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Der »verführerische Reiz« der Neurowissenschaft

Kürzlich kaufte ich eine Blechtrommel, die verhieß, den Hörnerv meines Kindes zu stimulieren. Ich nahm an, das sollte wohl bedeuten, dass sie Krach machte. Offenbar waren die originellen Köpfe der Marketingabteilung über die Entdeckung gestolpert, dass eine Information viel eindrucksvoller klingt, wenn man sie in die pompöse Sprache der Neurowissenschaft packt. (Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass diese meine Wörter, die Sie gerade lesen, Ihren Occipitallappen stimulieren und außerdem den neuronalen Schaltkreis Ihres Gyrus cinguli anterior und des dorsolateralen präfrontalen Cortex trainieren? Das ist nicht einfach nur ein Buch – das ist ein neurologischer Workout.) Neurowissenschaftliche Informationen haben einen gewissen Charme. Sie klingen so unangreifbar, so … na ja, eben wissenschaftlich, und deshalb geben wir ihnen den Vorzug vor der langweiligen, altmodischen Offensichtlichkeit von Verhaltensweisen. Neurowissenschaftlicher Jargon verleiht leeren wissenschaftlichen Erklärungen eine befriedigende Anmutung von Professionalität. Und er scheint uns tatsächlich zu erklären, wer wir in Wahrheit sind.

 

Nach Lawrence Summers’ umstrittener Aussage, Frauen seien womöglich weniger begabt, außerordentliche naturwissenschaftliche Leistsungen zu erbringen, waren Steven Pinker und Simon Baron-Cohen nicht die einzigen, die Unterschiede im Aufbau des Gehirns in die Debatte einbrachten. Auch Leonard Sax meldete sich zu Wort. Immerhin brachte Sax löblicherweise nicht das Argument, die Hirnforschung lasse Rückschlüsse auf eine angeborene weibliche Unterlegenheit in den Bereichen Naturwissenschaft und Mathematik zu. Stattdessen verwies er auf das Schulsystem als Ursache, das den Jungen und Mädchen im selben Alter denselben Lernstoff beibringe. Das ist ein Fehler, weil, wie er in der Los Angeles Times erklärte, »die Hirnregionen, die mit Sprache und Feinmotorik (wie etwa dem Schreiben) zusammenhängen, sich bei Mädchen ungefähr sechs Jahre früher ausbilden, und die Hirnregionen für Mathematik und Geometrie bei Jungen vier Jahre früher«.534 Sax vertritt die Auffassung, dass in der Unterrichtspraxis auf diese nach Geschlechtern unterschiedliche Entwicklung der einzelnen Hirnregionen Rücksicht genommen werden sollte, weil »ein Lehrplan, der diese Unterschiede ignoriert, Jungen hervorbringt, die nicht schreiben können, und Mädchen, die glauben, sie hätten keine Ader für Mathematik«.535

Verstehen Sie mich nicht falsch: Das Ziel, das Sax verfolgt – die schulischen Bedingungen für Jungen und Mädchen zu verbessern –, halte ich für durchaus legitim. Es mag ja sein, dass es für die Methode der Monoedukation gute Gründe gibt. Andererseits: Was sollen wir von seiner gegenüber CBS-News aufgestellten Behauptung halten, man werde, »da man die angeborenen hirnphysiologischen Unterschiede außer Acht lässt, weder den Jungen noch den Mädchen gerecht«?536

Mittlerweile befällt auch Sie wahrscheinlich schon ein gewisses Unbehagen bei der Vorstellung, komplexe mentale Fähigkeiten wie Sprache, Mathematik und Geometrie könnten in einem spezifischen Teil des Gehirns lokalisiert werden. Es stimmt einfach nicht, dass eine Person, die einen Roman liest, einen Essay schreibt, eine Gleichung löst oder die Größe eines Winkels in einem Dreieck ausrechnet, nur einen bestimmten Hirnlappen oder einen eingrenzbaren Teil des Gehirns benutzt. Und leider ist auch die Neurowissenschaft noch nicht so weit, dass sie ins Gehirn schauen und die Fähigkeit aufzeigen kann, Gleichungen zu lösen, oder die Bereitschaft, Differential- und Integralrechnen zu lernen. Ich kann nachvollziehen, warum dieser ziemlich subtile Umstand weder bei Sax noch bei den Verlegern oder Journalisten die Alarmglocken zum Schrillen gebracht hat, die derartige Kommentare an die Öffentlichkeit brachten. Was ich nicht verstehe: Warum stellte keiner die Richtigkeit der Sax’schen Behauptung einfach nur aufgrund des Umstands in Frage, dass Jungen den Mädchen in Sachen Mathematik eindeutig nicht vier Jahre voraus sind (faktisch sind sie ihnen in überhaupt nichts voraus)?537 Und natürlich ist auch die Sprachfähigkeit eines zwölfjährigen Jungen nicht mit derjenigen eines sechsjährigen Mädchens vergleichbar. Selbst wenn wir bereit sind, zwischen einem Teil des Gehirns und komplexen Erkenntnisvorgängen einen Zusammenhang herzustellen, ist doch diese Theorie neuronaler Reifungsprozesse ein reichlich kümmerlicher Indikator für faktisch vorliegende Fähigkeiten – entschieden weniger geeignet als etwa ein Rechentest. Warum also bekommt diese Art von Neurononsense Schlagzeilen?

Vielleicht liegt das unter anderem daran, dass die Neurowissenschaft die Psychologie im impliziten »Wissenschaftlichkeits«-Ranking weit hinter sich lässt:538 Schließlich arbeitet die Neurowissenschaft mit teuren, hoch komplizierten Apparaten. Sie kann coole dreidimensionale Abbildungen des Gehirns erstellen. Die Experten haben mit hoher Wahrscheinlichkeit weiße Kittel an. Und man stelle sich vor: Es hat etwas mit Quantenmechanik zu tun! Da frage ich Sie: Welche Chance hat gegen ein solches Kaliber ein schlichtes Blatt Papier, auf dem ein sechsjähriges Mädchen erfolgreich 7 und 9 zusammengezählt hat? Der Bioethiker Eric Racine und sein Team prägten den Begriff »Neuro-Realismus«. Damit ist der Umstand gemeint, dass die Erfassung mit fMRI-Technik psychisch-mentale Phänomene irgendwie realer oder objektiver erscheinen lässt, als wenn sie mit herkömmlichen Methoden erfasst werden. Racine führt als Beispiel den Fall an, dass erhöhte Aktivität in den Belohnungszentren des Gehirns, während Testpersonen ungesunde Nahrungsmittel zu sich nahmen, als Beweis dafür eingestuft wurde, dass »der Verzehr von Fett einen Lustgewinn bedeutet«.539 Wenn tatsächlich Feuerungsmuster im Gehirn als besserer Beweis für ein gutes Gefühl angesehen werden als wenn jemand auf einem Fragebogen die Antwort ankreuzt: »Ja, ich fand es toll, diesen Doughnut zu essen«, dann kann es nicht überraschen, dass die faktischen Begabungen und Fähigkeiten von Kindern so leicht übersehen werden, weil im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit die Hirnforschung steht.

Hinzu kommt: Das Gehirn mit seinen Axonen und dem Fett und den neurochemischen und elektrischen Impulsen ist ein handfest-biologisches Organ, und ich vermute, dass daher die Versuchung groß ist, jegliche Geschlechtsunterschiede, die uns im Gehirn auffallen, auf Unterschiede zwischen männlicher und weiblicher Natur zurückzuführen, wie Michael Gurian und Katy Stevens es in ihrem Buch The Minds of Boys tun:

 

Den auf soziale Einflüsse fixierten Denkern der 1950er, 1960er und 1970er Jahre standen PET-Scans, Magnetresonanztomographie, SPECT- [Einzelphotonen-Emissions-Tomografie-] Scans und andere biologische Forschungsapparaturen nicht zur Verfügung. … Weil sie den Menschen nicht in die Köpfe schauen konnten und daher auch nicht die Unterschiede zwischen den Gehirnen der Frauen und denen der Männer kannten, mussten sie eine Theorie formulieren, die mit sozialen und nicht mit naturgegebenen Faktoren argumentierte. Sie mussten in Genderstudien den Einfluss der Erziehung und des sozialen Umfelds über Gebühr herausstreichen, weil sie nicht die Möglichkeiten hatten, die wahre Natur der Männer und der Frauen zu studieren.540

 

Gurian und Stevens setzen offenbar »wahre Natur« und »Gehirn« gleich. Wenn Sie allerdings genauer darüber nachdenken – wo sollten sich die Auswirkungen von Sozialisation oder Erfahrung denn niederschlagen, wenn nicht im Gehirn? Oder, wie Mark Liberman es formuliert: »Wie sonst sollten sich sozial konstruierte kognitive Unterschiede manifestieren? In Strömen reiner spiritueller Energie, ohne Auswirkung auf neuronale Aktivität, Blutzufluss im Gehirn und Ergebnisse aus funktionellen Bildgebungstechniken?«541 Auch die »Neuro-Nörgler« der James S. McDonnell Foundation haben sich zu dieser Gleichsetzung von Gehirn und angeborener Veranlagung geäußert. Ein Artikel in der New York Times hatte vor dem Hintergrund einer fMRI-Studie behauptet, dass »der Impuls einer Mutter, ihr Kind zu lieben und zu beschützen, offensichtlich einer angeborenen Veranlagung in ihrem Gehirn entspricht, dass er in ihrem Gehirn verdrahtet ist«. Einer der Kritiker von der McDonnell Foundation veröffentlichte daraufhin den Appell, doch bitte auch den Stellenwert von »Erfahrung und erworbenem Wissen ernst zu nehmen. Nur weil [im Gehirn] eine Reaktion festgestellt wird, kann noch keine Rede davon sein, dass der Impuls im Gehirn verdrahtet ist.«542

Ein weiterer Zweig aus dem Bereich des Neurononsense ist das, was Forscher von der Yale University als den »verführerischen Reiz neurowissenschaftlicher Erklärungen« bezeichneten. Deena Kolnick Weisberg und ihr Team stellten fest, dass Menschen im Allgemeinen sehr genau merken, wann ein psychologisches Phänomen schlecht erklärt wird. Nehmen Sie an, Sie lesen über eine Studie, bei der festgestellt wurde, dass Männer bei Raumerkennungsaufgaben besser abschnitten als Frauen. Würden Sie sich mit einer Erklärung zufrieden geben, die Ihnen lediglich den Zirkelschluss anbietet, dass »die im Vergleich zu Männern schlechtere Leistung von Frauen den Genderunterschied bei der Fähigkeit zur Raumerkennung erklärt«? Wohl kaum. Damit wird das Resultat nicht erklärt, sondern lediglich mit anderen Worten umschrieben: Frauen können Raumerkennungsaufgaben weniger gut lösen, weil Frauen Raumerkennungsaufgaben weniger gut lösen können. Aber Sie brauchen nur »Neurowissenschaft« hinzufügen, und plötzlich klingen dieselben Nicht-Erklärungen viel befriedigender:

 

Gehirn-Scans des rechten prämotorischen Areals, das bekanntlich an der Raumerkennung beteiligt ist, deuten darauf hin, dass die bei Frauen im Vergleich zu Männern schlechtere Leistung unterschiedliche Reaktionsweisen zur Folge hat. Das erklärt den Genderunterschied beim räumlichen Vorstellungsvermögen.

 

Fett gedruckt ist der Zirkelschluss, der für sich genommen allgemein als unbefriedigend empfunden wurde. Das hinzugefügte Stückchen Neurowissenschaft vermittelt uns, dass Raumerkennung in einem Teil des Gehirns stattfindet, was uns wohl kaum überraschen wird. Einen Grund, warum Frauen schlechter abschneiden als Männer, liefert es nicht. Die Erklärung bewegt sich noch immer im Kreis. Doch der neurowissenschaftliche Jargon verschleiert das – und zwar, wie Weisberg und ihr Team feststellten, sogar für Studenten, die ein Einführungsseminar in Kognitionswissenschaften besuchen.543 Man hat zwar noch nicht herausgefunden, worin genau die Überzeugungsmacht der Neurowissenschaft besteht, aber man weiß, dass naturwissenschaftliche Argumente zwingender wirken, wenn sie von einem Bild begleitet werden, auf dem Gehirnaktivitäten dargestellt werden, anstatt etwa lediglich von einem schlichten Säulendiagramm, das dieselbe Information veranschaulicht.544

Was das bedeutet, ist klar: Wir haben allen Anlass zur Sorge, dass dieses ganze Gerede von Gehirnunterschieden die öffentliche Meinung und die Politik weit über das angemessene Ausmaß hinaus beeinflusst. Weisberg meint, die verführerische Ausstrahlung der Neurowissenschaft führe zu »einer gefährlichen Situation, in der es nicht notwendig die sachlich fundiertesten Forschungsergebnisse sind, die ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit geraten«.545

Die Auswirkungen der Neurowissenschaft können sich sowohl im persönlichen wie im politischen Bereich niederschlagen. Genderstereotype werden durch diese pseudowissenschaftlichen Erklärungen legitimiert. Wer gerade noch zu den altmodischen Sexisten gehörte, steht plötzlich auf der Seite der modernen Naturwissenschaft. Wollen Sie in einem Buch für Lehrer und Eltern die Behauptung unter die Leute bringen, dass »die Welt der Abstraktion … eher vom männlichen als vom weiblichen Gehirn erforscht wird«, und damit die Dominanz der Männer im Fach Physik erklären?546 Bitte, nur zu! Wenn nur das Zauberwort Gehirn vorkommt, wird keiner mehr nachhaken. Wir müssen uns allerdings fragen, welche Rückwirkung diese Art von Information auf die Gesellschaft hat. Wir haben im ersten Teil dieses Buches gesehen, wie das Aktivieren von Genderstereotypen selbst dann messbare Auswirkungen auf unsere Haltung, unsere Identität und unsere Leistung hat, wenn wir nur den Verdacht hegen, dass sie im Denken anderer Menschen eine Rolle spielen.

Neurosexismus kann auch ganz direkt solche Auswirkungen haben. Heute können wir nur darüber spekulieren, welch verheerenden Einfluss die populärwissenschaftlichen Bücher über die Unterschiede zwischen den Geschlechtern auf das männliche Denkmuster haben, wonach doch jemand anders die Milch einkaufen soll. Belegbar ist jedoch, dass Reportagen über Genderfragen in den Massenmedien, die die Relevanz biologischer Faktoren betonen, in uns die Neigung verstärken, Genderstereotype zu übernehmen und uns selbst entsprechend diesen Stereotypen zu verhalten; sogar unsere Leistung kann sich dementsprechend verändern.547 Für eine Studie wurden den weiblichen Testpersonen zunächst zwei unterschiedliche Zeitungsartikel ausgehändigt: Die eine Gruppe bekam zu lesen, Männer seien aufgrund angeborener biologischer und genetischer Unterschiede besser in Mathematik; der Essay, den die andere Gruppe bekam, begründete das bessere Abschneiden der Männer damit, dass sie sich stärker anstrengen als Frauen. Die Frauen, die die erste Information bekamen, schnitten in einem Test von der Art der Hochschulaufnahmeprüfung GRE schlechter ab als die Kontrollgruppe. Und Frauen, die gerade einen Essay gelesen hatten, in dem es hieß, die Geschlechtsunterschiede im mathematischen Vermögen seien genetisch bedingt, schnitten in einem ähnlichen Test entschieden schlechter ab als die anderen, die zuvor gelesen hatten, dass Erfahrungsfaktoren die Geschlechtsunterschiede beim Mathematikpotential erklären, so die Forscher Ilan Dar-Nimrod und Steven Heine. (Die Information vom Versuchsleiter zu bekommen hatte denselben Effekt wie die Lektüre eines wissenschaftlichen Artikels.) Diese verheerende Auswirkung der genetischen Erklärung dürfte, so die Autoren der Studie, darauf zurückzuführen sein, dass genetisch bedingte Unterschiede tiefer gehen und – anders als Unterschiede, die sich aus sozialen Faktoren ergeben – nicht veränderbar sind. Daraus folgt: »Allein schon die Annahme, dass Gene für die Qualität der mathematischen Leistung eine Rolle spielen, kann schädliche Konsequenzen haben. … Dieser Befund zieht unbequeme Fragen nach sich: Welche Auswirkungen haben wissenschaftliche Theorien auf Menschen, die diese Befunde zur Kenntnis nehmen? Tragen die Wissenschaftler ausreichend Sorge dafür, dass ihre Arbeit angemessen interpretiert wird?«548

 

»Caveat Lector«, so lautet Weisbergs Rat. Neurowissenschaftler, die auf diesem Gebiet arbeiten, müssen mit besonderer Aufmerksamkeit darauf achten, wie ihre Befunde zu gehirnspezifischen Geschlechtsunterschieden interpretiert und an die Öffentlichkeit gebracht werden. Geschieht das zu leichtfertig, kann es sich gravierend auf die Existenz der Menschen auswirken. Viele Neurowissenschaftler sind sich darüber offenbar im Klaren. Sie gehen mit entsprechender Behutsamkeit an die Interpretation von Geschlechtsunterschieden im Gehirn heran, und viele unterziehen sich auch durchaus der Mühe, Journalisten daran zu erinnern, wie weit wir noch von der Möglichkeit entfernt sind, Geschlechtsdifferenzen im Gehirn auf mentale Prozesse abbilden zu können. (Was sie allerdings fallweise auch nicht davor bewahrt, dass ihre Arbeit falsch interpretiert wird.) Aber es gibt eben auch die anderen, die mit diesem Problem leichtfertiger umgehen.

Die Aussage, hirnphysiologische Geschlechtsunterschiede seien ein Thema, das besonders viel Fingerspitzengefühl erfordert, findet durchaus nicht allgemeine Zustimmung. So stellt sich beispielsweise die auf diesem Gebiet tätige Forscherin Doreen Kimura auf den Standpunkt, dass »wir uns nicht in eine Situation nötigen lassen dürfen, in der wir sagen …: ›Dieser Befund wird niemanden aufregen, also spricht nichts dagegen, dass ich ihn verallgemeinere; während dieser andere Befund missliebig sein könnte, weshalb ich ihn durch weitere Beweise noch stärker untermauern muss, bevor ich damit an die Öffentlichkeit gehe.‹«549

Ich hingegen glaube eher nicht, dass der Forschungsgegenstand keinen Einfluss haben sollte auf den Grad an Behutsamkeit, mit dem Wissenschaftler ihre Ergebnisse generalisieren bzw. Sorge tragen für die Art und Weise, wie ihre Ergebnisse von anderen verbreitet werden. Beispielsweise weiß ich von Neurowissenschaftlern, die im Bereich der Drogenabhängigkeit forschen, dass man sich dort nach Kräften bemüht, vereinfachte oder verzerrte Darstellungen der eigenen Forschungsergebnisse in den Medien zu verhindern, und zwar nicht, weil man die Öffentlichkeit nicht gegen sich aufbringen will, sondern weil es sich um einen heiklen Bereich handelt, und hirnphysiologische Fakten im Zusammenhang mit Suchtverhalten können die Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber einer einzelnen gesellschaftlichen Gruppe verändern. Für diese Wissenschaftler war es offenbar alles andere als unvernünftig, die Last einer größeren Verantwortung zu schultern – eine Last, die, so meine ich, auch denen zugemutet werden muss, die sich zu Geschlechtsunterschieden im Gehirn äußern.550

Schließlich geht mein dringlicher Appell an Verlage, Journalisten und Schulen, gegenüber Behauptungen zu Geschlechtsunterschieden im Gehirn entschieden mehr Skepsis zu entwickeln. Ich finde es beängstigend, dass man zum Thema männliches und weibliches Gehirn offenbar jeden beliebigen Blödsinn behaupten kann, der einem gerade in den Kram passt, und sofort mit Veröffentlichungen in namhaften Zeitungen, Veränderungen in der pädagogischen Ausrichtung einzelner Schulen oder oberen Rängen in Sachbuch-Bestsellerlisten belohnt wird. Hier können Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen Abhilfe schaffen (und viele tun das ja auch schon). Weisberg plädiert dafür, dass wir (im Zusammenhang mit der Interpretation von Bildgebungsstudien) »generell eine engagiertere Haltung als Wissenschaftler, Mediziner und Forscher einnehmen sollten«. Sie spricht sich dafür aus, dass die Vertreter und Vertreterinnen der Forschung sich als »lautstarke Kritiker« irreführender Artikel einbringen, dass sie Druck ausüben auf »Verfasser von Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften, in der Beschreibung von Wissenschaftsthemen gründlicher und differenzierter vorzugehen«, und dass sie zu diesem Behufe Medienvertretern ihr Fachwissen zur Verfügung stellen.551

Neurosexismus begünstigt schädliche, diskriminierende, potentiell sich selbst erfüllende Stereotype. Vor drei Jahren stellte ich fest, dass die Erzieherin in dem Kindergarten, den mein Sohn besucht, ein Buch las, in dem behauptet wird, sein Gehirn sei nicht in der Lage, eine Verbindung zwischen Gefühl und Sprache herzustellen. Also beschloss ich, dieses Buch zu schreiben.552 Wer eine derartige Behauptung über unveränderliche, hirnphysiologisch grundgelegte psychische Unterschiede zwischen Männern und Frauen macht, übersieht die Wahrscheinlichkeit von Zufallsfunden; die Kinderkrankheiten, mit denen die neue Technologie zu kämpfen hat; die Undurchschaubarkeit des Verhältnisses zwischen Gehirnstruktur und psychisch-mentaler Funktion; und schließlich die Problematik, die darin besteht, psychische Zustände aus Bildgebungsdaten abzuleiten. Geblendet von der verführerischen Wissenschaftlichkeit der Neurowissenschaft haben die Kommentatoren keinen Blick mehr für die Offensichtlichkeit von Geschlechterähnlichkeiten oder auch die Flexibilität von Reaktionen auf einen gegebenen sozialen Kontext. Und überhaupt muss man einmal, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, das ganze Konzept von der Verdrahtung auf den neuesten Stand bringen.