VII
Roses war ein Tier der Morgendämmerung. Er erwachte, als das Licht noch fahl wasserblau und grünlich im kahlen Krankenzimmer hing. Er lag ein paar Minuten lang still, wie das seine Gewohnheit war, füllte langsam sein Bewußtsein mit Geräuschen, Gerüchen und Geschmack. Diese Rückkehr zum Leben war jeden Tag für ihn neues, freudiges Ereignis. Ein Wiederfinden vertrauter Dinge. Doch an diesem Morgen gab es auch etwas Unvertrautes. Er dachte darüber nach.
Er erinnerte sich, daß er in einem Krankenhaus war. Das war offenbar der wichtigste Grund seiner Befremdung. Nicht der feste, trockene Belag zwischen seinen Schenkeln, der das Haar dort verklebte. Nicht dieser eigenartige Geschmack im Mund und die leise Benommenheit. Er begriff jetzt, was das für ein Geschmack war, öffnete die Augen und erinnerte sich wieder. Er erinnerte sich, erinnerte sich so weit, daß es genügte … Nicht an jede Bewegung, jede Bedeutung, aber doch genügend. Erregung, Höhepunkt, Schrecken, Chaos. Er sah die schlafende Liza neben sich, sah genug.
Wie eine Katze stahl er sich aus dem Bett. Sie bewegte den Kopf, runzelte die Stirn, aber wachte nicht auf. Er zog seine Hose an, blickte dabei nicht auf den weißen, klebrigen Belag seiner Schande, und schlüpfte in seine ausgetretenen Turnschuhe. Er flüchtete aus dem Zimmer, durch die verlassenen Korridore, bis er einen Ausgang ins Freie fand, in den tröstlichen, unschuldigen Morgen. Tau glitzerte auf dem Gras. Die Strahlen der aufgehenden Sonne zogen silberne Fäden über jeden Halm. Die Luft war still und kühl. Roses nahm die Stille dankbar auf – er hatte die sommerliche Morgenbetriebsamkeit, die früher einmal das Tal erfüllte, längst vergessen. Er ging rasch die Hauptstraße hinunter, spürte die Rundung jedes Pflastersteines durch die dünnen Sohlen, sah die Häuser.
Als er den Dorfkai erreichte, hielt er an, denn dort patrouillierten zwei Sicherheitsbeamte. Sie sprachen ihn freundlich an, wunderten sich nicht, weil er schon so früh auf war, wunderten sich auch nicht, als er keine Antwort gab. Sie gingen weiter, überquerten die langen Schatten auf dem Dorfrasen und verschwanden zwischen der Chrononautenunterkunft und dem Dorfgasthaus. Ein Hund näherte sich freundlich und bekam ebenfalls keine Antwort.
Roses rannte die Rampe hinunter zum Strand. Dicht neben der Kaimauer zog er die Schuhe und dann die Hose aus. Er watete ins Wasser hinaus, achtete nicht auf die empfindliche Kälte. Als der Saum seines Hemdes das Wasser berührte, raffte er ihn mit einer Hand hoch und beugte die Knie, um sich zu waschen. Er blickte nicht zurück auf das Dorf – wenn man nicht sah, wurde man auch nicht gesehen. Er spürte keinen Ekel, als er sich anfaßte. Das kalte Wasser erstickte alles Triebhafte. Außerdem wußte er, daß seine Schande nicht einfach abgewaschen werden konnte. Nachdem er sich gewaschen hatte, ging er rückwärts wieder aus dem Wasser und ließ allmählich seinen Hemdsaum wieder sinken. Im Schutz der Mauer zog er sich die Hose über die kalte, unempfindliche Haut. Die Hosenbeine klebten an den nassen Haaren, und die Turnschuhe quietschten bei jedem Schritt.
Jetzt konnte er sich verstecken. Er ging heim in seine Küche, wo die jüngste Vergangenheit von den Assoziationen eines ganzen Lebens verdrängt werden konnten. Er versteckte sich hier nicht vor dem Dorf, nicht vor Liza, nicht einmal vor sich selbst. Er mußte sich eine Zuflucht vor den Ausbrüchen des Nicht-Selbsts suchen, vor dem grauenhaften Außer-sich-Sein, vor dem Begehren, dem er sich immer verschlossen hatte, seit er erwachsen war. Er mußte sich vor einem schrecklichen Traum verstecken.
Seine Katzen erwarteten ihn. Lautstark machten sie sich bemerkbar, stießen mit unverschämter Ungeschicklichkeit alles um, was ihnen im Weg stand, weil er sie volle zwei Tage lang vernachlässigt hatte. Er fütterte sie und vergaß bei den einfachen, vertrauten Bewegungen seinen Traum. Er sprach mit ihnen. Er nahm ihnen ihre Verachtung nicht übel, ihr ausschließliches Interesse für die Nahrung. Selbst die Katze, die ihn nicht zu kennen schien, der schwarze Kater, der wütend spuckte, während er sein Futter verschlang, störte ihn nicht. Katzen kamen und gingen. Für ein paar von ihnen war seine Küche nur eine Anlaufstelle, wo sie sich verpflegen konnten. Er starrte den Kater an, und er kam ihm irgendwie bekannt vor. Doch Katzen waren eben Katzen, eine Clique, wild, unabhängig, leicht zu besänftigen, aber nicht zu beeinflussen.
Er ging durch den Raum, nahm den Kalender vom Nagel in der Nische und hielt ihn ins Licht, damit er sich besser an seinen Vater erinnern konnte. Er schlang eine Decke um seine Knie und setzte sich in einen Klappstuhl, der mit rot und blau gestreiftem Stoff bespannt war. Achtunddreißig Jahre spannen einen dichten Kokon um ihn. Der Traum blieb draußen, war nicht länger sichtbar. Er hatte Krankenhäuser schon immer gehaßt.
Es war schon sechs Uhr, als die Nachtschwester, die alle Sichtschirme kontrollierte, entdeckte, daß Roses Varco verschwunden war. Sie weckte seine Zimmergenossin, Liza Simmons, konnte ihr aber keine brauchbare Auskunft entlocken. Selbst als Liza mit allen Reflexen da war, blieb sie in einem seltsam benommenen Zustand, seltsam einsilbig. Man ließ sofort das ganze Dorf durchsuchen.
Inzwischen wurden die analytischen Aufzeichnungen der Nacht ausgewertet. Obgleich Liza in einem leichten Schockzustand erwacht war, was auf ein einschneidendes, seelisches Erlebnis zurückzuführen war, das sie gegen elf Uhr in der vergangenen Nacht hatte, wie die Ausschläge auf dem Millimeterpapier bewiesen, war sie physiologisch gesehen völlig normal. Roses Varco ebenfalls. Bis zu seiner Flucht aus dem Krankenhaus um zehn Minuten nach fünf hatte er keine Krankheitssymptome gezeigt. Sofort ging ein Radiospruch hinaus. Da man Roses Varco sowieso an diesem Morgen entlassen hätte, war es nicht nötig, ihn ins Krankenhaus zurückzubringen.
Eine letzte Untersuchung konnte auch dort durchgeführt werden, wo man ihn aufstöberte. Da der Suchtrupp mit seiner Nachforschung in Roses’ Wohnung angefangen hatte, befanden sich die Beauftragten bereits an Ort und Stelle, als der Radiospruch eintraf.
Roses sah zu, wie sich die Wachleute und Ordonnanzen vom Krankenhaus miteinander berieten. Sie konnten mit ihm treiben, was sie wollten, solange sie ihn nur nicht wieder ins Krankenhaus schafften. Dieser Krankenhausaufenthalt war ein Trick gewesen, ein Verrat von … Doch die Dinge, die im Krankenhaus geschehen waren, mußte er vergessen, durften einfach nicht passiert sein. Ein Mann mit weißem Kittel stellte sich vor ihn hin und erklärte, was sie jetzt mit ihm tun würden. Roses hörte nur so lange zu, bis er die Gewißheit hatte, daß er nicht mehr ins Krankenhaus zurückkehren mußte. Danach nickte er nur noch lächelnd bei jedem Satz.
Um so erschrockener war er dann, als die Männer versuchten, ihm das Hemd auszuziehen. Schließlich mußten ihn vier Männer festhalten, während der fünfte die notwendigen Untersuchungen durchführte. Und die ganze Zeit über brüllte Roses wie ein Stier.
Liza Simmons wurde im Lauf des Vormittags entlassen. Auch sie schämte sich bei der letzten Untersuchung (wenn auch aus anderen Gründen als Roses Varco). Doch sie war zu diszipliniert, um ihre Scham zu zeigen. Sie hätte gern lautstark gegen die Rückschlüsse protestiert, die die Schwestern machten, als sie die Wunden und Blutergüsse sahen. Doch sie war zu gut erzogen, um sich etwas zu vergeben. Sollten sie sich doch denken, was sie wollten. Nein, sie sollten es eigentlich nicht, aber daran konnte sie auch nichts ändern. Sie war das Mädchen, das sich mit Roses Varco gepaart und mehr bekommen hatte, als sie erwartet hatte. Sie war … nun, man konnte es ja sehen. Sie ging mit hoch erhobenem Kopf aus dem Untersuchungszimmer, aus dem Krankenhaus. Doch über das, was sie erlebt hatte, konnte sie nicht hinwegkommen.
Es war ein warmer Morgen, und ein paar von den Männern, denen sie begegnete, hatten sich der Hitze wegen bereits ihrer Kleider entledigt. Sie lächelte, als man sie grüßte, blickte nach innen und suchte die Wunden ihrer Seele. Die Blutergüsse waren nur oberflächlich und würden rasch abheilen. Doch sie fragte sich, ob sie jemals in ihrem Leben eine männliche Erektion sehen konnte, ohne daß sich ihr Magen erschrocken verkrampfte. Sie fragte sich, ob sie nicht bei jeder Annäherung einen schrecklichen, blinden Angriff fürchtete und mit Abscheu und Ekel reagierte. Sie erkannte die Gefahr sofort. Nach einem Unfall mußte man sofort wieder hinter das Steuer. – Sie mußte sich bald wieder paaren, diesmal mit einem höflichen, unbeteiligten Partner. Doch nicht heute. Ihre Schenkel waren wund, und der Riß in ihrer Unterlippe würde sofort wieder zu bluten anfangen. Nicht heute. Morgen vielleicht. Oder übermorgen.
Nach dem Frühstück in ihrem Quartier (sie hatte den Tisch ans Fenster gerückt, doch der Ausblick auf die Hügel von Penheniot hatte diesmal nicht die gewünschte, beruhigende Wirkung), ging sie ins Labor. Sie brauchte jetzt die Arbeit und Formeln, die man, Gott sei Dank, unter seiner Kontrolle halten konnte.
Der Professor stand am Haustelephon und unterhielt sich mit Littlejohn in dessen Quarantänezimmer.
»Natürlich, Gründer. Zwei Katzen. Kleine wilde Biester. Das eine entwischte nach dem Experiment, doch wir haben es wieder eingefangen. Der Veterinär hat sie in seiner Beobachtungsstation. Er versicherte mir, sie seien beide in ausgezeichneter gesundheitlicher Verfassung.«
Es gab eine Pause, in der Manny Littlejohn zu Wort kam. Der Professor, am anderen Ende einer mindestens achthundert Meter langen Leitung, bedeckte die Sprechmuschel mit der Hand und begrüßte Liza mit einem ungeduldigen Nicken seines Kopfes. Es war in die Richtung des Computers orientiert, wo ein Stapel neuer mathematischer Ansätze auf seine Erledigung wartete.
Dann wendete er sich wieder tapfer dem Telephon zu und brachte seine Werbesprüche an, wenn der Gründer neuen Atem schöpfte.
»Start perfekt, Wiedereintritt perfekt, alles so, wie ich mir das bisher nur erträumen konnte. Bis morgen abend, wenn Sie das Krankenhaus verlassen können, bin ich so weit, daß ich … Tatsächlich bereite ich für heute nachmittag bereits ein Experiment mit größeren Organmassen vor. Ich habe mich bereits erkundigt, wo ich ein Schaf herbekommen kann. Leider sind die Bauernhöfe in der Nachbarschaft wegen Seuchengefahr nicht in der Lage, uns das Gewünschte gegen Barzahlung zu … Wie bitte, Gründer?«
Selbst Liza hatte die beiden Worte gehört, denn der Gründer hatte sehr deutlich gesprochen.
»Es stehlen? Nun, sicher, natürlich – wenn Sie das sagen. Ja, ich weiß, sie weiden entlang unserer Nordgrenze …« Der Professor zappelte mit der Hand, die nicht den Hörer hielt. »Ich würde – ich würde vorschlagen, Sie geben Sergeant Cole die nötige Vollmacht. Oder vielleicht könnte der Projektleiter …«
Wieder bellte der Gründer ein paar deutliche Worte.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Gründer. Ich werde …« Es klickte in der Leitung. Der Professor legte den Hörer auf. »Emmanuel hat so einen klaren, praktischen Verstand«, sagte der Professor in die Stille hinein. »Ich wäre auf so etwas nie gekommen. Nicht in hundert Jahren.«
Ein paar Minuten später sah Liza eine Gruppe von Sicherheitsbeamten am Laborfenster vorbeimarschieren. Sie lachten, während einer von ihnen ein Seil wie ein Lasso schwenkte und ein anderer einen großen Kescher über die Schulter warf, wie man ihn früher zum Einholen eines besonders großen Hechtes verwendete. Das sorglose Getue mit dem Gerät stand im Widerspruch zu dem Gelächter. Es hatte einen nervösen Unterton.
Im Dorf verlief der Werktag wie immer. Die Kinder kamen um elf Uhr zur großen Pause aus der Schule auf die Dorfwiese und tollten übermütig herum. Joseph Engels, der wegen der Quarantänebestimmungen auf seine tägliche Zeitung verzichten mußte, nahm seinen Photoapparat aus dem Schrank und knipste die Szenen vom Katastrophenalarm und Volkstumulten auf dem Schirm seines Fernsehgerätes. Paul Kronheimer verzählte sich bei neuntausenddreihundertundvierzig Pfund (neue Währung) und mußte wieder von vorn anfangen. Die Chrononauten saßen bedrückt vor den leeren Fernsehschirmen, weil die Universität wegen des nationalen Notstandes ihre Fernkurs-Sendungen unterbrochen hatte. David Silberstein wechselte in seinem Büro ständig den Sender, weil auf allen Kanälen Mrs. Lampton ihre Volksreden hielt.
Der Anmarsch der Flotte von St. Kinnow war natürlich längst elektronisch erfaßt worden, seit sie in das Wasser von Penheniot Pill eingedrungen war. Doch ein Junge aus der zweiten Klasse, der sich auf dem Dorfrasen tummelte, war der erste, der sie wirklich zu Gesicht bekam. Er deutete aufgeregt, und seine Kameraden blickten alle in die Richtung, wohin er deutete. Ausflugsboote, Fährboote, Motorboote und selbst Scooter hielten auf den Dorfkai zu, alle voll bis zum Kragen mit Leuten und Plakaten. Besonders mit Plakaten, die natürlich ausnahmslos Sprüche gegen Penheniot enthielten.
Und dann deutete wieder einer auf das Bootshaus am Strand, wo sich ebenfalls etwas Aufregendes tat. Die Vorderseite des Hauses öffnete sich, und das Rettungsboot wurde klargemacht. Ein paar Laserkanonen tauchten urplötzlich aus ihrer Betonversenkung auf, und darunter war auch etwas, das einem Flammenwerfer sehr ähnlich sah. Ein Kontingent von fünfzig Sicherheitsleuten, alle bis zu den Zähnen bewaffnet, kam in Reihen aus einem Haus herausmarschiert und stellte sich in einer langen Kette auf dem Kai und am Strand auf. Wenn es eine Zugbrücke gegeben hätte, hätte man jetzt das Rasseln der Ketten hören können.
Die Armada hielt plötzlich an. Nicht die Angst vor den aufgestellten Sicherheitsleuten, sondern irgendein verabredetes Signal schien sie zu diesem Schritt zu bewegen. Ein etwas größeres Schiff, das die Flagge des Hafenmeisters von St. Kinnow gesetzt hatte, kreuzte vor den übrigen Booten. Auf der Brücke stand ein Herr mit stahlgefaßter Brille und grauem Anzug und sprach laut und deutlich über ein weittragendes Lautsprechersystem (Brillen waren schon vor acht Jahren durch eine Erfindung der Chirurgie überflüssig geworden):
»Guten Morgen«, sagte er, »guten Morgen, Penheniot. Hier spricht Narsius Harlien.« Er räusperte sich. Das Mikrophon war ihm zu Kopf gestiegen. Jetzt machte er eine ernsthafte Anstrengung, nicht mehr im Tonfall eines amerikanischen Präsidenten zu sprechen. Doch leider war das Drehbuch stärker als er. »Ich vertrete hier den Minister für moralische Verantwortlichkeit. Als persönlicher Referent des Ministers unternehme ich eine Besichtigungstour, um alle wissenschaftlichen Einrichtungen im Erholungsgebiet zu überprüfen …«
Sergeant Cole hob den Telephonhörer ab und rief David Silberstein an. Doch das war gar nicht nötig. Narsius Harliens verstärkte Stimme war auch im Büro von David Silberstein ausgezeichnet zu verstehen. Der Minister für moralische Verantwortlichkeit – das war ein neuer Stuhl im Kabinett. Was den Minister betraf, brauchte David nicht lange zu raten, wer diesen Sessel bekommen hatte. Er hätte sich eben doch die Volksreden von Mrs. Lampton auf den drei Kanälen anhören sollen. Mrs. Lamptons Ernennung zum Minister war die typische Geste einer Regierung, die sich das Heft aus der Hand nehmen ließ. Sie versuchte, versöhnlich zu sein, wo versöhnliche Gesten schon längst überholt waren. David Silberstein erhob sich seufzend vom Schreibtisch und ging die Fore Street hinunter. Narsius Harliens Stimme war überall, wie die Stimme Gottes …
»… und unter besonderer Vollmacht der Notstandsverfassung bin ich beauftragt, die Einrichtungen von Penheniot sofort zu inspizieren. Ganz besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang der Fall Roses Varco. Im Namen der Öffentlichkeit und der demokratischen Grundrechte verlange ich eine Untersuchung …« Laute Zurufe und Applaus hinter ihm von der Armada, die der Bevollmächtigte mit gnädiger Hand beruhigte. »Ich möchte betonen, daß die guten Leute, die mich begleitet haben, aus freien Stücken gekommen sind. Ich bin nicht gekommen, um jemand einzuschüchtern, sondern erfülle nur meinen Auftrag als Mitglied der Regierung Seiner Majestät.«
»Privater Anlegeplatz, mein Junge«, unterbrach jetzt Sergeant Coles Stellvertreter den Referenten der Ministerin. Der Mann war für seinen Posten ausgesucht worden, weil er eine so joviale fette Stimme hatte. »Wollen Sie nicht mit Ihrem Kahn ein Stück weiter flußaufwärts fahren?«
»Eben nicht, guter Mann. Ich bin nicht gekommen, um jemand einzuschüchtern. Ich habe aber auch nicht die Absicht, mich einschüchtern zu lassen. Als Stellvertreter des Ministers für …«
»Sie verstopfen nämlich das Hafenbecken, verstehen Sie?« Operation 3a aus dem Handbuch der Sicherheitsvorschriften ging weiter. »Wir haben eine Menge Verkehr am Kai. Es wird viel verladen und entladen im Forschungszentrum. Deswegen haben wir auch überall Warnschilder angebracht.«
»Guter Mann. Ich habe keine Autorität über die Leute, die mich begleiten. Als eine Demonstration der öffentlichen Überzeugung finde ich diese Aktion sehr beeindruckend. Auch eine Genugtuung. Hingegen kann ich nicht …«
»Ich will ja nicht grob werden, mein Junge. Aber Sie verstoßen gegen öffentliche Vorschriften. Und in diesem Fall haben wir das Recht, jeden Verstoß gegen die öffentlichen Vorschriften zu ahnden.«
»Quatsch. Und zielen Sie nicht immer mit Ihrer Waffe in meine Richtung. Kraft meiner Vollmacht nach Paragraph vier, Absatz 7k, des Notstandsgesetzes …«
David war inzwischen auf dem Kai eingetroffen und nahm dem Hafenmeister das Mikrophon aus der Hand. Es gab Fälle, in denen die Operation 3a nicht mehr ausreichte.
»Mr. Harlien«, sagte er, »Mr. Harlien, Sie sprechen jetzt mit dem Direktor der Forschungseinrichtung. Mein Name ist Silberstein.«
Lautes Buhgeschrei von der Armada begrüßte Silbersteins Worte. Narsius Harlien ließ die Leute eine Idee zu lange brüllen, ehe er sie mit einer gnädigen Handbewegung zum Schweigen brachte.
»Leute«, sagte er zu seinem Gefolge, »Leute, wir sind hier nicht vor Gericht. Ich bin kein Richter, und ihr seid keine Geschworenen. Ich bin hierhergekommen, um Untersuchungen anzustellen – mehr nicht.« Er beschäftigte sich jetzt wieder mit David. »Mr. Silberstein, ich besitze eine schriftliche Vollmacht. Kann ich an Land kommen? Ich meine, auf friedliche Weise?«
»Ich begrüße es sehr, daß Sie eine schriftliche Vollmacht mitbringen«, erwiderte David. »Meine Sorge ist nur, daß Sie noch mehr mitgebracht haben.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Sprechen wir offen miteinander, Mr. Harlien. Vielleicht sind Sie ein Zwischenträger des mutierten Darmfiebers. Oder der Zwischenträger der mexikanischen Grippe, wie Ihre Regierung die Krankheit zu bezeichnen pflegt.«
»Mein lieber Mr. Silberstein …«
»Vielleicht sind Sie selbst bereits krank.« Noch mehr Buhgeschrei. »Mag sein, wie es will, ich bedaure sehr, daß ich Sie nicht an Land lassen kann. Es sei denn, Sie unterziehen sich einer achtundvierzigstündigen Quarantäne in unserem Krankenhaus. Wenn Sie sich diesen Bedingungen fügen, sind Sie natürlich bei uns willkommen.«
»Quarantäne? Quatsch und Blödsinn.«
»In diesem Fall müssen Sie wieder dorthin zurückfahren, wo Sie hergekommen sind, Mr. Harlien.« Diesmal Jubelrufe von den Kindern, die man auf der Dorfwiese ganz vergessen hatte. »In unserem Dorf sind alle gesund. Und wir beabsichtigen, unsere Gesundheit zu verteidigen. Ich werde mich mit Ihrem Gesundheitsminister auseinandersetzen, Mr. Harlien, ehe Sie sich – und uns – unnötigen Gefahren aussetzen.«
Der persönliche Referent des Ministers drehte seine Lautsprecheranlage ab und unterhielt sich mit seiner Begleitung. Sein Schiff fuhr die Linie der Armada entlang und wieder zurück. Seine freiwilligen Begleiter auf den anderen Schiffen wurden sichtlich unruhig.
»Wenn Sie einen gewissen Einfluß auf Ihr Gefolge haben, Mr. Harlien«, fuhr David über den Lautsprecher fort, »möchte ich Ihnen den Rat geben, die Leute zur Umkehr zu bewegen. Wie Sie sehen, sind wir nicht unvorbereitet. Die Insassen der Boote, die wir versenken, dürfen das Land innerhalb der Dorfgrenze nicht betreten. Das bedeutet, daß die Schiffbrüchigen eine beträchtliche Distanz schwimmend zurücklegen müssen.«
Narsius Harlien schaltete sein Lautsprechersystem wieder ein, räusperte sich und wechselte das Thema. Da war noch das Problem Roses Varco. Es seien eine Menge Beschwerden eingelaufen, und es war bestimmt im Interesse aller Beteiligten, diese Angelegenheit zu klären. Wenn er, Narsius Harlien, nicht an Land kommen konnte (er wollte sein Gesicht bewahren), dann konnte vielleicht Roses Varco ihn nach St. Kinnow begleiten.
David Silberstein antwortete, daß niemand gegen seinen Willen in dem Dorf zurückgehalten werde, und schickte einen Mann nach Roses Varco aus. Er stellte Varco neben sich auf das Kai und fragte ihn – alles nach den Spielregeln der Fairneß –, ob er mit dem freundlichen Herrn im grauen Anzug nach St. Kinnow gehen wollte.
Roses hatte keine Schwierigkeit mit dieser Frage. Der freundliche Herr erinnerte ihn viel zu sehr an den Vorsitzenden des Ausschusses für die Versorgung von geistig Behinderten, dem man ihn einmal vorgeführt hatte. Und die Verrückten in den Booten, die ihre Plakate schwangen, waren mustergültige Vertreter jener Eigenschaften, die er an seinen Mitmenschen am meisten fürchtete. Er scharrte mit den Füßen und murmelte nein. David schob ihm das Mikrophon vor das Gesicht und bat ihn, seine Worte zu wiederholen. Nur für das Protokoll. Roses’ Standpunkt wurde vielfach verstärkt allen Bewohnern des Tales klargemacht:
»Mit dem alten Gockel im grauen Anzug? Ich mag keine Brillenschlangen. Und schon gar nicht die Burschen in den Booten. Mag sie nicht.«
Damit wäre in einem freien Land die Angelegenheit erledigt gewesen.
Narsius Harlien sah das ein. Er machte Anstalten, sich zurückzuziehen, allerdings mit der Warnung, er werde wiederkommen, nachdem er sich mit seinem Minister beraten hätte. Doch seine Begleiter, die der Ansicht waren, er habe sich ihrer Demonstration angeschlossen statt umgekehrt, waren nicht so einsichtig. Sie warfen ihre Plakate weg und zogen allerlei illegale Handwaffen unter den Sitzen und Duchten hervor. Gegen seine private Überzeugung wurde der persönliche Referent der moralischen Ministerin über die Grenzlinie des Hafens geschoben.
Hundert Meter vor dem Stand war ein Doppel-Laser fünf Zentimeter unter der Wasseroberfläche eingebaut. Er funktionierte wie ein Schneidmesser für Wurstscheiben und schnitt der Barkasse von Mr. Harlien den Kiel weg, als sie über die Grenzlinie von hinten geschoben wurde. Auch die Absätze des Rudergängers gingen dabei flöten, und bedauerlicherweise in den schwerbelasteten Booten, die dem persönlichen Referenten folgten, auch mehrere Zehen, die zu tief im Wasser lagen.
Als die Boote sanken, wurden die Laser wieder abgeschaltet, um die Passagiere zu schonen. Die übrigen Boote, die das natürlich nicht wußten, ruderten schleunigst rückwärts und kreuzten vorsichtig in größerem Abstand, um Überlebende aufzunehmen. Die Salven aus Pistolen und Revolvern, die auf das Dorf abgegeben wurden, waren dementsprechend harmlos, da die Entfernung und die Aufregung zu groß waren. Die wenigen Helden, die sich nicht retten lassen wollten, sondern tapfer auf die verbotene Küste zuschwammen, wurden rasch durch Unterwasserentladungen von Spezialabwässern vertrieben, die aus Druckröhren heraussprudelten. Narsius Harlien klammerte sich ohne Brille an das Heck eines Bootes, das viel zu voll war, um ihn an Bord nehmen zu können. Wenigstens behauptete das später ein Sprecher seines Ministeriums.
An Land tat man alles, um die Niederlage der Städter nicht in eine Demonstration ihrer Ohnmacht zu verwandeln. Gelächter und spöttische Gesten waren strikt verboten. Selbst Zuschauer, falls sie nicht in amtlicher Eigenschaft zugegen waren, wurden sofort nach Hause geschickt. Joseph Engels, der viel Sinn für praktische, simple Späße hatte, mußte mit Gewalt in einen kleinen Raum hinter dem Waschhaus gebracht werden, wo man ihm den Mund zuhielt. Das Dorf lag ruhig und wie ausgestorben unter der Mittagssonne zwischen Wasser und Hängen.
Trotzdem bleibt eine Niederlage immer eine Niederlage, wie höflich und schonend man sie dem anderen auch beibringt. Und in einem Krieg, den keiner gewinnen kann, zieht eine Kampagne die andere nach. David Silberstein schritt mit gefurchter Stirn zurück in sein Büro. Wenn man ein Gefecht dadurch gewinnt, daß man nur auf einen Knopf drückt, ist das schon ein eigenartiges Gefühl. Diese Knöpfe waren doch nur ein Ausdruck seiner eigenen, persönlichen Ohnmacht. Selbst die Demonstration von Varcos Unzurechnungsfähigkeit war gelenkt worden und kam als Verdienst nicht auf sein Konto. Für manche Leute war die Tat ein Vermögen, sich das Leben einfach zu machen. Für David Silberstein gab es kein einfaches Leben.
Doch es war nicht ohne Hoffnung – oder etwa nicht?
Als David sein Büro erreicht hatte, gab er ein paar Befehle, die zusätzlichen Wasseraufbereiter einzuschalten, um den Unrat wieder aus dem Fluß zu filtern. Dann setzte er sich vor das Fernsehgerät, um die wütenden Angriffe der Ministerin für moralische Verantwortlichkeit auf der Mattscheibe mitzuerleben.
Im Labor war die Arbeit inzwischen zügig fortgeschritten. Man mußte schon Katastrophenalarm geben, um den Professor und Liza aus ihren Gedanken zu schrecken. Tatsächlich waren die beiden Wissenschaftler von dem Tumult am Kai viel weniger gestört worden als durch das Schaf, das von zwei verschwitzten Sicherheitsbeamten kurz nach dem Mittagessen eingeliefert wurde. Das aufgeregte Biest hat durch sein dauerndes Blöken die genaue Berechnung der chronomischen Koeffizienten sehr erschwert. Sie hatten an den Computerkonsolen gebrütet, während das Schaf auf der Bühne herumstampfte, schiß und die Flöhe in der sterilen Umgebung verstreute. Endlich hatte es sich wieder beruhigt und sich kauend hinter einen Ballen Heu gekauert, der von einem zweiten Stoßtrupp der Sicherheitstruppe herbeigeschafft wurde. Endlich stand es jetzt, in einem Spezialkäfig verwahrt, dösend und wiederkäuend, auf der Plattform, während die Beschleuniger auf Betriebstemperatur gebracht wurden. Liza fand diese lammfromme Haltung störend. Ein anderes Tier hätte in dieser Lage wenigstens nicht dauernd gekaut.
Sie schaltete die Pulsgeneratoren ein und stimmte sie mit den Bremsschwingungskreisen ab. Der Geräuschpegel war langsam, aber stetig gestiegen. Hier konnte man auch studieren, wo die Geräusch-Toleranzgrenze bei den höheren Säugetieren lag. Als der Heulton zunahm und den Start ankündigte, hörte das Schaf zu kauen auf. Liza war dem Tier dafür irgendwie dankbar. Selbst ein Schaf war nicht so dumm und gefühllos, wenn der Zeitpunkt der chronomischen Metamorphose sich ankündigte. Doch sie täuschte sich. Das Schaf hob lediglich den Schwanz und ließ erneut Böllerchen fallen, als der Start einsetzte. Das Schaf, der Schwanz und die Böllerchen flackerten kurz und waren verschwunden. In welchem erbärmlichen Zustand, dachte Liza, wechselte dieses Lebewesen in die Ewigkeit hinüber.
Die chronomische Einheit des Schafes war auf mindestens zehn Minuten angesetzt. Professor Krawschensky hatte Schwierigkeiten mit dem elektrischen Zeit-Schrittmacher. Die zweite Katze, die lohfarbene, war um fast drei Stunden falsch berechnet worden. Während Liza auf den Wiedereintritt des Schafes in die irdische Zeit wartete, studierte sie die Aufzeichnungen des Professors über die letzten beiden Experimente. In beiden Fällen war eine andere Ladung verwendet worden. Die erste Katze, der schwarze Kater, hatte eine nukleische Ladung erhalten, die ihn nur mit einer Abweichung von 0,01 Sekunde in die irdische Zeit zurückholte. Liza studierte auch die letzte Meldung des Veterinärs. Der schwarze Kater hatte nach schweren Anfangsstörungen (er war gleich nach dem Wiedereintritt in die irdische Zeit ausgerissen) wieder in ein normales Verhalten zurückgefunden. Er hatte guten Appetit, gute Reflexe und eine ausgezeichnete emotionale Verfassung. Seine Verfassung war identisch mit der des zweiten Versuchstieres, der lohfarbenen Katze, die mit einer peripherischen Zeitladung auf die Reise geschickt worden war. Doch die peripherische Ladung hatte eine Abweichung von drei Stunden gehabt. Deshalb schien das nukleische Verfahren nicht nur genauer, sondern auch vollkommen unschädlich zu sein.
Sie wußte natürlich, daß dieser Schluß verdammt voreilig war. Und sie wußte auch, daß von ihrem Urteil – ihrer Intuition – in naher Zukunft das Leben eines Chrononauten abhängen würde. Die Verantwortung dafür – außer dem Gesetz gegenüber – lag allein bei ihr. Und trotzdem konnte sie eigentlich an nichts anderes denken als an ihre Sinnlichkeit und deren verheerende Folgen. Während sie Seite für Seite das tierärztliche Gutachten las, sah sie immer das Gesicht des halbtierischen Wesens vor sich, das sie für ihre Sinnlichkeit ausgenützt hatte. Und die Unschuld dieses Tölpels machte ihn nur noch schuldiger, noch verachtenswerter. Ihr war es gleichgültig, ob ihre wissenschaftliche Arbeit ein Erfolg oder ein Fehlschlag wurde. Sie begriff lediglich, daß es nur noch ein Wesen in der Welt gab, das sie mehr haßte als sich selbst, und dieses Wesen war Roses Varco. Sie runzelte die Stirn und konzentrierte sich wieder auf das Kauderwelsch des Veterinärs.
Genau im richtigen Moment, dank des nukleischen Schrittmachers, kehrte das Schaf auf die Bühne zurück, ließ sein letztes Böllerchen fallen und kaute weiter. Professor Krawschensky war entzückt.
»Liza, Liza, was für einen Beweis brauchen wir denn noch? Für uns zehn Minuten, für das Schaf – nicht eine Sekunde – nicht einmal für das – äh –, was es eben tut.« Er räusperte sich und haspelte weiter: »Und sehen Sie doch nur, Liza, welche Ruhe, welche Einfalt! Kann bei dieser Ruhe etwa ein Verdacht auf Schädigung der Gehirnzellen aufkommen?«
Liza zweifelte im stillen, daß das Schaf über Gehirnzellen verfügte, denen man viel schaden konnte.
»Rufen Sie den Veterinär an, Kind. Sagen Sie ihm, er soll jemand hierherschicken, weil wir das letzte Experiment durchführen. Wir werden bald diese irdische Welt verlassen, Liza – für immer.«
Sie sah einen Funken greisenhafter Lust in seinen Augen, Offenbar regte der Erfolg seine Drüsen an. Sie fühlte einen leichten Schwindel, stand auf und ging ans Telephon.
»Und Ihre Frau natürlich auch, Professor«, sagte sie mit der vulgären Deutlichkeit einer Marktfrau. »Sie werden sie doch nicht vergessen, oder?«
Ihr Sarkasmus, ihr Mangel an Taktgefühl, schockierte ihn. Was hatte die Ehefrau mit seinem Erfolg zu tun? Seit wann besaß eine Ehefrau eine sexuelle Bedeutung? Liza wählte die Nummer des Tierarztes.
An diesem Morgen brauchte Roses Varco ganz besonders den besänftigenden Einfluß der gewohnten Umgebung. Er mußte wieder zusammenwachsen. Die Nacht, der Morgen darauf und auch der Nachmittag hatten ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Er brauchte eine Bestätigung, daß die Welt ganz anders war, als sie sich darstellte. Deswegen schulterte er am Abend seine Angelrute und ging zum Kai hinunter.
Da er den Badebetrieb vermeiden wollte, machte er sich ziemlich spät auf den Weg. Diese Vorsichtsmaßnahme war unnötig. Nach der Farce am Nachmittag lag eine bleierne Ernüchterung über dem Dorf. Badefreuden hielt man plötzlich für fin de siècle und für geschmacklos, obwohl das Wasser bereits wieder gereinigt war. Deshalb war der Kai verlassen, als Roses dort eintraf. Er stand einen Augenblick verloren da, schwitzte in der letzten Hitze des Tages. Der Schweiß brannte in den langen, blutigen Rissen an den Armen und Beinen, die von den Krallen seiner Katzen herrührten. Auch das Wetter störte ihn. Die Hitze hätte jetzt, zu Beginn des Herbstes, bereits nachlassen müssen. Der Rhythmus war irgendwie gestört. Er kratzte sich geistesabwesend an Armen und Beinen und setzte sich auf den Rand des Kais.
Er befestigte einen Wurm am Haken und warf die Angel aus. Es störte ihn nicht – oder vielleicht hatte er es gar nicht bemerkt –, daß sich schon seit Wochen kein Fisch mehr in der Nähe des Kais gezeigt hatte. Der Schwimmer pendelte im Wasser auf und ab. Die harte Steinkante schnitt ihm ins Gesäß. Es roch nach Seetang und, hinter ihm, nach Gras. Die Welt war wieder in Ordnung. Er vertiefte sich voller Behagen in dieses Gefühl der Beständigkeit, des Unwandelbaren.
Vertraut war ihm auch die Gegenwart von Edwin Solomons, David Silberstein, Daniel Jefferies, Liza Simmons. Jemand fand sich immer auf dem Kai ein, um neben ihm zu sitzen. Sie ließen ihn nur selten allein. Sie redeten mit ihm. Das meiste davon verstand er nicht, aber sie machten diese Woche wieder zu einem vertrauten Ablauf wie die Woche zuvor und die Woche, die davor lag.
»Hast du etwas gefangen?«
Sie fingen immer mit dieser Frage an. Roses zog den Rotz in der Nase hoch und stieß mit den Fersen gegen die Kaimauer.
»Ich kam zufällig hier vorbei. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mich eine Weile zu dir setze, oder?«
»Es ist eine freie Welt.«
»Wirklich? Glaubst du das wirklich?«
Es war eine Redensart seines Vaters gewesen. Er bewegte sich unruhig. Sein Behagen war wieder etwas getrübt.
»Du glaubst das immer noch? Du hast doch miterlebt, was sich heute nachmittag abgespielt hat.« Das war David Silberstein, der zu ihm sprach, nicht einer von den anderen. Frei wofür? Frei, um dich selbst zu zerstören? Meinst du vielleicht das? – Roses summte immer die gleichen drei Töne und wartete darauf, daß der andere fortging. Normalerweise setzten sie ihm abends nie lange zu.
»Ich habe nicht Recht getan, Roses. Ich kam hierher, um dich um Entschuldigung zu bitten.«
»Entschuldigung? Warum entschuldigen?«
»Für heute nachmittag. Daß ich dich vor allen Leuten gefragt habe.«
»Oh, das. Das war nichts.«
»Doch, Roses. Du mußt begreifen, daß ich dich ausgenützt habe.«
Roses rieb sich die juckenden Stellen am Arm. »Verdammte Katze«, murmelte er.
»Roses, ich habe dich bloßgestellt – ausgenützt, weil … Roses, es gibt keinen Grund, warum du dich nicht mit Liza paaren solltest. Es gibt nichts, das dich daran hindern könnte.«
»Verrückt ist sie, glaube ich.« Er hörte nichts anderes, dachte an nichts anderes als an seine Katze. »Springt wie verrückt in der Küche herum. Läßt mich nicht an sich heran.«
»Roses, du mußt mich anhören. Liza und du, ihr habt natürlich das Recht, euch zu …«
»Werde jetzt lieber wieder gehen.« Er holte seine Angel ein. Er ließ sich nicht in die Enge treiben, um keinen Preis. »Hatte gedacht, wir beide wären echte Freunde. Da sieht man, man kann sich nicht darauf verlassen.«
»Roses, wovon redest du überhaupt?«
»Von meinem schwarzen Kater. Kann nichts mehr mit ihm anfangen. Ich glaube, er ist verrückt geworden. Sehen Sie mal die Kratzer.«
Er entblößte kurz seinen Unterarm und raffte dann sein Angelgerät zusammen. Er blieb keine Sekunde lang mehr hier, nicht, wenn er so in die Enge getrieben wurde.
David Silberstein starrte ihm nach. Seine Schuld an Roses war viel leichter zu ertragen als die namenlose Furcht, die Sir Edwin ihm hinterlassen hatte. Aber war es nicht pervers, sich selbst zu erniedrigen, um sich zu entschuldigen? Um eine Eifersucht zu bannen, die sich nicht verbannen ließ? Dieser Mann hatte kein Recht, sich mit Liza zu paaren. Überhaupt kein Recht!
Er hatte Liza nicht mehr gesehen, seit sie das Krankenhaus verlassen hatte. Er wollte sie auch gar nicht sehen. Seine Phantasie raste: zwei Nächte, zwei gemeinsame Nächte zwischen sauberen Laken. Er beobachtete, wie Roses durch das Gattertor des Labors ging, breite Schultern, die Liza unter sich begruben, Hüften, die über ihr kreisten. Er starrte auf den Fleck, wo Roses gesessen hatte, und hörte den stöhnenden Laut von Lizas Ekstase. Er konnte sich mit dieser Vorstellung geißeln, mit der Vorstellung von Liza und Roses, solange er lebte … Er zwang sich, an anderes zu denken, hörte leises Gelächter im Dorf, das Klappern einer Heckenschere, das Rauschen eines Fernsehgerätes.
Er würde freundlich zu Roses sein, so freundlich, wie er sich eben verhalten hatte. Es war eine Beruhigung für ihn, zu Leuten freundlich sein zu können, die man haßte. Er erhob sich langsam, Gelenk für Gelenk, und ging heim zu Mrs. Berman.
In der vergangenen Nacht fanden zwei Überfälle auf das Dorf statt. Sie waren nicht harmlos wie die Idiotie vom Nachmittag. Die Angreifer stiegen über den Zaun, schlossen ihn auf primitive Weise kurz und machten gar keinen Versuch, den versteckten Sensoren auszuweichen. Es waren ortsansässige junge Leute. Der Grund ihres Eindringens war eindeutig. Sie hatten Angst, waren aufgeputscht, haßten das Dorf. Die erste Gruppe der Angreifer wurde ein paar hundert Meter innerhalb der Dorfgrenze mit Sprühgas außer Gefecht gesetzt. Dann wurden sie desinfiziert und behutsam zu der Straße getragen, die auf dem Kamm des Hügels in der Nähe des Zaunes vorbeilief. Die zweite Welle der Angreifer war schon viel besser vorbereitet. Sie trug Gasmasken und Schutzkleidung.
Sie wurde von Sicherheitsbeamten eingekreist und mit Hitzeschaum besprüht, der an ihren Kleidern hängen blieb. Obwohl der Schaum eine durchaus noch erträgliche Temperatur entwickelte, steckten sich die Getroffenen gegenseitig mit ihrer Hysterie an. Ihre Schreie waren im ganzen Tal zu hören. Sie taumelten im Dunkeln umher, rissen sich die Kleider vom Leib und schienen fest davon überzeugt, daß man sie bei lebendigem Leibe verbrennen wollte. Es war nicht schwer, die Leute einzufangen, zu behandeln und dann für ihre Rückkehr nach St. Kinnow vorzubereiten.
Das Geschrei weckte Manny Littlejohn, der in seinem Quarantänelager im Krankenhaus nichts zu befürchten hatte. Er rief sofort David Silberstein an, um sich zu erkundigen, was das Geschrei zu bedeuten habe. Er war beruhigt, als er erfuhr, daß sein Projektleiter die Lage vollkommen unter Kontrolle hatte. Er legte sich wieder in die Kissen zurück, doch das Schreien hielt an. Noch einmal wählte er Silbersteins Nummer und beklagte sich. Er konnte nur sehr schwer einschlafen, und da man ihn jetzt geweckt hatte, würde er bis zum Morgen wach bleiben müssen. Der Projektleiter sagte, das täte ihm schrecklich leid.
Manny Littlejohn legte den Hörer wieder auf und stieß seiner schlafenden Frau den Ellenbogen in die Rippen. Ihr Friede, die feste Rundung ihres jungen Körpers, ging ihm auf die Nerven.
»Du schnarchst, Margot. Während Männer im Dorf verbrennen, schnarchst du. Du solltest dich mehr zusammennehmen.«
»Leute verbrennen?« Sie setzte sich auf und horchte in die Nacht hinaus. Das Geschrei war schon vor Minuten verstummt, und draußen war alles still. Vielleicht war das Ganze nur wieder einer seiner Scherze. Sie legte sich wieder hin. »Schnarche ich tatsächlich?«
»Wie ein Schwein.« Sie schnarchte nie. Ihr Mann hingegen schnarchte so arg, daß manchmal am Morgen sein ganzer Hals entzündet war. »Manchmal gefällt es mir, dann komme ich mir nicht mehr so allein vor. Und ich zähle die Schnarcher wie andere Leute die Schafe. Das hilft mir beim Einschlafen.«
»Du bist ein sonderbarer Mann.«
Sie streichelte seinen Arm. Sie hatte ihn lieber, als sie sich das einzugestehen wagte. Sie hatte so getan, als hätte sie ihn nur seines Geldes wegen geheiratet. Er schien das ja von ihr zu erwarten. »Weshalb hast du mich dann geweckt?« fragte sie.
»Das habe ich dir doch schon gesagt, Mädchen. Weil die Männer geschrien haben.«
Margot dachte über seine Antwort nach. Vielleicht war es tatsächlich einer seiner Scherze. Vielleicht hatte er auch nur schlecht geträumt. Sie drängte sich näher an ihn, legte ihre Arme um seinen greisenhaften Brustkorb. Sein Herz schlug unter der schlaffen Haut in der Pause zwischen ihren Herzschlägen, und sie schob die Arme höher, bis sie seinen Puls nicht mehr spürte. Er stellte das Leben dar, wie es ohne schöne Larve war, schrecklich verletzlich, ein Mechanismus, der sich gerade noch behauptete. Sie mochte ihn zu sehr, als daß sie daran erinnert werden wollte.
»Ich wünschte, wir wären nicht hierhergekommen«, sagte sie, um einen Schuldigen zu finden.
»Im Gegenteil, wir hätten früher hierherkommen sollen. Krawschensky braucht jemand, der ihn antreibt. Das Dorf ist stark befestigt; aber gegen einen Luftangriff ist es machtlos. Wenn die anderen sich erst einmal organisiert haben, dauert es nur Tage, bis wir überrannt sind.«
»Die anderen, Emmanuel? Wer sind die anderen?«
»Die Leidenden, Margot. Die Sterbenden. Die Furchtsamen und die Menschen ohne Hoffnung, die Gemeinen und die Primitiven. Die Törichten. Seit vierundachtzig Jahren bin ich vor diesen Leuten auf der Flucht. Noch können sie mich einholen.«
Margot konnte es nicht vertragen, wenn er sich in düsteren Gedanken erging. Sie tastete mit ihrer rechten Hand über seinen faltigen Bauch. »Keine Angst«, sagte sie. »Margot paßt schon auf dich auf. Und wo ist denn der kleine Emmanuel?«
Selbst als sie den kleinen Emmanuel fand, blieb er schlaff in ihrer Hand. Manny Littlejohn weilte in Gedanken bei anderen, gemeineren Dingen – bei Männern, die brüllend das Dorf stürmten und ihn bedrohten. Er war alt und gerissen und mächtig und voller Angst. Das machte die Zukunftsaussichten von Roses nur noch düsterer.