III

 

Manny Littlejohn liebte es, auf Schienen zu reisen. Er liebte es so sehr, daß er einen eigenen Zug besaß, rosafarben, von seiner eigenen rosafarbenen Lokomotive gezogen. Das war ein kostspieliges Vergnügen, denn wenn man die Hauptstrecken von anderen Zügen räumen ließ, kostete das natürlich Geld. Doch Manny Littlejohn geizte nie mit dem Geld, wenn es um seinen eignen schlechten Geschmack ging. Zwar kam man mit diesem Verkehrsmittel nur langsam voran, und die Stationen waren lange nicht so günstig gelegen wie die Haltepunkte der Hubschrauber. Aber Manny Littlejohn war reich genug, um Zeit nicht länger als Geld zu betrachten. Er betrachtete Geld vielmehr als bequemes Mittel, um Zeit zu kaufen. Außerdem war dieses Verkehrsmittel altmodisch. Littlejohn war selbst altmodisch und alt genug, um sich einen Teufel darum zu scheren, was andere für modern hielten. In dieser Zeit war Modernität sowieso ein umstrittener Begriff.

Wenn man Manny Littlejohns Vitalität kennt, sein Genie für den neuartigen Ansatz, seine organisatorischen Fähigkeiten, seinen Stil und vor allem seine Furcht, daß die Gesellschaft um ihn herum zusammenbrechen könnte, ehe er selbst es tat, dann versteht man das Experimentier- und Forschungsdorf Penheniot. Die meisten Leute verstehen weder ihn noch das Dorf. Doch das Ganze ist vollkommen logisch. Das Dorf, wenn auch größer und besser, war sein rosafarbener Zug. In ihm wollte er eines Tages (zum frühestmöglichen Termin) reisen.

Doch an diesem bestimmten Nachmittag hatte Manny Littlejohns Zug – nicht die Metapher, sondern der Zug, in dem er tatsächlich saß – die Hauptstrecke vor ungefähr fünfzig Minuten verlassen und bummelte das Geleis hinunter, das parallel zum St.-Kinnow-Fluß verlief. Rechts stieg die bewaldete Hügelwand steil empor, nur ab und zu von einer winzigen Schlucht aufgespalten, in die sich ein Sturzbach über moosige Steinterrassen und zwischen Farm- und Brombeerzweigen hindurch ergoß. Links lag das Hochwasserbett des Flusses, ebenfalls durch steile, mit Eichen bewachsene Hügel begrenzt. Nirgends war ein Haus in Sicht, nur eine kleine Schar Möwen flatterte über dem Flußbett, vorübergehend aufgescheucht von rollenden Rädern. Diese Etappe seiner Reise gefiel Manny immer am besten, und er befahl dem Lokomotivführer, langsamer zu fahren.

Am gegenüberliegenden Ufer schob sich eine Gruppe von Hausbooten langsam in Littlejohns Gesichtsfeld. Die Kabinen aus Plexiglas schimmerten trüb und schmutzig im Licht der Nachmittagssonne. Die Hausboote konnten noch nicht lange hier sein, gehörten sozialen Außenseitern und verdarben die Aussicht. Er hätte fast seinen Sozialpsychologen aus dem Nachbarwagen zu sich zitiert, unterließ es aber dann, weil die Situation auch allein und in kürzeren Worten analysiert werden konnte. Wäsche hing schlaff von Leinen, die an Deck ausgespannt waren. Holzrauch kräuselte sich aus ein paar Schornsteinen. Ein paar Beiboote tuckerten hin und her. Das schwache Echo von Stimmen wehte durch das offene Abteilfenster. Männer, Frauen und Kinder sangen zusammen irgendein Lied. Manny Littlejohn haßte solche improvisierten Gemeinden. Vögel waren nur noch wenige vorhanden und würden bald für immer verschwunden sein. Die Hausboote würden auch nicht viel länger dauern. Er gab ihnen höchstens noch drei oder vier Jahre. Doch er entdeckte ein paar Beete zwischen den Bäumen, wo die Leute Gemüse angebaut hatten. Die hatten bestimmt auch eine kleine Schule eingerichtet, diskutierten ernsthaft, gaben sich mystischen Anwandlungen und Halluzinationen hin und trieben eine Menge ernsthaften Sex. Er kannte diese Kommunen. Sie lebten von öffentlichen Unterstützungen, trichterten ihren illegalen Kindern ihre eigenen Normen ein und dachten nicht weiter voraus, als ihre Nasenspitze reichte.

Manny lehnte sich zurück, als sich eine Steinböschung zwischen ihn und den Fluß schob. Zwei oder drei Jahre höchstens … Sein Waggon, das perfekte Dekor, seine Fernsehgeräte, sein Telex, sein Bett mit dem diskret eingebauten elektronischen Masturbator – nichts davon gab ihm Garantie und Gewißheit. Er hielt seine linke Hand ins Licht, als der Zug langsam unter einer Gruppe von Bäumen herausglitt. Die gesprenkelte Haut lag in lockeren Falten über den Fingerknochen. Er bemerkte ein deutliches Zittern, eine beunruhigende Aufdringlichkeit des Skeletts unter der Haut.

Zwei oder drei Jahre höchstens noch … Er spreizte die Finger und stellte sich vor, wie die Zeit zwischen ihnen hindurchfloß. Professor Krawschenskys Zeit, seine Chronoküle, die ihn allmählich abnützten, deren Fluß er nicht ausweichen konnte. Nur indem er diesen Chronokülen Widerstand leistete, existierte er hier und heute und nicht dort und irgendwann. Jedes Materie-Atom besaß eine Ladung als Puffer gegen diesen Zeitstrom. Und in jedem seiner Finger waren hundert Millionen von Atomen, und der chronomische Strom zog über und zwischen ihnen vorbei wie das Wasser im Flußbett. In seinem Finger, in seiner Hand, in seinem ganzen Körper. Der Zeitstrom, der ihn abnützte. Deshalb alterte er. Zwei oder drei Jahre höchstens noch. Er legte rasch die Hand wieder aufs Knie.

Doch er hatte mehr als diese Hausboot-Gemeinde. Er hatte Penheniot. Er hatte Zeit, viel Zeit. Denn irgendwann in naher Zukunft würden die Zusammenhänge der chronomischen Abnützung verstanden und sogar auf den Kopf gestellt werden. Krawschensky würde den Strom für ihn umkehren und ihm wieder einen jungen Körper geben. Krawschensky war kein Dummkopf. Oft bedarf es eines Genies, um ein zweites zu entdecken. Er und Krawschensky würden gemeinsam über das Hindernis der Zeit hinwegsteigen, als wäre es nur ein kleiner Gatterzaun. Und falls – Littlejohn lachte leise und beugte sich vor, um wieder aus dem Fenster zu blicken –, und falls sich diese chronomische Harmonie nur als ein anderes Wort für Tod entpuppen sollte, überließ er sich ihr doch mit viel größerer Hoffnung, daß er irgendwo in einem anderen Leben wieder aus dieser Harmonie herauskam, als ihm die Theologen jemals geben konnten.

Der Zug hatte jetzt eine Biegung im Fluß erreicht. Das Wasser bedeckte sich jetzt mit Segel- und Motorbooten. Das waren Touristen, denen der Oberlauf des Flusses zu einsam und düster war. Die Ufer waren gepflastert mit Hotels und Restaurants, Jachtclubs und Plätzen, wo man Tretboote mieten konnte. Fährschiffe pendelten zwischen den Ufern hin und her, Wasser-Skier zogen ihre Schleifen über das Wasser, und die ersten Wasser-Reinigungswerke kamen in Sicht.

Schließlich erreichte der Zug den Bahnhof von St. Kinnow – Littlejohns Bahnhof. Nachdem er zum Stillstand gekommen war, blieb Manny Littlejohn noch ein paar Minuten im Abteil sitzen. Er hatte es sich zum Prinzip gemacht, nie in Eile zu sein. Das Recht, andere Menschen warten zu lassen, war ein Luxus, den er sich gern leistete. Jeder Idiot konnte andere Menschen anschreien und in Trab bringen. Aber sie in nervöser Spannung und Ungewißheit warten zu lassen, während man selbst gar nichts tat, war ein genialer Zug von Menschenführung.

Als Littlejohn endlich den Glockenzug – einen kleinen Elefanten aus Messing – betätigte, registrierte er befriedigt, wie die Leute aus allen Ecken hervorschossen, um zu liebdienern. Sie brachten es sogar fertig – eine wesentliche Auflage – zu erscheinen, ohne sich vorzudrängen oder ihre Wichtigkeit zu betonen. Deshalb behandelte er sie auch mit großer Höflichkeit: seine Autosek-Ingenieure, seinen Funker, seinen Kammerdiener, seinen Gitarristen, seine Masseuse, seinen Buchhalter, seinen Sozialpsychologen und seinen Leibwächter. Selbst den Stationsvorsteher – seinen Stationsvorsteher – sprach er höflich an, der sich im Schalter versteckt hatte, um ja nicht die Wagentür zu früh aufzumachen. Statt dessen öffnete er sie leider etwas zu spät. Höflichkeit war auch ein Luxus, den er sich leistete. So konnte er am wirksamsten seine Verachtung für Leute zeigen, die von ihm abhängig waren.

Gemessenen Schrittes kam er die Stufen des Waggons herunter und trat auf den roten, mit Gold besäumten Teppich. Nur wenige Leute waren auf dem Bahnsteig versammelt, angelockt von dem seltenen Anblick eines Personenzuges. Schließlich blieb die Seitenlinie für alle Züge geschlossen, abgesehen von den Güterwagen, die bis zur Mole fuhren. Die Station (und der Stationsvorsteher) waren damals, als der Betrieb auf dieser Nebenlinie eingestellt wurde, von Littlejohn gekauft worden, und seine Kreaturen brachen jetzt in Hochrufe aus. Manny nahm die Begrüßung wohlwollend entgegen. Milde und bescheiden sah er in die Runde, wie das alte Männer so an sich haben. Dann lief er bis zum Ende des roten Teppichs und verhielt unschlüssig, das bezaubernde Bild eines alten Gentleman bietend. Doch seine geierartigen Schultern ruckten nach oben, als er nach links und rechts spähte und leise mit der Zunge schnalzte.

Etwas war hier nicht in Ordnung.

Die Autosek-Ingenieure stürzten vorwärts und bauten sich links und rechts von ihm auf, behutsam den roten Teppich meidend.

Der Leibwächter, Krancz, zog seine Augen zu Schlitzen zusammen und marschierte auf und ab, mit seinem Betäubungsrevolver spielend. Es war das offiziell genehmigte Polizeimodell, war aber insgeheim etwas abgeändert worden, um die betäubende Wirkung der Geschosse unbegrenzt zu verlängern.

Der Buchhalter rechnete rasch im Kopf, um wieviel sich Manny Littlejohns Vermögen seit seiner Abreise aus London vermehrt hatte. In diesen drei Stunden um mindestens vier Millionen siebenhundertzweiunddreißig Pfund.

Der Gitarrist, der spanischer Herkunft und mit einer echten Seele geboren war, summte Villa-Lobos und griff in die Saiten.

Und der Stationsvorsteher – ein Mann mit wenig Zivilcourage und ohne Spur einer Seele – machte sich in die Hose (nur ein paar Tröpfchen), weil er überzeugt war, daß alles, was hier schiefgegangen sein mußte, nur seine Schuld sein konnte.

Etwas war tatsächlich schiefgegangen. Und das Niederträchtigste an diesem Fehler war, daß Manny Littlejohn hier in eine Grube stolperte, die er sich selbst gegraben hatte. Er hatte erwartet, daß auch jemand vom Dorf am Bahnhof aufkreuzen würde, um ihn zu begrüßen. Mit geradliniger Doppelsinnigkeit verlangte er, daß sein Besuch sowohl eine Überraschung als auch ein Ereignis mit dem ihm zustehenden Protokoll sein sollte. Bei seinen früheren Besuchen hatte man dieses Problem zufriedenstellend gelöst. Als unerwarteter Besuch sollte er natürlich unangemeldet im Dorf eintreffen. Aber als Gründer hatte er Anspruch auf den schuldigen Respekt. Bei früheren Gelegenheiten hatte eine Reihe von glücklichen Zufällen dieses Paradox möglich gemacht. Seitdem bestand er auf diese Zufälle. Aber wo waren sie? Wo?

Er verließ seinen roten Teppich und ging, verfolgt von zehn ängstlichen Augenpaaren, bis zum Ende des Bahnsteiges, wo dieser in eine Terrasse mündete, die Ausblick auf den Fluß bot. Er verriet seinen Begleitern nichts – durfte ihnen ja gar nichts davon verraten – von dem Konflikt, der in seinem Innern tobte. Unter ihm tobten Motorboote über das Wasser. Die Luft war drückend. Nach sieben regenlosen Wochen wurde selbst das Wasser faulig. Er wartete eine Idee länger, als es seiner Würde zukam; doch kein glücklicher Zufall passierte. Das Dorf hatte keinen Abgeordneten geschickt. David Silberstein hatte das in ihn gesetzte Vertrauen enttäuscht.

Er kehrte zu seinen Kreaturen, die sich am Ende des roten Läufers wie zu einem Gruppenbild versammelt hatten, zurück.

»Es ist ein schöner Tag heute«, sagte er. »Der Fluß scheint belebter als sonst.«

Milde Worte, milde Stimme, mildes Lächeln. Jemand würde dafür büßen müssen.

»Krancz«, sagte er zu seinem Leibwächter, »Sie kommen mit mir. Der Rest kann sich inzwischen mit einer geeigneten Beschäftigung die Zeit vertreiben. Ich schlage vor, daß der Stationsvorsteher etwas gegen den Schmutz auf seinem Bahnhof tut. Max sollte alles noch einmal in Ruhe überdenken und sich nicht einbilden, daß ich mich so leicht hinsichtlich meiner Finanzen täuschen lasse.« Er hob entschuldigend eine Augenbraue, um den Vorwurf etwas abzumildern. »Helga sollte ihre anatomischen Lehrbücher büffeln. Sie scheint unter der Zwangsvorstellung zu leiden, daß alle Muskelschmerzen nur durch die Massage des Penis beseitigt werden können. Und Manuel sollte ein paar Tonleitern üben. Der Paganini gestern abend war lausig.« Er tätschelte den Arm des Gitarristen, um ihm zu zeigen, daß er es nicht so meinte, wie er es sagte. »Die anderen widmen sich dringenden Aufgaben. Ich werde mir später anhören, wie weit sie damit gekommen sind.«

Er winkte Krancz zu sich, und sie schritten nebeneinander energisch zum Ausgang. Die Gruppe hinter ihm löste sich erst auf, als Littlejohn ihr den Rücken zudrehte. Dann spritzten sie auseinander. Nur der Stationsvorsteher blieb zurück, um den roten Seidenteppich einzurollen. Vergeblich zermarterte er sich den Kopf, was er denn noch tun konnte, um seinen makellos sauberen Bahnhof noch makelloser zu machen.

Draußen auf der Straße blieb Manny Littlejohn kurz stehen. Wenn er ging, tat er das rasch. Er hoffte nur, daß man nicht bemerkte, wie ihm der Atem dabei knapp wurde.

»Ich habe mich schlecht aufgeführt, Krancz. Sie hätten mich unterbrechen müssen.«

»Schlecht aufgeführt?« Ein unmöglicher Gedanke. »Ich glaube nicht, Sir.«

»Ich hasse Speichellecker. Ich weiß, daß ich mich schlecht aufgeführt habe, und Sie wissen es auch.«

Der Leibwächter verbeugte sich steif – eine europäische Geste, die man nach Belieben auslegen konnte. Manny Littlejohn deutete sie als formgerechte Entgegennahme einer Entschuldigung eines Arbeitgebers und setzte sich wieder in Bewegung, zufrieden und versöhnt mit sich selbst.

Sie schritten zwischen den schmalbrüstigen, eiskremfarbenen Häusern dahin, Krancz immer einen Schritt hinter seinem Arbeitgeber, immer auf dem Sprung. Touristen drängten sich auf den Gehsteigen, teils nackt, teils klugerweise ihre nicht ganz perfekten anatomischen Stellen mit hellen Sommerkleidern bedeckend. Drogenberauschte Gruppen saßen auf Türschwellen und sangen von blauen Bäumen, tanzenden Bergen und menschlichen Elefanten und Strömen, die bergaufwärts flossen. Ein Mann mit weißen Brüsten stand unter der Tür eines Maxi-Sex-Ladens. Es war ein friedlicher Nachmittag, heiter und warm. Und die Menge war so glücklich, daß sie nicht einmal drei bewaffnete Polizisten auspfiffen, die ein Paar daran erinnerte, daß vor kurzem das Gesetz in Kraft getreten war, das den Coitus auf öffentlichen Plätzen verbietet.

Manny Littlejohn marschierte energisch durch die buntgemischte Menge und verachtete sie mit gewohnter Höflichkeit.

Vor der Kneipe zu den Goldenen Brüsten (die Ketchup-Flaschen aus Plastik, die sich der Wirt hatte extra anfertigen lassen, wurden ihm schon in der ersten Woche nach Eröffnung des Schankbetriebes gestohlen) wurde Manny Littlejohn auf eine Bewegung in der Menge aufmerksam. Krancz wollte vorwärtsstürzen, doch Littlejohn winkte ihn zurück. Er sah jetzt deutlich, was vorging. Ein freundlicher Fischer in blauem Hemd und Blue Jeans bahnte sich einen Weg durch die Menge müßiger Touristen.

»Gründer! Was für eine Überraschung, Sie hier zu treffen, Sir!«

»Ja. Obwohl etwas verspätet, ist es immer noch ein erfreulicher Zufall.«

»Nun, Sir, wir sollten eigentlich – ich meine, wir wollten eigentlich bei der Regatta zuschauen und uns auf die Terrasse neben dem Bahnsteig stellen. Doch Merv dachte, wir hätten noch genug Zeit und könnten uns hier rasch einen Drink genehmigen.«

»Regatta?« Das letztemal war es eine Sammlung für Witwen ertrunkener Fischer gewesen. »Ich habe keine Regatta gesehen.«

Der Mann starrte auf die Zehen seiner schweren Fischerstiefel. »Es tut mir sehr leid, daß wir Sie nicht rechtzeitig abgeholt haben, Sir.«

»Einen Fehler macht jeder einmal, James.« Er hoffte, sich damit die Anhänglichkeit des Mannes einzuhandeln, so daß er in Zukunft mehr als seine bezahlte Pflicht tat … »Sie heißen doch James, nicht wahr?«

Das ganze Dorf wußte, wie stolz der Gründer auf sein Namens- und Personengedächtnis war. »Richtig, Sir«, sagte James, den seine Freunde unter dem Namen Maurice kannten.

»Und Ihr Freund Mervyn? Wo ist der abgeblieben?«

»Merv?« – er war so begierig, Auskunft zu geben – »Merv ist im Goldenen Pinsel und unterhält – äh trinkt sein Glas leer.«

Es war zu spät. Der Zungenschlag war geschehen. Unterhaltungen mit Fremden war streng verboten. Eine Unterhaltung war der erste Schritt zu einer Bekanntschaft, und eine Bekanntschaft war der erste Schritt zum Verrat. Dorfbewohner, die redeten – mit irgend jemand außerhalb der Dorfgemeinschaft – waren nicht mehr tragbar. Manny nickte seinem Leibwächter zu, und Krancz glitt durch die Menge wie ein Ultraschallbohrer. James blieb nichts anderes übrig, als stehenzubleiben. Durch die Gasse, die Krancz hinter sich gelassen hatte, konnte Manny Littlejohn die Theke sehen, die übereinandergetürmt synthetischen Schinkenbrötchen und Merv im blauen Überzieher. Er plauderte mit dem Mädchen hinter der Theke. Untragbar. Als Krancz die Kneipe betrat, sah Merv ihn im Spiegel hinter dem Tresen. Er konnte sich nicht einmal mehr umdrehen, als Krancz schoß. Er glitt zu Boden. Sein Glas rollte über die Metallisee-Kacheln. Das Mädchen beugte sich interessiert vor.

»Nur ein Beruhigungsschuß.« Krancz sagte das vage in den Raum hinein, falls jemand sich über die Störung beschweren wollte. Doch niemand wollte. Mann hatte so viel über Geschäfte zu reden, über Joints und Fixes und noch verschwiegenere Beschäftigungen. Krancz sammelte Mervs Körper vom Boden. Seine Leiche. Und warf sie über die Schulter.

»Hat er für seinen Drink bezahlt, Ma’am?«

»Nein, nein, ich glaube nicht, daß er das hat.« Das Mädchen hinter dem Tresen war entzückt über so viel Zuvorkommenheit. »Achtzehn Schilling fünf. Ja, genau achtzehn Schilling und fünf Pennies.«

Krancz bezahlte auf den Penny genau und trug Merv dann auf die Straße hinaus. Das Mädchen schob das Geld in ihre eigene, private Tasche.

»Sie sind Leibwächter und kein Hilfsarbeiter«, sagte Manny Littlejohn. »Geben Sie das an James weiter.«

Sie setzten ihren Weg durch die Straße fort.

Der Gründer ging jetzt langsamer, weil er beunruhigt war. Nicht durch den Tod des Mannes, sondern über seine eigene Empfindungslosigkeit dabei. In einer Welt, in der so viele Menschen starben, war es nötig, daß wenigstens einer an die Würde der Persönlichkeit glaubte und für die Unantastbarkeit menschlichen Lebens eintrat. Er fühlte sich kleiner als sonst, weil ihm das Gefühl der Tragik fehlte. Oder jedes Gefühl … Und die Leute hinter ihm, was dachten die wohl? An sich selbst natürlich, wie es diese Sorte Leute immer taten. Es war eine traurige, kranke Welt.

An der nächsten Ecke, wo die Straße steiler wurde und eine scharfe Biegung um die Fassade des alten Zollhauses herummachte, standen ein paar Polizisten beisammen und warteten darauf, daß etwas passierte. Der Leiter dieser Handvoll Polizisten trat Manny Littlejohn in den Weg und sagte: »Einer Ihrer Männer, Mr. Littlejohn? Hat ein bißchen zu viel gehascht, wie?«

»Gehascht?« Manny betrachtete den Polizeibeamten mißbilligend. »Meine Männer haschen nie. Das verstößt gegen die Bestimmungen in meinem Dorf. Dieser Mann ist tot. Er starb, genauer gesagt, er wurde in irgendeinem obskuren Café umgebracht. Das Café ist ein paar hundert Meter von hier entfernt. Auf der linken Straßenseite.«

»Sie sollen Ihren Spaß haben, Mr. Littlejohn.«

Der Beamte trat zu seinen Leuten zurück. Er hatte seine Pflicht getan. Noch deprimierter (oder doch wieder getröstet?) über die Tücke des Menschen im Verkehr mit Menschen, setzte der Gründer seinen Weg zum Kai fort.

Der Stadtkai war eine verwirrende, durcheinanderschwirrende Woge von Leuten, Booten und Minicars. Letztere wurden von der Stadtverwaltung unentgeltlich an Touristen ausgegeben, da die Straßenverkehrsordnung alle anderen Kraftwagen in Wohnbezirken verbot. Sie waren auf der Parkrampe abgestellt, die über dem Wasser errichtet worden war, damit der Kai selbst von Fahrzeugen freigehalten werden konnte. Dort tummelten sich die Touristen, die Eiskremverkäufer, die Hasch-Kola-Verkäufer, die Wurst-Verkäufer, die Kaugummi-Verkäufer, die Porno-Verkäufer und die Leute, die Karten für die Rundfahrt durch die Bucht ausgaben. Eine Lokalband spielte Free-Association-Music, das durch Verstärker über den ganzen Kai verbreitet wurde. Boot-Jets wühlten das gereinigte Wasser zu glitzernden, silber- und goldschimmernden Kaskaden auf.

Aha, dachte Manny Littlejohn, die Lemminge beim Spielen. Diese Vorstellung machte ihm Vergnügen.

»Gründer! Was für eine Überraschung, Sie hier zu sehen!« Jemand sollte mal das Drehbuch ein bißchen verbessern. »Wir sind gerade herübergefahren, um der Regatta zuzusehen.«

Zwei Männer standen jetzt neben ihm, bullige Fischer, hart und sehnig. Wie sie ihn in der Menge erspäht haben konnten, war Littlejohn schleierhaft. Offenbar verstanden sie etwas von ihrem Job, egal, wie gut oder schlecht das Drehbuch war.

»Ich sehe nichts von einer Regatta«, sagte Littlejohn.

»Sie hat noch nicht angefangen«, sagte der Mann zu seiner Rechten, der etwas schneller schaltete.

»Wir haben ein Boot dabei«, sagte der Mann zu seiner Linken, etwas langsamer schaltend, aber trotzdem noch schlau genug, um das Thema zu wechseln. »Wenn Sie gern ins Dorf hinüber möchten, meine ich, Sir.«

»Richtig, John. Ich dachte tatsächlich daran, das Dorf zu besuchen.« War das nicht John und sein Begleiter Mortimer? Natürlich waren das John und Mortimer. »Es trifft sich wirklich gut, daß ihr beide mit dem Boot hier seid.« Er blinzelte verschmitzt. »Hoffentlich verderbe ich euch nicht die Freude, bei der Regatta zuzusehen.«

Sie verneinten verlegen. Der Gründer empfand leise Scham. Diese Leute waren so leicht aus der Fassung zu bringen. Und außerdem war es sowieso kein guter Witz.

»Dann wollen wir mal.« Er hob die Hand. »Das ist noch ein kleines Problem mit eurem Freund Mervyn. Leider hat er sich als untragbar erwiesen. James wird es euch später noch erklären. Nehmt euch seiner an. Armer Kerl.«

James trug den Toten jetzt über der Schulter. Keiner von den dreien sprach. Sie tauschten nur Blicke aus, während sie den Toten ins Boot hinunterhoben.

Manny Littlejohn konnte die Blicke nicht ganz deuten. Er konnte mit den moralischen Skrupeln eines David Silberstein fertig werden, denn er teilte sie und wußte die Antworten darauf. Doch das Mitleid, daß die drei empfanden, wenn sie das Fleisch eines toten Kameraden berührten, die schlaffen Hände und den Kopf, der lose am Hals baumelte, den Fuß, der zwischen Kaimauer und Boot zerquetscht werden konnte, weil er nichts mehr bedeutete – gegen dieses Mitleid hatte er kaum Abwehrmittel. Er konnte weder rechtfertigen noch bitten. Vielleicht half ihm ein Sex-Witz. Er wartete, bis die Männer wieder aus dem Boot stiegen.

»Wenn ich ihn Mr. Silberstein gemeldet hätte«, sagte Littlejohn, »hätte er dem armen Kerl mindestens sechs Monate Dorfarrest gegeben. Sechs Monate Zwangsarbeit bei Bessie.«

(Bessie war eine sexhungrige Dame, die Krankenschwester des Dorfes, deren geschiedener Mann nach Nicaragua ausgewandert war. Sie war so impulsiv und leidenschaftlich, daß sie sich von ihrem Mann wegen chronischer Impotenz hatte scheiden lassen, nachdem sie ihm in der Hochzeitsnacht den Penis abgebissen hatte. Das war natürlich nur ein Gerücht, aber ein nicht ganz aus der Luft gegriffenes Gerücht, das ein gewisses Unbehagen im Dorf auslöste.)

Die Männer lachten. Sie konnten es nicht unterdrücken. Mervyn hatte sich jetzt in Bessie-Futter verwandelt. Er war zu einer lächerlichen Figur geworden. Die Unflätigkeit der Anspielung verdrängte alles andere. Die Männer lachten und steckten die Hände in die Hosentaschen, um sich zu bestätigen, daß sie noch heil und gesund waren. Die Krise – wenn es überhaupt eine gegeben hatte – war gebannt.

»Entschuldigung«, sagte Littlejohn, und sägte gleichsam den Ast ab, auf dem die Männer saßen, »das war kein sehr taktvoller Witz. Ich hätte so etwas nicht sagen dürfen.«

Sofort versanken die Männer vor Scham fast in der Bucht.

In diesem Augenblick, als Littlejohn gerade erfolgreich seine Arbeitnehmer auf die ihnen zukommende Größe zurückgeschraubt hatte, hörte er die Sirene eines näherkommenden gepanzerten Lieferwagens. Er war schon im Begriff, die Leiter zum Boot hinunterzusteigen, verharrte jetzt aber auf der obersten Sprosse. Er hoffte, es würde das sein, was er vermutete.

Die Wirkung der Sirene bestand vorwiegend darin, daß sie mit zunehmender Stärke den Hörer lähmte. Sie löste ein Gefühl aus, das jenseits der Grenze zur Hysterie lag, das die Sinne überwältigte. Als der gepanzerte Wagen auf den Platz fuhr, der sich an den Stadtkai anschloß, war die Menge bereits von den mißtönenden Lauten gebannt. Das Sonnenlicht zitterte, die Straßenoberfläche pulsierte wie ein Trommelfell, die Häuser schwankten, und die Menschen schwenkten lautlos die Arme. Littlejohn schloß die Augen. Das war tatsächlich ein überwältigender Lärm.

Und es war, was er sich erhofft hatte. Es war die Trompete des Reichtums. Manny Littlejohns Reichtum. Der Lieferwagen – er kannte ihn gut, hatte seinen Entwurf persönlich überwacht – lieferte die wöchentliche Portion an Reichtum, die das Forschungsdorf Penheniot zum Leben brauchte. Eine Portion, die sich nicht von der Steuer absetzen, nicht als Prestige erklären, nicht mal als Protzerei vor Freunden (Freunden?) verwenden ließ. Eine Portion, die sich nur mit privaten Begriffen rechtfertigen ließ, als Ausgabe für ein Privatvergnügen und vielleicht auch für eine leise, versteckte Hoffnung. Eine Portion, auf perverse Weise durch das Blöken eines Panzerwagens symbolisiert.

Als der Wagen auf dem Kai hielt, löste sich das schwarze Rettungsboot drüben von der Mündung des Penheniot Pill auf der gegenüberliegenden Seite des Hafens. Operation 4c des Handbuches, das die Sicherheit regelte, wenn der Gründer sich richtig erinnerte. Als die mit Stahlhelm und Masken versehenen Transportbegleiter den Wagen rückwärts an den Kairand manövriert und die Münzsaugleitung bereitgelegt hatten, lag das Boot bereits längsseits. Ein Sicherheitsagent des Dorfes nahm das bewegliche Mundstück der Münzsaugleitung und schloß es an der versiegelten Münzladeluke des Bootes an, während die anderen Männer Wache standen. Innerhalb von fünf Sekunden war die Saugleitung in Betrieb, und Münzen prasselten durch die Leitung. Innerhalb von neunzig Sekunden war der Geldaustausch beendet. Die stählerne Saugleitung wurde wieder pneumatisch im Panzerwagen verstaut, und das Boot entfernte sich rasch vom Stadtkai. Keine zwei Minuten hatte die Operation gedauert. Erst dann brach der lähmende Sirenenton ab.

Die Leute konnten sich wieder bewegen. Sie konnten auch ihrem Zorn wieder freien Lauf lassen. Während das schwarze Boot in der Mündung von Penheniot Pill verschwand, erhob sich drohendes Murmeln auf dem Kai. Als Littlejohn sich umdrehte, um zu sehen, was in seinem Rücken vorging – obwohl er es bereits ahnte –, drängte sich Krancz schon durch die Menge. Er hatte vorher eine Lauerstellung auf der Parkfläche über dem Kai eingenommen. Die Panzerwagenbesatzung saß bereits wieder im Führerhaus, und der Wagen setzte sich eben in Bewegung.

»In das Boot, Sir«, drängte Krancz, »es wird Ärger geben.«

»Ich sehe das selbst, Krancz. Aber ich …«

»Die können sehr gemein werden, Sir«, sagte der Mann, den er James nannte. »Es sind nicht die Einheimischen, Sir, denn die verdienen ja an dem Dorf. Es sind die Touristen. Sie …«

In diesem Moment schaltete der Fahrer wieder die Sirene ein. Ein Fehler, weil sich eine Menge, die sich bereits in Bewegung gesetzt hat, nicht ein zweitesmal auf die gleiche Weise fangen läßt. Im Gegenteil, diesmal hatte der Lärm die entgegengesetzte Wirkung. Er lähmte nicht, er brachte zur Raserei.

Manny Littlejohn wollte dableiben und zusehen. Alles konnte jetzt passieren. In einem von David Silbersteins Berichten (der dazu geführt hatte, daß man die Aufbauten der Lieferwagen elektrisch auflud) stand, daß die Menge einmal einen Panzerwagen zum Rand des Kais getragen und ins Wasser geworfen hatte. Alles konnte jetzt passieren. Er wollte das miterleben.

Doch Krancz zog ihn am Ärmel, und drei Sicherheitsagenten drängten ihn zur Leiter. Er war ein alter Mann. Er konnte nicht mehr Massen mit der Kraft seiner Persönlichkeit besänftigen. Außerdem waren in jüngster Zeit zu viele vielversprechende Helden, Alte und Junge, bei diesem Versuch umgekommen. Ein einfacher Mob konnte durch eine laute Stimme, durch eine Hysterie, die größer war als die der Menge, umgedreht werden. Doch ein Mob im Drogenrausch kannte keine Schranken. Er brüllte am lautesten, war am hysterischsten. Deshalb drehte sich Manny Littlejohn auch gehorsam und weise um und kletterte die Leiter hinunter in das wartende Boot.

Seine Abreise war keineswegs verfrüht. Ein apathischer Budenbesitzer, der sich an einen Poller lehnte, wartete, bis der alte Mann und seine Begleiter weit genug entfernt waren, und brachte dann den Mut auf, ihnen nachzuspucken. Seine Tat wurde von einem Mitglied des Mobs beobachtet, der ihn schon wegen seiner Untätigkeit ins Wasser werfen wollte. Die Sprache des Spuckens ist universal. Erklärungen waren dabei nicht nötig und wegen der blökenden Sirene auch unmöglich. Innerhalb weniger Sekunden war der Kairand eine zornige Menschenmauer, die alles, was sie in die Hand bekam, dem rasch davongleitenden Boot von Manny Littlejohn hinterherwarf.

Der Panzerwagen war inzwischen von einem Rudel Minicars am Rückzug gehindert worden. Das Fenster des Fahrerhauses bekam Risse und Sprünge unter dem anhaltenden Trommelfeuer von Ziegelsteinen und Hitzeschaum. Als Antwort versprühte der Fahrer Juckgasspray.

Die Menge zog sich einen Augenblick zurück. Ihr Heulen wurde immer noch von dem Blöken der Sirene übertönt. Sie kratzten sich an allen Stellen, wo sich auf ihrer Haut (harmlose) Blasen bildeten.

Doch die Erfahrenen unter ihnen (die immer Medikamente für solche Fälle bei sich hatten), die Elite, der eigentliche Mob, umkreiste vorsichtig den Panzerwagen. Die Besatzung im Fahrerhaus wartete ab, hoffte, daß die Fenster durchhalten und der Hitzeschaum, der jetzt das ganze Dach bedeckte, sie nicht lebendig rösten würde, bis der Mob das Interesse an ihnen verlor und sich zerstreute. Denn wenn sie das Führerhaus verließen, würden sie in der momentanen Phase der Entwicklung entweder getötet oder sexuell verstümmelt.

Der Hitzeschaum fraß die Reifen auf, bis der Wagen mit den Bremstrommeln aufsaß. Die Aufbauten erdeten sich selbst, und die elektrische Ladung schloß mit einem kleinen Blitz kurz. Als der Mob das sah, stürmten die Männer und Frauen sogleich den Wagen, rutschten auf den soße- und fetttriefenden Panzerplatten aus. Jemand fand die Öffnung für die Sirene, und das Blöken verstummte. Die Menge jubelte. Ein paar aktive Teilnehmer, die die Warnung vergessen hatten, kein Wasser auf die (harmlosen) Juckblasen aufzutragen, starben jetzt an den gewaltsamen chemischen Reaktionen. Die Menge jubelte immer lauter. Jemand stellte aus einer menschlichen Regung heraus wieder die Musik an. Die Menge auf dem Panzerwagen verlor das Interesse an der Belagerung. Das Verstummen der Sirene war immerhin ein Sieg. Ein paar von ihnen begannen zu tanzen, rutschten auf der Eiskrem aus und fielen auf den Hintern. Sie richteten sich auf und schüttelten sich, von sich selbst angewidert. Die letzte Pose, der krönende Abschluß, bildete ein junger nackter Mann mit roten Haaren, der auf die Motorhaube sprang, die Beine spreizte und einen goldenen Strahl gegen die Scheibe und die Männer dahinter richtete. Als seine Blase leer war, begleitete der Jubel der Menge die letzten Tropfen, die er von seinem Dingsda schüttelte.

Doch für die Männer im Fahrerhaus war das eine verschwendete Geste. Der Fahrer hinter dem Panzerglas war bereits tot, die anderen bereits von der Hitze und dem Hitzschlag zu sehr mitgenommen, als daß ihnen das bißchen Urin noch etwas ausgemacht hätte.

Erst jetzt schwärmten die Polizisten aus, in Gasmasken, Schutzkleidung, mit Schilden, Schlagstöcken und Betäubungsgewehren bewaffnet. Während sie sich eine Gasse durch die erschöpfte Menge hieben, kam vom Panzerwagen keine Reaktion mehr. Offenbar waren die Flanken des Wagens so heiß, daß man sie selbst mit Schutzhandschuhen nicht mehr anfassen konnte. Einer der Beamten räumte mit dem Knüppel den Hitzeschaum vom Dach, ein anderer bellte Befehle gegen die Schutzscheibe, ohne daß die Türen vom Fahrerhaus geöffnet wurden, die sich offensichtlich nicht von außen öffnen ließen. Nach einer kurzen Besinnungspause ließ der mit Befehlsgewalt bekleidete Beamte einen Abschleppwagen holen, um den Panzerwagen zum Revier zu bringen, wo man stahlbrechende Geräte und eine Leichenkammer zur Verfügung hatte.

Das letzte, was Manny Littlejohn von seinem Panzerwagen sah, waren die Bremstrommeln, die über das Pflaster holperten, während das Führerhaus am Haken des Abschleppwagens baumelte. Die Lage der drei Männer im Führerhaus konnte man sich leicht ausdenken. Mit heraushängenden Zungen und geplatzter Gesichtshaut hüpften sie einträchtig nebeneinander auf dem Sitzpolster, bis ein besonders kräftiger Stoß sie auf den Boden beförderte, zwischen Bremshebel und Kisten mit Geräten zum Schutz der Ladung. Die Menge sah jetzt gelangweilt dem Abgang zu, nur hier und da noch ein wenig von einem Gummiknüppel aufgescheucht, worauf sie »We shall overcome« sang.

Das schwarze Boot nahm inzwischen wieder Fahrt auf, nachdem Manny Littlejohn James den entsprechenden Befehl gegeben hatte. Es rauschte an der Hauptwasserreinigungsanlage vorbei und in das ruhige, von Sonnenflecken übersäte Wasser von Penheniot Pill hinein. Der Gesang wurde schwächer und verlor sich, bis man nur noch das leise Summen des Motors und das Gurgeln des Wassers hören konnte. Das Laub in den Eichen raschelte leise. Manny Littlejohn ließ sich auf dem Vorderdeck nieder, schloß die Augen und atmete die Luft tief ein. Das Leben war schön.

 

Von Mortimers Armbandsender und dem Fernsehspion an der Mündung des Flusses rechtzeitig gewarnt, war Penheniot Village auf die Ankunft des Gründers gut vorbereitet. Als das Boot um die letzte Biegung kam, sah Manny Littlejohn ein paar Leute, die auf dem Dorfkai herumlungerten, zufällig in seine Richtung blickten, sich gegenseitig vor Überraschung auf die Schultern schlugen und dann zum nächstbesten Telefonapparat eilten. Innerhalb verblüffend kurzer Zeit, ehe Littlejohns Boot längsseits kam, hatten sich Dorfbewohner spontan versammelt und ergossen sich aufgeregt aus den Bauernhäusern, den Werkstätten und den getarnten Fabrikgebäuden. Und genau in diesem Moment, als das Boot festmachte, marschierten die Chrononauten aus ihrer Unterkunft, ohne auf das allgemeine Durcheinander zu achten, und begannen ihre Routineturnübung (sehr sehenswert) auf dem Dorfrasen. Selbstverständlich war dieser Platz vom Dorfkai aus sehr gut zu sehen. Das saftige grüne Gras, die gebräunten Gestalten der Athleten, der graue cornische Stein der Häuser, von der Sonne wie mit Goldstaub überzogen – ein entzückendes Bild. Manny Littlejohn war besonders dafür empfänglich, da er noch zu einer Generation gehörte, die bei dem doch so gewohnten Anblick von Brüsten, Bäuchen und Schamgürteln (die im Verlauf der Turnübungen heftig bewegt wurden) immer noch wollüstige Freude empfinden konnte. Er stand wie entrückt und genoß die Beine, die sich grätschten und spreizten, die tanzenden Brüste, die glänzenden Bäuche. (Am meisten freute er sich vielleicht über die Kraft seiner Erektion. Im Alter von 87 Jahren war das immerhin keine kleine Leistung.)

David Silberstein schob sich durch die freudig erregte Menge.

»Gründer! Willkommen – willkommen in Penheniot. Wenn wir nur gewußt hätten, daß Sie kommen, dann hätten wir …«

Doch der Gründer hörte gar nicht zu.

»Ich begrüße das Turnen im Freien«, sagte er. »Es wäre ein Jammer, wenn so – äh – gutgebaute junge Leute im Klassenzimmer einrosten würden. Ich werde ihnen das selbst sagen. Sagen Sie ihnen, daß ich froh bin, daß sie ihre Körper nicht vernachlässigen.«

Er trat auf den Weg, der zum Kai führte, Krancz einen Schritt hinter ihm. Erst jetzt erinnerte er sich wieder an Mervyn, der immer noch wenig graziös im Heck des Bootes lag. Er drehte sich mit Würde um und wollte eine Erklärung dazu abgeben. Doch James war bereits wieder im Rückwärtsgang ins tiefere Wasser gefahren und steuerte jetzt in Richtung Polizeistrand, Manny Littlejohn war glücklich darüber. Diese Sicherheitsleute hatten ihren eigenen Stolz.

Neben dem Dorfrasen blieb Littlejohn stehen, da er dieses hübsche Schauspiel nicht unterbrechen wollte. Es war heiß heute. Freunde drängten sich um ihn, Angestellte, seine Freunde … Sie waren in Festtagsstimmung, eiferten und buhlten um seine Aufmerksamkeit. Mrs. Kops in Plüschpantoffeln, ihr Stab mit Stricknadeln und Händen, die an Teetassen erinnerten. Daniel, anonym in seiner Nacktheit, wenn er nicht das Brett mit den Merkzetteln unter den Arm geklemmt hätte. Sir Edwin, der Ausbildungsleiter, trotz seiner Nacktheit unverkennbar in seiner Würde. Der Dorfarzt mit der Hornbrille. Sergeant Cole mit blauem Helm, an sein Fahrrad gelehnt, die Pfeife an der Signalschnur um den Hals. Joseph mit seinen mehlbestäubten Haaren … alle diese und Dutzende mehr näherten sich jetzt auf dem Umweg über David Silberstein, um Audienz zu erhalten. Auch Kinder waren gekommen, warfen einen respektvollen Blick auf ihn, bekamen vielleicht ein Tätscheln auf die Wange.

Am Rande der Menge, mitgezogen von der allgemeinen Bewegung, die vom Kai zurückbrandete, stand Roses Varco, einen Grashalm im Mund, lächelnd, ohne zu begreifen. Er war ein Mensch, der niemand etwas nachtrug, obwohl das Boot seine Fische bestimmt für ein paar Stunden vertrieben hatte. Er wußte, daß diesen tumultartigen Bewegungen meistens ein Auftritt der Dorfkapelle folgte. Vor allen anderen menschlichen Werken schätzte Roses Varco besonders das Glitzern und Geschmetter der Dorfkapelle.

Nachdem die Chrononauten ihre Freiübungen beendet hatten, führte ihr Trainer sie hinüber zum Gründer, um sie einzeln vorzustellen. Er drückte jedem die Hand, blickte hinauf in ihre hoffnungsvollen, begeisterten Gesichter. Sie bestärkten seine eigene Hoffnung. Sein Herz schmerzte vor Verlangen nach ihrer unerreichbaren, unveräußerlichen Schönheit. Sie eilten von dannen zu ihren Studien, um keine Zeit zu versäumen. Sie waren großartig. Und Krancz bewegte sich hin und her, immer wachsam und auf dem Sprung.

Professor Krawschensky war einer der letzten, der zur Begrüßung eintraf. Vielleicht hatte er den Zufall zu ernst genommen, oder vielleicht war seine Zerstreutheit (wahrscheinlicher) daran schuld. Als er, gefolgt von Liza Simmons, die Stufen vom Labor herunterkam, wurde gerade der Maibaum (23. Juli!) in der Mitte der Dorfwiese aufgerichtet, und die Kapelle stimmte ihre Instrumente. Joseph war in seine Backstube zurückgeeilt. Das Dorf war mit bunten Bändern und Girlanden geschmückt. Der Tanz würde bald beginnen. Gegen Abend würde man dem Gründer die Wahl der Mädchen überlassen; doch er würde vorsichtig, um ihr Zartgefühl nicht zu verletzen, ablehnen, weil er ein Gentleman war (und 87 Jahre alt). Inzwischen bellten die Dorfhunde, die Raben stiegen aus den hohen Bäumen in den Himmel, und Mrs. Kops fand reißend Absatz für ihre Eiskrem, die sie in einem kleinen Eiswagen am Rand der Wiese entlangschob.

In diese Idylle platzten Professor Krawschensky und Liza hinein. Zwei böse Figuren. Die Dorfbewohner ließen die beiden durch, weder respektvoll noch schadenfroh, sondern aus einem bestimmten Gefühl der Furcht. Der Professor knetete die Hände, suchte Manny Littlejohn und trippelte dann vorwärts.

»Emmanuel!«

»Igor!«

»Emmanuel – wie lange habe ich dich schon nicht mehr gesehen!«

»Viel zu lange nicht mehr, Igor. Dumme, belanglose Kleinigkeiten haben mich viel zu lange ferngehalten!«

Sie hielten sich umschlungen. Zwei alte Männer, von jähen, ungewohnten Gefühlen überwältigt.

»Du bist schmal geworden, Emmanuel. Wer sorgt denn für dich?«

»Eine alte Vogelscheuche, Igor. Nicht wie bei dir – keine Frau, die mich füttert. Was ist ein Mann ohne Frau?«

»Und warum ist das so? Du solltest heiraten, Emmanuel. Heirate wie ich. Wer würde sagen, daß es dafür zu spät ist?«

»Nicht zu spät? Mit siebenundachtzig Jahren? Welche Frau würde mich noch nehmen?«

»Sie würde dein Geld bekommen, Emmanuel.«

Der Professor hatte leise gesprochen. Es waren Worte, die aus einem anderen Munde unmöglich gewesen wären … Worte, die man der Liebe zuschreiben mußte, die die beiden vielleicht verband. Sie schwiegen einen Moment, betroffen von der Wahrheit des eben Gesagten. Von einer bestimmten Altersgrenze ab (86?) konnte ein Mensch ungeniert kaufen. Die Dinge wurden von da ab einfacher … Die beiden Männer drückten sich gegenseitig die Oberarme und blickten sich über die Schulter. Doch diese intime Geste war nicht ganz echt. Sie war eine Imitation ihrer Väter, eine Erinnerung an ein vertrautes Bild ihrer Jugend, das sie nachspielten, da sie jetzt im »gleichen« Alter waren. Selbst der Tonfall war genau kopiert und die feuchten Augen. Diese Entrückung in die Erinnerung ließ sie sogar einen Moment vergessen, worüber sie eben gesprochen hatten.

»Igor … Igor, was macht deine Arbeit?«

»Großartige Fortschritte. Großartige … du mußt dich selbst davon überzeugen.«

»Sofort, sofort. Wir wollen sofort ins Laboratorium gehen.«

»Und die anderen?«

Professor Krawschensky beschrieb einen Kreis mit der Hand, der den Maibaum, die freudig erregten Dorfbewohner, die Instrumente der Kapelle einschloß. Manny Littlejohn kehrte in die Gegenwart zurück, straffte den Rücken, verdrängte seine Vorfahren, sprach zu dem Projektleiter, David Silberstein, der zu jung war, um die Szene zu begreifen.

»Ich gehe jetzt in das Laboratorium. Ich werde nicht lange abwesend sein. Lassen Sie die guten Leute gewähren … Und ich bin beeindruckt, Projektleiter. Sie leisten gute Arbeit.«

David Silberstein blickte bescheiden zu Boden, die Finger übereinandergelegt, ein Kreuz bildend als Omen gegen dieses viel zu verfrühte Lob. Seine Gedanken huschten ängstlich voraus zu dem Experiment. Aber Professor Krawschensky wußte ja, was er machen sollte – ein todsicheres Experiment mit Blei. Die strahlende Laune des Gründers sollte demnach aller Wahrscheinlichkeit nach ungetrübt bleiben.

Manny Littlejohn widmete sich jetzt wieder dem alten Professor. Er versuchte, ihm verwandtschaftlich gesinnt den Arm um die Schultern zu legen. Doch es klappte nicht mehr, die Illusion war verflogen, und er zog den Arm zurück. Sie schritten jetzt nebeneinander durch die Menge, die sich vor ihnen teilte – Meister und Diener fast –, durch die Fore Street und durch ein kleines Gatter, das den Weg zum Labor freigab. Liza Simmons folgte den beiden. Wenn der Gründer abwesend war, dachte sie nicht an das bedrückende Gewicht seiner Gegenwart und die schrecklichen Folgen seiner Unzufriedenheit. Sie wußte jetzt, da es zu spät war, daß sie David Silbersteins Auftrag an den Professor hätte weitergeben sollen. Wäre nur David nicht gewesen, der ihr seine Überlegenheit hatte zeigen wollen. Langsam kletterte sie die Stufen zum Labor hinauf. Sie hoffte das Beste und befürchtete das Schlimmste.

Vom Rand der Menge aus beobachtete Roses Varco die kleine Gruppe. Er wußte, wer der Gründer war, doch empfand er weder Ehrfurcht noch Dankbarkeit. In ihm waren diese Gefühle für andere, kosmische Erscheinungen reserviert: für Stürme, Sonnenuntergänge, warme Füße, das Meer, eine Spinne in seiner hohlen Hand. Er hockte sich dort nieder, wo er gerade stand, und kraulte die Ohren eines Dorfköters, der gleich ihm von der Menge verwirrt war. Er wartete auf den Einsatz der Dorfkapelle. Der Köter ebenfalls. Er hatte ein geflecktes Fell und sollte bald auf eine Reise gehen.

Krancz hatte am Fuß der Treppe Posten bezogen. Das Sonnenlicht flutete durch das große Atelierfenster in das Laboratorium hinein. Der Gründer sah sich forschend um, sah überall nur das Beste vom Besten, das sein Geld kaufen konnte. Auf der Startbühne stand ein Stuhl aus Ulmenholz. Das war so sehr tote Materie für ihn, so wenig das, was er in die Zukunft schicken wollte, daß er sich vor Furcht fast schüttelte. Und deshalb wurde er zornig. »Ein Rückzug, Igor?«

»Rückzug? Ich verstehe nicht ganz.«

»Experimente mit toter Materie. Die hast du doch schon vor Monaten abgeschlossen.« Drängend, ihm seinen Willen aufzwingend: »Das hast du doch, nicht wahr?«

Liza, die jetzt auf der Schwelle des Labors stand, begriff nicht ganz. Wenn das Experiment mit dem Stuhl – das inzwischen mit Hilfe des Filters gelungen war – erfolgreich wiederholt werden konnte, mußte der Gründer vollauf zufrieden sein. Selbst das war schon ein Risiko, das sie gar nicht gern an des Professors Stelle übernommen hätte. Doch der Professor schien gebannt von dem durchbohrenden Blick des Versuchers.

»Rückzug? Rückschritt … ja, in gewisser Hinsicht könntest du das so nennen, Emmanuel. Man muß manchmal« – entschuldigend, gleichzeitig bittend, daß man ihn zu einem Entschluß drängte, den er allein zu fassen nicht gewagt hätte – »man muß manchmal die Grundlagen noch einmal überprüfen, verstehst du?«

»Nur, wenn die Mauern schief sind, Professor.«

Nicht mehr länger Igor. Krawschensky blinzelte, begreifend, was in seinem Busenfreund vorgegangen war. Er schwankte zwischen verzweifelter Tollkühnheit und unentschuldbarer Feigheit.

»Wir Wissenschaftler sind vorsichtige Leute, Gründer.« Er faßte wieder Mut – oder war es Angst? »Entdecken und bestätigen. Entdecken und bestätigen … Das ist die Methode des Wissenschaftlers.«

»Hören Sie, Professor«, Manny lächelte, ein schrecklich wohlwollendes Lächeln, »einen Augenblick lang war ich in ernster Sorge. Es sah so aus, als würden Sie sich immer noch mit toter Materie befassen. Doch zwei Jahre Experimente mit toter Materie ist einfach zu lächerlich. Für einen Mann mit so brillanten Fähigkeiten.«

»Natürlich, Gründer. Zu lächerlich.«

Der Professor befreite sich aus seiner Erstarrung. Sein Blick wanderte durch die offene Labortür hinaus auf die Dorfwiese, wo die Menge in unbehaglicher Feststimmung verharrte. Man zwang ihn zu einem moralischen Kraftakt. Liza versuchte, ihn davor zu retten.

»Der Generator ist nicht in Ordnung, Professor. Die Reparatur kann Stunden dauern.«

»Nicht in Ordnung, Kind? Was ist daran nicht in Ordnung?« Sie kam zu spät. Der Kraftakt war nicht mehr aufzuhalten. Er wußte jetzt, daß es Momente gab, in denen man einen kühnen Schritt wagen mußte. Etwas, das außerhalb der mühsamen Routine stand, etwas, das den genialen Mann von dem bloß gewissenhaften Arbeiter unterschied. »Sie müssen sich irren, Kind. Ich habe keinen Fehler entdecken können. Wir können ein neues Experiment veranstalten, ein Experiment mit lebender Materie. Es wird nur ein paar Minuten Vorbereitung brauchen.«

»Ich bin erfreut, das zu hören«, sagte Manny Littlejohn.

Er setzte sich mit berechneter Würde, lächelte in die Runde, seinen Charme ausübend, um seine Ritterlichkeit zu beweisen.

»Was die Versuchsperson betrifft, Igor, verbiete ich dir ausdrücklich, deine schöne Assistentin dazu zu verwenden. Ihre Jugend ist so strahlend und warm wie die Sonne selbst. Ich weigere mich, auch nur eine Sekunde lang die Gesellschaft der bezaubernden Miß … Simpson zu entbehren.«

»Simmons«, sagte Liza, ihre Kälte ein Seitenhieb auf den aufgescheuchten (eingeschüchterten?) Professor. »Mein Name ist Simmons.«

»Simmons … Simmons …« Er lauschte dem Klang des Namens, seine Schönheit genießend. Überraschenderweise entging ihm der Unterton ihrer Antwort. »Es tut mir so leid, Miß Simmons. Sie konnten mit Recht erwarten, daß ich mir wenigstens Ihren Namen richtig merkte.«

Sie plapperten. Sie hätten noch eine ganze Weile so weitergemacht, wenn der Professor durch die offene Tür nicht etwas gesehen hätte, was seinen Entschluß besiegelte. Die Würfel waren gefallen. Würfel, die dem Dorfköter auf der Wiese neben Roses Varco zufielen. Pech für den Köter.

Professor Krawschensky stand bereits auf dem Balkon und rief Roses zu, er sollte ihm den Hund bringen. Es dauerte eine Weile, bis Roses auf ihn hörte, ihn verstand und reagierte. Dann beschleunigten sich die Ereignisse. Der Köter mit dem gefleckten Fell wurde in einem Gestell festgebunden, gewogen und dann auf die Bühne gestellt. Die spezifischen Kräfte wurden berechnet und das Molekularspektrum erstellt. Liza Simmons, die eigentlich ihre Hände in Unschuld waschen wollte, arbeitete so angestrengt wie der Professor, teils aus Loyalität, teils von dem Gedanken angetrieben (der ihr eben gekommen war), daß es Zeiten gab, wo ein kühner Schritt notwendig war, etwas Außergewöhnliches, was den genialen Mann (oder Frau) von dem bloß gewissenhaften Arbeiter unterschied … Die Filterzusammensetzung wurde vom Computer überprüft, ein beruhigender Sicherheitsfaktor eingebaut. Es schadete nicht, wenn man vorsichtig blieb, obgleich eigentlich nichts schiefgehen sollte, wenn das Experiment mit dem Stuhl bereits gelungen war. Beide bestanden aus organischem Material, Stuhl wie Hund. Nun, es gab dabei allerdings einen Unterschied … Die Brennweiten der Beschleuniger wurden neu berechnet. Auch die Werte der Pulsfrequenzen. Und Roses Varco, der auf dem Umweg über den Dorfköter in das Experiment einbezogen war, ob ihm das bewußt wurde oder nicht, blieb im Flur stehen, fasziniert von dem fieberhaften Durcheinander.

Die Uhr schlug siebzehn und zwei Fürze. Roses kicherte. Seit dieses Forschungszentrum bestand, hatte sich seine Diät so verbessert, daß sein Talent erschreckend nachgelassen hatte. Die andern waren viel zu beschäftigt, um auf die Uhr zu achten. Der gefleckte Köter begann zu winseln und die Lederriemen zu benagen, die ihn in seinem (bequemen) Gestell festhielten. Es war Roses’ erster Ausflug in das Labor, und da war etwas, das ihn unbewußt anzog. Etwas, das in seiner Erinnerung irgendeine längst verrostete Klingel auslöste. Ja, der Geruch war es, der daran schuld war. Ein Geruch der ihn erinnerte an … an ein heißes Radiogerät, Aspirintabletten, an die Reibeflächen von Streichholzschachteln und etwas, das vielleicht Rizinusöl sein konnte.

Hinter ihm fing die Dorfkapelle zu spielen an. Sie begann mit »Land of Hope and Glory« und setzte ihren Vortrag mit »Ho-ro, My Nut-Brown Maiden« fort. Immer noch verharrte Roses im Flur. Der eigenartige Geruch ließ ihn nicht los. Eigentlich ein Zeitverlust, denn er erinnerte ihn an etwas, das er eigentlich vergessen wollte.

Professor Krawschensky verteilte Wattebäusche (nicht an Roses, denn der war nicht eigentlich im Labor) und begann mit den vorgeschriebenen Handgriffen der Startphase. Der nun folgende Lärm trieb Roses auf den Balkon hinaus, wo er immer noch den Geruch wahrnehmen und gleichzeitig die Dorfkapelle hören konnte. Liza schloß die Augen – es waren Pannen möglich, die sie lieber nicht mit ansehen wollte. Im richtigen Moment hörte das singende Geräusch der Beschleuniger auf. Der gefleckte Köter, immer noch an seinen Riemen nagend, flimmerte und verschwand mit einem lauten Knall. Der Start hatte tadellos funktioniert. Im Labor herrschte dankbare Stille. Dann …

»Igor … Igor, du bist ein Genie!«

Manny Littlejohn hatte seine Wattebäusche wieder entfernt, stand bereits, noch zitternd von dem Erlebnis dieses Wunders. Er hatte die Sache beschleunigt, ohne sich einen Erfolg davon zu versprechen. Einen Fehlschlag hatte er eingerechnet. Er hätte ihn verwerten können. Als eine Garotte, die er auf seine höfliche, unnachahmliche Weise ausgenützt hätte. Aber jetzt …

»Was soll ich sonst noch dazu sagen, Igor? Du bist ein Genie.« Das geistesabwesende Furzen von Roses, der draußen auf dem Balkon der Dorfkapelle zuhörte, wurde im Labor nicht bemerkt. »Dies ist ein Tag, von dem ich schon seit langem träumte. Ja, um den ich gebetet habe. Du hättest mir Bescheid sagen sollen, Igor!«

Professor Krawschensky verharrte in weisem Schweigen. Seine persönliche Würde – und die Gegenwart von Liza Simmons, die die Wahrheit kannte – machte jede Verstellung unmöglich. Eine technische Erläuterung half vielleicht, auf jede Eventualität vorzubereiten.

»Der Hund soll ungefähr drei Minuten im Zustand der Harmonie mit dem Zeitfluß bleiben«, sagte er und lehnte sich vorsichtig gegen den Computer. »Doch das läßt sich nicht exakt kontrollieren. Sobald man sich im Zustand der chronomischen Einheit befindet, gibt es kein Altern mehr. Selbstverständlich haben die Chronoküle keine abnützende Wirkung. Somit finden auch keine chemischen Veränderungen statt, denn sie sind die Folge eines chronokularen Drucks. Die einzig mögliche Zeitkontrolle geschieht auf elektro-chronomische Weise. Denn ich habe interessanterweise festgestellt, daß die Elektrizität sowohl innerhalb wie auch außerhalb des Chronos existiert. Sie ist zwar nicht die zuverlässigste Kraft, leider, aber wir tun, was wir können …«

Liza sah, daß der Gründer sich über sein Unvermögen, die Erläuterungen zu verstehen, ärgerte, und sagte rasch: »Was der Professor damit sagen will, ist, daß der Hund ein bißchen früher oder ein bißchen später, als vorausgesagt, in diese Dimension zurückkehren kann. Es ist sehr schwer, den Wiedereintritt exakt zu bestimmen.«

Sie hielt es nicht für notwendig, zu erwähnen, daß eine Reihe von Artefakten vollkommen verschwunden waren. Oder das andere wieder stark verändert aufgetaucht waren … Roses Varco spähte durch die offene Tür.

»Sie … Sie, was haben Sie mit dem kleinen, gescheckten Hund gemacht?«

Die beiden Männer ignorierten Roses. Er gehörte zum Hintergrund, zur Kulisse. Liza meinte, daß Roses eine Antwort verdiente.

»Er wird in ein paar Minuten wieder hier sein, Roses. Du mußt dir deswegen keine Sorgen machen.«

»Was ich wissen will – was habt ihr mit ihm gemacht?«

»Was«, sagte der Gründer, das Kommando mit einer Schärfe übernehmend, die bei Roses vollkommen verschwendet war, »was haben Sie hier zu suchen?«

»Suchen?«

»Haben Sie irgendeinen Job in diesem Labor übernommen?«

»Ich? Ich habe keinen Job.«

»Aha.«

Unbeeindruckt, obwohl ein größerer oder geringerer Mann als er vor Ehrfurcht erstarrt wäre, rückte Roses noch ein paar Schritte vor. »Alles, was ich wissen will, ist, was Sie mit dem kleinen gesprenkelten Hund angefangen haben!«

David Silberstein erschien jetzt auf dem Balkon, eine Explosion im richtigen Moment verhindernd. Er trat lächelnd in das Labor in Erwartung eines kleinen, todsicheren Experimentes mit Blei. Unten auf dem Dorfrasen stimmte die Kapelle gerade den Blumentanz an:

Trompete, Posaune, Trommel, bum-bum

Waldhorn und Harmonium …

»Wie steht es hier bei Ihnen?« fragte David Silberstein den Professor.

»Gut«, sagte Manny Littlejohn, »sehr gut. Sie sind so schrecklich britisch, P. L. Sie haben mich überhaupt nicht darauf vorbereitet, daß mich hier ein Wunder erwartet.«

David lächelte geschmeichelt. Er sah zwar keinen Anlaß für so überschwengliche Worte; aber ihm konnte es recht sein. Wenn der Gründer lächelte, lächelte die ganze Welt.

»Ich bin froh, daß Sie so zufrieden sind, Gründer. Vielleicht sind wir hier im Dorf ein bißchen verwöhnt von den Errungenschaften des Professors. Schließlich steckt eine enorme Arbeit in diesem Projekt, selbst wenn ein strukturell so einfacher Gegenstand wie …«

Diesmal rettete Roses’ Hartnäckigkeit den Projektleiter vor einer Panne.

»Was ich wissen will«, forderte er, »ist, was ihr mit dem kleinen gescheckten Hund gemacht habt!«

Und genau in diesem Moment, als sich häufende Mißverständnisse, Ärger und Spannungen sich wie ein Gewitter über dem Kopf eines Anwesenden zu entladen drohten, bekam Roses seine Antwort.

Mit lautem Knall und heftigem Luftdruck, fast eine Minute früher, als die Computeruhr die Rückkehr des Hundes ankündigte (und eine Dreiviertelstunde nach der Abfahrt des letzten Zuges von Melbourne nach Mumblejug) war die Bühne wieder besetzt.

Der Lärm der Explosion verhallte rasch in dem schalldichten Raum. Man rückte näher an die Bühne heran, fasziniert, noch nicht bereit zu glauben, was man sah, noch unentschlossen, ob es etwas Schreckliches war oder nicht. Ein zweiter Blick genügte, um jeden (nur vielleicht Roses noch nicht) zu überzeugen. Entsetzlich.

»Was ist das?« krächzte David Silberstein.

Das war eine verständliche Frage. Auf der Startbühne stand ein kleines hölzernes Gestell, wie man es gebraucht, um Tiere für Experimentierzwecke festzubinden. Zwischen den Beinen des Gestells, offenbar aus den Riemen herausgerutscht, die es festhalten sollten, lag ein sonderbar geflecktes Fell. Es ähnelte irgendwie einem Bettvorleger mit vier plattgewalzten Beinen. Seltsam bisher, aber nicht schrecklich. Es wurde erst zu einem Alptraum, wenn man die Augen in dem Bettvorleger sah und begriff, daß der Bettvorleger lebte.

»Jammerschade«, sagte Professor Krawschensky, »die Knochenstruktur scheint den Wiedereintritt nicht überlebt zu haben. Die Probleme sind so komplex, wissen Sie …«

Dann gingen ihm die Worte aus. Wenn man seine Phantasie anstrengte, war dieser Bettvorleger wiederzuerkennen. Selbstverständlich würden bei einem Hundekopf, dem die Schädelknochen fehlten, die Trommelfelle nach außen gedrückt, da das freischwebende Gehirn darauf lastete. Erklärlich war auch das wirre Durcheinander der Zähne im knochenlosen Kiefer. Und die braune Lache unter dem Vorleger, die immer größer wurde, weil Eingeweide und Blase ihren Inhalt nicht halten konnten. Auch die absolute Reglosigkeit war verständlich, trotz des Lebens, das noch in den Augen war – ohne Knochen als Stütze war auch die kleinste Muskelkontraktion eine schreckliche Qual …

Trompete, Posaune, Trommel, bum-bum

Waldhorn und Harmonium …

Liza trat zur Seite, obwohl sie wußte, was hier getan werden mußte – sofort, bitte, bitte, sofort –, und es doch nicht fertigbrachte. David Silberstein rückte noch näher heran, als wäre er Zeuge bei einem Autounfall, aber entlastet durch das noch nachwirkende Mißverständnis (hatte wirklich jemand vor ein paar Sekunden noch von einem Hund gesprochen?). Professor Krawschensky nahm seinen Bleistift aus dem Kittel, beugte sich vor und tippte vorsichtig auf das Fell, um sich zu überzeugen – ganz beseelt von der Neugier des Wissenschaftlers –, daß wirklich kein Knochen darinsteckte. Und Manny Littlejohn, der sich vielleicht in diesem Moment vorstellte, daß er eines Tages auch so aussehen würde – wendete den Kopf ab und erbrach sich leise in sein Taschentuch. Er war ein alter Mann und sollte von solchen Bildern verschont werden.

Es war vorauszusehen, daß Roses Varco dieses »lebende Bild« zerstören würde. Endlich diesen Bettvorleger mit dem gescheckten Hund in Zusammenhang bringend, den er in das Labor gebracht hatte, trat er vor, drängte die anderen mit den Ellenbogen zur Seite und hob das klägliche Fellgebilde hoch, ehe ihn jemand daran hindern konnte. Es schrie gellend und starb. Ohne Brustkorb sprengte die Muskelanstrengung, die zu diesem Schrei nötig war, die Lungen und das Herz. Roses hatte den Hund nicht gekannt und bevorzugte von Natur aus Katzen. Trotzdem weinte er – obwohl die Dorfkapelle gerade seine Lieblingsmelodie spielte –, mit Exkrementen an den Händen und einem unbestimmten Haß in seinem Herzen.

Manny Littlejohn konnte Leid besser tragen als Roses. Er zog sich in eine Ecke des Labors zurück und setzte sich über seinen Armbandsender mit seinem Salonzug in Verbindung. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß seine Trabanten dort ihre bezahlte Arbeit verrichteten, verließ er wortlos das Labor und setzte seine Besichtigungstour fort. David Silberstein begleitete ihn, wie seine Pflicht es verlangte.