Das aufmüpfige, schielende Schwein, das ursprünglich den Festtagsbraten hatte abgeben sollen und das Lolly und Aaron dann Kitty und Kieran zurückgebracht hatten, war seit seiner Rückkehr auf die Burg Kissane aus unerfindlichem Grund ein friedlicher Mitbürger geworden. Es zeigte sich sanftmütig und kooperativ, es fraß und fraß und fraß und hatte genügend Speck angesetzt, sodass der Tag des ihm vorbestimmten Schicksals näherrückte. Man würde es dem Metzger in Tralee überantworten. Kitty und Kieran ahnten, woher die Friedfertigkeit des Schweins rührte – es war die geisterhafte Gegenwart des verspeisten Schweins.
Ihren Beobachtungen zufolge konnte das lebendige Schwein das Phantom seines Artgenossen nicht sehen, sondern spürte nur seine Gegenwart, und das Phantom hatte in ihm eine Gemütsverfassung erwirkt, die an Frohsinn grenzte. In dem Versuch, dem Phänomen, das sich ihnen darbot, eine vernünftige Erklärung zu geben – was ohnehin schon ein Widerspruch in sich ist –, kamen sie zu der Schlussfolgerung, dass es sich um wahre Liebe handelte, eine Liebe, die stark genug war, dem Tod zu trotzen und Trost und Glückseligkeit in der imaginären Gegenwart des verstorbenen Geliebten zu finden. Hatte man nicht das ursprüngliche Schwein, jetzt der Schatten seines früheren Ichs, zu Lolly gegeben, weil sie eine engagierte Schweinezüchterin war? Und war es nicht wieder bei ihnen gelandet, weil es lesbische Neigungen hatte, die den Eber zur Raserei brachten, die Säue aber, sofern sie die auserwählten Opfer seiner Begierde waren, nicht sonderlich schreckten? Es war durchaus möglich, dass während der Zeit ihrer Wohngemeinschaft – der von dem ursprünglichen Schwein und dem, das eigentlich für den Festschmaus auserkoren war (dem jetzigen auf der Burg Kissane) – eine Beziehung im Schweinehimmel ihre Erfüllung gefunden hatte, als aber das Schicksal (man könnte auch sagen Kitty McCloud) eingegriffen hatte, wurde das überlebende Schwein wieder seiner Herde zugeführt, wo sexuell erregte Ferkel es in seinem Liebeskummer störten, von dem zu erlösen es lautstark den Himmel bat.
Bis zu einem gewissen Grad hatte sich der Himmel gnädig gezeigt, und das Tier landete erneut auf der Burg, wo es sich der unsichtbaren Gesellschaft seines geliebten Gefährten erfreute. Das brachte den Nebeneffekt mit sich, dass das Schwein zur Zufriedenheit aller fett wurde und die Geschichte nun mit der Trennung der beiden Liebenden enden sollte.
Lolly lenkte ihren Laster in den Hof. Das wohlgenährte Schwein lag nicht weitab von den Nebengebäuden, an denen sich Declan zu schaffen machte, behäbig in der Sonne. Lolly bremste scharf, kletterte aus der Fahrerkabine und betrachtete zufrieden das schlachtreife Tier. Sie war keineswegs der einzige Gast, was sie aber nicht wissen konnte. Brid und Taddy verfolgten aufmerksam Declan, der das Dach des vorletzten Schuppens deckte. Auch das Geisterschwein fehlte nicht und hielt getreulich Wacht über seinen schlummernden Artgenossen. Im guten Glauben, sie hätte Declan ganz für sich allein, ging Lolly schnurstracks auf ihn zu.
»Declan«, rief sie überschwänglich. Von der Verunsicherung bei ihrer letzten Begegnung mit ihm auf eben diesem Hof, nach der sie sich rasch in die Spülküche zurückgezogen hatte, um ihm nicht gegenüberstehen zu müssen, war nichts geblieben. Ihre Bewegungen waren zielgerichtet und entschlossen. Als wäre eine merkwürdige Verwandlung mit ihr vorgegangen, ein böser Zauber gewichen. Sie war ganz die alte, die selbstbewusste Frau, die Spaß an peinlichen Situationen hatte und jede Form der Geselligkeit liebte, sei es mit Mensch oder Schwein.
»Deine Arbeit da ist für ganz Kerry ein Gewinn. Schön wird alles wieder aussehen.«
Declan nickte, er war mit voller Konzentration bei der Sache und nicht gewillt, die Arbeit auch nur einen Moment ruhen zu lassen. Sachgemäß rückte er das Schilfrohr in die entsprechende Position, darauf bedacht, die gesamte Fläche des Daches mit der gleichen Sorgfalt zu bedenken, die oberen Lagen etwas lockerer zu legen, damit der Regen gut abperlen konnte. Einer derartigen Gleichgültigkeit ihr gegenüber konnte Lolly nur mit lautem Lachen begegnen.
»Lass dich durch mich nicht stören. Ich will deine Aufmerksamkeit nicht unnötig auf mich lenken. Dir ist in deinem Leben nicht viel erspart geblieben, mein törichtes Verhalten sollte nicht auch noch dazukommen. Neulich war ich Lolly McCloud. Und vergiss bitte auch die unglückselige Begegnung in Caherciveen mit diesem albernen Frauenzimmer. (Lolly war offensichtlich entschlossen, ihr eigenes befremdliches Verhalten und auch das von Declan außer Acht zu lassen, als wäre an dem seltsamen Wortwechsel vor der Kirche nur die arme Lucille schuld gewesen.)
»Ich bin jetzt wieder ganz Lolly McKeever. Nicht, dass ich von meinem Mann nichts mehr wissen will, nein, den liebe ich von ganzem Herzen, aber ich habe mich auf meine wahre Berufung besonnen … habe wieder Vernunft angenommen. Ich habe nur so getan, als wäre ich eine McCloud, als könnte ein dem Gesetz nach angenommener Name gleich eine Schriftstellerin aus mir machen. Dabei habe ich sogar ein Buch geschrieben. Reiner Blödsinn, den ich da zu Papier gebracht habe. Kannst du dir vorstellen, dass eine Frau mit meiner Intelligenz und meinem gesunden Menschenstand einen Roman über Geister schreibt und über Menschen, die verrückt genug sind, sich in die zu verlieben?«
Der Dachdecker horchte auf. Nur einen flüchtigen Moment schaute er zu Brid und Taddy, die ebenfalls ihr Augenmerk auf die Frau wenige Schritte von ihnen entfernt gerichtet hatten. Sie wirkten zutiefst verstört.
Declan wendete sich wieder seiner Arbeit zu. Lolly, der die Bestürzung der Geister entging, fuhr unbeirrt fort: »Ich habe tatsächlich so was geschrieben. Nicht genug damit. Ich habe die Geister in einer Burg angesiedelt, so einer wie diese hier. Und dann zergrübelte ich mir den Kopf, wie ich sie wieder loswerden könnte. Kannst du dir vorstellen, was da Kitty – oder war es Kieran – vorschlug? Jag doch die Burg in die Luft! Das haben sie gesagt! Das würde dem Spuk ein Ende setzen. Ich habe ja nicht unbedingt was gegen Special Effects, aber die Burg in die Luft jagen und auf diese Weise die Geister loswerden? War das nicht ein bisschen zu viel des Guten? Doch sie beharrten darauf und taten so, als wüssten sie in solchen Dingen Bescheid. Kannst du dir so was vorstellen?«
Declan hörte sehr wohl zu, gab jedoch vor, völlig in seine Arbeit vertieft zu sein. Dabei spitzte er die Ohren, und auch die Geister ließen kein Auge von Lolly.
»Und dann bin ich noch blöd genug und frage, wie. Wie jagt man eine Burg in die Luft? Da antwortet mir Kieran – oder war es doch Kitty?: ›In den Fußbodenplatten der Großen Halle ist Schießpulver verborgen.‹ Kommt ja mehr als gelegen, dachte ich. Da will man eine Burg in die Luft jagen, und – wer hätte das gedacht – das Schießpulver liegt schon die ganze Zeit parat. Kannst du dir vorstellen, dass dir jemand so etwas vorschlägt? Ich bin ja Neuling auf dem Gebiet – des Romanschreibens, mein ich –, aber selbst ich weiß doch, dass man so etwas nicht tut und obendrein erwartet, dass der Leser bei so etwas mitgeht. Und doch habe ich es geschrieben. Aber davon bin ich geheilt. Schluss mit den Geistern. Das ist absolut verrückt. Genauso verrückt ist, dass ich das Schweinehalten aufgab und mit dem Schreiben anfing. War auf Abwege geraten, geschieht nie wieder, kannst mir glauben.«
Declan hatte seine Arbeit unterbrochen, sich umgedreht und betrachtete eingehend die Sprecherin. Sie hatte gut sitzende Jeans an und ein Hemd von sattem Blau, wahrscheinlich sogar eins von ihrem Mann, das das Blau ihrer Augen noch intensiver zur Geltung kommen ließ. Das rotbraune Haar glänzte in der Sonne.
Er hatte Mühe, sich zu konzentrieren, und flüchtete sich mit einem Blick zu Brid und Taddy. Es half. Nur, dass ihn die alte Traurigkeit überkam, als er die beiden ansah. So wie damals, als er noch Kind war. Kaum hatte man ihn in das Familiengeheimnis eingeweiht und mit den geschichtlichen Wahrheiten vertraut gemacht, war er durch die verlassene Burg gestreift, hatte sich in die Räume gestohlen, wo das Paar umherirrte, war gleich ihnen über die Felder gewandert, war die Wendeltreppe hinauf zu den Zinnen geklettert, wo im Zwischengeschoss Brid am Webstuhl saß und Taddy an der Harfe. Überall war der junge Declan, im Grunde genommen noch ein Kind und doch schon als erwachsen geltend, mit dabei gewesen, ein von ihnen hingenommener, wenn auch nicht anerkannter Gefährte, er selbst bezaubert von ihrer Schönheit und betrübt ob ihres Ausgeschlossenseins. Er hätte etwas darum gegeben, hätte er ihre Reise in Ruhm und Ehren enden lassen können.
Doch Kräfte dieser Art waren ihm versagt. Nie hatte er etwas von den Riten erfahren, mit denen er ihnen den Weg hätte ebnen können. In jungen Jahren hatte er sie beschworen, mit ihm zu sprechen, ihm mit Gesten oder Mimik zu bedeuten, wie er hätte helfen können. Aber auch sie waren in ihrer Macht beschränkt. Sie warteten nur mit ihrer Gegenwart auf. Mit vierzehn hatte er beschlossen, die Burg in Zukunft zu meiden. Schon der bloße Anblick von Brid war mehr, als er mit seinen erwachenden Trieben ertragen konnte. Er würde nicht bei seinem Vater, sondern bei einem umherziehenden Dachdecker in die Lehre gehen. Er würde sein Dorf, sein Land verlassen. Er würde sich auf die Wanderschaft begeben, ab und an zurückkehren, aber nie zur Burg. Doch jetzt in seinem Kummer war er gekommen, um Trost bei ihnen zu finden – all sein Hoffen und Wünschen und Beten ging dahin, dass sein geliebter Toter, sein Michael, den das Meer zu sich genommen hatte, sich zu ihnen gesellen würde, dass man dem Jungen gewähren würde, ihr Gefährte zu sein. Doch Brid und Taddy hatten keinerlei Einfluss darauf. Ein Schatten konnte keinen Schatten rufen. Wohl konnten die beiden göttliche Sendboten sein, doch ihre Botschaft war Schweigen, und Declan war gleich ihnen zum Schweigen verdammt.
Von Lolly aber konnte er vielleicht Dinge erfahren, die von Bedeutung waren. Die Zerstörung der Burg würde Brid und Taddy erlösen können? Angeblich hatten Kitty und Kieran das der Frau hier gesagt. War es geheimes Wissen oder Wunschdenken gewesen? Wenn sie es wussten, musste er es herausfinden.
Lachend knuffte und stupste Lolly das dösende Schwein. Trotz aller Mühen erntete sie nur ein gelegentliches Grunzen. Der geisterhafte Artgenosse beobachtete sie argwöhnisch, senkte den massigen Kopf und bereitete sich auf einen Angriff vor – als wäre er dazu noch imstande.
Lolly verlegte sich nun auf die empfindlicheren Körperteile des Schweins und versetzte fröhlich jauchzend dem Schwein einen Schlag auf die Schnauze. Das Schwein quiekte laut auf, mehr aus Empörung als aus Schmerz. Von seiner Regung ermutigt, wiederholte Lolly den Schlag, woraufhin sich das Schwein erhob. Sein Quieken und Kreischen nahm merklich an Tonhöhe und Lautstärke zu. Es kam aus dem Verschlag getrottet. Auch sein wachsamer Gefährte hob die Schnauze gen Himmel, vermochte jedoch nicht, seinen Protest vernehmbar von sich zu geben.
Mit oft geübten Tricks wurde das Schwein in Richtung des wartenden Lasters manövriert. Bei seinen vergeblichen Versuchen, sich der entwürdigenden Behandlung zu widersetzen, merkte es nicht, in welche Falle es ging. Lolly kannte kein Pardon, mit erbarmungslosen Knüffen und Hieben trieb sie das Schwein auf die Rampe, bis sie es schließlich auf der Ladefläche hatte. Sie schob die Rampe mit hinauf und verschloss die Ladeklappe. Das Schwein tat weiterhin seine Empörung kund, während sein geliebter Partner sich mit seinem gewaltigen Kopf und den massiven Schultern unter den Truck stemmte, als wollte er ihn umkippen. Wäre das Tier noch mit seinen irdischen Kräften ausgestattet gewesen, hätte ihm das durchaus gelingen können, davon war Declan überzeugt. So aber waren all seine Mühen umsonst.
Als käme ein Retter in der Not, fuhr ein cremefarbener Bentley auf den Hof. Ohne Rücksicht darauf, dass es die Ausfahrt des Lasters blockierte, hielt das Auto an und hätte sich an dessen Stoßstange fast die Tür der Beifahrerseite aufgeschrammt. Ein Mann in mittleren Jahren, gekleidet in Leinen und Seide in gedämpften Farben, entstieg dem Bentley. Auffällig war der lässig um den Hals geschlungene Schal, der vermutlich den Kragen des Jacketts schonen sollte – edelste Rohseide, die von Geld, Rang und Privilegien zeugte. Der Mann machte einen ungemein hochnäsigen Eindruck, und Declan hatte Mühe – ähnlich dem Schwein –, nicht einen entrüsteten Grunzer von sich zu geben. Mit einem herablassenden Lächeln bewegte sich der Mann auf Lolly zu, die hinten an ihrem Laster stand. »Ich bitte um Verzeihung, dass ich unangemeldet erscheine«, erklärte er, »aber ich war zufällig hier in der Nähe unterwegs und dachte, ich sollte mal bei Mr und Mrs Sweeney vorbeischauen, die, wenn ich mich nicht irre, hier auf der Burg ihren Wohnsitz haben.«
»Sie sind nicht da«, erwiderte Lolly kurz und knapp.
»Ach, wie schade. Aber es ist natürlich mein Fehler.« Mit der bloßen Andeutung einer Neigung des Kopfes fügte er hinzu: »Lord Shaftoe.«
»Lolly McCloud, geborene McKeever.« Lolly veränderte ihre Haltung nicht im Geringsten.
»Freut mich sehr.«
»Wenn Sie meinen.«
Ein krampfhaftes Lächeln schob die Mundwinkel des Mannes zur Seite und verzerrte sein Gesicht. »McCloud, sagen Sie. Dann sind Sie also mit den Mietern verwandt.«
»Mit den Besitzern.«
»Natürlich.« Wieder das entstellende Grinsen.
»Ich bin mit dem Neffen von Kitty McCloud verheiratet.«
»Oh, dann sind Sie ja hier so gut wie zu Hause.«
»Ich wohne woanders.«
»Aber Sie sind doch wohl jederzeit willkommen. Gehe ich in der Annahme recht?«
Lolly zuckte mit den Schultern.
Declan wendete seinen Blick von dem Mann ab und stellte fest, dass Brid und Taddy verschwunden waren. Da sie das ab und an taten, beunruhigte ihn das nicht sonderlich, nur war auch die Aufmerksamkeit des Geisterschweins nicht länger auf seinen Artgefährten gerichtet, sondern auf den Fremden, der neben Lolly stand. Die ließ sich von ihm nicht beeindrucken, wohingegen Declan beschloss, dem weiteren Verlauf der Dinge genau zu folgen. Dieser Mensch war nicht zufällig hier.
»Wenn ich Sie bitten dürfte – Ihr Auto blockiert mir die Ausfahrt«, stellte Lolly sachlich fest.
»Oh. Das tut mir leid. Wie gedankenlos von mir. Aber darf ich zunächst noch eine Frage stellen: Sagt Ihnen mein Name – Shaftoe, wie schon erwähnt – Lord Shaftoe etwas?«
»Shaftoe sagt mir nichts. Und Lord schon gar nicht.«
»Eine amüsante Bemerkung.« Um die schmalen Lippen zuckte es heftiger als zuvor. »Ich muss gestehen, dass meine Beweggründe, hier Halt zu machen, sentimental, ja, mir peinlich sind. Sie müssen nämlich wissen, das hier war die Heimstatt meiner Vorfahren, und zwischen den gegenwärtigen Mietern und mir war es zu törichten Streitigkeiten gekommen, die, wie ich zugeben muss, zu ihren Gunsten entschieden wurden.«
»Ich habe davon gehört.« Lolly blieb ungerührt. »Sollten Sie nicht eigentlich im Gefängnis sitzen?«
»Für eine gewisse Zeit war das auch der Fall. Ja, ja. Eine interessante Abwechslung. Eine ungeahnte Gelegenheit, mich in einer Fertigkeit zu üben, die ich nicht für möglich gehalten hätte, im Squash nämlich. Solcher Art sind die Strafen, die einem von einer zivilisierten Gesellschaft auferlegt werden. Und außerdem ist man nicht umsonst Lord, selbst heutzutage, da jede Form von Hochachtung verkümmert.«
Seine kosmetisch aufgetragene Gesichtsfarbe strafte den Lord Lügen, denn – wie Declan feststellte – hatte der gute Mann versucht, die Blässe, die von dem Entzug des Sonnenlichts herrührte, zu übertünchen. Squash, von wegen. Der Mann hatte in einer Zelle geschmachtet – wie es sich in einer Gesellschaft gehörte, die sich ihrer vom Gesetz vorgeschriebenen Verantwortung bewusst war.
»Ich gehe von der freudigen Gewissheit aus, dass das Heim meiner Vorfahren in kompetenten, oder sollte ich lieber sagen, treusorgenden Händen ist«, äußerte der Lord.
»Können Sie gerne sagen«, meinte Lolly, »nur blockiert Ihr Wagen immer noch …«
Declan hatte seinen Hochsitz verlassen, möglicherweise wurde sein Eingreifen nötig.
»Ja, natürlich«, fiel ihr der Lord ins Wort. »Ich werde ihn sogleich zur Seite fahren. Doch zuvor, glauben Sie, es gäbe etwas dagegen einzuwenden, wenn ich, wie soll ich sagen, durch das Gelände streife und in Träumereien schwelge, die unerfüllt blieben? Ich meine damit die Rückgabe der Burg an ihren rechtmäßigen … ich meine, die Erfüllung meiner Kindheitsträume, dass ich als Lord Shaftoe durch die Hallen, Wiesen und Felder wandle, wo sich in glückvolleren Zeiten meine Vorfahren die Ehre gaben.«
»Ich fürchte, mir steht es nicht zu, Ihnen das zu gestatten. Würden Sie jetzt endlich Ihr dämliches …«
»Aber ja. Nur einen Moment noch. Ich sehe da jemand, der vielleicht ein wenig zuvorkommender ist.« Er hob die Hand und rief: »Mr Sweeney! Ich bin’s. Ich … ja … ich bin hier, um Ihnen zu danken. Sie haben doch nichts dagegen.«
Declan hatte Kieran schon von Weitem den Berghang hinabsteigen sehen. Der Burgherr hatte dann aber einen großen Bogen gezogen, um den Morast am Fuße des Crohan zu umgehen. Als er jetzt den Hof betrat, begrüßte er den Eindringling mit den Worten: »Mr Shaftoe, wenn mich nicht alles täuscht.«
Der Lord brach in ein befremdliches Gelächter aus, halb kichernd, halb meckernd. »Wenn Ihnen die Form der Anrede beliebt. Ich will gewiss nichts Besseres sein als jeder andere, das heißt, es kommt darauf an, wer der andere ist.« Sichtlich zufrieden mit seiner sinnigen Bemerkung beendete er den Satz mit erneutem Lachen. Dass keiner der Umstehenden sein Verhalten lustig fand, störte ihn nicht.
Kieran kam näher. »Wieso sitzen Sie nicht im Gefängnis?«
»Man kann von dem Staat schlecht erwarten, dass er einen da unendlich festhält, oder? Ich jedenfalls nicht. Ich habe seine Gastfreundschaft eine Zeitlang genossen, das reicht, jetzt muss ich wieder für mich selbst verantwortlich sein. Wie jeder andere Bürger, der etwas auf sich hält.«
»Sie sind doch sicher aus einem bestimmten Grund gekommen.«
»Vor allen Dingen, um Ihnen zu danken. Ich will mich da nicht in Einzelheiten verlieren, bin ich doch sicher, dass Sie nicht vergessen haben, wie freundlich Sie waren. Sie haben mich daran gehindert, eine Tat zu vollbringen, die absolut gegen meine Natur ist, erst recht gegen meinen Stand in höheren Kreisen. Sie wollten mein Leben retten und haben es im Endeffekt auch getan. Der Tag damals? Oben auf den Zinnen? Erinnern Sie sich?«
»Und ob.«
»Gut. Auch ich werde das nie vergessen. Kein Wandel der Zeiten wird meiner Dankbarkeit etwas anhaben können. Wann immer es eine Frage der Ehre ist, bin ich ein Mann der Standhaftigkeit. Und Ihr Handeln verdient weit mehr, als in meinen bescheidenen Kräften steht.«
»Nett von Ihnen. Danke.«
»Das wäre nun also gesagt. Ich kann mir nicht vorstellen … ich meine, ich gedenke nach Australien zurückzukehren, und ich hoffte sehnlich, dass ich, ehe ich … fast hätte ich gesagt in See steche, aber wer tut das heute schon noch … also bevor ich von dem Land meiner Vorfahren Abschied nehme, das sich am besten hier in der Burg manifestiert, hoffe ich doch, dass Sie mir einen letzten … vielleicht raschen Rundgang …«
»Ich denke, Sie haben genügend Erinnerungen.«
»Dann gestatten Sie mir, selbige aufzufrischen … lebendig werden zu lassen, ehe ich …«
»Ich finde, es ist wirklich nicht …«
»Sie verstehen gewiss besser als jeder andere Sterbliche, was die Burg für mich bedeutet.«
»O ja. So viel, dass Sie nicht vor Fälschungen und unwahren Behauptungen zurückschrecken, um sie an sich zu bringen.«
»Aber das beweist doch nur umso mehr, wie groß meine Liebe zur Burg ist. Dass ich mich so weit vergessen konnte, kriminelle Handlungen zu begehen. Dass ich meinen Namen entwürdigte und mich auf Dinge einließ, die eigentlich Meineidigen und Schurken vorbehalten sind.«
»Ist ja heiter. Wirklich heiter. Trotzdem, ich halte es wirklich nicht …«
»Vielleicht könnten Sie sich auf einen Kompromiss einlassen. Vergessen wir den Rundgang. Nur einen kleinen Schritt hinein. In die Große Halle – für die ich so überwältigende Pläne hatte und von denen nun nicht ein einziger verwirklicht wird. Das werden Sie mir doch nicht wirklich abschlagen wollen.«
»Wenn damit dieses leidige Gespräch ein Ende hat, na gut.«
»Großzügig wie immer. Ich danke vielmals.«
»Denken Sie dran, die Halle dient gegenwärtig mehr oder weniger als Rinderstall.«
»Ich habe mich seit langem darin geübt, widerwärtige Dinge – ganz gleich, ob sie Auge oder Nase beleidigen – zu ignorieren oder besser, bewusst darüber hinwegzusehen. Sie können getrost sein, ich bin bei dem Erlebnis, das Sie mir so großzügig gewähren, auf alles gefasst.«
»Okay. Kommen Sie. Aber passen Sie auf, wohin Sie treten.«
Wieder ein verächtlicher Lacher, dann strebte der Lord der Großen Halle zu, vorbei an dem Laster, auf dem das Schwein vor sich hin wimmerte. Kieran machte die imposanten Türen weit auf.
Der Gestank drang bis zu Declan und Lolly, aber keiner von beiden zeigte die geringste Reaktion. Für sie gehörte der Geruch zu Kühen, die für sie liebenswerte und friedliche Tiere waren. Er schwängerte die Luft und erinnerte daran, dass so beruhigende Geschöpfe wie Kühe Mitbewohner der Burg waren. Declan tat es fast leid, dass dank seiner Mühen die Kühe bald in Ställen hausen würden, auch wenn ihnen die Naturelemente wegen seiner meisterlich gedeckten Dächer nichts würden anhaben können. Es war durchaus möglich, dass sie den Prunk, der sie über ein Jahr umgeben hatte, vermissen würden, aber Declan tröstete sich damit, dass diese Kühe anpassungsfähig waren, eine Fähigkeit, die den meisten ihrer Art abhanden gekommen war.
»Hoffentlich versinkt er im Mist«, hörte Declan Lolly sagen. »Und wälzt sich richtig drin, ehe er sich wieder hochrappelt. Vielleicht sollte ich reingehen und ein wenig nachhelfen.«
Declan war schon im Gehen, um sich wieder seiner Dachdeckerei zu widmen, als er den Lord, mühsam humpelnd herauskommen sah. Kieran bot ihm am linken Arm festen Halt. Frischer Kuhmist ließ den linken Schuh nur noch erahnen. Lolly ergötzte sich schadenfroh an dem Anblick. Vergeblich stampfte der Lord mit dem Fuß auf, der Dreck saß fest. »Dass da überall, wo man hintritt, Kuhfladen herumliegen, hatte ich nicht erwartet.«
Kieran nahm das Missgeschick seines Gastes sichtlich erheitert zur Kenntnis. »Ich hatte Sie ja gewarnt.«
»Trotzdem war mit der Größenordnung beim besten Willen nicht zu rechnen.«
»Dafür haben Sie jetzt wieder trockenen Boden unter den Füßen. Leben Sie wohl, ehe Sie eine weitere Bescherung ereilt.«
Kieran steuerte ihn zu dem Bentley und öffnete sogar die Tür für ihn. Der Lord zögerte mit dem Einsteigen. »Vielleicht gestatten Sie mir ein paar Schritte auf dem Gras dort … um … um … Sie sehen ja, mein Schuh ist arg verschmutzt.«
»Das ist kein Gras. Das ist unser Garten, und der ist bereits bestens gedüngt, danke.«
»Gewiss kann mir jemand hier beispringen und …«
»Derlei Dienstleistungen gehören nicht zur Gastfreundschaft des Hauses. Leben Sie wohl, Mr Shaftoe.«
Der Lord stieg ein, schlug die Tür zu, ließ unnötig laut den Motor an, wendete rasant, dass der Kies aufspritzte, und raste davon. Kieran klopfte sich den Staub und Schmutz von den Hosen – das Intermezzo Lord Shaftoe war für ihn beendet.
Er nickte Declan und Lolly zu und ging hinüber zum Garten, wo er mehr oder weniger wahllos etwas pflückte oder aufsammelte. Das seiner Freiheit beraubte Schwein stemmte sich gegen die Ladeklappe des Lasters, schrie und quiekte, als ginge es bereits ums Schlachten. Lolly kletterte in ihren Wagen und fuhr ab. Das Geisterschwein lief los und stellte sich dem Laster in den Weg. Erreichen konnte es damit nichts. Der Wagen fuhr drauf los, und hinter ihm tauchte das Schwein unversehrt mitten auf der Straße wieder auf, ein Beweis dafür – falls es denn eines Beweises bedurfte –, dass die Welt der Geister ohne die Hilfe eines irdischen Verbündeten nichts ausrichten konnte.
Mit zunächst gesenktem, dann erhobenem Kopf schaute es ein, zwei Momente zur Tür der Großen Halle, die noch offen stand, und trottete hinein. Natürlich wusste Declan, dass das Tier keine offene Tür nötig gehabt hätte, um in die Halle zu gelangen, doch er nutzte die Gelegenheit und folgte dem Schwein.
Die Stelle mit dem verschmierten Kuhfladen, auf dem der Lord ausgerutscht war, war nicht zu übersehen. Zu übersehen war aber auch nicht das Schwein, das nach oben starrte. Und dort oben an dem großen Kronleuchter mit den hundert Kerzen hingen an groben Stricken Brid und Taddy, ihre leblosen Körper schwangen in dem Luftzug, der durch die offene Tür entstand, sacht hin und her. Ergreifend, die schwarzen und geschwollenen Zungen, die herausquellenden Augen.
Nie zuvor hatte Declan dieses Bild gesehen. Nie hatte man ihn auf eine solche Möglichkeit vorbereitet. Er musste sie da herunterholen. Schnell. Doch noch ehe er an die Tür gelangte, um das nötige Werkzeug herbeizuschaffen, ging ihm auf, dass auch die Stricke nur Geisterspuk waren, sich seinem Eingreifen widersetzen würden. Er drehte sich um, sah erneut hin. Langsam schwebten sie umher, aufeinander zu und wieder voneinander weg. Die leblosen Augen vermochten sich gegenseitig keinen Trost zu spenden.
In nahezu feierlichem Ernst kniete Declan Tovey in dem dick gestreuten Stroh nieder, senkte die Stirn in den viehischen Gestank. Mit ausgestreckten Armen legte er einen Eid ab. Er würde sie befreien, sie erlösen. Was immer ihm das auch abverlangte, er schwor, Mittel und Wege zu finden.
Er erhob sich und blieb stehen. Die beiden waren verschwunden. Auch das Schwein. Er stand allein in dem riesigen Raum inmitten von Scheiße und Pisse. Eine heilige Stätte und derart entweiht. Ja, er würde die Dächer der Ställe decken. Noch heute würde er damit fertig werden, noch diese Stunde, dann die Kühe hier hinaustreiben, sodass nur noch frische Seeluft vom Meer hereinströmte. Ja, das würde er tun und sein Leben als erfüllt betrachten. Das war es, weshalb er als Nachgeborener seiner Vorfahren, die er in Ehren hielt, auf Erden weilte. Es sollte vollendet, vollbracht werden.
Als er hinausging, traf er auf Kieran, der irgendein Bündel anschleppte. Declan hastete an ihm vorbei, ohne ihn im Geringsten zu beachten, und bemerkte nicht, dass Kieran ihn verdutzt ansah. Wie sollte der auch nicht, so verdreckt, wie Declan war, obendrein roch er nach Pisse. Doch für Declan spielte das alles keine Rolle.