Kapitel 19

»Runter«, schreie ich und sehe mich hektisch um. Mein ganzer Körper bebt vor Anspannung und Furcht. »Ich habe gar nicht geschossen. Da ist noch jemand anders mit einer Waffe.«

»Das wäre dann wohl ich.«

Ich wirble herum, ziele und spanne den Finger am Abzug. Erst dann dämmert mir, dass die Stimme irgendwie vertraut klingt. Der großspurige Ton passt nur zu einer einzigen Person hier draußen.

Will.

Ich lasse die Waffe sinken und blicke ihm entgegen, als er auf uns zugeschlendert kommt und seine Pistole dabei lässig um den Finger kreiseln lässt. Und obwohl es Tomas so stört, dass ich Will mag und ihm vertraue, kann ich nicht anders, als ihm um den Hals zu fallen. »Du hast ja keine Ahnung, wie froh ich bin, dich zu sehen«, sprudelt es aus mir hervor. »Ich weiß nicht, ob ich es rechtzeitig geschafft hätte, Tomas zu retten. Danke.«

Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm dankbar bin, weil er Tomas das Leben gerettet hat oder weil er mich davor bewahrt hat, einen anderen Menschen zu erschießen. Vermutlich beides.

Will tritt einen Schritt zurück und schiebt die Pistole in seine Tasche. »Ich bin mir sicher, ihr wärt auch ohne mich klargekommen. In gewisser Weise ist es gut, dass dieser Blödmann dumm genug war, euch anzugreifen. Ohne den ganzen Lärm hätte ich euch nie gefunden. Ich suche schon seit Tagen nach euch beiden und habe mir inzwischen gedacht, ihr habt es längst über die Ziellinie geschafft.«

»Leider nicht.« Tomas stöhnt und hält sich die Seite.

»Verstehe.« Will wirft Tomas ein kühles Lächeln zu. »Ich weiß, dass du gehofft hast, du wärst mich hier draußen los. Schätze, ich habe dir gerade bewiesen, dass du mir sehr wohl vertrauen kannst.«

Eine Minute lang starren sich Will und Tomas in die Augen. Tomas wendet den Blick als Erster ab und sagt leise: »Ja, schätze ich auch.«

»Gut.« Will lacht. »Also warum lassen wir Cia nicht einen Blick auf deine Verletzung werfen, ehe du uns hier noch verblutest? Wenn du jetzt stirbst, kann ich mich ja gar nicht meiner Heldentat rühmen, was ziemlich schade wäre, oder?«

Die Erwähnung von Tomas’ Wunde bringt mich dazu, an die Seite meines Freundes zu hasten und sie mir anzusehen. Nur mit Mühe gelingt es mir, Romans leblosen Körper zu ignorieren, der zusammengekrümmt auf dem Boden liegt. Der Messerschnitt an Tomas’ Bauch ist lang, aber nicht sehr tief, und er muss nicht genäht werden. Das ist gut so, denn nach den letzten Tagen weiß ich nicht, ob meine Finger ruhig genug dafür wären. Will bietet mir seine eigene Erste-Hilfe-Tasche an, und ich säubere rasch die Wunde, versorge sie mit Salbe und wickle einen Verband darum.

Als ich fertig bin, gebe ich Will seine restlichen medizinischen Vorräte zurück und sage: »Du hast uns eingeholt. Das bedeutet, dass du irgendetwas mit Rädern darunter gefunden haben musst, richtig?«

»Nein, nichts mit Rädern.« Will strahlt mich an. »Ich habe etwas viel Besseres aufgetrieben. Willst du es mal sehen?«

Nicht weit von der Straße entfernt wartet ein kleiner offener Ein-Personen-Gleiter, der wie die fliegende Version eines Scooters aussieht. Mein Vater hat drei davon und setzt sie für leichte Feldarbeit ein. Um kurze Distanzen zu überwinden, sind sie sehr gut geeignet, aber auf weiteren Strecken überhitzen sie sich schnell, und sie tragen auch nicht viel mehr als achtzig Kilo, was ihren Nutzen ziemlich einschränkt. Mein Vater und zwei meiner vier Brüder sind zu schwer für sie, sie können mit einem solchen Ding nicht einmal vom Boden abheben. Doch für Will mit seinem schlanken Körper ist dieses Fortbewegungsmittel wie gemacht.

»Wo hast du den denn entdeckt?«

Ich höre den misstrauischen Unterton in Tomas’ Stimme, aber Will scheint nichts zu bemerken, sondern erklärt: »Zwei Tage nachdem wir uns getrennt hatten, bin ich an einem großen Steingebäude mit einer fetten Metalltür vorbeigekommen. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich das Schloss geknackt hatte, aber es war die Mühe allemal wert. Vier von diesen Babys waren da drin. Keines von ihnen war einsatzbereit, aber ich habe Einzelteile an dreien von ihnen abgeschraubt und das vierte damit in Gang gesetzt. Es hat den Anschein, dass das Commonwealth eine Menge Fahrzeuge und anderen Kram auf dieser zweiten Hälfte der Strecke versteckt hat. Ich habe noch ein paar andere Auslese-Kandidaten mit solchen Dingern rumfahren sehen, und einer der Jungs, mit dem ich kurz vor der letzten Stadt zusammengetroffen bin, hat noch dazu einen ganzen Haufen von automatischen Waffen in einer Hütte entdeckt. Ich denke, beim ersten Teil dieser Prüfung ging es um das nackte Überleben. Jetzt, im zweiten Teil, testen sie, wie lange wir bis zum Ziel brauchen und wie viele Konkurrenten wir unterwegs ausschalten.«

»Und wie viele Kandidaten willst du vor dem Ende ausschalten, Will?« Tomas hat die Frage so leise gestellt, dass ich sie beinahe überhört hätte.

Aber Will hat sie sehr genau verstanden. Mit ernster Miene antwortet er: »Die einzigen Mitstreiter, die ich umlegen werde, sind diejenigen, die eine direkte Bedrohung darstellen. So wie unser Freund hier.« Mit dem Daumen deutet er auf den Leichnam auf dem Boden. »Oder findest du, dass er es verdient hätte zu überleben?«

Will wirft Tomas ein blasiertes, beinahe herausforderndes Lächeln zu. So viel also zu meiner Hoffnung, dass Wills Heldentat die beiden miteinander aussöhnen würde. Ich schiebe mich zwischen die zwei und sage: »Schaut mal, dem Transit-Kommunikator nach haben wir nur noch achtundachtzig Meilen vor uns. Anstatt aufeinander loszugehen, könnten wir unsere Zeit besser nutzen, indem wir frühstücken, zusammenpacken und zusehen, dass wir hier wegkommen.«

»Tja, da hast du wohl recht, Cia.« Will wirft mir ein unbekümmertes Lächeln zu. »Ich bin bereit einzulenken, wenn Tomas ebenfalls Ruhe gibt.«

Schweigend nickt Tomas, und ich stoße einen erleichterten Seufzer aus. Zwar bin ich nicht so naiv zu glauben, die beiden würden von nun an jedem Streit aus dem Weg gehen, aber ich hoffe inständig, dass sie ihre Zwistigkeiten auf ein Minimum beschränken.

Während ich unser Frühstück vorbereite, durchwühlt Will Romans Tasche und findet Kleidung, zwei Wasserflaschen, einen Kompass, eine Angelausrüstung, verschiedene Werkzeuge, einen faltbaren Bogen und den dazugehörigen Köcher mit Pfeilen. Alle Gegenstände sind als Ausrüstung der Auslese markiert. Offenkundig hat der Bursche mindestens einen anderen Kandidaten angegriffen und zumindest verletzt. Wir verspeisen unsere Birnen und das Kaninchen, dann verteilen wir die neuen Habseligkeiten auf unsere Taschen. Ich behalte ein Messer, den Bogen und die Pfeile, und zwar nicht zuletzt deshalb, damit meine beiden verfeindeten Begleiter keine zusätzlichen Waffen zur Hand haben, wenn sie sich mal wieder in die Haare kriegen. Dann, als Tomas und Will gerade nicht hinschauen, entferne ich Romans Erkennungsarmband und lasse es in meine Tasche gleiten, wo sich bereits das Band des Mädchens befindet, das Tomas und ich beerdigt haben. Roman war zwar in keiner Weise vertrauenswürdig, denn er kam mit dem festen Vorsatz in diese Prüfung, um jeden Preis zu gewinnen. Doch obwohl ich verabscheue, was er getan hat, merke ich plötzlich, dass ich die Prüfer noch viel mehr hasse. Roman hatte es sicher nicht verdient, ein zukünftiger Anführer zu werden, aber der Tod scheint mir doch ein extrem hoher Preis für das zu sein, was er tat, um sein Ziel zu erreichen. Ob im Guten oder im Bösen: Sein Leben sollte in Erinnerung bleiben.

Tomas und ich verstauen unsere Taschen auf den Gepäckträgern unserer Räder. Will geht zu seinem Gleiter, und dann treffen wir drei uns auf der Straße. Am Horizont hinter uns sind zwei Umrisse zu erkennen. Andere Kandidaten? Wenn Will recht hat, dann könnten sie Fahrzeuge haben, mit denen sie uns bald schon überholen. Wir müssen uns ranhalten.

Wills solarbetriebener Gleiter ist schneller als unsere Fahrräder, aber er bleibt neben uns, während wir in die Pedale treten. Unwillkürlich frage ich mich, warum. Ich weiß, welche Geschwindigkeit der offene Gleiter meines Vaters erreichen kann, und bin mir daher ziemlich sicher, dass Will es in wenigen Stunden über die Ziellinie schaffen könnte. Vielleicht fühlt er sich irgendwie für mich verantwortlich, weil er es mir verdankt, dass er es überhaupt in diesen Teil der Prüfung geschafft hat. Aber indem er heute Morgen Tomas gerettet hat, hat er seine Schuld mehr als beglichen. Vielleicht sieht Will das anders, weil es schließlich nicht mein eigenes Leben war, was auf dem Spiel gestanden hat. Ich weiß es nicht. Was auch immer seine Beweggründe sind, ich bin froh darüber, dass noch ein weiteres Augenpaar Ausschau nach drohender Gefahr hält.

Sehr schnell stellen wir fest, dass wir von Glück sagen können, ihn dabeizuhaben, denn er ist es, der vor uns auf der Straße etwas aufblitzen sieht: ein Stolperdraht, der unsere Reifen mit Sicherheit ruiniert hätte.

Wir steigen ab, schieben unsere Fahrräder vom Asphalt runter, laufen außen an der Falle vorbei und kehren dann auf die glatte Fahrbahn zurück. Wills Gleiter schwebt über den Draht hinweg, und wir setzen unseren Weg fort. Allerdings radeln wir nun etwas langsamer, denn wir sind wieder wachsamer geworden. Tomas hasst diese Verzögerung, und ich ebenfalls. Aber ein paar Stunden mehr sind nichts im Vergleich zur Alternative.

Die Pflanzen und Blätter an den Bäumen werden nach und nach grüner, die Bäume weniger verkrüppelt, das Gras sieht üppiger aus, und die Wasservorkommen erscheinen uns sauberer, je näher wir unserem Ziel kommen: alles Auswirkungen der Revitalisierung. Mein Arm tut weh, aber die deutlich sichtbaren Zeichen, dass unser Ziel nahe ist, helfen mir, die Schmerzen und die Müdigkeit zu ignorieren.

Eine Explosion irgendwo hinter uns lässt die Bäume erzittern. Der Lärm von Schüssen und Rufen wird aus Nordwesten vom Wind zu uns herübergeweht und erinnert uns daran, dass wir nicht allein unterwegs und die Gefahren noch lange nicht ausgestanden sind. Während der Nacht teilen wir Wachschichten ein und stehen früh wieder auf, in der Hoffnung, dass vor uns der Tag liegt, an dem wir diese Prüfung beenden können. In regelmäßigen Abständen sehe ich auf dem Transit-Kommunikator nach, ob wir gut vorankommen.

Noch fünfundvierzig Meilen.

Fünfunddreißig.

Fünfundzwanzig. Wir trinken unser Wasser im Fahren und ignorieren den Hunger. Essen können wir, wenn wir diesen Test bestanden haben.

Noch fünfzehn Meilen liegen vor uns, als die Sonne langsam unterzugehen beginnt. Der Himmel färbt sich rosa. Wir fahren weiter, blinzeln gegen das Abendrot an und halten nach allem Ausschau, was eine Gefahr darstellen könnte.

Zehn Meilen.

Nur durch Zufall sehe ich neben dem breiten Stamm einer Eiche Metall aufblitzen. Mit einem Aufschrei warne ich Tomas und Will, doch schon zerreißen Schüsse die Luft. Funken sprühen vor uns auf dem Asphalt, und ich ziehe meinen Lenker nach rechts, um nicht in sie hineinzufahren. Der plötzliche Richtungswechsel ist zu viel für mein zusammengeflicktes Fahrrad. Das Vorderrad schlingert und bricht aus dem Rahmen. Ich lande flach auf dem Rücken und ringe nach Luft, da aller Atem aus meiner Lunge herausgepresst worden ist. Mein linker Arm schmerzt entsetzlich vom Aufprall. Tomas schreit meinen Namen, als die nächste Salve abgefeuert wird. Sie klingt noch lauter, noch näher, noch beängstigender als zuvor, da ich kaum atmen, geschweige denn mich bewegen kann.

Aber dann reagiere ich doch, denn ich will nicht sterben. Tomas und Will brüllen mir von irgendwoher etwas zu, aber ich beachte sie nicht. Ich kann nicht. Ich rolle mich über meinen verletzten Arm ab und versuche, das Schwindelgefühl und den Schmerz, der mich durchzuckt, nicht zu beachten, während ich nach meiner Tasche greife. Meine Finger finden die Pistole. Ich richte mich auf die Knie auf und suche mit den Augen den Schützen auf der anderen Seite der Straße.

Dort. Der Lauf einer Pistole schiebt sich wieder hinter einem Baumstamm hervor, als sich der Schütze erneut bereit macht zu feuern. Ich ziele auf die Hand, die die Waffe hält, und drücke ab. Ein weiblicher Schmerzensschrei verrät mir, dass ich getroffen habe. Ich kann nicht verhindern, dass ein Gefühl des Triumphs in mir aufsteigt, als die Pistole und der Arm des Mädchens hinter dem Baum verschwinden. Ich selbst lasse meinen Arm ausgestreckt und den Finger am Abzug, während ich den Baum im Auge behalte und auf irgendein weiteres Zeichen unserer Angreiferin warte.

»Sie flüchtet«, brüllt Will.

Ich blinzle, und dann begreife ich. Während ich auf weiteren Beschuss gewartet habe, hat sich die Kandidatin in den Wald zurückgezogen und dort einen Gleiter bestiegen, der dem von Will ähnelt. Sie muss ihn dort abgestellt haben, ehe sie ihren Posten hinter dem Baumstamm eingenommen hat. Ich betätige den Abzug und feuere einen Schuss nach dem anderen hinter ihr her, während ihr Gleiter mit der untergehenden Sonne verschmilzt.

Die Kandidatin und ihr Gleiter sind fort. Wenn nicht ein anderer Prüfling sie noch auf den letzten Meilen ausschaltet, wird sie den Test beenden und in die nächste Runde kommen. Das Mädchen, das hier haltgemacht und sich ausschließlich deshalb versteckt hat, um ihre Konkurrenten zu töten, könnte einen Platz an der Universität erhalten und damit eine zukünftige Anführerin des Vereinigten Commonwealth werden. Ich kämpfe gegen den Drang zu schreien an und denke daran, dass man diese Kandidatin höchstens dann noch aufhalten kann, wenn mehr als zwanzig von uns diese Prüfung bestehen. Dann bleibt nur noch zu hoffen, dass das Prüfungskomitee jene Kandidaten aussucht, welche sich unterwegs nicht aufs Morden verlegt haben. Damit wir zu denen gehören, die zur Wahl stehen, müssen wir es bis nach Tosu-Stadt schaffen. Und das bedeutet, dass wir uns in Bewegung setzen sollten.

Ich stehe mühsam auf, und erst jetzt fällt mir wieder ein, dass mein Fahrrad den Geist aufgegeben hat. Ein rascher Blick darauf lässt mein Herz schwer werden. Auch im einsetzenden Zwielicht ist der Schaden deutlich zu erkennen. Die gesamte vordere Radaufhängung ist herausgebrochen, was bedeutet: Es lässt sich nicht mehr reparieren. »Ich schätze, ich werde die letzte Strecke zu Fuß gehen müssen«, sage ich und versuche, nicht so entmutigt zu klingen, wie ich mich fühle. Meinem Transit-Kommunikator zufolge liegen nur noch achteinhalb Meilen vor uns. Diese Distanz ist verschwindend gering im Vergleich zum Weg, den wir bereits zurückgelegt haben.

»Keine Sorge, Cia.« Tomas taucht neben mir auf und nimmt meine Hand. »Du wirst nicht allein sein. Ich werde mit dir zusammen den letzten Rest laufen.«

»Das musst du nicht«, sage ich, aber ich bin so froh über seinen Entschluss. Die Vorstellung, ganz allein durch die Dunkelheit zu marschieren, ohne zu wissen, was in den Schatten lauert, ist einfach zu entsetzlich.

Er gibt mir einen flüchtigen Kuss und sagt: »Doch, das muss ich.« Dann wendet er sich an Will. »Ich glaube, das ist der Moment, wo sich unsere Wege wieder trennen. Cia und ich wollen dich nicht aufhalten.«

Will lächelt und erwidert: »Lustig. Gerade wollte ich das Gleiche zu dir sagen.«

Es ist sein Lächeln, das mich warnt. Gefährlich ist es. Kalt. Berechnend. So anders als alles, was ich bislang bei ihm gesehen habe. Ich schubse Tomas in genau dem Augenblick zur Seite, als Will seine Pistole hebt und abdrückt. Aber ich bin nicht schnell genug. Ich kann spüren, wie Tomas zusammenzuckt, als die Kugel in seinen Unterleib eindringt. Seine Augen weiten sich vor Überraschung und Schmerz, als er sich zusammenkrümmt und auf die Knie sinkt.

Ich halte meine eigene Pistole auf Will gerichtet, als dieser seine Aufmerksamkeit mir zuwendet, und dann schreie ich: »Was zur Hölle machst du denn, Will?«

Er lächelt hinter seiner Waffe. »Ist das nicht offensichtlich? Ich entledige mich meiner Konkurrenz. Ich habe doch nicht meinen Bruder verloren und bin so weit gekommen, nur um am Ende zu hören, ich sei nicht gut genug, um es an die Universität zu schaffen. Diese Entscheidung habe ich gleich am Anfang getroffen. Nur du willst einfach nicht sterben. Zum Glück waren einige der anderen schnell getötet, ehe mir die Armbrustbolzen ausgingen. Gill und ich sind beide ausgebildete Armbrustschützen und haben an Turnieren teilgenommen. Gill war zwar immer noch besser als ich, aber ich war ihm stets auf den Fersen.«

Chicago. Der Armbrustschütze. Die Wunde in Wills Schulter. Eine Schussverletzung an der Stelle, an der ich ihn getroffen hatte. Mit entsetzlicher Klarheit fügt sich plötzlich das Bild zusammen.

»Und du denkst, ich lasse jetzt zu, dass du mich erschießt?«

Meine Stimme ist bemerkenswert fest dafür, dass ich beinahe blind vor Zorn bin. Den Finger am Abzug, versuche ich, die unbändige Wut in mir so zu kanalisieren, dass ich einen Jungen töten kann, den ich mal für meinen Freund gehalten habe. »Ich habe bereits bewiesen, dass ich nicht kampflos aufgeben werde.«

Wills Lächeln wird breiter. Seine weißen Zähne blitzen in der wachsenden Dunkelheit. »Du bist schlau, Cia, aber du hast keinen Killer-Instinkt. Ich könnte mich jetzt umdrehen und einfach so davonspazieren, und du würdest mir nicht einmal hinterherschießen.«

»Wollen wir wetten?«, schreie ich. »Na los, stell mich auf die Probe.« Meine zitternde Hand straft meine vorgetäuschte Entschlossenheit Lügen. Einen Moment lang bin ich überzeugt, dass Will recht hat. Ich kann ihn nicht töten. Ich werde hier draußen auf dem Testgelände sterben.

»Cia.«

Mein geflüsterter Name aus dem Mund des Jungen, den ich liebe, stoppt mein Zittern. Tomas ist noch am Leben.

Will strafft die Schultern und zielt. Mein Finger drückt ab. Die Waffe in meiner Hand feuert eine Sekunde eher als die von Will. Meine Kugel trifft ihn in der rechten Körperhälfte und lässt ihn rückwärts torkeln, während sein Geschoss an meinem Ohr vorbei in die Dunkelheit zischt. Will schreit und rennt trotz seiner Schmerzen los, um zu seinem Gleiter zu kommen, als ich noch einmal den Abzug betätige.

Er taumelt, und ich weiß, dass ich auch dieses Mal mein Ziel nicht verfehlt habe. Ich höre, wie seine Pistole klirrend auf den Boden fällt, er sie aber wieder aufheben kann und es schafft, in seinen Gleiter hineinzuklettern. Wieder und wieder schieße ich, als er in seinem Gefährt vom Boden abhebt und davonzieht. Zwei weitere Schüsse, dann ist er außer Reichweite und auf direktem Weg zur Ziellinie.

Das letzte Dämmerlicht verblasst, als ich neben Tomas auf die Knie sinke. Der Adrenalinspiegel in meinem Körper sinkt, und ich fühle mich nur noch schwach, müde und verängstigt.

»Ist er weg?«, krächzt Tomas.

Ich gebe mich zuversichtlicher, als ich bin, und sage: »Mit ein bisschen Glück verliert er so viel Blut, dass er ohnmächtig wird und seinen Gleiter gegen einen Baum steuert, ehe er in Tosu-Stadt ankommt. Wo hat er dich getroffen?« Eine unsinnige Frage, denn ich kann deutlich sehen, wo Tomas’ blutverschmierte Hand seine Seite umklammert. Ich drehe ihn ein Stück herum und finde auf seinem Rücken eine blutige Austrittswunde. Ein glatter Durchschuss. Eine Sorge weniger, sage ich mir, als ich den Rest von dem Handtuch, das ich aus dem Prüfungszentrum mitgenommen habe, aus meiner Tasche hole, es in Streifen reiße und einen davon auf die Wunde presse. Während ich damit beschäftigt bin, den Blutfluss zu stoppen, zermartere ich mir das Hirn darüber, was ich von Dr. Flint über die menschliche Anatomie gelernt habe. Ich lege ein Ohr auf Tomas’ Brust und höre, dass sein Herzschlag zwar schnell, aber regelmäßig ist. Sein Atem hört sich gepresst an, jedoch ohne gurgelnd zu klingen. Seine Lunge ist also nicht mit Blut gefüllt. Beides sind gute Anzeichen, werden aber keine Rolle spielen, wenn ich ihn nicht zurück nach Tosu-Stadt schaffen kann.

Da sind die anderen Auslesekandidaten, die ebenfalls auf dieser Strecke unterwegs sind. Weil die Grenzzäune sich einander jetzt immer stärker annähern, gibt es kaum noch Möglichkeiten, uns zu verstecken. Mir bleibt nichts anderes übrig, als Tomas schleunigst ins Ziel zu bringen.

Ich falte ein paar der Stoffstreifen so zusammen, dass sie wie ein Schwamm das Blut aufsaugen können, und presse sie auf Tomas’ Wunde. Er hilft dabei, die Auflagen an Ort und Stelle zu halten, während ich sein zweites Hemd heraushole, es ihm um den Oberkörper binde und fest verknote. Dann gebe ich ihm eine der Flaschen, damit er ein paar Schlucke Wasser trinken kann, und sage: »Wir müssen zusehen, dass du nach Tosu-Stadt kommst. Kannst du laufen?«

»Ich kann es versuchen.«

Aber schon nach den ersten taumelnden Schritten ist uns beiden klar, dass das mit dem Laufen nichts wird.

Tomas lässt sich wieder auf den Boden sinken und schüttelt den Kopf. »Es hat keinen Sinn. Ich werde es nicht schaffen.«

»Du brauchst nur ein bisschen Zeit, um dich auszuruhen«, sage ich, obwohl ich doch genau weiß, dass das nicht stimmt. Die Zeit ist unsere Feindin. Jede Sekunde, die verrinnt, bedeutet weiteren Blutverlust, die drohende Gefahr einer Infektion, außerdem andere bewaffnete Kandidaten und eine höhere Wahrscheinlichkeit zu sterben.

Tomas nimmt meine Hand und zieht mich zu sich. »Ich weiß, dass du das nicht hören willst, aber du musst mich hier zurücklassen. Wenn ich erst mal ein bisschen geschlafen habe, bin ich vielleicht doch in der Lage, den Rest der Strecke zu Fuß zurückzulegen …«

»Auf keinen Fall werde ich ohne dich gehen.« Ich versuche, meine Hand wegzuziehen, aber Tomas lässt sie nicht los.

»Doch, das wirst du. Du wirst diesen Test für uns beide bestehen. Ich will, dass du gehst. Bitte. Bevor noch irgendein anderer Prüfling hier auftaucht.«

Tränen steigen mir in die Augen, aber ich blinzele sie weg, denn ich will nicht nachgeben. »Ich kann nicht weggehen. Das alles ist meine Schuld. Ich habe dich dazu gedrängt, Will zu vertrauen. Ich muss meinen Fehler wiedergutmachen.« Entschlossen versiegele ich Tomas’ Mund mit einem Kuss und verhindere so jedes weitere Gegenargument. Dann gebe ich ihm unsere letzten drei Schmerztabletten, um ihm ein wenig Erleichterung zu verschaffen, während ich nachdenke. Er schließt die Augen, und ich beginne, ruhelos auf und ab zu laufen.

Tomas kann nicht zu Fuß weitergehen.

Wenn er nicht bald das Ziel dieser Prüfung erreicht, wird er es überhaupt nicht schaffen.

Zwar ist der eine Fahrradrahmen kaputt, aber die Räder sind immer noch brauchbar. Es muss eine Möglichkeit geben, sie weiterzuverwenden. Tomas kann in seinem Zustand nicht selbst fahren. Aber vielleicht schaffe ich es, ein Fahrrad so herzurichten, dass er hinter mir sitzen kann, während meine Beine das Treten für uns beide erledigen.

Da es denkbar ist, dass andere Kandidaten in der Nähe sind, gefällt mir die Vorstellung, ein Feuer anzuzünden, überhaupt nicht, aber die Nacht ist kalt. Tomas braucht Wärme, und wenn ich unsere Fahrräder in ein Transportmittel für Tomas verwandeln will, dann benötige ich dazu Licht. Er liegt flach auf dem Boden und ist eingeschlafen. Ich durchsuche seine Tasche nach Streichhölzern. Ganz unten finde ich die Schachtel und noch etwas Metallisches. Es fühlt sich an wie ein Erkennungsband. Kurz frage ich mich, ob Tomas das Armband von der Tasche der jungen Frau abgenommen hat, die wir begraben haben. Vielleicht wollte er, genau wie ich, eine fassbare Erinnerung an sie haben. Damit das Band nicht verloren geht, verstaue ich es tief in meiner Tasche. Dann kümmere ich mich um das Feuer. Meine Brüder haben mir gezeigt, wie man ein Feuer so eindämmt, dass es nicht zu weit in der Umgebung zu sehen ist. Ich versuche mein Bestes, das Gelernte nun in die Tat umzusetzen, aber ich bin mir nicht sicher bei dem Ergebnis. Meine Pistole habe ich immer in Reichweite, als ich die beiden Fahrräder nahe ans Feuer schiebe und mich an die Arbeit mache.

Bei jedem Knacken eines Zweiges zucke ich zusammen. Jeder Windstoß lässt mich nach meiner Waffe greifen. Aber niemand stört mich dabei, als ich das Material, das ich habe, begutachte und verzweifelt auf eine rettende Idee hoffe. Ideal wäre eine Art Wägelchen, in dem Tomas sitzen könnte, aber das Metall und die Werkzeuge, die mir zur Verfügung stehen, reichen nicht aus, um eines zu bauen, vor allem nicht unter Zeitdruck. Am vielversprechendsten erscheint es mir, das noch funktionstüchtige Fahrrad zu einem Gefährt umzubauen, auf dem wir beide Platz haben. Und da fällt mir etwas ein.

Meine Augen brennen, und meine Hände sind völlig verdreckt, als ich endlich fertig bin. Der Mond wird bereits fahler und verrät mir, dass bald schon der Morgen grauen wird. Den Gepäckträger habe ich mit Tomas’ Ersatzhose gepolstert, damit er einen etwas breiteren und bequemeren Sitz hinter mir hat. Um das zusätzliche Gewicht, das hinten auf dem Rad lasten wird, aufzufangen, habe ich die beiden Reifen meines kaputten Fahrrads genommen und sie etwas nach hinten versetzt rechts und links an das Hinterrad unseres neuen Zwei-Personen-Gefährts anmontiert. Die Stützräder, mit denen ich als Kind das Radfahren lernte, haben mir als Inspiration gedient. Aber es hat mich Stunden und viel Draht, Schrauben, Bolzen und sechs Probefahrten gekostet, bis alles zum Laufen gebracht ist. Die Feuerprobe würde dann die Fahrt zur Ziellinie werden. Ich kann nur hoffen, dass uns meine Konstruktion heil dort hinbringen wird.

Als ich Tomas wecke, ist seine Stirn fiebrig heiß, aber es ist noch nicht beängstigend. Ich schneide ein paar Birnen und das restliche Fleisch in Stücke und überrede ihn dazu, die kleinen Happen zu essen, während ich ihm erkläre, woran ich gearbeitet habe. »Du musst nichts weiter tun, als deine Arme um meine Hüften zu schlingen und dich festzuklammern. Den Rest erledige ich.«

Ich lasse ihm gar keine Chance zu protestieren, sondern räume alles, was nicht wirklich unbedingt nötig ist, aus unseren Taschen. Als ich fertig bin, türmen sich vor unseren Füßen ein Topf, eine Pfanne, der Bogen mit den dazugehörigen Pfeilen, mehrere leere Wasserflaschen, der Atlas, die Beutel von dem grauhaarigen Fremden und mein mittlerweile vollständig aufgebrauchtes Erste-Hilfe-Set. Nur sehr widerwillig lege ich Tomas’ Werkzeuge dazu, aber mir bleibt ja noch mein Taschenmesser mit seinen einfachen, aber nützlichen Extrafunktionen. Und außerdem: Wenn unser Fahrrad zusammenbricht, glaube ich nicht, dass noch irgendein Schraubenschlüssel der Welt etwas daran ändern könnte. Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich nur noch das Beste hoffen kann. Als ich eine Hand in meine Tasche schiebe, fällt mir noch eine allerletzte Aufgabe ein: Ich verstecke die Flasche mit der unbekannten Flüssigkeit in meinem zweiten Paar Socken. Niemand kann wissen, was uns am Ende dieser Straße erwarten wird. Aber was es auch sein mag – es ist besser, darauf vorbereitet zu sein.

Dann ist alles so weit, und ich helfe Tomas aufs Fahrrad. Ich mache mir nicht die Mühe, unser Feuer zu löschen. Soll doch ruhig jeder unser Lager und die Ausrüstungsgegenstände dort finden.

Die beiden zusätzlichen Reifen helfen dabei, das Fahrrad in Balance zu halten, während ich Tomas auf den provisorischen Sitz hinter dem Sattel hieve. Ich schiebe mich vor ihn und sage ihm, er solle mir seine Arme um die Hüften legen und sich festhalten. Als zusätzliche Vorkehrung habe ich mein zweites Hemd in Streifen gerissen und zu einem Seil zusammengeflochten, das ich nun um uns beide schlinge. Wenn wir also vom Rad stürzen, fallen wir gemeinsam.

Das Fahrrad quietscht an allen Ecken und Enden, als ich nach unten trete. Das zusätzliche Gewicht macht es schwer, richtig an Fahrt zu gewinnen. Tomas lehnt seinen Kopf gegen meinen Rücken, als ich mein rechtes Bein nach unten drücke, dann das linke. Zuerst kriechen wir nur zentimeterweise voran. Aber ich lasse mich nicht entmutigen. Es ist schon ein Sieg, dass wir uns überhaupt bewegen. Rechtes Bein, linkes Bein. Ich trete mit aller Kraft, und langsam schieben wir uns vorwärts und geraten schließlich ins Rollen. Die Straße führt nun bergab, und wir gewinnen an Fahrt. Zwar kommen wir nicht so schnell voran wie in den vergangenen Wochen, aber immerhin rascher, als ich es während meiner nächtlichen Arbeit zu hoffen gewagt habe.

Zeens Transit-Kommunikator habe ich mit Draht an den Lenker gebunden.

Noch sieben Meilen.

Sechs.

Fünf.

Die Sonne steht hoch am Himmel. Der Schweiß läuft mir über die Stirn, während ich in die Pedale trete. Irgendwann löst sich Tomas’ Griff um meine Taille, und ich halte an, um nach ihm zu sehen. Er hat Schüttelfrost und glüht. Ich helfe ihm dabei, unsere letzte Wasserflasche zur Hälfte zu leeren, ehe ich wieder aufsteige. Hinter uns fallen Schüsse. Die Angst, die in mir hochkommt, treibt mich an, immer weiter zu treten.

Noch vier Meilen.

Die Grenzzäune sind so weit zusammengerückt, dass rechts und links nur noch jeweils knappe zehn Meter zwischen ihnen und der Straße liegen. Keine Spur von Will und seinem Gleiter. Ich weiß, dass ich ihn verletzt habe, aber anscheinend nicht schwer genug, um ihn aufzuhalten. Es sei denn … Wäre es möglich, dass es ihm gut genug geht, um in der Nähe der Ziellinie auf uns zu warten und zu Ende zu bringen, was er angefangen hat?

Drei Meilen.

Ich frage Tomas, ob er sich auf dem Fahrrad halten kann, ohne sich an mir festzuklammern. Er will einen Versuch wagen, und so binde ich uns los und trete im Stehen, um mehr Kraft auf die Pedale zu übertragen.

Zwei Meilen.

Tomas droht das Gleichgewicht zu verlieren, und ich setze mich wieder in den Sattel, befestige erneut das Seil und strample weiter.

Eine Meile.

In der Ferne sehe ich schon purpurfarbene und rote Tupfen. Das Ende. Die Prüfer erwarten uns. Sie scheinen sich an der Ziellinie versammelt zu haben.

Hinter den Leuten schimmern und funkeln die Gebäude von Tosu-Stadt, die sich gen Himmel recken. Tomas’ Kopf sackt gegen meinen Rücken. Ich fühle, wie sein Gewicht an dem Seil reißt, aber ich kann nicht anhalten. Wenn ich jetzt stoppe und er ganz hinunterrutscht, bekomme ich ihn vielleicht nicht mehr aufs Rad. Ich bezweifle, dass er es überleben würde, wenn ich ihn das letzte Stück ziehen müsste.

Mit einer Hand versuche ich, Tomas’ besinnungslosen Körper zu stützen, die andere umklammert den Lenker. Mein Arm, meine Muskeln, jeder Teil meines Körpers brennt wie Feuer. Aber ich werde weder dem Schmerz noch der Erschöpfung nachgeben. Meine Beine bewegen sich wie von selbst. Inzwischen sind die wartenden Menschen deutlicher zu erkennen. Ich sehe sie lächeln. Einige blicken besorgt. Sie alle stehen hinter einer weißen Linie: der Ziellinie.

Ich blende die Offiziellen aus und konzentriere mich ausschließlich auf den Strich, der immer näher rückt, je verbissener ich in die Pedale trete. Wir sind kurz vor dem Ziel, als ich spüre, wie Tomas nach links absackt. Mein verletzter Arm hat nicht genug Kraft, um ihn zu stützen und wieder aufzurichten. Da wir aneinandergebunden sind, reißt er mich mit sich aus dem Sattel, und wir schlagen beide auf dem Boden auf. Ich höre, wie einige Leute mühsam die Luft einsaugen und andere erschrocken aufschreien. Dr. Barnes steht ganz vorn in der Gruppe, und auf seinem Gesicht liegt ein gewisses Interesse. Niemand eilt uns zu Hilfe. Die weiße Linie ist keine zwanzig Meter mehr entfernt, doch die Prüfer bleiben wie angewurzelt dahinter stehen und gaffen uns nur an.

Ich weiß, dass ich müde und verängstigt bin und dass ich Schmerzen habe, aber in diesem Moment verspüre ich nichts als Zorn, brennend heiß und übermächtig.

Ich sehe in jedes einzelne Gesicht und schwöre mir, sie für Ryme, Malachi und all die anderen bezahlen zu lassen. Für das Mädchen, dessen Namen ich nicht kenne und dessen Körper ich beerdigt habe. Für die mutierten Menschen in jener Stadt, die ohne ersichtlichen Grund niedergemetzelt wurden. Und für Tomas und diese lausigen zwanzig Meter, die den Prüfern so verflucht wichtig sind, dass sie meinem Freund beim Sterben zusehen würden, und das nach all dem, was er überlebt hat.

Ich binde das Seil ab und rappele mich auf. Vorsichtig nehme ich unsere Taschen ab, die hinten am Gepäckträger festgebunden waren, hänge sie mir über die Schultern und kehre mit zitternden Beinen zu Tomas zurück. Ich weigere mich, unseren Zuschauern auch nur einen weiteren Blick zu gönnen, und drehe Tomas auf den Rücken. Er stöhnt, als ich meine Hände unter ihn schiebe, aber ich weiß nun, dass er noch lebt. Und das soll auch so bleiben, weshalb ich seine Arme nehme und ziehe. Ich muss mich zurücklehnen, um mein Gewicht als Hebel einzusetzen. Unvorstellbar langsam, Zentimeter für Zentimeter, zerre ich ihn vorwärts. Ich starre auf den harten, schwarzen Asphalt vor uns. Zweimal muss ich Tomas ablegen, um wieder zu Atem zu kommen. Als ich hochschaue, sehe ich einen anderen Kandidaten am Horizont auftauchen. Der Anblick treibt mich weiter.

Und dann schließlich befindet sie sich unmittelbar vor mir: eine durchgehende schneeweiße Linie quer über dem schwarzen Pflaster. Die Ziellinie. Ein letztes Ziehen. Tomas’ Füße rutschen über die Markierung, und ich sinke neben ihm auf den Boden, als Dr. Barnes’ sonore Stimme verkündet: »Gratulation, Malencia Vale. Du und Tomas Endress, ihr habt die vierte Runde der Auslese bestanden.«