen würden zu dem Zeitpunkt schon die Flucht ergriffen haben und Stoßgebete zu allen möglichen Heiligen brabbeln, von denen es in ihrer grässlichen Religion wimmelte.
Dann, und erst dann würde er sich zum Lord der Burg Kissane deklarieren, getreulicher Nachfahr, furchtloser Erbe, ein echter Shaftoe, der seines Namens würdig war.
Nachdem er den Hof inspiziert und sich vergewissert hatte, dass er allein war, ging er hinüber zu dem Portal, das in die Große Halle führte. Wie Mr Tovey versprochen hatte, war die Tür unverschlossen. (Er würde eine etwas höhere Belohnung für seinen Landsmann springen lassen müssen, großzügig, wie die ohnehin war.)
An ungefilterte Gerüche der Natur nicht gewöhnt, warf ihn der tierische Gestank in der Halle fast um. Mit einiger Überwindung bahnte er sich seinen Weg durch die Ekel erregenden Strohballen, entledigte sich seines Burberry und vergewisserte sich mit einem kurzen Griff nach dem Dreispitz, dass der auch richtig saß. Er war bestens ausstaffiert: Die Brokatweste kam durch das offene Justaucorps voll zur Geltung, und das mit Spitze verzierte Jabot kaschierte die schlaffen Hautfalten. Die großartige Aufmachung schmeichelte seiner Eitelkeit dermaßen, dass sein Blutdruck bedrohlich in die Höhe schoss.
Er holte aus dem Burberry-Mantel die Kerze hervor, probierte den Zigarettenanzünder, löschte ihn wieder und stopfte ihn in die Westentasche. Was er dort fühlte, erinnerte ihn an das einmalige Artefakt, das die Echtheit seiner Erscheinung unanfechtbar beweisen würde. Er nahm die Goldmünze heraus, die ihm mysteriöserweise – nein, wunderbarerweise – zugespielt worden war. Zweifelsohne kam sie von einem heimlichen Bewunderer, die königliche Prägung ließ die Deutung zu, dass seine Tat auf Zustimmung stieß, ja, sogar abgesegnet war von geheimen Mächten, die sich derer angenommen hatten, die sich zu Recht zurückholten, was ihnen fürstlich zustand.
Er hielt die Münze ins Licht der Kerzenflamme. Goldsprenkel glitzerten und kündeten von noch größeren Reichtümern. Mit ausgestreckter Hand reckte er das Prunkstück in die Höhe, berauschte sich an dem, was es versprach.
Ein grauenvoller Schrei entrang sich seiner zugeschnürten Kehle. Münze und Kerze fielen zu Boden. Wie versteinert starrte er auf den Kronleuchter aus Eisen. Unmittelbar vor seinen hochherrschaftlichen Augen hingen an dicken, groben Stricken eine junge Frau, vielleicht noch ein Mädchen, und ein junger Mann, vielleicht noch ein Junge, mit hervorquellenden Augen und mit geschwollenen, aus dem Mund hängenden Zungen.
Er stolperte zurück. Die hinuntergefallene Kerze hatte das Stroh entzündet, die Münze war nirgends zu sehen. Ein weiterer Aufschrei, der beabsichtigte Hilferuf Feuer kam nicht zustande. Zweimal stampfte er auf den brennenden Boden, doch die Flammen griffen um sich. Er kämpfte sich durch das Stroh, doch das verfing sich in den Schnallen seiner Schuhe. Zweimal geriet er ins Stolpern, konnte sich nur mit Mühe wieder fangen und stürzte zur Tür. Der erste Versuch, den Riegel zu lösen, misslang. Er hämmerte auf das Holz ein, versuchte es erneut mit dem Riegel. Die Tür schwang auf. Er taumelte hinaus auf den Hof. Ohne auch nur einen Blick nach hinten zu werfen, rannte er auf die Burgstraße, sprang über die Steinmauer und lief über das Feld, über das er gekommen war.
Erst als er am Auto angelangt war, blieb er stehen und blickte zurück zur Burg. Blitz und Donner tobten dort, nur kamen sie nicht vom Himmel, sondern aus der Erde. Die Burg, völlig überrascht von diesem Wunderwerk, ließ alle Fenster hell aufleuchten. Noch leisteten die Mauern Widerstand, hielten die Steine sich gewissermaßen in Alarmbereitschaft, wollten nicht fassen, dass das Ende drohte. Dann flogen sie, wie von Fesseln befreit, in die Höhe, standen einen Moment unbeweglich, als wollten sie nicht glauben, dass es höher nicht ging, fügten sich in ihr Schicksal und stürzten zu Boden. Ein wütender Lärm, ein Sturm von berstenden Steinen, und mittendrin eine stumme Harfe und zersplitterte Teile eines unbestückten Webstuhls. Der Turm, die hehren Räume, die getünchten Wände – nur noch herabstürzende Trümmer, die sich zu einem riesigen Berg häuften und bis in den Hof ausbreiteten, wo sie die Ställe und schilfgedeckten Dächer unter sich begruben.
Dann stieg eine gewaltige Asche- und Staubwolke auf, senkte sich und bedeckte Schutt und Ruinen wie in einem Akt der Barmherzigkeit. Das war alles, was von der in ihrer Schlichtheit erhabenen Burg Kissane, die Jahrhunderte überdauert hatte, geblieben war.
Seine Lordschaft brach, noch ehe sich der Staub gelegt hatte, in jämmerliches Schluchzen aus.
Als sie jenseits des Berges den grollenden Lärm hörten, waren Kitty und Kieran fast am Fuße des Abhangs angelangt. Die Kühe waren sogar schon ein Stück voraus und hatten es bis zum wartenden Lastwagen nicht mehr weit. Sie blieben stehen – die Kühe, Kitty und Kieran. Dann trotteten die Kühe weiter, Kitty und Kieran aber sahen sich an. Reglos. Gleich darauf rannte Kieran zurück und bergan, kam aber nicht weiter als bis zu einem dicken Stechginstergestrüpp. Kitty hatte ihn bald ein. »Declan! Nein!«, schrie sie.
Kieran musste brüllen, wenn er verstanden werden wollte. »Declan? Wieso Declan?«
»Er war es. Nur er kann es gewesen sein, ich weiß es. Er …«
Sie bemerkte die Vergeblichkeit ihrer Worte und schwieg. Auch Kieran hatte es die Sprache verschlagen. Nichts war zu sehen, alles nur zu hören gewesen. Dann ließ das Poltern nach und verstummte, auch das Scheppern von kleineren Steinchen, das sich angehört hatte, als ob Regentropfen auf ein Schieferdach trommelten, verebbte. Am abendlichen Himmel breitete sich eine Staubwolke aus. Kitty schlug die Hand vor den Mund. Kieran legte den Arm um ihre Schultern und zog sie dicht an sich heran.
Etwa in Höhe der Bergkuppe, oberhalb der Staubwolke, im Glanz der letzten Strahlen der Abendsonne bewegten sich langsam, fast zögernd Taddy und Brid, als folgten sie vagen Rufen, denen sie nicht recht trauten. Taddy ging voran.
»Nein! Bleibt! Verlasst uns nicht!«, rief Kitty laut.
Nach ein paar weiteren Schritten drehte sich Brid um und schaute auf den aus den Ruinen aufsteigenden Staub. Wie zu einem letzten Lebewohl streckte sie die Hand nach dem Ort ihrer Verbannung aus. Taddy berührte sie an der Schulter. Mit gesenktem Kopf riss sie sich von dem Anblick los. Sie gingen weiter, jetzt rascher. Taddy mit erhobenem Kopf in frisch gewonnener Würde. Als sie sich dem Sonnenball näherten, blieb er stehen, dann auch Brid. Wieder drehte sie sich um. Dieses Mal blickte sie direkt zu Kitty und Kieran; nie zuvor hatte sie das getan und so gezeigt, dass sie sie bewusst wahrnahm. Mit der rechten Hand berührte sie sacht den rauen Strick, der wie ein Kragen um ihren zarten, jugendlichen Hals lag. Jetzt drehte sich auch Taddy zu ihnen um. Er hob den Arm, die Handfläche zu ihnen gerichtet, ein Abschiedsgruß, nicht nur für Kitty und Kieran, sondern auch für die Stätte seines Leidens.
»Nein!« Kierans Stimme klang heiser und beschwörend. »Taddy! Brid! Nein!«
»Lass sie ziehen«, sagte Kitty leise.
Der schöne junge Mann und das hübsche junge Mädchen senkten die Köpfe, wandten sich für immer ab und nahmen ihren vom Schicksal vorbestimmten Weg wieder auf. Ihre derbe Kleidung wurde von einem glänzenden Schimmer erfasst, als wäre das einfache Tuch von strahlenden Fäden durchwirkt. Die groben Stricke um den Hals, in denen sich die Strahlen der untergehenden Sonne fingen, brachten plötzlich zarte Blätter von schönstem Lorbeer hervor, weich und die Haut liebkosend, ein sinnreiches Äquivalent für die goldene Krone eines Märtyrers. Und dann erlebten Kitty und Kieran, wie der Glanz der Sonne und der Glanz des ach so schönen Mannes und des ach so hübschen Mädchens miteinander verschmolzen.
»Vergesst uns nicht«, flüsterte Kitty.
Aaron saß in der Küche. Er hörte es von ferne krachen und spürte ein leises Zittern des Fußbodens unter seinen Füßen. Er führte das Phänomen auf die Worte zurück, die er gerade las und die auf die Rückseite eines Ausdrucks gekritzelt waren, den er am Morgen von dem dritten Kapitel eines neuen Romans gemacht hatte. Darin ging es um einen Mann, der seiner sündigen und untreuen Frau verzeiht, die mit einem Bariton durchgebrannt war, den sie in einem Kirchenchor kennengelernt hatte. Aaron hatte Schwierigkeiten, sich auf die einzelnen Wörter zu konzentrieren. War aber auch nicht nötig. Die Botschaft war eindeutig. Seine Frau Lolly war mit Declan Tovey auf und davon. Er, Aaron, sollte dafür Sorge tragen, dass die Schweine regelmäßig gefüttert wurden, da sie ihm nun für immer überlassen worden waren. Benommen, wie er war, empfand er sogar eine gewisse Erleichterung. Er würde nicht länger schreiben müssen. Endlich würde er einer Berufung folgen können, in der er weniger einsam war. Und er würde ein treuer Partner sein – den Schweinen jedenfalls.
Als es dunkel geworden war, hielten Tom und Jim von der örtlichen gardaí an den Ruinen Wache. Der Staub hatte sich gelegt, und vom Meer hatte der Wind Nebel landeinwärts getrieben, der sich nun auch über die Reste der Burg Kissane senkte. Zwar war Vollmond, aber sein Licht drang nur wie ein Schleier bis zu den geborstenen Steinen und kreuz und quer liegenden Balken durch.
Nichts rührte sich. Dann sahen Tom und Jim in dem sich leicht hebenden Nebel an der Stelle, wo ursprünglich der Turm gewesen war, eine Gestalt zwischen den Steinen stehen. Es konnte niemand anders als der Geist sein, den sie befürchtet hatten. Im schönsten Aufzug stand er da, Lord Shaftoe persönlich aus längst vergangenen Jahrhunderten, die Stickerei in Gold und Purpur, die seine Weste verzierte, erstrahlte im schwachen Mondlicht. Auch die glitzernden Goldspangen seiner fein gearbeiteten Schuhe waren im nebligen Dunkel zu erkennen. Auf dem Kopf saß ein Dreispitz und zierte die kunstvoll arrangierten Locken.
Zu guter Letzt war er nun doch gekommen, um von der Burg Kissane Besitz zu ergreifen, aus der er vor dem Donnergetöse geflohen war. Das Schießpulver hatte seine Schuldigkeit getan. Der Anblick, der sich ihm bot, war weiß Gott fürstlich, ein Haufen Schutt und Staub. Die Burg war nun sein, niemand, und Tom und Jim am allerwenigsten, würde ihm seine Rückkehr streitig machen. Die beiden waren zu Tode erschrocken, standen mit offenen Mündern da, in die der Nebel kroch.
Wer sich vor Angst in die Hosen machte – das oder Ähnliches hatte ja der Lord prophezeit –, war Tom.
Die letzten Worte zu sprechen, sollte Kitty obliegen. Die Kühe waren auf den Lastwagen bugsiert. Überzeugt, dass nichts mehr zu retten war, waren sich Kitty und Kieran einig, dass sich mit der Ruine andere abplagen sollten. Sie wollten die Stätte nie wiedersehen. Sie waren schon im Begriff einzusteigen und sich auf die traurige Reise zu begeben, als merkwürdige Laute sie aufhorchen ließen. Sie schauten sich um, konnten aber außer dem dunklen Berg nichts Auffälliges entdecken. Dann bemerkte Kitty etwa zehn Schritt weiter höher am Abhang einen Ring, wie man ihn Schweinen durch den Rüssel zieht. Sie ging hin und hob ihn auf. Er war zerbrochen, die Rundung zeigte eine gezackte Bruchstelle, als hätte man das Metall heftig an einen Stein gehauen. Er erinnerte sie an den Ring, den sie seinerzeit an der kaputten Mauer gefunden hatten, als das damals noch leibhaftige Schwein ihnen den Hinweis gegeben hatte, wo im Obstgarten die Pläne für das Schießpulver vergraben waren.
Sie betrachtete den Ring von allen Seiten. Es konnte nicht der von damals sein; alle Merkmale sprachen dagegen. Sie wollte ihn schon wieder auf den Hang zurückwerfen, als sie hörte, wie Kieran ihr zuraunte: »Kitty, sieh mal, dort.«
Kitty wandte sich um und sah, woher die merkwürdigen Laute kamen. Draußen auf der See bewegte sich eine beachtliche Rotte Schweine scheinbar mühelos über Lichtstrahlen, die auf den Wellen tanzten. Angeführt wurde sie von einem Schwein, das den Betrachtern sehr wohl bekannt war. Es schien den anderen den Weg zu weisen. Zunächst verursachten sie den üblichen Lärm, wie man ihn von sich zusammenrottenden Schweinen kannte – Quieken, Schreien, Grunzen, Kreischen, Laute, mit denen sie auch sonst ihrem Unmut Luft machten. Bald aber ging die Kakophonie in eine geradezu himmlische Hymne über, in einen überwältigenden Choral höchster Lobpreisungen. Als hätte alles Leiden ein Ende, verwandelten sich Wehklagen und Gezeter in harmonische Töne und jauchzende Melodien, die gen Himmel schwebten.
Kitty, die neben Kieran stand, sah auf den metallenen Ring, den sie immer noch in der Hand hielt. Sie spürte am Rücken eine kaum merkliche Berührung, zart und sacht, nicht mehr als ein Windhauch, der nicht vorüberzog, sondern sich wie ein schwereloser Umhang auf sie senkte. Sie machte keinerlei Anstalten, ihn abzuschütteln.
Sie sprach mit monotoner und doch fester Stimme: »Die Witwe Colville gab einem Jungen namens Taddy, der ihr für den Winter den Torf gestochen hatte, ein kleines Ferkel. Das Schweinchen wurde gehegt und gepflegt, wurde mit Dingen gefüttert, die sich der junge Mann vom Munde absparte. Unter seiner liebevollen Fürsorge wuchs es rasch heran. Als heimliche Gabe, von der nur er wusste, ging es weiter an ein schönes junges Mädchen namens Brid, sollte ihm aber später bei ihrer Hochzeit wiedergegeben werden, denn eine andere Mitgift konnte die Familie nicht aufbringen. Doch die zwei wurden gehängt, und am gleichen Tag, als das geschah, verschwand das Schwein auf Nimmerwiedersehen. Von da an erschienen immer dann, wenn zu Vollmond das uralte Fest Lughnassadh zum Lob des täglichen Brotes begangen wurde, am Westhang des Crohan seine Nachkommen, allesamt Geister wie der hübsche junge Mann und die schöne junge Maid, für die das aufgezogene Schwein gedacht war, als ein Zeichen für Brid und Taddy, dass auch sie auf den Tag warteten, da sie alle von dem Geisterbann erlöst würden, der mit dem grausamen Erhängen über sie gekommen war. Der Tag ist nun da. Sie kehren nie wieder: weder Brid noch Taddy und auch nicht das Schwein.«
Kitty verstummte, verschloss in ihrem Herzen ein anderes Stück enthüllter Wahrheit. Die Richtung, die die jubelnden Schweine einschlugen, ließ die Schlussfolgerung zu, dass sie – wie so viele Iren vor ihnen – einer Stadt in den Vereinigten Staaten von Amerika zustrebten, nämlich Boston.