6.
Der Weg von Parramatta nach
Sydney war nicht mehr als ein breiter, holpriger Pfad, notdürftig
von Gestrüpp und Baumwurzeln befreit und mit Schlaglöchern übersät.
Da, schon wieder eines! Alistairs Hinterteil, das auf dem
Kutschbock des einfachen Karrens hin und her geworfen wurde, würde
am Abend sicher grün und blau sein. Aus jedem Baum entlang des
Weges zirpte es oder erklang nervtötendes Vogelgezwitscher. Die
Geräusche schienen ihn zu verfolgen, sich einen Spaß daraus zu
machen, ihn zu verhöhnen. Das unbequeme Gefährt unter ihm schickte
dumpfe Stöße durch seine Eingeweide. Am liebsten hätte er jetzt in
seinem Studierzimmer gesessen, aber diese Fahrt ließ sich nicht
länger hinauszögern.
Alistair seufzte erleichtert auf, als der Wald endlich den Blick auf die ersten weißgetünchten Häuser Sydneys freigab. Er hätte keine Minute länger auf diesem scheußlich harten Kutschbock zubringen mögen. Mit dem Karren hatte er einen erkrankten Einwohner von Toongabbie ins Lazarett von Parramatta gebracht und sich anschließend auf den Weg nach Sydney gemacht.
So beschwerlich die Reise auch war, es war eine Wohltat, endlich wieder in der Zivilisation angekommen zu sein. Auf der Anhöhe über der Bucht die Residenz des Gouverneurs, umgeben von einem streng geometrisch angelegten Rasen, dahinter eine Windmühle. Um den Hafen herum, in dem heute zwei Schiffe ankerten, die roten Ziegel- und braunen Schilfdächer der niedrigen Häuser mit ihren außenliegenden Schornsteinen. Weiter hinten die gleichförmigen Hütten der Sträflinge, daneben Gärten und Nutzflächen. Für seinen Geschmack war hier immer noch zu viel Grün, zu viel Natur. Überall wucherte Gras, erhoben sich hohe Bäume mit fedrigen Blättern.
Er lenkte den Karren in die Hauptstraße, dorthin, wo die Häuser der Offiziere standen. Schnell fand er, wonach er suchte: Das Haus von Major Penrith war ein elegantes, weiß gestrichenes Gebäude aus Ziegelsteinen, das Dach bedeckt mit blauen Schindeln, die fast aussahen wie feine Schieferplatten.
Die Räder knirschten über die ungepflasterte Straße. Alistair lenkte sein Gefährt neben das Haus, kletterte steifbeinig vom Kutschbock und band das Pferd an. Dann wischte er sich den Staub von Rock und Hosenbeinen und klopfte an der Tür.
Er musste so lange warten, dass er schon befürchtete, die Fahrt könnte umsonst gewesen sein. Doch dann öffnete sich die Tür. Eine Dienstmagd stand im Eingang, ihr rechtes Auge war geschwollen und von einem bläulich-roten Bluterguss umgeben.
»Dr. McIntyre«, sagte er. »Aus Toongabbie. Ist Major Penrith zu sprechen?«
Die Magd nickte, ließ ihn herein und bat ihn, in der großen Eingangshalle zu warten. Wenig später kam sie zurück. »Der Major lässt bitten. Bitte, Sir, die Treppe hinauf und dann rechts.«
Alistair stieg die mit einem Teppich belegten Stufen hinauf und wandte sich nach rechts in einen breiten Flur. Die Dielen quietschen unter seinen Schritten. Von dem Flur gingen einige Räume ab; als er durch eine geöffnete Tür spähte, sah er Bücherregale und einen Schreibtisch, davor einen geschwungenen Stuhl, Sitz und Lehne überzogen mit hellbraunem Leder.
»Nur herein!«, hörte er eine Stimme aus einem Raum weiter vorne.
Alistair trat näher und fand sich in einem Zimmer wieder, in dem Major Penrith offenbar der Leibesertüchtigung nachzugehen pflegte. Bei Alistairs Eintreten stieg der Major von einem mit Leder überzogenen Reitbock herunter; er war nur mit Kniehose, Stiefeln und einem weiten Hemd angetan. Auf seiner hohen Stirn glänzte es feucht, seine Wangen waren gerötet.
»Immer herein, guter Mann!« Der Major griff nach einem Handtuch, trocknete sich Stirn und Hände und schüttelte dann Alistairs Hand mit festem Druck. »Man muss in Form bleiben, sage ich immer. Die Frauen mögen schmale Hüften und stramme Schenkel.«
»Dr. McIntyre«, stellte Alistair sich vor. Er kam sich etwas fehl am Platz vor. »Aus Toongabbie. Ich bin vor einigen Wochen mit der Minerva eingetroffen.«
»Ah, McIntyre.« Der Major schleuderte das Handtuch achtlos in eine Ecke. »Mit der Minerva? Dann wart Ihr also derjenige, der mir das Sträflingsmädchen streitig gemacht hat?«
»Sir?«
»Auf dem Schiff. Ich denke, es war Eure Frau, die behauptet hat, ältere Rechte an dem Mädchen zu haben.«
»Das tut mir leid, Sir. Davon wusste ich nichts.«
»So, so, davon wusstet Ihr also nichts.« Major Penrith streifte sich sein verschwitztes Hemd über den Kopf und griff nach einem neuen. Er war gut gewachsen, schlank und groß, und sein blondes Haar lichtete sich an Stirn und Schläfen.
»Ihr solltet besser auf Eure Frau achtgeben, McIntyre. Sie scheint mir ein eigensinniges Ding zu sein, das eine strenge Hand braucht.«
»Sir, ich bedauere es außerordentlich, wenn sie Euch verärgert haben sollte …«
Der Major winkte ab und stopfte sich den Hemdsaum in die Hose. »Kommt, lasst uns nach unten in den Salon gehen. Dann reden wir darüber, was Euch zu mir führt.«
Im Salon, einem mit dunklem Holz getäfelten Raum, der nach Leder und Pfeifenrauch roch, riss der Major an einem Klingelzug.
»Setzt Euch. Betty! Wo bleibt die Dirne nur?« Die Magd, die Alistair geöffnet hatte, erschien. Der Bluterguss um ihr Auge verlieh ihr ein erbärmliches Aussehen. »Bring Rum und Gläser. Schnell! Oder hat dir eine Tracht Prügel nicht gereicht?« Betty verschwand eilig, bevor Alistair einwenden konnte, er trinke nicht. »Diesem katholischen Geschmeiß darf man nichts durchgehen lassen! Wisst Ihr, es gibt hier nur zwei Arten von Frauen: die Ehefrauen und die Dirnen. Zu Letzteren zähle ich alle, die nicht rechtmäßig vor der Kirche Englands verheiratet sind. Oder glaubt Ihr etwa, dass ein Katholik jemals ein vollwertiges Mitglied dieser Gemeinschaft werden könnte?«
Alistair wurde einer Antwort enthoben, als Betty mit einem Tablett hereinkam und zwei Gläser sowie eine Flasche Rum auf den Tisch stellte.
»Und an den Dirnen kann man sich schadlos halten«, beendete der Major seine Ausführungen. »So habe ich immer etwas zum Stoßen, wenn es mich zwischen den Beinen juckt. Nicht wahr?« Er versetzte Bettys Hinterteil einen Schlag. Die Magd sah gequält auf, sagte aber nichts. »Und wenn ich ihrer überdrüssig bin, setze ich sie einfach auf die Straße und hole mir die nächste.«
Die Magd entfernte sich. Der Major goss ihnen ein und reichte Alistair ein Glas.
»Danke«, lehnte Alistair ab. »Ich trinke nicht.«
Der Major hob erstaunt eine Braue und musterte ihn aus wässrig blauen Augen. Alistair fühlte sich unbehaglich unter diesem stechenden, wie sezierenden Blick. »In der Tat? Gibt es dafür einen besonderen Grund?«
»Ich verstehe nicht …«
»Wie auch immer. Damit beraubt Ihr Euch allerdings eines der größten Vergnügen, die es für einen Mann hier gibt. Abgesehen natürlich von körperlichen Freuden. Ich kann mir vorstellen, Euer widerspenstiges Frauchen hält Euch ganz schön auf Trab. Wie sieht’s aus, McIntyre? Schon Nachwuchs in Sicht?«
»Wir haben erst kurz vor der Abfahrt geheiratet«, erwiderte Alistair ausweichend.
Widerspenstig. Das war das richtige Wort, um Moira zu beschreiben. Widerspenstig und eigensinnig. Alistair hatte sich von der Heirat ein leichteres Leben versprochen, vor allem aber einen Erben. Doch bis auf die Tatsache, dass er wieder eine Ehefrau vorzuweisen hatte, war nichts davon eingetreten. Moira machte ihm keine Freude, und schwanger war sie auch noch nicht. Offenbar hatte er das Pech, immer an unfruchtbare Frauen zu geraten. Aber noch war nicht alles verloren. Noch war Zeit, auch wenn er sich jede Woche mehr zum Beischlaf zwingen musste. Dass Moira nachts wie ein kalter Fisch unter ihm lag, machte es auch nicht einfacher. Und das, was er wirklich wollte, durfte er nie wieder zulassen …
»Rum«, riss ihn die Stimme des Majors aus seinen Gedanken. »Die Währung der Macht. Wisst Ihr, wie man uns hier nennt?« Er beugte sich vor. »Das Rum-Corps. Ha!«
Alistair verzog höflich das Gesicht zu einem angedeuteten Lächeln. Der Name war treffend gewählt. Das Monopol auf den Rumhandel verschaffte den Offizieren des New South Wales Corps Einfluss und sorgte für ihre führende Rolle.
»Was kann ich für Euch tun, McIntyre?«
Doktor McIntyre, wollte Alistair berichtigen, schluckte es aber hinunter. Der Mann war immerhin sein Vorgesetzter. »Sir, ich brauche einen Berechtigungsschein für weiteres Material.«
»Wofür genau?«
»Metall, Draht. Auch Papier.«
»Metall?« Der Major hob eine Braue und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Das ist hier sehr kostbar. Wie Ihr sicher wisst, müssen wir all diese Materialien, die wir noch nicht selbst herstellen können, aus England einführen. Wozu braucht Ihr das alles?«
»Für meine Forschungen. Ich bin dabei, ein Gerät zu entwickeln. Eine neue Erfindung. Auf medizinischem Gebiet.«
»Also etwas fürs Renommee? Habt Ihr es nötig?« Der Major sah ihn scharf an, erwartete aber offenbar keine Antwort. »Erzählt mir mehr davon. Was ist das für ein Gerät?«
Alistair zögerte. Er hatte gehofft, nicht zu viel darüber preisgeben zu müssen. So knapp wie möglich beschrieb er sein Vorhaben und legte auch mehrere Zeichnungen vor. Querschnitte durch den menschlichen Oberkörper, Detailansichten von Kehlkopf und Speiseröhre sowie ein paar skizzenhafte Entwürfe des oculus introspectans.
»Sehr interessant, wenn auch reichlich theoretisch«, unterbrach ihn der Major, als Alistair gerade eine weitere Zeichnung erläutern wollte. »Wisst Ihr, dass auch ich forsche? Kommt mit, das muss ich Euch zeigen!«
Alistair packte seine Unterlagen zusammen und erhob sich, erleichtert, nicht länger Rede und Antwort stehen zu müssen. Allerdings schien der Major auch den Berechtigungsschein vergessen zu haben.
Das Zimmer, in das der Major Alistair führte, lag direkt neben dem Salon und hatte die Ausmaße eines normalen Wohnraums, allerdings ohne die übliche Einrichtung. Rechts und links der beiden Fenster türmten sich Regale mit Einmachgläsern in unterschiedlichen Formen und Größen. Die restlichen Wände waren bedeckt mit Sammlungen von aufgespießten Insekten, Schmetterlingen und Spinnen in gerahmtem Glas. In der Mitte des Raums stand ein Tisch, auf dem sich ein weiterer, vorbereiteter Rahmen befand.
»Sehr … beeindruckend«, murmelte Alistair.
Der Major wies auf das linke Regal. »Hier habe ich einige der giftigsten Kreaturen dieses Kontinents versammelt.«
Alistair war gezwungen näher zu treten, um die Gläser zu begutachten, in denen in Alkohol eingelegte Schlangen und Spinnen zu sehen waren. Er spürte ein säuerliches Brennen im Hals und musste schlucken.
»Zum größten Teil habe ich diese Kreaturen selbst gefangen«, erklärte der Major voller Stolz. »Andere wurden mir lebend gebracht. Wie dieser hier. Seht her«, er nahm einen kleinen Glasbehälter vom Tisch, in dem ein schwarzer Käfer mit leuchtend grüner, symmetrischer Strichzeichnung versuchte, seinem gläsernen Gefängnis zu entkommen. Mit einer raschen Bewegung öffnete der Major das Glas und stülpte es auf den Tisch, in die Mitte des Rahmens. Er stellte das Glas weg und hinderte den Käfer mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand am Davonlaufen. Alistair vermeinte einen schwachen Geruch nach Eukalyptus und Honig zu riechen, den das Tier in seiner Bedrängnis ausströmte.
»Reicht mir eine Nadel, McIntyre! Dort, in der Schachtel.«
Ein leises Knacken ertönte, als der Major die Nadel durch den Chitinpanzer des Insekts stieß. Langsam und mit präziser Erbarmungslosigkeit. Alistair hätte am liebsten die Augen geschlossen, weniger aus Mitleid mit dem Tier als aus Ekel, aber das konnte er sich nicht erlauben. Der Käfer ruderte in Todesnot mit seinen Beinen, die schabende Geräusche auf dem Untergrund machten. Dann erstarrte er mitten in der Bewegung. Aufgespießt ruhte er auf dem Papier.
»Ist es nicht wundervoll, wenn man zusehen kann, wie sie langsam zugrunde gehen?« Der Major richtete sich auf und trat an die rechte Seite des Regals. »Aber mein größter Schatz ist das hier.«
Ohne Vorwarnung hielt er Alistair ein kürbisgroßes Glas hin. Alistair fuhr zurück, als ihn ein aufgerissenes Augenpaar anstarrte. Sie gehörten zu dem am Hals abgetrennten Kopf eines Eingeborenen, der in einer konservierenden Flüssigkeit schwamm, die dunklen Züge im Schmerz erstarrt.
»Das«, erklärte der Major triumphierend, »war der erste Wilde, den ich eigenhändig geschossen habe. Vor drei Jahren, am Parramatta River, als wir gegen die Eora vorgingen. Es ist einer von Pemulwuys Kriegern, dieser Bestie, die unsere Siedler überfällt.«
Alistair unterdrückte mit Mühe ein Schaudern. Die Bedrohung durch die Schwarzen war ein Problem. »Hat der Gouverneur nicht verfügt, dass mit den Wilden human zu verfahren sei?«
Der Major stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Gouverneur Hunter hat hier nichts zu sagen. Seine Ablösung ist schon unterwegs, und England ist fern. Die Macht gehört den Offizieren des Corps. Nein, mit diesen ganzen liberalen Gedankenfürzen kann ich nichts anfangen. Das ist das Geschwür, auf dem Rebellion wächst. Ich rate Euch sehr, Euch nicht auch von diesem humanistischen Firlefanz anstecken zu lassen. Die weiße Rasse ist und bleibt die Krone der Schöpfung.« Er stellte das Glas zurück ins Regal. »Diese Wilden sind keine Menschen im eigentlichen Sinne. Aborigines nennt man sie auch. Wisst Ihr, was das heißt? Von Beginn an. Ab origine. Passend für diese Horde Affen, die unbekleidet im Busch umherrennen, ohne das geringste Gefühl für Anstand und Sitte. Das Beste ist, sie mit Stumpf und Stiel auszurotten und die natürliche Ordnung wieder einzusetzen.«
Der Major hatte sich in Fahrt geredet. Jetzt drehte er sich zu Alistair um. »Was habe ich davon, wenn ich Euch den Berechtigungsschein ausschreibe?«, fragte er unvermittelt.
»Sir?«
»Ihr habt mich sehr genau verstanden, McIntyre. Welchen Nutzen habe ich davon?«
»Nun, Sir«, Alistair begann zu stammeln. Mit einer solchen Frage hatte er nicht gerechnet. »Ihr würdet … damit eine gute Sache unterstützen. Eine Neuerung, die die Medizin revolutionieren wird. Euer Name würde als der eines Förderers der Wissenschaft gewürdigt werden.«
»Förderer der Wissenschaft? Das gefällt mir. Hat so einen edlen Klang.« Der Major lachte und schlug ihm auf die Schulter. »Hört zu, McIntyre: Ihr bekommt Euren Berechtigungsschein. Unter der Bedingung, dass Ihr mich auf dem Laufenden haltet, was Eure Forschungen angeht. Und dass Ihr mir schnellstmöglich eine Demonstration Eurer Erfindung gewährt.«
*
Das Schaf blökte zum Gotterbarmen. Es war mit dem Kopf in das hölzerne Gitter geraten, das die Weide vom restlichen Farmland abgrenzte, und versuchte nun vergeblich, sich zu befreien. Moira legte beide Hände um den oberen Balken und zog.
»Ja, so ist es gut. Könnt Ihr noch etwas mehr Kraft aufbringen?«
Elizabeth Macarthur kniete in ihrem geblümten Sommerkleid auf der Erde und drehte den wolligen Schafskopf sanft zurück durch das Zaungitter. Mit einem lauten Blöken kam das Schaf auf die Beine und lief zurück zur Herde, die sich über eine riesige Fläche von saftigem Gras verteilt hatte. Es mussten mehrere Hundert Tiere sein, schätzte Moira – große Schafe mit dichter, fein gekräuselter Wolle, dazwischen auch etliche Lämmer, die lebhaft neben den Muttertieren umhersprangen.
»Gut gemacht!« Mrs Macarthur erhob sich und klopfte sich den gelblichen Staub aus dem Kleid. Unter ihrem Sonnenhut, den sie mit einer großen Schleife unter dem Kinn festgebunden hatte, war ihr feines Gesicht vor Anstrengung und Hitze gerötet.
»Wie gut, dass Ihr hier wart. John muss den Zaun an dieser Stelle unbedingt enger setzen. Das ist schon das zweite Schaf, das sich hier eingeklemmt hat.«
Sie blinzelte in die Ferne und verscheuchte eine Fliege, die ihr zu nah kam, dann winkte sie. Moira folgte ihrem Blick. Dort hinten konnte sie einen Mann zu Pferd, wahrscheinlich Mr Macarthur, erkennen. John Macarthur war ein Offizier des New South Wales Corps, der sich mittlerweile fast vollständig der Schafzucht widmete. Vor ihm im Sattel saß ein Junge, der freudig zurückwinkte. Ein weiterer folgte ihm auf einem Pony – die beiden ältesten der Macarthur-Jungen.
»Der kleine John kommt immer mehr nach meinem Mann«, sagte Mrs Macarthur nicht ohne Stolz in der Stimme. »Er ist schon sehr selbständig. Und jetzt lasst uns zurückgehen. Von all den Dingen, die ich an diesem Land schätze, gehört die Hitze nicht dazu.«
Das Haus der Macarthurs, die Elizabeth Farm, war ein großer Ziegelsteinbau mit breitem, überhängendem Dach. Es erinnerte Moira entfernt an Bilder, die sie einmal von indischen Bungalows gesehen hatte. Als sie auf der schattigen Veranda Platz genommen hatten, von der aus sie auf das glänzende Band des Parramatta River sehen konnten, kam eine junge Frau im einfachen braunen Kleid der weiblichen Sträflinge aus dem Haus. Ihr folgte ein kleines Mädchen von vielleicht acht Jahren, das ein Tablett mit zwei Gläsern und einem Krug Limonade balancierte, die Zunge vor Konzentration zwischen die Zähne geschoben.
»Lizzie wollte es unbedingt selbst versuchen«, sagte die junge Frau entschuldigend, während das Kind das Tablett auf dem kleinen Holztisch abstellte.
»Ich habe nicht einen Tropfen verschüttet, Mutter!«
»Vielen Dank, Lizzie.« Mrs Macarthur strich dem Kind über den blonden Schopf.
Das Mädchen blickte Moira neugierig an. »Wer ist das?«
»Das ist meine liebe Freundin Mrs McIntyre, die Frau von Dr. McIntyre aus Toongabbie. Sie besucht mich. Und jetzt geh mit Megan wieder hinein.« Sie sah den beiden nach. »Ist sie nicht ein Goldstück?«
Moira nickte und griff nach ihrer Limonade. »Ich wünschte, ich hätte auch ein Kind«, entfuhr es ihr zu ihrem eigenen Erstaunen. Es war das erste Mal, dass sie diesen Gedanken bewusst formulierte. Bisher waren ihre Überlegungen in dieser Richtung hauptsächlich dem Umstand geschuldet gewesen, dass sie dann erst einmal Ruhe vor McIntyre haben würde. »Etwas, das zu mir gehört und um das ich mich kümmern könnte. Aber offenbar bin ich nicht dazu geschaffen.«
Elizabeth sah sie mitfühlend an. »Ich glaube, ich habe etwas für Euch. Entschuldigt mich für einen Moment.«
Sie erhob sich, ohne auf Moiras Antwort zu warten, und verschwand im Haus.
Moira trank ihre Limonade und ließ den Blick schweifen, über den in der Sonne glitzernden Fluss bis hin zu den grünen Schafweiden. Daneben schlossen sich Getreidefelder und Obstwiesen an, und dahinter erhoben sich frisch angelegte Terrassen für Weinstöcke; eine Farbenpracht in Grün, Gelb und Purpur. Ein leichter Wind trug strengen Schafsgeruch zu ihr, das stetige Zirpen der Grillen tat ihren Ohren wohl. Hier fühlte sie sich zu Hause. So zu Hause, wie sie es in Toongabbie noch nie getan hatte.
Ihr Blick fiel auf die hölzernen Treppenstufen, die zu Elizabeths Veranda führten. An der gleichen Stelle auf Moiras Veranda hatte der Sträfling gesessen. O’Sullivan. Bei diesem Gedanken stieg plötzliche Wärme in ihr auf. Sie schüttelte den Kopf. Der Mann war ein verurteilter Rebell, ein Verbrecher, der ihresgleichen vielleicht tot sehen wollte. Und dennoch …
Als Elizabeth nach wenigen Minuten zurückkehrte, reichte sie Moira ein kleines verschnürtes Päckchen. »Das ist eine Kräutermischung, die die Empfängnis begünstigt. Himbeerblätter, Salbei und Frauenmantel. Macht Euch täglich einen Tee daraus und trinkt ihn. Zumindest bei mir hat er gute Dienste geleistet.« Eine leichte Röte überzog ihr Gesicht. »Wenn mich nicht alles trügt, dann bin ich bereits wieder guter Hoffnung. – Noch etwas Limonade?«
»Danke, nein. Ich kann nicht mehr lange bleiben.«
Elizabeth setzte sich wieder. »Oh, aber Ihr müsst mir versprechen, mich wieder zu besuchen, so schnell wie nur möglich. Ich kann hier so schlecht weg, und ich dürste nach weiblicher Gesellschaft!«
»Versprochen«, lächelte Moira, dann wurde sie wieder ernst. »Wird es Euch nicht leid, dieses … Leben hier?«
»Ich möchte nicht verhehlen, dass ich ab und an einen Anflug von Erschöpfung verspüre. Aber ich wollte immer eine große Familie haben. Und dieses Land ist so wundervoll, so ursprünglich – ich werde nicht müde, seine Schönheit zu preisen.« Elizabeth blickte auf. »Aber das ist es nicht, was Ihr meint, nicht wahr? Was bedrückt Euch, Moira?«
Moira hob die Schultern. »Wenn ich mir vorstelle, mein ganzes Leben hier verbringen zu müssen – mit … mit meinem Mann …« Mit dem alten Bock, hätte sie fast gesagt, konnte sich aber im letzten Moment zurückhalten.
»Ihr seid noch so jung, Moira. Ihr seid noch dabei, Euren Platz im Leben zu finden. Lasst Euch Zeit damit.« Elizabeth griff gedankenverloren nach ihrem Glas, trank aber nicht. »Als John und ich hierherkamen, war ich dreiundzwanzig Jahre alt und hatte bereits ein Kind geboren. Auf der Reise, in einem Pub in England, man stelle sich das einmal vor! Und Lizzie kam in Sydney zur Welt, als dort kaum mehr als ein paar schäbige Hütten standen.« Sie ließ das Glas los. »Ihr hattet einen besseren Start. Versucht nicht, etwas herbeizuzwingen. Es ist wie mit dem Löwenzahn; er biegt sich, aber er bricht nicht. Und durchdringt so das härteste Gestein.«
Sicher, dachte Moira. Aber das gilt wohl kaum für meinen Fall.
»Aus kleiner Knospe erwächst volle Frucht. John und ich haben mit einer Handvoll Schafen begonnen, und seht Euch jetzt unsere Herde an. Es gibt so viele Möglichkeiten, seine Ziele zu erreichen, man muss nur wissen, wie man es anstellt. Lenkt Euren Gemahl mit sanfter Hand, ohne dass er es merkt. Überlasst ihm die Führung, aber zieht hinter den Kulissen die Fäden. Ich bin sicher, dass dann ein wundervolles Leben vor Euch liegt.«
Die Sonne schimmerte durch die Bäume am Flussufer und färbte das Wasser rosig. War es denn schon so spät? Moira wäre liebend gern noch geblieben, aber vor ihr lag eine knapp einstündige Fahrt mit der Kutsche, mit keiner anderen Begleitung als der schreckhaften Ann neben sich.
Sie erhob sich. »Ich danke Euch von Herzen, Elizabeth, aber ich fürchte, es wird Zeit. Könntet Ihr Ann Bescheid geben lassen, dass wir aufbrechen?«
»Müsst Ihr wirklich schon wieder fort?«
»Ja, leider. Ich möchte zu Hause sein, bevor mein Mann aus Sydney zurückkehrt.«
»Dann weiß er gar nicht, dass Ihr hier seid?«
Moira schüttelte den Kopf. »Er muss nicht alles wissen.«
Elizabeth runzelte die Stirn. »Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken an diese Geheimniskrämerei. Ich bitte Euch, sprecht mit ihm. Und dann besucht mich, so oft Ihr könnt. Bitte, kommt wieder, so schnell es Euch möglich ist. Am liebsten gleich morgen!«
Moira lächelte. »Mit dem größten Vergnügen.«
*
Es gab Tage, an denen wusste man schon beim Aufstehen, dass sie nicht gut werden würden. Heute war ein solcher Tag.
Es fing damit an, dass July nicht auftauchte. Das war schon öfter vorgekommen und an sich nichts Ungewöhnliches, aber gerade heute sehnte Moira sich nach dem Eingeborenenmädchen. Und die nächsten Stunden boten auch wenig Grund zur Freude.
Das Mittagessen verlief schweigend. McIntyre sah wie immer kaum hin, während er Fleischstücke in sich hineinschaufelte, den Blick auf seine Papiere gerichtet. Moira stocherte lustlos auf ihrem Teller herum und schob die Erbsen von einem Tellerrand zum anderen. Ihr war viel zu heiß, um Hunger zu verspüren.
»Ivy hat geschrieben«, sagte sie schließlich in die Stille hinein.
McIntyre hob den Kopf und griff nach seinem Wasserglas. »So? Geht es deiner Familie gut?«
Moira nickte. »Mutter will Dorchas verkaufen«, presste sie hervor.
»Dorchas?«
»Meine Stute. Sie hat im März letzten Jahres gefohlt, und –«
»Ann!« McIntyre wandte sich suchend nach dem Mädchen um. »Wo steckt sie nur? Ann! Noch mehr Wasser!«
Eilfertig erschien das Mädchen an seiner Seite und füllte sein Glas neu.
»Ihr hört mir überhaupt nicht zu! Ihr sitzt nur da und beschäftigt Euch mit … mit Euren langweiligen Papieren!« Moira schob aufgebracht ihren Stuhl zurück. »Ann«, wandte sie sich nun ihrerseits an das Mädchen. »Ann, lauf hinüber zum Kutschenhaus und lass das Pferd anschirren.«
McIntyre sah sie konsterniert an. »Du wirst gefälligst sitzen bleiben!«
»Ich denke ja nicht daran«, widersprach Moira. »Ihr könnt mich hier nicht festhalten. Wenn Ihr Euch schon nicht dafür interessiert, was ich zu sagen habe, dann suche ich mir eben selbst Gesellschaft. Ann, lass die Kutsche vorbereiten!«
McIntyre schlug mit der Handfläche auf den Tisch. »Ann wird nichts dergleichen tun! Und du auch nicht!«
Das Mädchen stand in der Stube, den Kopf gesenkt, und rührte sich nicht.
»Ihr … Ihr könnt mir nicht verbieten, zu Elizabeth zu fahren!«
»Wer ist Elizabeth?«
»Mrs Macarthur. Sie schätzt meine Gesellschaft. Im Gegensatz zu Euch.«
»Woher kennst du Mrs Macarthur?«
Moira warf den Kopf in den Nacken, obwohl sie ihr Herzklopfen bis in den Hals spüren konnte. Aber sie hatte nicht vor, sich einschüchtern zu lassen. »Ich habe sie besucht. Gestern. Als Ihr in Sydney wart.«
McIntyre funkelte sie aus tiefliegenden Augen an und erhob sich. »Du warst allein mit der Kutsche unterwegs? Ohne meine Einwilligung?«
Moira schluckte. »Ich war nicht allein. Ich habe Ann mitgenommen.«
Mit wenigen Schritten war er bei ihr. Moira hätte nicht erwartet, dass er sich so schnell bewegen konnte.
»Habe ich dir nicht verboten, so etwas zu tun? Da draußen ist es gefährlich!« Seine Hand schnellte vor und traf ihre Wange. Moira schrie auf, mehr vor Zorn als vor Schmerz, ihr Gesicht brannte. »Du wirst mir gehorchen, hast du das verstanden?«
»Ihr seid widerlich!« Moira sprang auf und stürmte hinaus, vorbei an der verschüchterten Ann, die in eine Ecke der Stube gewichen war.
»Bleib hier!« McIntyres Stimme schallte hinter ihr her, aber sie hörte nicht auf ihn.
Er hatte sie geschlagen! Wie konnte er nur so gemein, so kaltherzig sein? Sie musste weg von hier, fort von diesem Unhold, mit dem man sie verheiratet hatte, der ihr jede Freude missgönnte und der sie jetzt auch noch schlug! Nie wieder würde sie hierher zurückkommen, nie wieder konnte sie mit so einem Menschen unter einem Dach leben!
Tränenblind eilte sie über die Straße und immer weiter, vorbei an den Häusern der Nachbarn, den einfachen Flechthütten der Aufseher und den Lagerhäusern. Wo das mühsam der Natur abgetrotzte Stück Zivilisation endete, begann die ursprüngliche Wildnis des Buschs. Der Herbst war nah, doch noch war davon nichts zu spüren. Die Luft flirrte, es sah aus, als brenne der Boden. Es roch nach reifen Früchten, Eukalyptus und dem betäubenden Duft sommerwarmer Blätter, die schwüle Hitze ließ Moira kaum richtig atmen. Keuchend riss sie an ihrer Haube, ließ sie achtlos zu Boden fallen und zerrte an ihrem Ausschnitt. Ein warmer Windhauch traf auf ihre erhitzte Haut.
Im nächsten Moment fuhr sie mit einem Aufschrei zurück. Wie ein dunkler Geist erschien plötzlich ein Eingeborener vor ihr, nackt und mit einem Speer bewaffnet. Er stand reglos neben der Straße, ein Bein auf der Erde, das andere mit der Fußsohle am Oberschenkel abgestützt, und blickte sie schweigend an. Feindselig. Von seiner lackschwarzen Haut hoben sich furchterregende, gewölbte Narben ab. Moira hatte von einem Eingeborenenstamm gehört, der die Siedlungen der Weißen überfiel und Frauen und Kinder tötete. War das einer dieser Krieger?
Kopflos bog sie nach links ab und raffte mit beiden Händen ihr langes Kleid, um besser laufen zu können. Sie blickte sich nicht um, sah nicht nach, ob der unheimliche Schwarze ihr folgte, hetzte einfach immer nur weiter, weg von der Straße, hinein in den Busch. Sie sah kaum, wohin sie lief, ihre Beine flogen wie von selbst über den trockenen Waldboden. Ranken zerrten an ihrem Rock, unter dem leichten Korsett klebte ihr das Hemd am Leib, Zweige streiften ihre nackten Arme.
Die Bäume standen hier nicht allzu dicht. Von manchen der schlanken Stämme hing die Rinde in langen Streifen herab, als hätte man sie ihrer Kleidung beraubt, das helle Holz darunter lag schutzlos. Die Sonne warf ein flirrendes Lichtspiel auf den farnbedeckten Boden.
Ihre Füße jagten über den Untergrund, sie hörte ihren eigenen, keuchenden Atem. War er ihr gefolgt?
Für einen winzigen Moment wagte sie es, sich umzudrehen. Sie sah den Mann nicht mehr, aber das hatte nichts zu bedeuten. Diese Wilden konnten urplötzlich aus dem Unterholz auftauchen und wieder verschwinden.
Ein harter Gegenstand kam ihr zwischen die Füße, sie stolperte, versuchte, sich mit den Händen abzufangen, fand aber keinen Halt und schlug mit einem Aufschrei der Länge nach hin.
Für einige Augenblicke lag sie benommen da, dann wälzte sie sich auf den Rücken. Ihr Herz raste, ihr Atem ging schwer. Weit über sich sah sie die hohen Baumkronen in einen wolkenlosen Himmel ragen, ein Schwarm bunter Vögel stieg kreischend auf.
Sie war nicht allein. Etwas schob sich in ihr Blickfeld, das Gesicht eines hageren Mannes, dem das verschwitzte Haar am Kopf klebte. Ein Sträfling. Zwei Fliegen summten hinter seinem Ohr.
»Ma’am?« Er grinste sie einfältig von oben an, mit offenem Mund, in dem einige Zähne fehlten.
»Guten Tag«, murmelte Moira. Sie rappelte sich auf, bewegte vorsichtig ihren Fuß und seufzte erleichtert auf, als sie ihn problemlos bewegen konnte. Ein Baumstumpf, knapp über der Wurzel abgetrennt, hatte sie zu Fall gebracht. Jetzt sah sie auch die gefällten Bäume, die man erst zum Teil von ihren Zweigen befreit hatte. Sie strich über ihren Rock, um Blattreste und Aststücke zu beseitigen. Der helle Stoff ihres Kleides wies an der Schulter einen großen Riss auf.
Aus dem Schatten der Bäume und Büsche erhoben sich jetzt weitere Gestalten; sie war in eine Arbeitsgruppe von Sträflingen geraten, die hier ihre Mittagspause abhielt. Fünf, nein, sechs Mann zählte sie. Hastig kreuzte sie die Arme vor der Brust und versuchte, den Riss an der Schulter zu bedecken. Diese Männer waren verurteilte Verbrecher, und die meisten trugen nur die mit einer kurzen Kette verbundene Handfessel, die man ihnen in der Arbeitspause anlegte. Lediglich zwei schleppten auch noch Fußeisen mit sich herum. Wo war bloß der Aufseher?
»Na, was haben wir denn da für ein hübsches Vöglein?« Ein feist grinsender Sträfling mit schweißglänzendem Gesicht trat auf sie zu. Ein zweiter kam von links. Sie wich erschrocken zurück und stieß dabei mit einem weiteren Mann zusammen. Nahm dieser Alptraum denn gar kein Ende?
»Hört auf! Das ist Mrs McIntyre, die Frau des Doktors!«
Sie kannte diese Stimme! Moira blickte auf, und ihr Herz tat einen erleichterten Sprung. Es war O’Sullivan, der Sträfling, der auf ihrer Veranda gesessen hatte.
Er nahm sie am Arm, fast grob, und führte sie ein paar Schritte weiter, fort von den anderen.
»Was ist los, O’Sullivan? Willst du sie für dich alleine haben?«, rief ihm einer hinterher.
»Was macht Ihr hier, Mrs McIntyre?«, fragte er leise. »Geht es Euch gut?«
»Ja. Ja, ich … ich habe mich nur verlaufen.« Es klang reichlich dürftig, aber irgendeine Erklärung musste sie schließlich anbieten.
Er blieb stehen, ohne seinen Griff zu lockern, und musterte sie. Obwohl ihm die kurze Kette zwischen seinen Handfesseln nur wenig Spielraum ließ, fühlte sie sich verunsichert. Sogar ausgesprochen verunsichert.
Er trug kein Hemd; unter der bronzefarbenen Haut seines Oberkörpers spannten sich sehnige Muskeln. So viel schiere Körperlichkeit war Moira nicht gewöhnt, und in ihrem Bauch stieg ein eigenartiges Kribbeln auf. Die einzigen Männer, die sie je dermaßen leicht bekleidet gesehen hatte, waren die Eingeborenen gewesen. McIntyre zeigte sich ihr auch nachts nie anders als im Nachthemd, und sie hatte wahrlich kein Verlangen, noch mehr von ihrem Mann zu sehen.
O’Sullivans Griff um ihren Arm war fest. So fest, dass es weh tat.
»Lasst mich los«, befahl sie und versuchte, ihren Arm zu befreien.
Er tat es nicht. »Es ist gefährlich … hier«, sagte er langsam. »Ihr solltet nicht hier sein.«
»Das hatte ich auch nicht vor!« Ihre Stimme war schärfer, als sie beabsichtigt hatte. Hatte sie sich in ihm getäuscht?
Er beugte sich näher zu ihr, schien ihren Duft einzusaugen wie ein Tier auf Beutezug. Moira spürte ihr Herz klopfen. Fürchtete sie sich etwa vor ihm? Nein, es war nicht nur Furcht, es war –
»Nimm sofort deine dreckigen Hände von der Lady!«
Die Stimme eines Aufsehers. Er drängte sein Pferd zwischen sie, und obwohl O’Sullivan Moira losgelassen hatte, zog der Aufseher ihm mit dem Knüppel eins über. Als der Sträfling keuchend in die Knie ging, sah Moira kaum verheilte Peitschenspuren auf seinem Rücken. Der Aufseher sprang vom Pferd, hob erneut den Knüppel und ließ ihn niedersausen. Ein zweiter Aufseher kam zu Fuß angelaufen.
»Du dreckiger Bastard, was hast du der Lady angetan?«
»Aufhören!«, schrie Moira erschrocken. »Er hat mir nichts getan. Er wollte nur helfen!« Noch immer glaubte sie den festen Griff seiner Finger um ihren Arm zu spüren.
Der Aufseher hielt inne und bedachte den Riss in ihrem Kleid mit einem zweifelnden Blick. »Tatsächlich?«
»Es ist wahr!« Moiras Anspannung fiel in sich zusammen. O’Sullivan kniete noch immer am Boden, er blickte nicht auf. Langsam gewann sie ihre Fassung wieder. »Besten Dank, Mister …«
»Holligan. Oberaufseher Holligan.« Der Mann tippte sich an den speckigen Hut. »Ihr seid die Frau von Dr. McIntyre, nicht wahr? Kommt, Madam, ich bringe Euch zurück. Hier seid Ihr nicht sicher.«
Moira nickte erleichtert, die Zunge klebte an ihrem Gaumen. Der Mann war ihr nicht sonderlich sympathisch, aber er hatte recht: Sie brauchte eine Begleitung. »Könnte ich vorher etwas trinken?«
Er nahm den Hut ab, wischte sich mit dem Ärmel über das verschwitzte, rotgeäderte Gesicht und setzte ihn wieder auf.
»Aber gerne, Madam. Nicht weit von hier steht das Wasserfass. Ich bringe Euch hin.«
»Ist denn kein Wasserträger in der Nähe? Es reicht, wenn –«
»Vergesst den Mann! Ihr wollt doch nicht die gleiche Brühe trinken wie dieser verlauste Abschaum? Nein, Madam, das lasse ich nicht zu!« Er drehte sich um. »He, Wilkins, ich bringe die Lady zurück. Und ihr: Die Pause ist vorbei! Zurück an die Arbeit!« Er stieß O’Sullivan mit der Stiefelspitze an. »Hoch mit dir. Um dich kümmere ich mich später. Wir sind noch nicht fertig!«
Moira schüttelte den Kopf. »Ich versichere Euch, Mr Holligan, er hat mir nichts getan.« So war es doch gewesen? Sie war sich plötzlich nicht mehr sicher. Ihr Blick ging erneut zu O’Sullivan. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos, als er sich aufrichtete, nur seine Augen schienen lebendig.
»Und wenn schon. Diese räudigen Hunde kann man nicht oft genug bestrafen.« Holligan steckte den Schlagstock in den Gürtel und griff nach dem Zügel. »Ich würde Euch ja das Pferd überlassen, Madam, aber ich fürchte, Ihr würdet Probleme mit dem Sattel bekommen.«
Moira nickte, schließlich konnte sie nicht erwarten, hier einen Damensattel vorzufinden. Und sich wie ein Mann auf das Pferd zu setzen, wie sie es zu Hause manchmal gemacht hatte, wenn niemand zusah, wagte sie dann doch nicht. Sie raffte ihren Rock, verkniff sich einen letzten Blick zurück und folgte Holligan.
»Die sind wie Tiere«, hob er erneut an, kaum dass sie ein paar Schritte gegangen waren. »Wisst Ihr, wie lange die schon keine Frau mehr gesehen haben? Vor allem keine so junge, hübsche?«
Moira antwortete nicht. Konnte der Mann nicht einfach den Mund halten?
»Wie weit ist es noch, Mr Holligan?«
»Wir sind gleich da. Seht Ihr? Da vorne!«
Sie atmete auf und beschleunigte ihre Schritte. Am Waldrand, im Schatten eines großen Baumes, stand ein hölzernes Wasserfass. Holligan band das Pferd an den Baum, dann nahm er den Deckel ab, wobei einige Fliegen aufstoben, tauchte eine daneben hängende Schöpfkelle ein und reichte sie Moira.
Durstig trank sie das Wasser, das zwar nicht mehr ganz frisch war, aber erstaunlich kühl.
Holligan sah sie mit einem unangenehm lüsternen Ausdruck an. »Ihr seid eine schöne Frau, Mrs McIntyre.«
Moira ließ die Schöpfkelle sinken und tat, als habe sie diese Bemerkung nicht gehört. Sie legte den Deckel wieder auf das Fass. »Vielen Dank. Und jetzt würde ich gerne zurück nach Hause.«
»Auch ich habe nicht viele schöne Frauen gesehen in letzter Zeit«, fuhr der Aufseher fort.
»Mr Holligan«, sagte Moira bestimmt. Das Ganze nahm allmählich eine unschöne Wendung. »Bringt mich jetzt bitte nach Hause. Mein Mann erwartet mich.«
»Ihr könntet Euch erkenntlich zeigen.«
»Wie bitte?«
»Nur einen Kuss!«
»Was fällt Euch ein?« Sie wandte sich empört ab.
Holligan griff nach ihrer Schulter. »Ein Kuss!«
Moira hob abwehrend die Arme und schob ihn von sich. »Wagt es nicht, mich anzufassen!« Sie war eher wütend als ängstlich. Was bildete sich dieser dahergelaufene Aufseher ein?
Holligan packte sie um die Taille, diesmal fester. »Wer wird sich denn so sträuben, meine Schöne?« Er presste seinen Mund auf ihren. Moira schmeckte abgestandenen Atem und spürte Bartstoppeln auf ihren Lippen. Mit aller Kraft gelang es ihr, ihn von sich fortzustoßen. Angeekelt fuhr sie sich mit dem Handrücken über die Lippen, um den salzigen Geschmack abzuwischen, dann ohrfeigte sie den Mann. »Was erlaubt Ihr Euch?!«
»So nicht, meine Schöne, so nicht!« Holligan drehte ihr brutal den Arm auf den Rücken und erstickte ihren Schrei mit seiner flachen Hand. Moira bekam einen verschwitzten Finger zwischen die Zähne und biss zu, so fest sie konnte. Holligan heulte auf, dann fasste er in ihre Haare und stieß ihren Kopf gegen den Baumstamm. Sie taumelte, vor ihren Augen drehte sich alles. Halb benommen spürte sie, wie er sie packte und mit dem Bauch über das Wasserfass warf. Er machte sich hinten an ihrem Rock zu schaffen, dann hörte sie das Reißen von Stoff und spürte Luft an ihren bloßen Schenkeln.
Mit dröhnendem Kopf richtete sie sich auf, aber Holligan packte sie erneut und stieß sie zurück, hielt sie fest. Sie drehte den Kopf und sah, wie er mit einer Hand an seiner Hose nestelte. Er grunzte auf, dann war er über ihr.
Panik überkam sie. Sie schrie auf, trat nach hinten und versuchte, sich zu befreien.
Holligan griff in ihr Haar. »Wenn du noch einmal einen Ton von dir gibst, bringe ich dich um!«, zischte er speichelsprühend in ihr Ohr, dann drückte er sie zurück auf die Tonne. Sie spürte das Stochern von etwas Hartem, Heißem an ihrem Hinterteil. »Mach gefälligst die Beine breit, so komm ich ja nicht rein!« Er gab ihrem linken Knöchel einen Tritt, der sie noch mehr vornübersacken ließ.
Dann flog ein Schatten an ihr vorbei – und mit einem Mal war sie von der Last seines Körpers befreit.
Es dauerte einige Sekunden, bis sie die Situation erfasste. Neben ihr wälzten sich zwei Männer auf dem Waldboden. Holligan hatte seinen Hut verloren, die heruntergelassene Hose hing ihm in den Kniekehlen und behinderte ihn beim Kampf. Der andere war O’Sullivan, der dem Aufseher die kurze Eisenkette zwischen seinen gefesselten Händen von hinten um den Hals gelegt hatte.
Für eine Weile war nur das Keuchen der beiden Männer zu hören. Dann gelang es dem Aufseher, sich aus dem Würgegriff zu befreien. O’Sullivan wurde nach hinten geschleudert und auf den Rücken geworfen. Holligan sprang auf und zog sich die Hose hoch, dann packte er seinen Schlagstock.
»Das wirst du mir büßen, du verdammter Hurensohn!«, brüllte er.
Holligan hatte eindeutig die besseren Karten; der Sträfling hatte keine Waffe, und seine Hände waren gefesselt. O’Sullivan kämpfte sich auf die Beine und schaffte es, das Wasserfass zwischen sich und den Aufseher zu bringen, als Holligan auch schon auf ihn zustürmte.
»Bleib stehen, verdammt noch mal!« Holligan versuchte, den Sträfling über das Fass hinweg mit seinem Schlagstock zu treffen.
O’Sullivan warf Moira einen Blick zu. »Los!«, keuchte er. »Holt Hilfe!«
Sie zögerte nur kurz. Mit wenigen Schritten war sie beim Pferd des Aufsehers, einem kräftigen Falben. Sie löste den Strick, raffte ihren zerrissenen Rock und setzte sich rittlings auf den breiten Pferderücken. Jetzt war sie dankbar dafür, dass sie in Irland manchmal heimlich im Herrensitz geritten war. Sie spürte ihr Herz hämmern, dennoch kam sie sich vor, als stünde sie fast unbeteiligt neben sich.
Ohne auf den unebenen Untergrund zu achten, hieb sie dem Pferd die Fersen in die Seiten und preschte durch den Busch, bis sie den Weg erreicht hatte. Wohin? Wo konnte sie schnell Hilfe bekommen? Sie sah nirgends Soldaten, und die meisten Sträflinge waren mit den Aufsehern im Busch. Wie von selbst lenkte sie das Pferd zu dem kleinen Haus, das sie mit Ann und McIntyre bewohnte. Noch fast im Ritt sprang sie aus dem Sattel.
Ann erschien auf der Veranda, hinter ihr McIntyre. Er warf einen ungläubigen Blick auf ihre zerrissene Kleidung. »Wie siehst du aus, du liederliches Weib? Komm augenblicklich –«
»Ihr müsst nach Hilfe schicken, sofort! Der Aufseher, Holligan, er … er …« Sie musste Luft holen und verstummte. Plötzlich fehlten ihr die Worte zu beschreiben, was geschehen war. Dann zwang sie sich zum Weitersprechen. »Er hat versucht, mich … mit Gewalt zu nehmen!« Zum ersten Mal seit dem Vorfall entfuhr ihr ein Schluchzen.
McIntyres Gesicht wurde zu einer verzerrten Maske. »Er hat dich … vergewaltigt?«
»Dazu ist es nicht gekommen. Ein … ein Sträfling kam mir zur Hilfe … und … Und jetzt prügeln sie sich. Schnell, er wird ihn noch umbringen!« Erst jetzt, da sie es aussprach, überfiel sie die Angst – so stark, dass es ihr die Kehle zuschnürte.
McIntyre ging direkt zu William Penrith, dem Lagerverwalter, und es dauerte nur wenige Minuten, bis dieser höchstpersönlich mit einem kleinen Trupp Soldaten bei ihnen auftauchte. Dennoch vibrierte Moira, die sich rasch umgezogen hatte, vor Sorge und Ungeduld. Ob der Kampf schon entschieden war? O Gott, bitte lass nichts Schlimmes passiert sein …
McIntyre saß wie ein nasser Sack auf dem Pferd, das man ihm gegeben hatte, und trug einen grimmig-entschlossenen Ausdruck zur Schau. Wieso kam er überhaupt mit? Dann verstand sie. Niemand durfte sich ungestraft an McIntyres Besitz vergreifen. Und zu seinem Besitz zählte schließlich auch sie.
Niemand außer Moira, die darauf bestanden hatte mitzukommen, und McIntyre hatte es wirklich eilig. Auch William schien diesen Vorfall lediglich als willkommene Unterbrechung seines eintönigen Tagesablaufs zu sehen, schließlich ging es für ihn nur um eine Prügelei zwischen einem Häftling und einem Aufseher. Von dem, was außerdem vorgefallen war, wussten bisher nur McIntyre und Ann.
Sie war sich im Klaren darüber, was O’Sullivan erwartete, falls er den Aufseher getötet hätte. Dann würde sie noch so oft erklären können, was geschehen war – man würde ihn trotzdem hinrichten. Und wenn der Aufseher umgekehrt O’Sullivan – nein, darüber wollte sie lieber nicht nachdenken.
Als sie am Wasserfass eintrafen, rann ein Schauer der Erleichterung durch ihren Körper: Beide Kontrahenten lebten. Eine kleine Schar von Aufsehern und Soldaten war bereits zur Stelle, offenbar war der ungleiche Kampf auch von anderen bemerkt worden. O’Sullivan hatte man in schwere Ketten gelegt und an einen Baum gefesselt, aus einer Platzwunde über seinem rechten Auge lief Blut. Als er Moira sah, straffte sich sein zusammengesunkener Körper. Oberaufseher Holligan stand ein paar Schritte entfernt und sah reichlich verbeult aus. Bei Moiras Anblick trat er unruhig von einem Bein auf das andere.
»Was ist hier los?«, verlangte der Lagerverwalter zu wissen.
»Sergeant«, sagte einer der Soldaten, »dieser Sträfling hier hat Oberaufseher Holligan angegriffen.«
»Der Mistkerl wollte mich umbringen!«, fiel Holligan ihm ins Wort.
»Das ist nicht wahr!«, stieß Moira hervor. Sie wollte noch mehr sagen, aber dann fing sie O’Sullivans Blick auf und verstummte. Er schüttelte leicht den Kopf und machte dann eine winzige Bewegung hin zu McIntyre.
»Aber wir haben alles unter Kontrolle«, fuhr der Soldat fort. »Der Übeltäter wird seiner gerechten Strafe zugeführt werden. Wir werden ihn morgen nach Parramatta bringen, um ein Urteil fällen zu lassen. Solange wird er in Gewahrsam gehalten.«
In Moira schrie alles danach vorzutreten, mit dem Finger auf Holligan zu weisen und ihn anzuklagen. Doch O’Sullivan hatte recht; sie war hier die einzige Frau unter mehreren Dutzend Männern. Sie konnte nicht davon ausgehen, dass man ihr glaubte. Und selbst wenn – was würde man erst danach von ihr denken? Ihr Daumen fuhr wie von selbst zum Mund, nervös knabberte sie an ihrem Nagel herum.
O’Sullivan versuchte, sich in seinen Fesseln aufzurichten und wandte sich an den Doktor. »Dr. McIntyre, ich muss –«
Der andere Aufseher, Wilkins, schlug ihn mit seinem Schlagstock. »Halt dein Maul! Du hast hier nichts zu sagen!«
Moira war bei dem Schlag zusammengezuckt, als hätte er sie selbst getroffen. Entschlossen drehte sie sich zu McIntyre um. »Sprecht mit ihm, bitte. Er kennt die Wahrheit.«
»Das hatte ich auch vor. Sir?« Er trat zu William. »Kann ich einen Augenblick allein mit dem Gefangenen reden?«
Der Lagerverwalter schien erleichtert, dass ihm jemand die Verantwortung abnahm. Er wies die Soldaten an, sich etwas von dem Baum, an den O’Sullivan gekettet war, zurückzuziehen.
McIntyre beugte sich zu dem Sträfling hinab, sie redeten eine Weile im Flüsterton. Dann richtete er sich wieder auf und trat neben Lagerverwalter Penrith. »Der Mann hat aus gutem Grund gehandelt. Meine Frau kann das bestätigen«, hörte Moira ihn mit gedämpfter Stimme sagen. »Dennoch möchte ich vorschlagen, diese Angelegenheit etwas weniger öffentlich zu regeln.« Wieder wurde er so leise, dass sie seine Worte nicht verstehen konnte. Moira konnte lediglich die Bestürzung in Williams Gesicht sehen. Dann nickte er mehrmals und zog seine Uniformjacke stramm.
»Abführen. Den Sträfling – und Oberaufseher Holligan.« Holligan setzte zum Protest an, wurde aber ebenfalls gefesselt. »Diese Sache erfordert weitere Klärung.«
An diesem Abend kam McIntyre erst spät von einer Unterredung mit dem Lagerverwalter zurück. Oberaufseher Holligan würde in den nächsten Tagen vor den Friedensrichter nach Parramatta gebracht werden. Wahrscheinlich würde Moira dort als Zeugin aussagen müssen, eine Aussicht, die ihr nicht sonderlich behagte.
Sie strich sich über ihren Haaransatz, an dem sich mittlerweile eine gewaltige Beule entwickelt hatte. »Und … der Sträfling?«
McIntyre lächelte. Er wirkte gar nicht mehr so griesgrämig wie sonst. »O’Sullivan? Ein anständiger Kerl, der Junge. So viel Einsatz muss belohnt werden. Er wird ab morgen für uns arbeiten. Sergeant Penrith hat meinem Antrag schon stattgegeben. Wir haben schließlich Anrecht auf einen weiteren Sträfling. Er wird im Kutschenhaus schlafen und sich um alle anfallenden Arbeiten außer Haus kümmern. Außerdem kann er mir bei meinen Forschungen zur Hand gehen.«