Kapitel 20

Hundertundacht Kandidaten waren mit der Hoffnung ins Prüfungszentrum gekommen, es bis an die Universität zu schaffen. Nur neunundzwanzig davon sitzen heute wieder im Speisesaal. Man hört jedoch Gerüchte, es bestünde noch immer die Möglichkeit, dass weitere Prüflinge zurückkehren.

Offizielle haben mir erzählt, dass bereits neun Tage vergangen sind, seitdem ich die weiße Linie überquert und damit die vierte Testrunde bestanden habe. Die meiste Zeit davon war ich ohnmächtig. Es hat sich herausgestellt, dass das Gift in meinem Arm mich in weitaus größere Gefahr gebracht hat, als ich angenommen hatte. Hätte ich nicht den Großteil der toxischen Substanzen aus der Wunde gedrückt, dann wäre ich jetzt tot. Selbst so haben die Ärzte mehrere Stunden dafür gebraucht, sich darüber klar zu werden, welche Wirkstoffe sie in meinen Körper pumpen müssen, um das restliche Gift herauszubekommen. Ein Gerät zur Beschleunigung des Heilungsprozesses hat dafür gesorgt, dass sich die Wunden schließen, konnte aber aufgrund der Schädigung, die die Kontamination meinem Gewebe bereits zugefügt hatte, eine Narbenbildung nicht mehr verhindern. Ich werde für immer von der Auslese gezeichnet sein. Als ob ich das je bezweifelt hätte.

Tomas’ Wunden sind dank der medizinischen Möglichkeiten in Tosu-Stadt besser und sogar ohne Narben verheilt. Wenn ich allerdings sehe, welche Blicke er und Will sich zuwerfen, frage ich mich, ob weitere Narben nicht unvermeidlich sein werden. Ich bin dankbar, dass das Protokoll der Auslese vorschreibt, alle Waffen sofort aus dem Gepäck der Kandidaten zu entfernen, sobald sie die Ziellinie überschritten haben. Nur dieser Regel habe ich es zu verdanken, dass ich nachts überhaupt ein Auge zubekomme.

Ich spüre, wie mich Will quer durch den Raum hinweg beobachtet. Als er merkt, dass ich ihn ertappt habe, lächelt er mir zu und winkt. Er sitzt bei einer Gruppe von anderen Kandidaten. Mit den meisten von ihnen habe ich noch kein einziges Wort gewechselt. Einer von ihnen ist Brick. Auch er hat mich noch nicht angesprochen, aber ich bin froh darüber, denn ich glaube kaum, dass ich mich mit ihm unterhalten kann, ohne dabei an das Massaker zu denken, das er mir zuliebe angerichtet hat. Ich frage mich, ob er überhaupt begriffen hat, dass er damals Menschenleben auslöschte, und ob ihn die blutigen Gesichter seiner Opfer in seinen Träumen heimsuchen, so wie sie mich quälen.

Auf der anderen Seite des Saals sitzt Stacia. Ihre Miene ist ebenso undurchdringlich wie während des Tests. Sie sitzt nicht mit ihrem Reisebegleiter, mit Vic, zusammen, sondern hat sich einen Tisch abseits von allen anderen gesucht. Der rothaarige Vic hat weit weg von ihr Platz genommen. Tracelyn, das Mädchen, das seinen Freund vermisste und so gerne Lehrerin werden wollte, ist nirgends zu entdecken. Der gehetzte Ausdruck in Vics Augen und das wissende Lächeln auf Stacias Lippen schüren meine Vermutung hinsichtlich dessen, was wohl mit ihr geschehen sein könnte.

Tomas und ich sprechen nicht mit anderen, während wir darauf warten, dass nach dem Ende der vierten Runde der Auslese endlich die Abschlussgespräche anfangen. Wir sitzen bei den Mahlzeiten zusammen, und wenn es uns erlaubt wird, gehen wir draußen auf dem Gelände des Prüfungszentrums spazieren. Wir unterhalten uns gerade über zu Hause, als mir Tomas ins Ohr flüstert, er glaube, er habe einen Weg gefunden, wie wir unsere Erinnerungen bewahren können. Während er im Krankenhaus lag, habe er mit angehört, wie seine Ärzte mit einem Prüfer über die Medikamente sprachen, die ihm und einigen anderen verwundeten Kandidaten verabreicht wurden. Der Offizielle war besorgt, weil bekannt geworden war, dass diese Arzneien bei den bevorstehenden Testverfahren Probleme bereiten könnten. Er beharrte darauf, dass Tomas und die übrigen Kandidaten streng überwacht würden, damit ihre Körper keine Spuren der Wirkstoffe mehr in sich trügen, sobald die endgültige Auswahl für die Universität getroffen werden sollte.

»Sie haben gedacht, ich würde schlafen. Als die Krankenschwester mir das nächste Mal meine Pillen brachte, habe ich nur so getan, als würde ich sie alle schlucken. Stattdessen habe ich eine davon aufgehoben. Ich werde während der nächsten Behandlung versuchen, noch eine abzuzweigen. Einige der Schwestern lassen sich leichter ablenken als andere. Es wird also davon abhängen, an wen ich gerate.«

Mich überrascht es nicht, dass Tomas mit seinem Grübchen-Lächeln und den klaren grauen Augen manche Krankenschwestern von ihrer Arbeit ablenkt. Für mich sind seine Küsse ebenfalls eine wunderbare Zerstreuung. Im Laufe der nächsten zwei Tage fügt Tomas seinem Vorrat noch eine Tablette hinzu, und fünf weitere Kandidaten überqueren die weiße Ziellinie. Jedes Mal, wenn ein Neuankömmling den Speisesaal betritt, schlägt mein Herz schneller. Ich hoffe so sehr, dass die letzte Kandidatin aus Five Lakes es zurück nach Tosu-Stadt schafft. Aber jedes Mal ist es nicht Zandris Gesicht, das in der Tür auftaucht. Und als während des Abendessens eine Durchsage erfolgt, die uns mitteilt, dass am nächsten Tag die Gespräche beginnen würden, weiß ich, dass sie nicht mehr kommen wird.

In dieser Nacht gesellt sich Zandri zu den anderen, die mich in meinen Träumen heimsuchen. Ihr blondes Haar ist auf dem rissigen braunen Erdboden ausgebreitet, und ihr Mund steht vor Überraschung offen, während die Vögel sich an ihren Augen weiden.

Ich fahre aus dem Schlaf hoch und versuche, einen Schrei zu unterdrücken. Ich brauche mehrere Minuten, ehe ich mich daran erinnere, dass ich im Prüfungszentrum bin und nicht mehr länger draußen in der Ödnis und in Gefahr. Dann fällt es mir wieder ein.

Heute fangen die Evaluationen an. Die Gefahr ist noch keineswegs vorbei.

Ich starre an die Decke und presse meine Tasche an die Brust, bis der Morgen anbricht. Da ich keine Zimmergenossin habe, gibt es überhaupt keinen Grund dafür, mit der Tasche im Arm zu schlafen. Aber es ist schwer, sich von alten Gewohnheiten zu trennen.

Als das erste Licht durch das Fenster hereinströmt, schiebe ich meine Beine aus dem Bett und gehe ins Badezimmer, wo ich dusche und die Taschen der Hose durchsuche, die ich gestern getragen habe. Meine Finger schließen sich um das Fläschchen, aus dem ich vor meinem Gespräch trinken soll. Wie versprochen, war es zwischen meinen Habseligkeiten versteckt, als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde.

Ich setze mich auf den Boden, rolle die Phiole zwischen meinen Fingern hin und her und rufe mir die Worte des grauhaarigen Mannes ins Gedächtnis.

Vor dem Gespräch werden sie dir eine Droge verabreichen, die dich dazu bringt, alle Fragen ehrlich zu beantworten, ohne irgendwelche Geheimnisse für dich zu behalten.

Damals habe ich geantwortet, dass ich nichts zu verbergen hätte, aber ich habe mich geirrt. Vielleicht können meine Antworten nicht mir persönlich gefährlich werden, aber anderen schon. Wenn mich die Prüfer über meinen Vater ausfragen, über Zeen und unsere frühere Lehrerin, dann besteht die Möglichkeit, dass ich jemanden verrate und in Schwierigkeiten bringe. Sollte dieses Fläschchen in meinen Händen mir die Chance eröffnen, sie alle zu retten, dann muss ich den Inhalt trinken. Es sei denn natürlich, ich käme zu der Überzeugung, dass Dr. Barnes und seine Prüfer mir diese Droge in die Hände gespielt haben und dass alles nichts weiter als ein neuerlicher Test ist. Werde ich mit Krankheit oder gar Tod bestraft, wenn ich die Flüssigkeit trinke? Ich traue es dem Komitee auf jeden Fall zu.

Ich muss eine Entscheidung treffen. Trinke ich aus der Ampulle, oder lasse ich sie unangetastet?

Als wir über Lautsprecher zum Frühstück gerufen werden, bin ich noch immer zu keinem Entschluss gekommen. Ich muss mich damit beeilen. Schon bald werden sich die Offiziellen darüber wundern, warum ich meinen Raum nicht verlasse, und Fragen stellen, die ich nicht beantworten kann. Ich muss mich entscheiden, was ich glaube …

Dann entferne ich den Korken und trinke den Inhalt. Die Sicherheit meiner Familie muss an erster Stelle stehen. Wenn ich die falsche Wahl getroffen habe, werde ich es bald genug erfahren. Ich greife nach meiner Tasche, stehe auf und gehe nach draußen, um mich dem zu stellen, was dieser Tag bringen mag. Ob gut oder böse: Die Auslese findet heute ihr Ende.

Beim Frühstück geht es laut zu. Die meisten Kandidaten sitzen zusammen in der Mitte des Speisesaals, als müssten sie jedem beweisen, dass sie sich nicht vor der Evaluation fürchten. Will ist der Mittelpunkt der Gruppe und reißt einen Witz nach dem anderen. Er unterbricht sich nur kurz, um mich zu taxieren, als ich an ihm vorbeigehe, mich an einen der hinteren Tische setze und auf Tomas warte.

Während ich an einem Stück Brot knabbere, konzentriere ich mich darauf, ob die Droge schon ihre Wirkung entfaltet. Will bemerke ich erst, als er mir gegenüber einen Stuhl über den Boden scharren lässt und Platz nimmt.

Er beißt von einem Apfel ab und mustert mich über den Tisch hinweg. »Ich dachte, es würde dich interessieren, dass ich fast gestorben wäre. Der letzte Schuss, den du abgegeben hast, hat meinen Blinddarm erwischt. Ein Glück, dass ich den nicht zum Leben brauche. Ansonsten wäre ich jetzt nicht hier.« Als ich nichts erwidere, verschwindet sein Lächeln. »In Ordnung, ich weiß, dass das wahrscheinlich bescheuert klingt, aber ich bin froh, dass ich dich nicht umgelegt habe, wie es eigentlich mein Plan war.«

»Du hast recht. Es klingt bescheuert.« Und weil ich es mir einfach nicht verkneifen kann, füge ich hinzu: »Ich habe dir vertraut.«

»Ja. Das ist deine Achillesferse. Anführer sollen andere dazu bringen, ihnen zu vertrauen. Aber sie sollen nicht selber so dumm sein.«

»Du hast Gill vertraut.«

In seinen Augen sehe ich Schmerz aufblitzen, doch der Moment ist schnell verflogen, und ein boshaftes Grinsen erscheint auf seinem Gesicht. »Das wiederum war meine Achillesferse. Als Gill ausgeschieden war, konnte ich mich in der zweiten Runde der Tests nicht richtig konzentrieren. Das werden sie mir wohl im Abschlussgespräch zum Vorwurf machen, aber ich denke, in der dritten und vierten Runde habe ich mehr als deutlich unter Beweis gestellt, dass ich mein Ziel im Blick habe.«

»Zandri hat gar nichts davon erzählt, dass du in der dritten Runde irgendetwas unternommen hättest.«

Will lacht. »Weil sie als Erste reingegangen ist. Erst als du hier in den Saal kamst und von Romans Trick in deiner eigenen Gruppe berichtet hast, hat sie eins und eins zusammengezählt. Ich nämlich war der Zweite in unserer Gruppe, und als der dritte Prüfungsteil zu Ende war, ohne dass irgendjemand aus unserer Gruppe zurückgekehrt wäre, hat Zandri begriffen, was ich getan habe.«

Wortlos starre ich Will an, während ich sein Geständnis nur nach und nach zu fassen beginne. Will hat die gleiche Entscheidung wie Roman getroffen, nämlich die, seine Teamkameraden zu verraten und seine Konkurrenten auszuschalten. Ich hätte das bemerken müssen, aber ich war so darauf fixiert, auf Bricks Rückkehr zu warten, dass ich nicht genug auf meine Freunde achtgegeben habe. Wenn ich aufmerksamer gewesen wäre, dann wäre Tomas niemals angeschossen worden. Auf der anderen Seite: Ohne Will hätten Tomas und ich unser Zusammentreffen mit Roman vielleicht nicht überlebt.

»Ich hatte geglaubt, du wärst ein netter Kerl, Will.«

»Ich bin ein netter Kerl.« Er lacht.

»Nette Kerle töten nicht.«

»Das Töten war die leichteste Übung. Es war auch nicht anders, als zu Hause einen Wolf zu erlegen. Man zielt, feuert, und das Problem ist gelöst.«

»So einfach ist das also, ja?« Bittere Galle steigt heiß und brennend in meiner Kehle auf. »Das blonde Mädchen, das du mit deiner Armbrust getötet hast, war kein Tier. Es hatte eine Familie, Freunde und Menschen, die an ihm hingen. Es hat nach Kräften versucht, diesen Test zu überleben. Genau wie du.«

Ich warte darauf, dass er seine Taten verteidigt und mir sagt, dass das alles notwendig gewesen sei und dass er eine Wahl habe treffen müssen, wenn er sich einen Platz an der Universität sichern wollte. Stattdessen senkt Will seine Stimme zu einem Flüstern und sagt: »Ihr Name war Nina. Sie kam aus der Pierre-Kolonie. Eines der Mädchen, das es bis hierher zurück geschafft hat, ist mit ihr zusammen zur Schule gegangen.«

»Nina.« Ich denke an das Armband in meiner Tasche und bin froh über diese Information. Ihren Namen zu kennen macht sie zwar nicht weniger tot, aber mir bedeutet es etwas.

Will nickt. »Und nein. Du hast recht. Es ist nicht einfach. Der Tötungsakt selber schon. Aber damit zu leben …« Er blickt an mir vorbei und seufzt. »Tja, vielleicht geht es bei diesem ganzen Test nur darum. Anführer sind dauernd gezwungen zu töten. Und dann müssen sie lernen, mit ihren Entscheidungen zu leben. Genauso, wie ich mit meinen leben werde.«

»Du denkst ernsthaft, dass es im vierten Prüfungsteil darum ging? Dass man herausfinden sollte, ob man töten und hinterher damit klarkommen kann?«

Er zuckt mit den Achseln. »Ich schätze, wir werden es erfahren, nicht wahr?«

Seine Worte klingen wie ein Echo von Stacia und auch von Dr. Barnes, der zusah, wie Rymes Körper von der Decke geholt wurde. Er hatte geglaubt, ihr Tod wäre das Beste für alle gewesen. Ich habe solche Angst, dass Will recht hat. Dass es in der ganzen Auslese einzig darum geht, zu töten und zu lernen, damit zu leben. Da ich selbst Leben ausgelöscht habe, muss ich mir keine Gedanken machen, ob ich die Prüfungskriterien erfüllt habe. Aber ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich wirklich eine Anführerin werden möchte. Nicht, wenn mein Land einem Mord mehr Wert beimisst als jeder Form von Mitleid.

Eine Bewegung am Ende des Speisesaals lenkt mich ab, und als ich hochblicke, lächele ich zum ersten Mal an diesem Tag. Tomas. Er beißt sichtlich die Zähne zusammen, als er Will entdeckt, aber er kommt trotzdem nicht sofort zu uns. Stattdessen nimmt er sich einen Teller und tut sich etwas zu essen auf. Wenn Will klug ist, verschwindet er, ehe Tomas zu uns stößt.

Will folgt meinem Blick und knurrt: »Ich hätte wissen müssen, dass du einen Weg finden wirst, ihn zu retten, so wie du mich gerettet hast. Nur fürs Protokoll: Ich bin alles andere als erfreut darüber, dass er noch am Leben ist. Nichts für ungut.« Er beugt sich zu mir und fügt hinzu: »Ich hasse es, das zu sagen, aber er verdient dein Vertrauen wirklich nicht, Cia. Und auch nicht deine Liebe. Ach, zur Hölle …« Er lässt seinen Blick durch den Raum wandern, ehe er mich wieder anschaut. »Keiner von uns hat sie verdient.«

Noch bevor Tomas an unserem Tisch angekommen ist, steht Will auf, nickt mir noch einmal zu und kehrt zu seiner eigenen Gruppe zurück.

Tomas stellt seinen Teller neben meinem ab, aber sein Blick ist stur auf Will gerichtet. »Was wollte der denn?«

Gute Frage. Ich bin mir nicht sicher, ob ich darauf auch eine gute Antwort habe. Aber ich versuche es.

»Er wollte mir sagen, wie froh er ist, dass ich noch lebe. Allerdings ist er nicht ganz so glücklich, dass du auch noch da bist.«

Tomas lächelt: »Tja, dumm gelaufen für ihn. Ich habe nämlich vor, noch richtig lange hierzubleiben.«

»Freut mich zu hören.«

»Ich hoffe, dass du das Gleiche vorhast.« Er schaut sich die herumalbernden Kandidaten im Saal an und fragt mich: »Bist du bereit für das Abschlussgespräch?«

Ich höre Wills lautes Lachen und frage mich, ob er vielleicht recht damit hatte, wonach die Prüfer suchen. Dann schüttele ich meine Besorgnis ab und sage: »Wir müssen doch nur noch ein paar Fragen beantworten. Nach allem, was wir durchgemacht haben, kann das doch nicht mehr so schwer sein.«

»Guten Morgen.« Dr. Barnes lächelt uns von der Bühne des Versammlungsraums herunter an. »Ich gratuliere euch zum Bestehen aller vier Prüfungsteile und kann euch gar nicht sagen, wie beeindruckt wir von eurer Intelligenz, euren Fähigkeiten und eurer Hingabe waren. Während dieses vierten Tests hattet ihr die Chance, über die Grenzen eurer revitalisierten Kolonien hinauszublicken und aus erster Hand zu erfahren, welche Herausforderungen unsere zukünftigen Anführer erwarten. Die Prüfungen, die wir euch auferlegt haben, waren anspruchsvoll und die Konsequenzen für ein Versagen hoch. Aber die Herausforderungen und die Konsequenzen, denen unsere Anführer sich gegenübersehen werden, werden noch weitaus ernster sein. Wir wissen, dass wir euch viel abverlangt haben, und wir sind hocherfreut, dass so viele mehr von euch als erwartet diese letzte Runde überstanden haben.«

Ich denke unwillkürlich daran, wie viel größer unsere Gruppe am Anfang war und wie gering die Anzahl der Überlebenden in den letzten Jahren gewesen sein muss, wenn Dr. Barnes mit noch weniger Kandidaten für die Abschlussgespräche gerechnet hat.

»Natürlich fragt ihr euch jetzt alle, wie die heutige Evaluation ablaufen wird. Ich freue mich, euch mitteilen zu können, dass die Gespräche kurz und verhältnismäßig leicht sein werden. Bisher habt ihr uns eure Intelligenz und euer strategisches Denkvermögen demonstriert. Ihr habt uns gezeigt, dass ihr unter schwierigen Bedingungen überleben und bei unerwarteten Wendungen Lösungen finden könnt. Wir wissen, dass ihr klug seid. Jetzt wollen wir mehr über jeden von euch als Person herausfinden. Wir werden euch Fragen über euch selbst stellen, über eure Familie und eure Kolonie, aber auch über die Entscheidungen, die ihr während eurer Zeit hier bei der Auslese getroffen habt. Bitte seid offen und ehrlich. Im Grunde fordern wir euch auf, einfach ihr selbst zu sein. Nichts, was ihr sagt, kann falsch sein, es sei denn natürlich, es ist eine Lüge. Als Mitglieder des Vereinigten Commonwealth verlangen wir von unseren Anführern, dass sie ehrlich und aufrichtig sind. Das Gleiche verlangen wir heute von euch.«

Ich frage mich, wie sie diese Regel durchsetzen wollen und was die Strafe dafür ist, wenn wir nicht vollkommen wahrheitsgemäß antworten.

Dr. Barnes ist jedoch bereits zur allgemeinen Vorgehensweise übergegangen. »Jeder von euch wird von einem Ausschuss von fünf Offiziellen befragt werden. Jede Evaluation kann bis zu fünfundvierzig Minuten dauern. Bitte lest nichts in die Dauer eures Gesprächs hinein. Wenn eure Zeit um ist, werdet ihr zurück in die euch zugewiesenen Quartiere gebracht, wo ihr auf die endgültige Entscheidung warten müsst. Ich möchte euch vorwarnen – es kann eine ganze Weile dauern, bis wir zu einem Urteil gelangt sind. Wir bitten euch, Geduld zu haben, während wir uns zu einigen versuchen, wer die besten Kandidaten für die Universität sind. Man behauptet, dass einige von uns ziemlich halsstarrig seien.«

Er wirft uns ein letztes, warmes Lächeln zu. »Viel Glück jedem Einzelnen von euch. Ich freue mich darauf, mit vielen von euch zusammenzuarbeiten, wenn ihr nächstes Jahr die Universität besuchen werdet. Ich weiß, dass wir gemeinsam fabelhafte Dinge auf die Beine stellen werden.«

Dr. Barnes verlässt den Raum, und eine grauhaarige Frau in einem blutroten Jumpsuit übernimmt seinen Platz auf der Bühne. »Wenn euer Name aufgerufen wird, steht ihr bitte auf und geht hinaus auf den Flur. Von dort aus werden euch die Prüfer zu dem Raum bringen, in dem euer Gespräch stattfinden wird.«

»Victor Josslim.«

Der rothaarige Vic steht auf. Er hält den Kopf gesenkt, als er aus dem Raum geht. Mir fällt auf, wie dünn und blass er geworden ist im Vergleich zu dem Jungen, den ich in der ersten Woche des vierten Prüfungsteils kennengelernt habe. Er hat sich verändert – wie wir alle. Während weitere Namen verlesen werden, umklammere ich Tomas’ Hand und frage mich, ob das der Grund ist, warum uns die Prüfer unsere Erinnerungen nehmen wollen: um die Uhr zurückzudrehen. Um uns wieder in die jungen Erwachsenen zu verwandeln, die voller Tatendrang hier ankamen und glaubten, sie könnten die Welt verändern.

Ich spüre, wie Tomas zusammenzuckt, als sein Name ertönt. Meine Lippen streifen seine Wange. Ich wünsche ihm viel Glück, dann ist er fort, und ich sitze allein da und warte darauf, dass mein Name aufgerufen wird. Und erst in diesem Augenblick fällt es mir auf. Tomas hat die Pillen behalten, und zwar beide, die er hat aufsparen können und die die einzige Chance darstellen, unsere Erinnerungen an die Prüfung zu bewahren, falls wir durch das Evaluationsgespräch kommen. Ich kann nur hoffen, dass wir uns noch einmal sehen können, ehe unsere Erinnerungen entfernt werden. Wenn nicht, dann wünsche ich mir inständig, dass Tomas die Tabletten schluckt und sich für uns beide erinnert.

Nach und nach leert sich der Raum. Ich versuche, still zu sitzen, aber ich kann nicht anders, als unruhig hin und her zu rutschen bei dem Gedanken an die Fragen, die die Prüfer stellen können, und an die Antworten, die sie wohl erwarten. Dr. Barnes hat gesagt, wir könnten keine falschen Antworten geben, aber ich weiß, dass das nicht stimmt. In dieser Phase müssen vierzehn weitere Kandidaten ausgesiebt werden. Das Prüfungskomitee wird auf jeden Fall auf etwas Bestimmtes achten. Ich wünschte nur, ich wüsste, was das ist.

»Malencia Vale.«

Meine Beine sind weich, als ich aufstehe und hinaus auf den Flur trete. Mein Herz hämmert in meiner Brust. Im Kopf wiederhole ich Dr. Barnes’ Worte: »Sei einfach du selbst«, während ich einem Offiziellen zu einer Tür am Ende des Ganges folge. Er bittet mich, einen Moment zu warten, und schlüpft in den Raum dahinter, aus dem ich Stimmengewirr höre. Ich knabbere an meinem Daumennagel und kämpfe gegen den Drang an, auf und ab zu laufen, um der nervösen Energie, die sich in mir staut, ein Ventil zu geben.

Nach einigen Minuten geht die Tür wieder auf, und eine Stimme sagt: »Bitte, komm herein.«

Sei einfach du selbst, denke ich, als ich einen Schritt über die Türschwelle mache. Doch anstatt mich zu beruhigen, lassen diese Worte mein Herz nur noch schneller schlagen. Ich weiß nämlich nicht genau, wie ich das anstellen soll. Ich bin nicht mehr das Mädchen, das die Five-Lakes-Kolonie in dem Glauben verlassen hat, dass der Tag der Abschlussfeier aus einem Kind eine Erwachsene macht. Zu dem Zeitpunkt war ich ganz ohne jeden Zweifel nicht erwachsen, und jetzt …

Nach allem, was ich gesehen und getan habe, muss ich mir eingestehen, dass ich nicht genau weiß, wer ich eigentlich bin. Aber ich weiß, dass ich das besser schnell herausfinden sollte, denn in diesem Abschlussgespräch muss ich dem Komitee mein wahres Ich zeigen.

Und die endgültige Auslese hat soeben begonnen.