12.

Die Drakes erwarteten ihn im Wohnzimmer – alle außer Hannah. Sie konnten an seiner Körperhaltung erkennen, dass er wütend war. Sarah sprang auf, um ihn abzufangen, als er auf die Treppe zuging, doch er hob eine Hand, um sie aufzuhalten, und warf ihr einen einzigen emotionsgeladenen Blick zu.

»Lass das bleiben«, warnte er sie.

Sie zögerte. »Erzähl uns, was los ist, Jonas.«

Er warf einen Blick auf Joley. »Du nimmst dir die da vor.« Er wies mit dem Kopf auf sie. »Und ich nehme mir Hannah vor.« Er warf noch einen weiteren wütenden Blick auf Joley, bevor er die Treppe zu Hannahs Zimmer hinaufeilte.

Die Tür war abgeschlossen und diesmal machte er sich gar nicht erst die Mühe anzuklopfen, sondern knackte gleich das Schloss. Hinter ihm tauchten Joley und Sarah auf.

»Du musst sie in Ruhe lassen, Jonas. Diese Konfrontation mit Prakenskij war zu viel für sie«, sagte Sarah. »Sie hat es bitter nötig, sich auszuruhen.«

»Und du hast es bitter nötig, dich um deine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Hannah ist eine erwachsene Frau. Sie ist meine Frau.« Diese Erklärung gab er ab, als das Schloss gerade aufsprang. Er öffnete die Tür, trat ein und schlug sie der erbosten Sarah vor der Nase zu.

Hannah zog gerade Kleidungsstücke aus ihrer Kommode und Tränen liefen über ihr Gesicht, als sie die Sachen in die kleine Sporttasche stopfte, die offen auf dem Bett stand. Er konnte ihr die Erschöpfung ansehen und er sah auch die dunklen Ringe unter ihren Augen. Trotz aller Wut schnürte sich sein Herz zusammen. Hannah vereinte enorme Gegensätze in sich. Sie wirkte äußerlich zart und zerbrechlich und bewies dennoch eine große Stärke. Sie hatte Panikanfälle und doch verteidigte sie mutig ihre Schwestern. Sie war schüchtern und war zu einem Idol der Massen geworden.

Nie in seinem ganzen Leben würde er ihren Anblick vergessen, als sie mit frischen, tiefen Wunden in ihrem zerschnittenen Gesicht, aber mit erhobenem Kopf das Wohnzimmer betreten und Prakenskij mit majestätischer Würde fest in die Augen gesehen hatte. Er wusste, dass es sie ihren Stolz gekostet hatte. Er wusste, dass sie nicht gesehen werden wollte. Aber sie hatte ihnen allen die Stirn geboten und darauf beharrt, wie eine Erwachsene behandelt zu werden. Nie war er so stolz auf sie gewesen. Und doch war er jetzt in ihr Zimmer gekommen, um sie zusammenzustauchen. Mal wieder. Er seufzte.

Sie blickte auf und ihre nassen, verklebten Wimpern brachen ihm fast das Herz. Ihre Hand legte sich abwehrend auf ihre Kehle. Er wollte sie in seine Arme ziehen und sie eng an sich schmiegen.

»Verschwinde«, sagte sie. »Du musst sofort verschwinden und mich allein lassen.«

Ihn packte die Wut. So viel zu seinen guten Vorsätzen. Er knallte die Tür wieder zu, diesmal vor Joleys Nase, drehte den Schlüssel im Schloss um und durchquerte mit drei großen Schritten das Zimmer.

»Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, Hannah?« Jonas packte ihre Schultern und schüttelte sie. »Macht es dir etwa Spaß, mit dem Feuer zu spielen? Ich habe dir doch gesagt, dass du dich von Rudy Venturi fernhalten sollst. Er mag zwar harmlos wirken, aber er lebt eine Phantasie aus und kein Mensch weiß, was passieren könnte, wenn er aus seiner Phantasiewelt herausgerissen wird.«

»Jonas!«, protestierte Sarah durch die geschlossene Tür. »Was tust du?«

»Ich werde sie verprügeln, genau das werde ich tun«, fauchte Jonas sie an. »Warum kannst du nicht ausnahmsweise mal das tun, was ich sage, Hannah? Dieser Mann ist komplett übergeschnappt und du bringst ihm eine signierte Fotografie mit und überreichst sie ihm persönlich? Ich weiß, wovon ich rede, wenn ich dir Vorträge über Sicherheitsmaßnahmen halte, aber nein, du musst dich mir unter allen Umständen widersetzen.« Seine Augen verfinsterten sich, als er mit loderndem Blick in ihr Gesicht hinuntersah und sie erneut schüttelte. »Du tust so brav wie eine verfluchte Marionette das, was alle anderen dir sagen. Nur mit mir musst du dich streiten und dich mir bei jeder Gelegenheit widersetzen, selbst wenn du damit dein Leben in Gefahr bringst.«

»Lass das sein, Jonas«, rief Joley und hämmerte gegen die Tür. »Hör sofort auf damit. Es klingt, als würdest du ihr wehtun. «

»Ich täte ihr niemals weh«, behauptete Jonas und ließ Hannah abrupt los. »Verdammt noch mal, Joley, verschwinde. Und du auch, Sarah. Das ist eine Sache zwischen Hannah und mir.«

»Es ist alles in Ordnung, Joley«, beteuerte Hannah ihrer Schwester. »Lasst uns allein.«

»Bist du ganz sicher, Hannah?«, fragte Sarah. »Du brauchst dir nicht gefallen zu lassen, dass er dich anschreit.«

»Ich mische mich bei dir und Damon auch nicht ein, Sarah«, zischte Jonas. »Du solltest den Anstand besitzen, uns dasselbe Recht zuzugestehen. Und jetzt verschwinde.« Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und wartete, bis er Schritte hörte, die sich von der Tür entfernten, bevor er Hannah wieder finster ansah. »Verflucht noch mal. Wie kommst du dazu, deine Sicherheit für einen solchen Unsinn aufs Spiel zu setzen?«

Er ließ sie stehen und seine Hände zitterten, als er im Zimmer auf und ab lief. Er rang nach Luft, während er versuchte, die Bilder zu verscheuchen, die sich ihm aufdrängten. So viel Blut. Ihr langes Haar hatte sich um ihren Kopf herum aufgefächert, aber anstelle von Platin und Gold waren ihre Locken blutrot gewesen. Er konnte kaum noch atmen und taumelte tatsächlich. Blind tastete er nach einem Halt.

Hannah griff nach seinem Arm. »Setz dich, Jonas. Du hast seit Tagen nicht geschlafen.«

»Seit Wochen«, verbesserte er sie und ließ sich auf den breiten Sessel vor ihrem Kamin fallen. Er schlang ihr seine Arme um die Taille und legte sein Gesicht vorsichtig an ihren Bauch. Ein Schauer lief durch seinen Körper. »Verdammt noch mal, Hannah, du bringst mich um.«

Hannahs Finger gruben sich in sein Haar und beschrieben kleine Kreise auf seiner Kopfhaut, um ihn zu beschwichtigen. »Es ist alles in Ordnung, Jonas. Ich bin am Leben. Es wird alles wieder gut werden.«

Sie kniete sich hin und lehnte ihre Stirn an seine. Sie war nicht sicher, ob sie die Wahrheit sagte. Sie hätte noch nicht einmal mit Sicherheit sagen können, ob sie den Angriff überlebt hatte. Sie war am Leben, aber sie war von Grauen erfüllt und musste mit der Erkenntnis fertig werden, dass jemand sie genügend hasste, um sie zerstören zu wollen. Sie war nicht so stark wie ihre Schwestern. Sie hielt sich am liebsten im Schutze ihres Elternhauses und der Kleinstadt auf, in der sie aufgewachsen war. Hier war ihr alles vertraut. In Sea Haven hatte sie sich immer sicher gefühlt. Das war jetzt vorbei. Derjenige, der sie hasste, war hier in Sea Haven und sie durfte nicht zulassen, dass ihren Schwestern etwas zustieß – oder Jonas. Sie musste von hier fortgehen und es war unumgänglich, dass sie allein fortging.

Jonas schirmte sie normalerweise gegen die Intensität seiner Gefühle ab, aber im Moment war er außer sich. Sie nahm in ihm dieselbe Verzweiflung wahr wie damals, als er versucht hatte, seine Mutter festzuhalten, versucht hatte, sie zu retten und ihr die entsetzlichen Schmerzen zu nehmen. Jeanette Harringtons Schmerzen waren, ebenso wie Hannahs Schmerzen, sowohl physischer als auch psychischer Natur gewesen. Sie hatte nicht sterben und ihren Sohn mutterseelenallein zurücklassen wollen. Hannah wusste nicht, wie sie weiterleben sollte. Jonas fühlte sich für sie verantwortlich – so war es schon immer gewesen – und im Moment vermischte sich all das mit Kummer und Wut.

In dem Augenblick begriff sie mit erstaunlicher Klarheit, dass ihre eigene Unsicherheit ihr nicht wichtig war. Sie fühlte den Schauer, der Jonas überlief, und sie musste eine Möglichkeit finden, ihm den Schmerz zu nehmen. Sie schnappte Bilder von dem Angriff auf sie auf, die vor seinem geistigen Auge vorüberzogen. Den verzweifelten Wunsch, zu ihr zu gelangen, die Qualen, die der Gedanke, sie zu verlieren, bei ihm auslöste. Die Wut auf sich selbst, weil er nicht bei ihr war, um sie zu beschützen. Sie fand weder Mitleid noch Entsetzen beim Anblick ihres verstümmelten Körpers und das war ein unerwartetes Geschenk. Aber die Liebe, die sie dort fand, war stark … intensiv … fast schon verzweifelt … und sie erstickte sie. Wie konnte sie ihn verlassen, wenn sie dasselbe für ihn empfand?

»Ich bin wütend auf dich, Hannah«, flüsterte er und schmiegte sein Gesicht an ihren warmen Hals. »Ich bin wirklich wütend auf dich.«

»Ich weiß.« Sie wiegte seinen Kopf in ihren Armen und hielt ihn eng an sich geschmiegt. »Aber das macht nichts. Wir werden es überstehen. Ich weiß zwar nicht wie, aber wir werden es schaffen.« Sie war dankbar, dass es keine Zeugen für seine Panik gab. Er war ein starker und stolzer Mann und für ihn wäre es demütigend gewesen, vor den Augen aller zu zerbrechen. Insbesondere vor ihren Schwestern, die er glaubte ständig beschützen zu müssen.

»Du musst auf mich hören, Hannah, wenn es um deine Sicherheit geht. Sonst gehe ich kaputt. Ich halte das nicht aus. Die Angst ist lähmend und frustrierend und ich kann nicht einmal mehr atmen, wenn ich mir dich in solchen Situationen vorstelle. Wenigstens das musst du für mich tun. Gesteh mir dieses Wenige zu.«

Sie drückte Küsse auf seine Stirn. »Ich habe es nicht absichtlich getan, Jonas. Es war kein Trotz. Ich habe keine Bedrohung durch Rudy wahrgenommen, nur seine Einsamkeit. Ich weiß, was das heißt. Manchmal fühle ich mich sogar im Kreise meiner Schwestern einsam.«

»Weil du glaubst, niemand kennt dein wahres Ich«, sagte er. »Aber ich kenne es. Ich sehe dich so, Hannah, wie du wirklich bist. Du bist nie allein gewesen.« Aber sie hatte ihn nicht gesehen. Sie konnte ihn nicht lesen und hatte nicht hinter seine Frustration und seine Wut geschaut. Er hatte es ihr erspart, seine wahren Gefühle zu sehen. Sie hatte mit der Belastung durch Menschen in ihrer nächsten Umgebung genug zu tun gehabt. Da hatte er nicht noch mehr zu dieser Last beitragen wollen. Am Ende hätte er seine Chancen bei ihr beinah verspielt gehabt.

»Hannah.« Seine Arme hielten sie noch fester. »Rudy Venturi ist psychisch sehr labil. Er hat dir leidgetan. Du konntest ihn nicht als Bedrohung wahrnehmen, weil er das, was er tut, nicht für falsch hält. Wenn er beschließen würde, dass er dich töten muss, um zu verhindern, dass böse Männer dir etwas antun können, dann würde er darin nichts Falsches sehen. Er würde sich nicht als schlecht oder auch nur bedrohlich empfinden, weil es seine Absicht ist, dir zu helfen. Du glaubst, du siehst alles, aber es ist nicht so.«

Hannah seufzte. »Es tut mir leid, Jonas. Ich möchte dich nicht um den Verstand bringen. Ja, es ist wahr, er hat mir leidgetan. Ich dachte, es ist nichts weiter dabei, wenn ich ihm ein Foto von mir gebe. Ich hätte auf dich hören sollen.«

»Schon gut«, murmelte er, »schon gut. Erzähl mir, was mit dem Reverend war. Hast du mit ihm etwa auch geredet?«

Der abrupte Themenwechsel ließ sie zusammenzucken. Hannah wollte sich von Jonas lösen, doch seine Arme hielten sie weiterhin umschlungen. Er hob den Kopf und sah auf sie hinunter. »Du hast es getan, stimmt’s?«

»Er lebt hier, gleich um die Ecke, er ist fast schon ein Nachbar und ich dachte mir, wenn er bloß begreifen würde, dass ich nicht versuche, einen ungehörigen Einfluss auf junge Mädchen auszuüben …«

Jonas schloss die Augen und stöhnte. »Hannah, er lebt zwei Fahrstunden von hier entfernt. Er hat nichts mit dir zu tun.«

»Einige seiner Anhänger sind zu fast jeder Modenschau erschienen, um zu protestieren. Sie haben der Presse gegenüber Äußerungen von sich gegeben, die speziell auf mich gemünzt waren. Ich dachte, wenn er mir persönlich begegnet, wird er schon sehen, dass ich gar kein so schlechter Mensch bin.«

»Und was ist bei dieser Begegnung passiert, von der du wusstest, dass ich sie absolut boykottiert hätte?«

Hannah holte tief Atem und stieß ihn wieder aus. Dann wurde ihr Blick unstet. »Er hat mich furchtbar wütend gemacht. « Jetzt löste sie sich tatsächlich von ihm, stand auf und durchquerte das Zimmer mit flinken, langen Schritten, Laufstegschritten, die unbewusst anmutig und sexy waren. Sie wirbelte herum und ihre großen Augen wurden dunkel und stürmisch. »Also wirklich, Jonas, dieser Mann ist absolut uneinsichtig und er ist sehr ordinär. Ich habe versucht, seine Gedanken nicht zu lesen, aber er hat sie zu laut ausposaunt und er war einfach widerwärtig – ein Perverser.«

Jonas stöhnte und strich sich mit einer Hand über das Gesicht. »Erzähl mir bloß nicht, du hast ihn gezwungen, Farbe zu bekennen? Du hast es getan, stimmt’s, Hannah?«

Sie stemmte ihre Arme in ihre allzu schmalen Hüften und reckte ihr Kinn in die Luft. »Aber sicher. Er stand in seiner aufgeblasenen, scheinheiligen Haltung da und hat sich selbstgefällig vor seiner kleinen Anhängerschar aufgespielt und mir wichtigtuerisch vorgehalten, was ich täte, sei eine Abscheulichkeit. Es ist ja schließlich nicht so, als schliefe ich mit Modeschöpfern. Und das habe ich ihm gesagt.«

Die Knoten in Jonas’ Magen zogen sich noch enger zu. »Du hast ihm auch gesagt, du wüsstest, dass er mit seinen jungen Anhängerinnen schläft, nicht wahr?«

»Wenn es doch wahr ist! Mit unschuldigen Mädchen, die ihm vertrauen. Ich habe hervorgehoben, dass er derjenige ist, der den Pfad des Teufels eingeschlagen hat.« Sie schürzte die Lippen. »Und ich habe ihm eine kleine Demonstration wahrer Kraft gegeben, als er wirklich gemein wurde.«

Jonas stöhnte und war so aufgebracht, dass er sich die Haare beinah büschelweise ausgerissen hätte. »Kein Wunder, dass er auf dich negativ fixiert ist. Du hättest dich von ihm fernhalten sollen. Er hätte sich längst eine spannendere Beute gesucht, wenn du dich nicht auf ihn eingelassen hättest.«

»Er ist ein Perverser, Jonas, und du solltest ihn einsperren. «

»Es wird immer schlimmer. Du hättest mir sagen müssen, dass du dich auf eine Auseinandersetzung mit ihm eingelassen hast.« Plötzlich verfinsterte sich sein Blick. »Was hat dich zu dieser Auseinandersetzung bewogen? So etwas tust du doch sonst nie. Warum um alles auf der Welt hast du ausgerechnet bei dem Reverend eine Ausnahme gemacht?«

Sie zuckte die Achseln und schien plötzlich auf der Hut zu sein. »Greg hielt es für eine gute Idee, das Kriegsbeil zu begraben. Er fand, es sei keine positive Publicity, wenn ein Prediger sich öffentlich gegen jede meiner Modenschauen ausspricht. Er dachte sich, wenn wir zusammenträfen, würde der Reverend Vernunft annehmen.«

Beide konnten hören, dass sich jemand am Türschloss zu schaffen machte.

»Jonas, Hannah muss sich wirklich ausruhen«, rief Sarah. »Es ist mein Ernst, wenn du nicht sofort aufhörst, dich mit ihr zu streiten, kommen wir rein und bringen dich dazu zu gehen. Hör auf, sie einzuschüchtern.«

»Haut ab«, riefen Hannah und Jonas gleichzeitig.

Jonas ballte seine Finger zu einer Faust und wandte sich von Hannah ab. Jetzt verspürte er wieder das Bedürfnis, sie zu schütteln, bis sie Vernunft annahm. »Du hast in Fragen der Sicherheit auf Greg Simpson und nicht auf mich gehört?«

»Du stellst das alles auf eine viel zu persönliche Ebene, Jonas.« Hannah berührte ihre Kehle und es schien ihm, als schmerzte sie. »Greg ist mein Agent …«

»War«, fiel ihr Jonas ins Wort. »Falls dieser Mistkerl hier auftauchen sollte, werfe ich ihn ins Gefängnis.«

Hannah machte abrupt den Mund zu und hielt die Worte zurück, die sie gerade noch hatte sagen wollen. Ein kleiner Schauer überlief sie. Das Atmen fiel ihr plötzlich schwer. Ihre Brust war zugeschnürt und ihre Lunge brannte, weil sie keine Luft bekam. »Ich will mich nicht darüber streiten. Ich habe das getan, was mir das Beste für meine Karriere zu sein schien.«

»Ja, weil deine Karriere dir viel wichtiger war als dein Leben.«

Hannahs Augen versprühten Funken, als sie ihn ansah. »Du machst mich wütend, Jonas. Ist es das, was du willst? Du bist wütend auf mich und deshalb sagst du gemeine Sachen zu mir, damit ich mich darüber aufrege? Du brauchst mich nicht daran zu erinnern, dass ich Mist gebaut habe. Schließlich bin ich diejenige, deren Gesicht in Stücke gehackt ist.«

Sarah riss die Tür auf, denn ihre erhobenen Stimmen verstörten sämtliche Drakes und gaben Sarah ihrer Meinung nach genug Anlass, um sich einzumischen. Hannah wedelte mit der Hand und der Wind strömte vom Balkon herein und knallte die Tür zu, ehe Sarah das Zimmer betreten konnte.

»Wage es bloß nicht«, fauchte Jonas und trat vor, bis Hannah sich bedrängt fühlte; als sie zurückwich, folgte er ihr durch das Zimmer. »Komm mir jetzt nicht mit ›Ich Arme, ich bin doch gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen worden‹. Wie oft habe ich dir gesagt, wie man mit diesen Spinnern umgeht? Ich habe seit Jahren mit ihnen zu tun, Hannah. Es ist meine Aufgabe zu wissen, wie man mit ihnen umgeht, aber du verlässt dich lieber auf einen Laien als auf mich.«

»So war es nicht, Jonas«, protestierte Hannah, die inzwischen mit dem Rücken an der Wand stand. »Und hör auf, mich einzuschüchtern. Damit machst du mich nur noch wütender. «

»Von mir aus kannst du wütend sein. Vielleicht begreifst du es diesmal, Baby, denn ich habe es verflucht satt, immer ganz unten auf deiner Liste zu stehen. Glaubst du etwa, wenn ich dir etwas einschärfe, dann denke ich mir das aus, um dich zu ärgern?«

Hannah verkniff sich mit Mühe die Antwort, die ihr auf der Zunge lag, und merkte, dass sie sich zum ersten Mal seit dem Angriff auf sie lebendig fühlte. Das Blut sang in ihren Adern und der Puls donnerte in ihren Ohren. Jonas weigerte sich, sie so zu behandeln, als sei sie eine empfindliche, zarte Blume, die so zerquetscht war, dass sie sich vor dem Tageslicht hüten musste. Er war wütend und er gab es ihr unmissverständlich zu verstehen. Sie kam sich normal vor. Jonas gab ihr das Gefühl, normal zu sein, und das war ein gutes Gefühl. Noch vor wenigen Momenten hatte sie dicht vor einem Panikanfall gestanden, aber den hatte er ihr mit links ausgetrieben.

»Ja, manchmal glaube ich das. Du ärgerst mich absichtlich, vor allem dann, wenn es um meinen Job geht. Er war dir schon immer ein Dorn im Auge und du hast dich darüber lustig gemacht. Greg hat meine Karriere gedeichselt. Ich musste glauben, dass er nur vorgeschlagen hat, was er für das Beste hielt.«

Jonas erstarrte. Er stand so dicht vor ihr, dass ihre Brüste sich an seinen Brustkorb pressten und er jeden ihrer Atemzüge deutlich wahrnahm. »Willst du damit etwa sagen, Simpson hätte vorgeschlagen, dass du Venturi bei jedem Auftritt, zu dem er erscheint, eine signierte Fotografie gibst?«

Sie legte eine Hand mit weit gespreizten Fingern auf seine Brust, um sich gegen den Sturm zu wappnen. »Ich wollte etwas tun und ich habe ihn gefragt, ob er dafür sorgen würde, dass Rudy ein Foto von mir bekommt. Er hat gesagt, ich solle es ihm bei jeder Veranstaltung, zu der er kommt, persönlich geben. Er hat mehrfach Texte darüber schreiben lassen. Ich habe ihm gesagt, ich wollte nicht, dass die Fotos, die ich ihm gebe, zu Publicityzwecken verwendet werden, aber die Artikel waren bereits eingeschickt worden.«

Jonas fluchte wieder. Er stieß die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus und fuhr mit den Fingern durch das Haar in ihrem Nacken. »Du hast dich in enorme Schwierigkeiten gebracht, Hannah.« In seiner Stimme drückte sich nicht nur eine Warnung aus, sondern auch eine Liebkosung. »Warum bist du nie auf den Gedanken gekommen, mir könnte nur das am Herzen liegen, was das Beste für dich ist?«

»Vielleicht lag es daran, dass du mich immer wieder als Barbie-Puppe bezeichnet hast. Oder an deiner Anschuldigung, ich zöge mich vor aller Welt aus. Oder an einer der zahllosen spitzen Bemerkungen, die du mir an den Kopf geworfen hast.« Sie rieb sich wieder die Kehle und zuckte ein wenig zusammen, als ihre Fingerkuppe über die frischen roten Narben glitt.

Jonas packte ihre Hand und zog sie auf seine Brust. Dort hielt er sie fest, während er sich vorbeugte, um zarte Küsse auf die Narben zu drücken. »Fass sie nicht an. Tut dir der Hals weh?«

Ihre Stimme war bestenfalls ein Flüstern. »Innen. Er fühlt sich wund und aufgescheuert an.«

»Dann hör auf, dich mit mir zu streiten. Ich habe ohnehin Recht und du weißt es. Du hättest auf mich hören sollen.« Jonas bedeckte ihre Kehle bis zum Kinn mit federleichten Küssen. »Sag es, Hannah. Sag, dass du auf mich hättest hören sollen.«

Sie konnte nicht allzu klar denken, wenn sich sein Körper so eng an sie presste und sein Mund über ihre Haut glitt. Sie war wild entschlossen gewesen, ihn auf Armeslänge von sich fernzuhalten. Ganz gleich, was alle anderen dachten – sie wusste instinktiv, dass sie von Gefahr umzingelt war. Die Bedrohung kam nicht aus einer bestimmten Richtung, aber der Wind sagte es ihr. Sie hielt sich so oft wie möglich im Freien auf, weil sie hoffte, sie würde ihren Feind ermitteln können, doch die Identität dieser Person entzog sich ihr. Sie konnte nur versuchen, die Menschen zu schützen, die sie liebte. Und sie liebte Jonas. Sie konnte sich an keine Zeit erinnern, zu der sie ihn nicht geliebt hatte.

»Jonas …« Sie zwängte ihre Hände zwischen ihren Oberkörper und seine Brust, um sich etwas mehr Raum zu verschaffen. »Du weißt, dass nichts daraus werden kann.« Allein schon der Gedanke, ihn zu verlieren, ließ sie innerlich frösteln, aber sogar Jonas brauchte Schutz. Er glaubte es zwar nicht, aber sie hatte ihn verletzbar und gepeinigt erlebt. Es war besser, wenn er wütend auf sie war und die vollständige Wahrheit erfuhr, denn sonst hätte er sie später nur verabscheut.

Ein Ausdruck von Verärgerung huschte über sein Gesicht. »Fang gar nicht erst davon an, Hannah. Du hast mich für heute schon genug geärgert.«

»Es kann nichts daraus werden, Jonas. Du meinst, du könntest sehen, wer ich bin, aber du siehst nur die Person, die du sehen willst. Wie meine Schwestern.«

»Deine Schwestern sehen die Person, die du ihnen vorsätzlich vor Augen führst«, widersprach er. »Ich sehe dich

»Ich bin ein Feigling, Jonas«, gestand sie, weil sie ihn unter allen Umständen retten wollte. »Du würdest mich eine Weile lieben und dann, wenn du erkennen würdest, was ich wirklich bin, würdest du mich mit der Zeit verabscheuen.«

Er brach in schallendes Gelächter aus, beugte sich vor und drückte ihr einen Kuss auf die Nasenspitze. »Es mag ja sein, dass du ein Feigling bist, wenn es darum geht zuzugeben, dass du mich liebst, aber ansonsten bist du alles andere als feige, Baby.«

»Oh, doch, das bin ich.« Panik. Sie kehrte zurück und stürzte sich auf sie wie der Mann, der mit dem Messer auf sie eingestochen hatte. Ein ausgewachsener Panikanfall packte sie, bis sie um Luft rang und nicht mehr klar denken konnte. Seit dem Angriff war es schlimmer geworden. Die Wände rückten um sie herum zusammen, und da sie in der Falle saß und Jonas’ Körper ihr den Fluchtweg abschnitt, musste sie sich stark konzentrieren, um die Selbstbeherrschung nicht zu verlieren.

» Weil du lieber in Sea Haven bleiben würdest, als um die Welt zu reisen? Weil du in der Öffentlichkeit ein bisschen schüchtern bist? Oder weil du ab und zu stotterst, wenn du unter Leuten bist, die du nicht kennst? Wenn du ein Feigling wärest, Hannah, dann hättest du gar nicht erst versucht, deiner Familie eine Freude zu machen, indem du aus dem Haus gehst und eine Laufbahn einschlägst, die du gar nicht wolltest – eine Karriere, die dich in den Brennpunkt des öffentlichen Interesses rückt.«

»Ich hätte mich wehren sollen.«

»Ja, das hättest du tun sollen, aber der Versuch, Menschen, die du liebst, Freude zu bereiten, macht dich noch lange nicht zu einem Feigling. Es mag einem vielleicht ein Ärgernis sein, aber von Feigheit kann hier keine Rede sein. Und es hat dir noch nie Schwierigkeiten bereitet, dich gegen mich zur Wehr zu setzen.«

Sie sah auf die Schnitte auf ihren Händen und Armen hinunter. »Doch, es fällt mir schwer.«

»Nein, du möchtest mir, ebenso wie deinen Schwestern, Freude machen, aber du setzt dich durch und tust genau das, was du willst, und zwar dann, wenn es dir passt. Darüber wachsen mir graue Haare. Ich sollte es wirklich wissen.«

Hannah runzelte die Stirn. Tat sie das wirklich? Sie wusste es nicht mehr. Ihr Leben hatte innerhalb von Sekunden eine dramatische Wendung genommen. Sie berührte die grässlichen Wunden auf ihrem Gesicht und auf ihrem Hals, doch sie vermied es, ihre Brüste zu berühren. Sie nahm immer noch deutlich jede Unvollkommenheit an ihrem Körper wahr, jedes Pfund zu viel, und jetzt hatte sie zu allem Überfluss auch noch entsetzliche Wunden. Jonas hatte ihre Brüste in die Hand genommen und sie angesehen, als sei sie die schönste Frau auf Erden. Die Erinnerung daran, wie ehrfürchtig und wie liebevoll er sie angesehen hatte, war ihr unerträglich.

Sie schnappte sich abrupt ihre Decke und suchte Zuflucht auf dem Balkon. Obwohl die Sonne bereits untergegangen war und es für einen Fotografen schwierig sein würde, eine klare Aufnahme von ihr zu bekommen, zog sie sich die Decke wie eine Kapuze über den Kopf, um ihr Gesicht im Schatten zu verbergen.

Jonas folgte ihr mit einem kleinen Stirnrunzeln. Wenn es um Hannah ging, hatte er sich nie besonders geschickt mit Worten angestellt. Er war sicher, dass er die Vögel mit seinem Charme von den Bäumen locken konnte, sofern er es mit anderen Menschen zu tun hatte, aber Hannah kehrte sein Inneres nach außen und machte ihn zu einem Idioten. Es war ihm ein Gräuel, dass sie litt, und jeder seiner Instinkte wollte sie beschützen und alles wieder gutmachen, aber er hatte keine Ahnung, wie sich das bewerkstelligen ließ. Er tastete sich unsicher vor, machte Fehler und brauste auf.

Unruhig trat er an das Geländer, damit er sich besser umsehen konnte. Es gab keine Gebäude in der Nähe, auf deren Dächern Männer mit Gewehren auf der Lauer liegen konnten, aber von der Klippe aus war ein Schusswinkel denkbar. Die kräftigen Winde, die ständig drehten, würden es allerdings extrem erschweren, ein Ziel anzupeilen. Wahrscheinlich gab es nur ein Dutzend Männer auf Erden, die einen solchen Schuss abgeben könnten, und er bezweifelte, dass einer von ihnen einen Groll gegen Hannah hegte.

»Hier oben bin ich sicher. Der Wind würde mich warnen.«

Jonas blickte auf das Wasser hinaus und sah sich die Felsen

genauer an. Boote konnten nicht allzu nah herankommen und die Wellen waren zu hoch, die Brandung zu kräftig. Auch von dort aus wäre es schwierig gewesen, einen präzisen Schuss abzugeben.

Er lehnte sich mit einer Hüfte an das Geländer und blickte auf Hannahs gesenkten Kopf hinunter. Sie sah ihn immer noch nicht wirklich an und verbarg ihr Gesicht in der Decke. Er wollte nicht, dass sie sich vor ihm versteckte. Ilja Prakenskij war sie trotz der auffälligen entzündeten Wunden in ihrem blassen Gesicht unverhüllt gegenübergetreten, und doch verbarg sie sich vor ihm. Der Kloß in seiner Kehle ließ ihn würgen und der Wind brachte Meersalz mit sich, das in seinen Augen brannte.

»Du weißt, dass ich dich so nicht davonkommen lasse. Was hast du dir dabei gedacht, eine Reisetasche zu packen?« Er hielt seinen Blick fest auf ihr Gesicht gerichtet. Sie war nie gut darin gewesen, ihre Gefühle vor ihm geheim zu halten.

Hannah zog die Decke noch enger um sich und versuchte offenbar, ihren Gesichtsausdruck vor ihm zu verbergen. »Ich brauche Raum zum Atmen.«

Jonas setzte sich auf das Geländer, schlenkerte mit einem Fuß und ließ zu, dass sich das Schweigen in die Länge zog. Die Meeresvögel stießen ihre Rufe aus, während sie über ihren Köpfen träge Kreise beschrieben. Gelegentlich schoss einer von ihnen blitzschnell in die Wellen hinab, bevor er mit einem Fisch im Schnabel wieder auftauchte und den Weg zu dem Felsen einschlug, auf dem er die Nacht verbringen würde. Das Meer wälzte sich heran und wogte, eine dröhnende Hintergrundmusik, die abebbte und anschwoll.

Er stieß einen Seufzer aus. »Du belügst mich schon wieder, Hannah.« Er beugte sich vor, um ihren ausweichenden Blick festzuhalten. »Glaubst du etwa, ich lasse dir das durchgehen, weil du die eine oder andere Narbe hast?«

Sie berührte die unansehnlichen Narben auf ihrem Gesicht wieder mit den Fingerspitzen. »Das verlange ich gar nicht von dir. Es ist nicht deine Angelegenheit, Jonas.«

Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. »Ach wirklich? Du bist nicht meine Angelegenheit?« Er schnaubte höhnisch. »Du bist schon seit dem Kindergarten meine Angelegenheit. Warum hast du eine Tasche gepackt, Hannah?«

Funken sprangen in ihre Augen und sie ließ ihre weißen Zähne hörbar zuschnappen. »Ich beschütze meine Schwestern – und dich.« Sie war so wütend auf ihn, dass sie mit der Wahrheit herausgeplatzt war, was sie augenblicklich bereute.

Er hätte es wissen müssen. Er hätte es sich denken können. Hannah, die sich für einen solchen Feigling hielt. Er hatte das seltsame Gefühl, in der Umgebung seines Herzens sei etwas ins Schmelzen gekommen. Er ging vor ihr in die Hocke, nahm ihr Gesicht in beide Hände und beugte sich vor, um ihre Lippen zart mit seinem Mund zu streifen. Eine kaum wahrnehmbare Berührung, nicht mehr als ein Windhauch.

Hannah zog ihren Kopf zurück und blinzelte gegen die Tränen an. »Das darfst du nicht mehr tun. Bitte, Jonas, geh und lass mich allein.«

Er sank auf seine Fersen zurück und sah sich ihren gequälten Gesichtsausdruck an. »Du solltest mich besser kennen, Hannah. Rede mit mir, und ich kann dir nur raten, vernünftige und plausible Dinge zu sagen, denn wir wissen beide, dass ich dich nicht allein aus dem Haus gehen lasse. Wenn du von hier fortgehen willst, werden wir gemeinsam aufbrechen, aber allein gehst du nirgendwohin.«

»Ich kann nicht mit dir zusammen sein. Ich kann es beim besten Willen nicht. Du wirst meinen Entschluss akzeptieren müssen.«

»Im Leben nicht, Baby.«

»Jonas. Um Himmels willen. Warum kannst du es nicht einfach auf sich beruhen lassen? Sieh mich an. Mir wird doch selbst bei meinem Anblick übel.« Sie machte das Eingeständnis mit ihrer leisen, heiseren Stimme, doch gerade dieses Flüstern stellte eine Form von Intimität zwischen ihnen her, als hätten sie Geheimnisse miteinander. »Es ist mir unerträglich, dass du mich so siehst. Und ich würde mich nie im Leben öffentlich mit dir zeigen wollen.«

»Herrgott noch mal.« Er sah sie aufgebracht an. »Soll das ein Witz sein?«

»Jonas, du siehst sehr gut aus und du bist in der ganzen Gegend bekannt. Du hast ein politisches Amt übernommen. Du hast dich für den Posten des Sheriffs aufstellen lassen und du bist gewählt worden. Kannst du uns Seite an Seite sehen? Der arme Jonas mit seiner entstellten Freundin.«

»Das kann nicht dein Ernst sein, Hannah.«

»Es ist doch wahr. Ich kann nicht vor die Tür gehen, weil mir rund um die Uhr Fotografen auflauern, die einen Schnappschuss von mir machen und sämtliche Klatschblätter damit vollkleistern wollen. Mit dir käme ich in sämtliche Zeitungen, nicht nur in die Boulevardpresse. Ich bin nicht gänzlich frei von Eitelkeit und Stolz.«

»Ich denke gar nicht daran, mir diesen Blödsinn anzuhören. « Er stand auf, blieb einen Moment lang vor ihr stehen und warf einen dunklen Schatten auf ihr Gesicht. Seine Mundpartie war angespannt und seine Lippen bildeten einen schmalen Strich, und dann hob er sie schlichtweg auf seine Arme und wiegte sie an seiner Brust, setzte sich auf ihren Stuhl und hielt sie samt Decke auf dem Schoß. »Manchmal stellst du dich so saudumm an, Hannah, dass es mich verrückt macht. Mir ist scheißegal, was die Leute sagen. Das hat mich noch nie interessiert.«

Er küsste einen ihrer Augenwinkel und stieß die Decke zurück, damit er sein Kinn an ihren seidigen Locken reiben und ihre Augenbraue küssen konnte. Von dort aus bahnte er sich einen flammenden Pfad zu einem Mundwinkel und verteilte auf dem Weg hauchzarte Küsschen auf den entzündeten roten Narben. Sein Mund legte sich mit ausgesuchter Behutsamkeit auf ihre Lippen, die üppig und weich waren und unter seinen Lippen zitterten. Da sie nur zaghaft und widerstrebend auf seinen Kuss einging, versuchte er weiterhin, sie zu überzeugen. Er knabberte an ihrer Unterlippe, neckte mit seiner Zunge die Ränder ihrer Lippen, ließ seine Lippen immer wieder über ihre gleiten und zog mit den Zähnen an ihnen, bis sie nachgab und ihren Mund bereitwillig öffnete.

Er ließ alles, was er empfand, in diesen Kuss einfließen – Liebe, Zärtlichkeit und Beistand, aber auch Sehnsucht, Glut und unbändiges Verlangen. Seine Handfläche schlang sich um ihren Nacken und seine Finger fanden ihre kostbare Mähne. Er hielt sie fest, damit sie stillhielt und er ihren Mund erkunden konnte. Er war behutsam und sachte und ließ seiner Leidenschaft nie freien Lauf, gestattete es ihr nie, ihn mitzureißen. Ihr Brustkorb, ihre Rippen und ihr Bauch waren mit Wunden bedeckt und er achtete sorgsam darauf, sich nicht an ihrer Haut zu reiben, obwohl es ihm keineswegs genügte, sie einfach nur in seinen Armen zu halten.

Hannahs Mund war warm und feucht und schmeckte nach Honig und Gewürzen und hyperweiblich. Er hätte sie sein Leben lang küssen können. Anfangs verhielt sie sich passiv und gestattete ihm, sie zu küssen, doch als er ihr lange genug schmeichelte und sie lockte, erwachte sie zum Leben und atmete im Einklang mit ihm, wand ihre Zunge um seine und sandte köstliche kleine Stromstöße durch seine Adern. Mit großer Behutsamkeit zog er sie enger an sich und setzte zu einem tieferen Kuss an.

Ihre Lippen klammerten sich erhitzt und weich an seinen Mund. Sein Körper wurde zu Stahl, hart und glühend und so lebendig, dass er fühlen konnte, wie Blitze durch seine Adern schossen, und er hörte den Donner in seinen Ohren. Seine Handfläche wölbte sich auf ihrem Nacken und er rückte sie auf seinem Schoß ein wenig bequemer zurecht. Er hatte sie in eine Falle gelockt und achtete sorgsam darauf, dass sie sich geborgen und nicht etwa eingefangen fühlte. Es war nicht einfach, Hannah zu lieben. Sie stand immer kurz davor, die Flucht zu ergreifen, und es schien fast, als fürchtete sie sich vor der Intensität der Leidenschaft, die er in ihr wachrief.

Eine Hand glitt an ihrer Wirbelsäule hinunter und trat eine langsame Entdeckungsreise an, während sein Mund versuchte, ein stetig zunehmendes Verlangen zu stillen. Seine Lust war heftig und tief, aber da sie sich mit Liebe verband, konnte er nicht sagen, wo welches seiner Gefühle begann und das andere endete. Hannah war eine explosive Mischung aus Exotik, Unschuld und reinem, unverfälschtem Sex. Sie bewegte sich und er war augenblicklich wie hypnotisiert. Dazu gehörte nicht viel. Selbst jetzt erschien ihm ihre neue Stimme erotisch. Hannah passte zu ihm. Er küsste sie immer wieder. Zarte Küsse und gierige Küsse wechselten sich miteinander ab, als er ihren erhitzten, leidenschaftlichen Mund erkundete.

Hannah bewegte sich unruhig auf seinem Schoß. Ihr Körper hatte begonnen zu schmelzen und ihr Verlangen nach ihm war erwacht. Sein Mund schien sie zu verschlingen und doch wollte sie noch mehr, wollte ihm näher sein, wollte die Glut seiner Haut unter ihren Händen und Lippen spüren. Sie war ja so selbstsüchtig. Immer drehte sich alles nur um sie. Um ihre Wünsche. Ihre Bedürfnisse. Sie setzte Jonas, ebenso wie ihre Schwestern, Gefahren aus, wenn sie hierblieb. Sie hob abrupt den Kopf, obwohl sie sich danach verzehrte, Jonas eng an sich zu ziehen, und sie fürchtete, sie brächte nicht den Mut auf, sich von ihm zu trennen.

»Jonas …« Sie würde einen Panikanfall bekommen. Ganz bestimmt. Schon wieder. Vor seinen Augen. Sie konnte keine Luft holen. Konnte nicht denken, wenn der tosende Rhythmus des Grauens in ihren Ohren hallte und Angst durch ihren Körper stampfte. Sie hasste diese heimtückische Schwäche. Sie raubte ihr zu viel und nahm ihr die Fähigkeit, im praktischen Leben zu funktionieren und vernünftig zu argumentieren.

»Sag es nicht, Baby, bitte.« Er lehnte seinen Kopf an ihren. »Lass es für den Moment gut sein.« Er holte tief Atem und versuchte, wieder in die Realität zurückzukehren.

Sie traf Vorbereitungen, um sich aus dem Staub zu machen. Hannah zog sich von ihm zurück und jedes Argument war zwecklos. Sie war so wild entschlossen, sie alle zu beschützen, dass sie schon ganz krank vor Sorge war. Und wenn sie einen weiteren Panikanfall bekam und vor seinen Augen zusammenbrach, würde er sie sich über den Rücken werfen und sie forttragen, an einen Ort, wo niemand sie jemals finden würde, wie ein Höhlenmensch. Es war absehbar, dass es dazu kommen würde.

Jonas unterdrückte seine eigene Panik und küsste ihren Mund und ihre Stirn und zog sich sanft von ihr zurück. Er stellte sie wieder auf ihre Füße, als er aufstand, und hielt ihr eine Hand hin, da er entschlossen war, sie nicht zu verlieren. »Ich schwöre es dir, Hannah, du denkst so viel, dass Rauch aus deinen Ohren kommt. Hör einfach auf damit. Lass uns gemeinsam draußen bleiben, bis du zu müde bist, und dann lege ich mich zu dir. Wenn dir das Angst macht, setze ich mich wieder draußen auf die Klippe und verbringe eine weitere Nacht in der Kälte.«

Hannah zögerte und streckte dann langsam ihre Hand aus, bis ihre Finger auf seiner Handfläche lagen. Seine Finger schlossen sich sofort um ihre, weil er ihr nicht die Zeit lassen wollte, es sich noch einmal anders zu überlegen. Die Luft wurde merklich kühler, als eine Brise vom Meer wehte und Salz und Dunst und den Geruch des Meeres mit sich brachte. Er wollte viel lieber neben ihrem warmen, weichen Körper liegen, als eine weitere Nacht besorgt auf der Klippe zu sitzen und das Haus aus der Ferne zu beobachten, selbst wenn das hieß, dass sein eigener Körper hart sein und schmerzen würde.

»Ich weiß, dass du dort draußen warst. Das hat mir ein Gefühl von Sicherheit gegeben.«

»Bei mir bist du sicher.« Er hüllte ihren Rücken in die Decke, um sie gegen den stärkeren Wind zu schützen. Als sie sich setzte, zog er seinen Stuhl dicht zu ihrem. Er beugte sich vor und nahm ihr Gesicht in seine Hände, sah ihr direkt in die Augen und hielt ihren Blick fest, damit sie sich nicht abwenden konnte. »Ich weiß, dass du dich fürchtest, Baby, aber mit Feigheit hat das nichts zu tun. Uns beide verbindet etwas ganz Besonderes. Du darfst nicht zulassen, dass dieser Irre es uns wegnimmt.«

Hannah wusste sich nicht mehr zu helfen. Trotz aller Entschlossenheit, Jonas zu beschützen, beugte sie sich noch weiter vor, legte ihren Kopf an seine Schulter und schmiegte sich an ihn. »Das weiß ich doch, Jonas. Ich weiß nur nicht, wie ich damit umgehen soll.« Sie presste ihre Lippen auf seinen Hals, bevor sie sich wieder aufrichtete und sich zurückzog.

»Aber ich weiß es«, antwortete er. »Ich weiß ganz genau, was wir zu tun haben.«

Dieses Thema wollte sie nicht anschneiden. Stattdessen zog Hannah ihre Knie an und blickte über das Meer hinaus, an dessen Horizont die Sonne bereits versunken war. Gerade noch hatte sie ausgesehen wie ein riesiger roter Wasserball, der verheißungsvoll leuchtete und orange und rote Strahlen aussandte, als er sich dem Wasser entgegenneigte. Den gesamten Himmel hatten Schichten von leuchtend bunten Farben überzogen. Wenn der Sonnenuntergang auch noch so schön war, dann war ihr doch diese Tageszeit die liebste, wenn Nacht und Tag zusammentrafen und wie zwei Schiffe draußen auf dem Meer aneinander vorüberzogen.

Der Himmel wurde langsam dunkler, als würde eine Decke darübergezogen. Wolken glitten träge weiter und Sterne funkelten wie Edelsteine. Der Mond schimmerte in jeder seiner Phasen silbern und warf sein Licht über die dunklen Wellen. Es herrschte tiefer Frieden.

Jonas hatte absichtlich dafür gesorgt, dass sie auf dem Balkon blieben. Hier konnte sie frei durchatmen und brauchte sich keine allzu großen Sorgen zu machen. Ihm war nicht entgangen, dass ihr Puls sich beschleunigt hatte und sie mühsam atmete. Er hatte auch die Verzweiflung wahrgenommen, die sich in ihr breitgemacht hatte. Sie hatte sich eingebildet, sie hätte sie geschickt vor ihm verborgen. Vor jedem konnte sie ihre Verzweiflung verbergen – aber nicht vor Jonas.

Hannah rieb sich die Stirn. Ihr Gesicht juckte und brannte, aber wenn sie es berührte, wurde es noch schlimmer. Sie fühlte Ekel in ihrer Magengrube aufsteigen. Es war ihr unerträglich, ihr eigenes Gesicht im Spiegel zu sehen, und sie hatte keine Ahnung, wie lange sie es noch durchhielt, Jonas derart gebrochen gegenüberzutreten. Sie streckte ihm ihre Hände entgegen, damit er es selbst sah. Sie zitterten.

Jonas nahm beide und führte sie an seinen Mund, um seine Lippen über die Schnittwunden gleiten zu lassen. »Lass dir Zeit, Hannah, aber glaube bloß nicht, du könntest dich mir entziehen. Ich denke gar nicht daran, dich gehen zu lassen.«

»Ich sitze jetzt hier in der Falle, Jonas. Ich kann mich nicht in der Öffentlichkeit zeigen. Ich kann mich nicht erinnern, was ich getan haben könnte, um mir einen solchen Hass zuzuziehen. Ich kann nie mehr mit dir ins Bett gehen …« Ihre Stimme brach und sie riss ihre Hände zurück und zog die Decke um ihr Gesicht, bevor sie anfing zu schluchzen. »Es ist mir verhasst, dieses Selbstmitleid. Ich habe mir gelobt, mich nicht darin zu suhlen, aber ich muss mich von dir fernhalten. Wenn ich dich sehe, Jonas, ist alles noch viel schlimmer. Es schadet mir, dich zu sehen.«

Einen Moment lang begrub er sein Gesicht in seinen Händen, weil er sich gestatten wollte, wieder klar zu denken. Er holte tief Atem und zog seine Schultern zurück. »Du bist verwirrt, Hannah, und das ist verständlich. Es ist ein Glück für uns beide, dass ich nicht so verwirrt bin wie du. Du brauchst mich, ob du es glaubst oder nicht, und ich weiß ganz genau, dass ich dich brauche.«

Er wartete, bis sie zu ihm aufblickte. »Es ist so, Hannah. Ich hätte niemals geglaubt, ich würde mal eine Frau ansehen und wissen, dass sie für mich der Grund dafür ist, dass für mich die Sonne morgens aufgeht, aber so ist es. Du bist diese Frau.«

» Was ist, wenn sie dir etwas antun? Oder meinen Schwestern? Jonas, was ist, wenn irgendein Verrückter sich im Dunkeln mit einem Messer an dich anschleicht? Du drehst dich um und er schlitzt dich auf. Und wenn er dich in kleine Stücke schneidet, kann er noch so oft sagen, wie leid es ihm tut, das nutzt dir dann auch nichts mehr. Es wäre mir unerträglich. Lieber würde ich dich aufgeben und dafür wissen, dass du am Leben bleibst – unverletzt.«

Jonas hob wachsam den Kopf. » Was hat er gesagt?« Er zog ihr die Hände vom Gesicht. »Sieh mich an, Hannah. Er hat mit dir gesprochen?«

Sie zog die Stirn in Falten und versuchte, sich zu erinnern. »Ich bin so müde, Jonas. Ich kann nicht klar denken, wenn ich müde bin.« Sie warf einen Blick ins Zimmer und auf ihr Bett. »Ich fürchte mich davor, mich hinzulegen.«

Er unterdrückte seinen Unwillen, ließ seinen Daumen über ihre Finger gleiten und streichelte ihre empfindliche Haut. »Ich mich auch. Alpträume sind unerfreulich.« Er zog an ihrer Hand, denn er war entschlossen, sie dazu zu bringen, dass sie sich neben ihm aufs Bett legte und sich ausruhte. Sie war erschöpft, da sie Nacht für Nacht wach auf ihrem Balkon saß. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sie schon so schnell aus dem Krankenhaus nach Hause zu bringen. Dort hätten sie ihr wenigstens ein starkes Schlafmittel geben können, damit sie die nötige Ruhe fand.

»Komm, Schätzchen, mit einem Nein lasse ich mich nicht abspeisen und du bist zu müde, um dich mit mir zu streiten, wenn du genau weißt, dass du keine Chance gegen mich hast.« Er zog an ihrer Hand und sie folgte ihm widerstrebend in ihr Schlafzimmer.

Sie legte sich neben ihn und bestand darauf, dass er die Flügeltüren offen ließ. Jonas schlang ihr einen Arm um die Taille und schmiegte sie an sich. Anfangs war ihre Haltung steif, aber als er zart an ihrem Hals knabberte und ihr Küsse aufs Haar drückte, entspannte sie sich allmählich und ihr Körper wurde weich und weiblich.

»Ich kränke meine Schwestern. Es ist mir ein Gräuel. Ich kann sie jetzt ständig alle spüren – außer Elle. Sie hält sich von mir fern. Sie möchte nicht in meine Privatsphäre eindringen. Aber ich fühle mich so furchtbar, weil ich nicht mehr diejenige sein kann, die ich vorher war.«

Sie schmiegte sich enger an ihn, streifte mit ihrem Hintern seine Lenden und sandte einen Stromstoß durch seine Adern. Jonas biss die Zähne zusammen.

»Kannst du sie fühlen? Das Haus ist voller Kummer, Mitgefühl und Verwirrung. Das habe ich angerichtet, Jonas, und ich weiß nicht, wie ich es wiedergutmachen kann.«

Er hauchte federleichte Küsse auf ihre Augenbraue, die Wunde an ihrer Wange und dann auf ihre Kehle. »Das hast nicht du angerichtet, das hat ein Mann mit einem Messer angerichtet. Wir lieben einander, wir alle, Hannah, und wir werden gestärkt aus dieser grässlichen Geschichte hervorgehen. Er kann unsere Familie nicht zerstören. Deine Schwestern werden dir alles geben, was du brauchst, um damit fertig zu werden, und sie werden auf ihre Weise damit fertig werden. Sie verhätscheln dich nicht, weil sie glauben, du kämest nicht allein zurecht, sie tun es, weil sie dir ihre Liebe zeigen wollen.«

» Warum rege ich mich dann derart über sie auf?«

In ihrer Stimme schwang Verzweiflung mit. Jonas drehte sie ein wenig an seiner Brust, bis ihr Kopf auf seiner Schulter lag und er beide Arme um sie schlingen konnte. »Wut gehört nun mal zum Heilungsprozess und wir sind alle in deiner Nähe, um jederzeit für dich da zu sein. Jemand hat dich verletzt, Hannah, er hat dich traumatisiert, und du wirst im einen Moment wütend sein und dich im nächsten fürchten. Das ist nur natürlich und wir haben alle damit gerechnet.«

»Ich nicht. Ich schäme mich dafür, dass ich es nicht lassen kann, alle in meiner Nähe zu verletzen.«

Seine Hand glitt über ihr Haar und grub sich in die seidigen Strähnen. »Schlaf jetzt, Baby, und überlass mir deine Sorgen für die heutige Nacht. Deine Schwestern versammeln sich gerade unten, um dir beizustehen. Ich kann spüren, wie sich die Kraft im Haus ballt. Wenn du aufwachst, werden deine Wunden nicht mehr ganz so schlimm sein und du wirst dich hoffentlich etwas ausgeglichener fühlen.«

Hannah ließ zu, dass ihre Augen sich schlossen, als sie tief einatmete. Jonas fühlte sich so vertraut an und er roch auch so vertraut. Bei ihm war sie sicher. Er war so stark. Und er hatte Recht. Sie spürte das Anschwellen weiblicher Kraft, so stark, so zuverlässig und so liebevoll, und all das galt ihr. Tränen brannten in ihren Augen und feuchteten ihre Wimpern an. Ganz gleich, wie aufgebracht sie waren – ihre Schwestern sandten ihr Liebe und heilende Kräfte.

»Ich finde es wunderschön, eine Drake zu sein«, flüsterte sie.

»Ich bin auch heilfroh, dass ich zur Familie gehöre«, antwortete er und hauchte noch einen Kuss auf ihren Nacken.