16. Der Ring der Kraft
Samstag, 14. April 1962
Don Juan wog unsere Kalebassen in der Hand und stellte fest, daß wir unseren Proviant erschöpft hatten und daß es Zeit war, nach Hause zurückzukehren. Ich bemerkte beiläufig, daß wir mindestens einige Tage brauchen würden, um zu seinem Haus zu gelangen. Er sagte, er wolle nicht nach Sonora zurückfahren, sondern in eine Stadt an der Grenze, wo er ein paar Angelegenheiten zu besorgen hatte. Ich glaubte, wir würden unseren Abstieg durch den Wassercanyon beginnen, aber Don Juan brach nach Nordwesten über die Hochplateaus der Lavaberge auf. Nach etwa einstündigem Marsch führte er mich durch eine tiefe Klamm, die an einem Punkt endete, wo zwei Gipfel beinah zusammenstießen. Dort war ein Hang, der fast bis zum Gipfelgrat hinaufreichte, ein Hang, der wie eine schräge, gewölbte Brücke zwischen den beiden Gipfeln aussah.
Don Juan deutete auf eine Stelle an diesem Hang. »Sieh genau dorthin«, sagte er. »Die Sonne steht beinah richtig.«
Er erklärte, daß das Licht der Mittagssonne mir beim »Nicht-tun« helfen könne. Dann gab er mir eine Reihe von Anweisungen: Ich sollte alle engen Kleidungsstücke, die ich trug, öffnen, mich mit gekreuzten Beinen hinsetzen und intensiv die Stelle ansehen, die er mir gezeigt hatte.
Es war ein heißer Tag, das Sonnenlicht prallte auf die verfestigte Lava. Ich behielt jene Stelle scharf im Auge. Nach einer langen Weile wachsamen Aufpassens fragte ich ihn, wonach ich im einzelnen ausschauen sollte. Er unterbrach mich mit einer ungeduldigen Handbewegung.
Ich wollte schlafen. Ich schloß halbwegs die Augen. Sie juckten, und ich rieb sie, aber meine Hände waren feuchtkalt, und der Schweiß brannte mir in den Augen. Ich blickte durch die halb geschlossenen Augenlider auf die Lavagipfel, und plötzlich stand der ganze Berg in Flammen.
Ich berichtete Don Juan, daß ich, wenn ich die Augen zusammenkniff, die ganze Bergkette als komplexes Gebilde aus Lichtfasern sehen konnte. Er sagte, ich solle möglichst flach atmen, um das Bild der Lichtfasern zu erhalten, und ich solle es nicht intensiv anstarren, sondern wie von ungefähr auf eine Stelle am Horizont, direkt über dem Hang schauen. Ich befolgte seinen Rat und konnte nun das Bild eines unendlichen, mit einem Gewebe aus Licht überzogenen Raumes wahrnehmen.
Don Juan sagte mit sehr behutsamer Stimme, ich solle versuchen, dunkle Stellen innerhalb dieses Feldes von Lichtfasern zu unterscheiden, und sobald ich eine dunkle Stelle gefunden hätte, sollte ich die Augen öffnen und feststellen, ob sich diese Stelle an der Hangflanke befände.
Es war mir unmöglich, irgendwelche dunklen Stellen zu entdecken. Mehrmals kniff ich die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Don Juan rückte näher zu mir her und deutete auf eine rechts von mir gelegene Stelle, und dann auf eine andere, die sich direkt vor mir befand. Ich versuchte meine Körperhaltung zu verändern; wenn ich meinen Blickwinkel wechselte, so glaubte ich, würde ich vielleicht imstande sein, den angeblichen dunklen Fleck zu erkennen, den er mir zeigte, aber Don Juan schüttelte meinen Arm und befahl mir mit ernster Stimme, ruhig zu bleiben und Geduld zu haben.
Wieder kniff ich die Augen zusammen und sah abermals das Netz aus Lichtfasern. Ich sah es einen Augenblick an und öffnete dann die Augen wieder. In diesem Moment hörte ich ein schwaches Grollen - es mochte sich ohne weiteres als das ferne Geräusch eines Düsenflugzeugs erklären lassen -, und dann sah ich mit weit geöffneten Augen die ganze Bergkette vor mir als ein gewaltiges Feld winziger Lichttupfer. Es war, als ob für einen kurzen Moment irgendwelche Metallkörperchen in der verfestigten Lava alle auf einmal das Sonnenlicht reflektierten. Dann verblaßte das Sonnenlicht und erlosch plötzlich ganz. Die Berge wurden zu einer stumpfen dunkelbraunen Feldmasse, und gleichzeitig wurde es windig und kalt. Ich drehte mich um, um festzustellen, ob die Sonne hinter einer Wolke verschwunden sei, aber Don Juan hielt meinen Kopf fest und ließ nicht zu, daß ich mich bewegte. Wenn ich mich umdrehte, sagte er, würde ich womöglich eines der Wesen der Berge sehen, den Verbündeten, der uns verfolgte. Er beteuerte, ich hätte nicht genügend Kraft, um einen solchen Anblick auszuhalten, und fügte mit kalkulierter Betonung hinzu, das Grollen, das ich gehört hatte, sei die besondere Art eines Verbündeten, seine Gegenwart anzukündigen.
Dann stand er auf und erklärte, wir würden nun die Flanke des Hanges hinaufklettern. »Wohin gehen wir?« fragte ich.
Er deutete auf eine der Stellen, die er als Flecken der Dunkelheit ausgemacht hatte. Das »Nicht-tun«, erklärte er, habe ihm erlaubt, diesen Fleck als mögliches Zentrum der Kraft oder als einen Ort auszuwählen, an dem sich vielleicht Kraft-Objekte befänden. Nach einer beschwerlichen Kletterei erreichten wir die von ihm bezeichnete Stelle. Einen Augenblick stand er reglos ein paar Meter vor mir. Ich versuchte, näher an ihn heranzutreten, aber er bedeutete mir durch eine Handbewegung, stehenzubleiben. Offenbar versuchte er sich zu orientieren. Ich sah von hinten, wie sein Kopf sich bewegte, als ließe er den Blick über den Berg auf und ab gleiten, dann führte er mich mit sicheren Schritten zu einem Felsband. Er setzte sich und fegte mit der Hand etwas lockere Erde vom Sims. Er hob mit den Fingern die Erde rund um einen herausragenden kleinen Stein aus. Dann forderte er mich auf, diesen ganz auszugraben.
Nachdem ich das Gesteinsstück losgemacht hatte, befahl er mir, es sofort unter das Hemd zu stecken, denn es sei ein Kraft-Objekt, das mir gehöre. Er sagte, er schenke es mir, ich solle es behalten, sorgfältig polieren und wohl behüten. Gleich darauf begannen wir den Abstieg in einen Canyon, und einige Stunden später befanden wir uns auf dem Wüstenplateau am Fuß der Lavaberge. Don Juan ging etwa zehn Schritte vor mir und schlug ein sehr rasches Tempo an. Bis kurz vor Sonnenuntergang gingen wir nach Süden. Eine schwere Wolkenbank im Westen hinderte uns daran, die Sonne zu sehen, aber wir rasteten, bis sie hinter dem Horizont verschwunden war. Don Juan wechselte nun die Richtung und ging nach Südosten. Wir überquerten einen Hügel, und als wir den Gipfel erreichten, entdeckte ich vier Männer, die sich uns von Süden her näherten. Ich sah Don Juan an. Auf unseren Exkursionen waren wir nie Menschen begegnet, und ich wußte nicht, wie ich mich in einem solchen Fall verhalten sollte. Er schien sich jedoch nicht darum zu kümmern. Er ging weiter, als sei nichts geschehen. Die Männer bewegten sich, als hätten sie keine Eile, gemächlich gingen sie auf uns zu. Als sie sich uns näherten, stellte ich fest, daß es vier junge Indianer waren. Sie schienen Don Juan zu kennen. Er unterhielt sich mit ihnen auf Spanisch. Sie redeten sehr zurückhaltend mit ihm und brachten ihm großen Respekt entgegen. Einer von ihnen sprach mich an. Flüsternd fragte ich Don Juan, ob ich mich ebenfalls mit ihnen unterhalten könne, und er nickte zustimmend.
Sobald ich sie in eine Unterhaltung verwickelt hatte, waren sie sehr freundlich und mitteilsam, besonders der eine, der mich zuerst angesprochen hatte. Sie sagten, sie seien auf der Suche nach gewissen Kraftobjekten, und zwar nach Quarzkristallen. Wie sie sagten, waren sie seit Tagen durch die Lavaberge gewandert, hatten aber kein Glück gehabt.
Don Juan sah sich um und deutete auf eine felsige Stelle etwa hundert Meter entfernt.
»Das ist ein guter Platz für eine kurze Rast«, sagte er. Er machte sich auf den Weg dorthin, und wir folgten ihm. Die Stelle, die er ausgewählt hatte, war stark zerklüftet. Es gab dort keine Büsche. Wir setzten uns auf die Steine. Don Juan verkündete, er wolle in den Chaparral zurückgehen, um trockene Zweige für ein Feuer zu sammeln. Ich wollte ihm helfen, aber er flüsterte mir zu, daß dies ein besonderes Feuer für die tapferen jungen Männer sein solle und dafür benötige er meine Hilfe nicht. Die jungen Männer setzten sich in einem engen Kreis um mich herum. Einer lehnte seinen Rücken gegen den meinen. Ich war darüber etwas verwundert. Als Don Juan mit einem Arm voll Holzscheiten zurückkehrte, lobte er sie für ihre Vorsicht und erklärte mir, die jungen Männer seien Lehrlinge eines Zauberers, und wenn sich mehrere gemeinsam auf die Suche nach Kraft-Objekten begäben, so müßten sie die Regel befolgen, zunächst einen Kreis zu bilden und zwei Teilnehmer im Mittelpunkt Rücken an Rücken sitzen zu lassen. Einer der jungen Männer fragte mich, ob ich selbst schon Kristalle gefunden hätte. Ich sagte ihm, daß Don Juan mich noch nie auf die Suche nach ihnen mitgenommen hatte. Don Juan wählte einen Platz nahe bei einem großen Felsblock und fing an, ein Feuer zu entfachen. Keiner der jungen Leute versuchte, ihm behilflich zu sein, vielmehr schauten sie ihm aufmerksam zu. Als alle Scheite brannten, setzte sich Don Juan mit dem Rücken gegen den Felsblock. Das Feuer befand sich zu seiner Rechten.
Die jungen Männer wußten anscheinend, was vorging, doch ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie man sich gegenüber Lehrlingen eines Zauberers verhalten sollte.
Ich beobachtete die jungen Männer. Sie saßen mit dem Gesicht zu Don Juan gewandt und bildeten einen exakten Halbkreis. Und plötzlich wurde mir bewußt, daß Don Juan mir direkt gegenüber saß, und daß von den jungen Männern je zwei zu meiner Linken und zwei zu meiner Rechten saßen.
Don Juan begann ihnen zu erzählen, daß ich in den Lavabergen sei, um das »Nichttun« zu lernen, und daß uns ein Verbündeter gefolgt sei. Ich hielt das für eine äußerst dramatische Einführung, und damit sollte ich Recht behalten. Die jungen Männer veränderten ihre Haltung und schlugen das linke Bein unter das Gesäß. Ich hatte nicht beobachtet, wie sie vorher gesessen hatten. Ich nahm an, daß sie, genau wie ich, nämlich mit gekreuzten Beinen, gesessen hatten. Ein beiläufiger Blick zu Don Juan hinüber zeigte mir, daß auch er mit untergeschlagenem linken Bein saß. Mit einer kaum wahrnehmbaren Geste deutete er auf meine Sitzhaltung hin. Unauffällig schlug ich mein linkes Bein unter. Don Juan hatte mir einmal gesagt, daß dies die Haltung sei, die ein Zauberer einnimmt, wenn die Dinge im Ungewissen sind. Doch für mich hatte sich diese Haltung immer als sehr anstrengend erwiesen. Ich fürchtete, es werde für mich eine furchtbare Belastung sein, die ganze Zeit, während er sprach, in dieser Haltung sitzenzubleiben. Don Juan schien sich meiner prekären Lage wohl bewußt zu sein und erklärte daher den jungen Männern mit wenigen Worten, Quarzkristalle seien in dieser Gegend an bestimmten Stellen zu finden. Hatte man sie einmal ausfindig gemacht, dann mußte man sie mit Hilfe bestimmter Techniken dazu bewegen, ihren »Wohnsitz« zu verlassen. Die Kristalle würden sich dann in den Menschen selbst verwandeln, und ihre Kraft übertreffe alle Vorstellung. Gewöhnliche Quarzkristalle, sagte er, fänden sich in Trauben, und derjenige, der sie finde, müsse die fünf längsten und schönsten Quarznadeln aussuchen und sie aus ihrer Matrix lösen. Der Finder sei verpflichtet, sie so zu feilen und zu polieren, daß sie spitz würden und mit Form und Größe der Finger seiner rechten Hand übereinstimmten.
Er erzählte uns weiterhin, die Quarzkristalle seien Waffen, die bei der Zauberei verwendet würden; normalerweise würden sie geschleudert, um zu töten; sie durchbohrten den Körper des Feindes und kehrten anschließend in die Hand ihres Besitzers zurück, als hätten sie diese nie verlassen.
Als nächstes sprach er von der Suche nach dem Geist, der die gewöhnlichen Kristalle in Waffen verwandelte, und sagte, als erstes müsse man eine geeignete Stelle finden, um den Geist herbeizulocken. Diese Stelle muß auf einem Berggipfel liegen und läßt sich dadurch finden, daß man mit der Hand, die Handfläche zur Erde gekehrt, über den Boden streicht, bis sich an der Handfläche eine gewisse Wärme bemerkbar macht. An dieser Stelle muß dann ein Feuer gemacht werden. Don Juan erklärte, daß der Verbündete durch die Flammen angezogen wird und sich durch eine Folge gleichartiger Geräusche zu erkennen gibt. Der nach einem Verbündeten suchende Mensch muß der Richtung dieser Geräusche folgen, bis der Verbündete sich offenbart, dann muß er mit ihm ringen, ihn zu Boden zwingen und ihn überwältigen. Und das ist der geeignete Moment, den Verbündeten zu nötigen, die Kristalle zu berühren, um sie mit Kraft aufzuladen. Er warnte uns, es gäbe in diesen Lavabergen auch eine Vielzahl anderer Kräfte, also Kräfte, die sich von den Verbündeten unterschieden. Sie machten keinerlei Geräusche, sondern erschienen als flüchtige Schatten und hätten überhaupt keine Kraft. Don Juan fügte hinzu, daß eine leuchtend bunte Feder oder ein paar auf Hochglanz polierte Quarzkristalle die Aufmerksamkeit des Verbündeten fesseln werde, daß aber im Grunde jeder beliebige Gegenstand die gleiche Wirkung erzielen könne, denn ausschlaggebend sei nicht, die Objekte zu finden, sondern die Macht zu finden, die sie mit Kraft aufladen würden. »Was nützt es euch, wenn ihr herrlich polierte Kristalle habt und nie den Geber-Geist der Kraft findet?« sagte er. »Wenn ihr hingegen keine Kristalle habt, aber den Geist findet, dann könnt ihr ihm irgend etwas hinhalten, damit er es berührt. Ihr könnt meinetwegen sogar euren Schwanz hinhalten, wenn ihr nichts anderes zur Hand habt.«
Die jungen Männer kicherten. Der verwegenste von ihnen, jener, der mich anfangs angesprochen hatte, lachte laut. Ich bemerkte, daß Don Juan wieder mit gekreuzten Beinen und in entspannter Haltung dasaß. Auch die jungen Männer hatten ihre Beine wieder gekreuzt. Ich versuchte, unauffällig eine entspannte Haltung einzunehmen, aber in meinem rechten Knie war offenbar ein Nerv verklemmt oder ein Muskel steif geworden, und so mußte ich aufstehen und mir ein paar Minuten die Füße vertreten. Das veranlaßte Don Juan zu einer witzigen Bemerkung. Er sagte, ich hätte es verlernt zu knien, weil ich seit Jahren, nämlich seit ich mit ihm durch die Gegend streifte, nicht zur Kommunion gegangen sei.
Dies rief große Heiterkeit unter den jungen Männern hervor. Sie lachten heftig. Einige bedeckten ihr Gesicht mit den Händen und kicherten nervös.
»Ich werde euch Burschen jetzt etwas zeigen«, sagte Don Juan beiläufig, nachdem die jungen Männer aufgehört hatten zu lachen.
Ich vermutete, er würde uns einige Kraft-Objekte sehen lassen, die er in seinem Beutel trug. Einen Augenblick glaubte ich, die jungen Männer würden sich um ihn versammeln, denn sie machten alle gleichzeitig eine plötzliche Bewegung. Sie beugten sich etwas vor, als wollten sie aufstehen, aber dann schlugen sie das linke Bein unter und fielen in jene geheimnisvolle Haltung zurück, die so beschwerlich für meine Knie war.
So unauffällig wie möglich schlug ich das linke Bein unter. Ich stellte fest, daß mein Knie nicht so sehr schmerzte, wenn ich nicht unmittelbar auf dem linken Fuß saß, das heißt, wenn ich in einer knienden Stellung blieb.
Don Juan stand auf und ging um den großen Felsblock herum, bis er außer Sicht war.
Bevor er aufgestanden war, während ich mein linkes Bein unterschlug, mußte er wohl das Feuer nachgeschürt haben, denn die neuen Scheite fingen knisternd Feuer, und lange Flammen züngelten empor. Das hatte eine hochdramatische Wirkung. Das Feuer brannte doppelt so hoch wie zuvor. Plötzlich trat Don Juan hinter dem Felsblock hervor und stand genau an der Stelle, wo er zuvor gesessen hatte. Für einen Moment war ich verwirrt. Don Juan hatte sich einen komischen schwarzen Hut aufgesetzt. Die Krempe stand an den Seiten, über den Ohren ab, oben war er rund. Mir fiel auf, daß er ganz wie ein Piratenhut aussah. Er trug einen langen schwarzen Mantel mit Schößen, der von einem einzigen glänzenden Metallknopf zusammengehalten wurde, und er hatte ein Holzbein.
Ich lachte in mich hinein. Don Juan sah wirklich albern in seinem Piratenkostüm aus. Ich fragte mich, wo er hier in der Wildnis dieses Kostüm aufgetrieben haben mochte. Ich nahm an, es mußte hinter dem Felsen versteckt gewesen sein. Ich sagte mir, daß ihm nur noch die schwarze Augenklappe und der Papagei auf der Schulter fehlte, um das perfekte Bild eines Piraten abzugeben. Don Juan ließ die Augen von links nach rechts wandern und sah jedes Mitglied der Gruppe an. Dann blickte er über uns hinweg und starrte hinter uns in die Dunkelheit. In dieser Haltung blieb er einen Augenblick stehen, dann ging er um den Felsen herum und verschwand. Ich konnte nicht feststellen, wie er ging. Offenbar hatte er sein Knie angewinkelt, um einen Mann mit einem Holzbein zu mimen; als er sich umdrehte, um hinter den Felsen zu gehen, hätte ich sein angewinkeltes Bein sehen müssen, aber ich war durch sein Benehmen so verwirrt, daß ich auf Einzelheiten nicht achtete. Das Feuer verlor seine Kraft genau in dem Augenblick, als Don Juan hinter dem Felsblock verschwand. Ich dachte mir, er hätte seinen Zeitplan meisterhaft berechnet; er mußte genau ausgeklügelt haben, wie lange es dauern würde, bis die Scheite herabgebrannt waren, und er mußte seinen Auftritt und seinen Abgang exakt darauf abgestimmt haben.
Der Wechsel in der Intensität des Feuers erregte die Gruppe sehr. Eine Welle der Nervosität breitete sich unter den jungen Männern aus. Als die Flammen kleiner wurden, nahmen die jungen Männer wieder gleichzeitig eine Sitzhaltung mit gekreuzten Beinen ein. Ich erwartete, daß Don Juan sofort hinter dem Felsen hervortreten und sich wieder setzen würde, doch das tat er nicht. Er blieb verschwunden. Ich wartete geduldig. Die jungen Männer saßen mit gleichmütigem Gesichtsausdruck da.
Ich begriff nicht, was Don Juan mit dieser Schauspielerei beabsichtigte. Nach langem Warten wandte ich mich an den jungen Mann zu meiner Rechten und fragte ihn mit leiser Stimme, ob eines der Kleidungsstücke, die Don Juan getragen hatte - der komische Hut, und der langschößige Frack - und die Tatsache, daß er auf einem Holzbein ging, ihm verständlich seien.
Der junge Mann sah mich mit komisch ausdrucksloser Miene an. Er schien verwirrt. Ich wiederholte meine Frage, und der andere junge Mann neben ihm sah mich aufmerksam an und hörte zu. Sie tauschten einen Blick aus, offenbar in äußerster Verwirrung. Der Hut und der Beinstumpf und der Mantel, sagte ich, hätten ihn wie einen Piraten aussehen lassen.
Nun rückten alle vier jungen Männer näher an mich heran. Sie kicherten leise und rückten nervös hin und her. Sie schienen um Worte verlegen. Der mutigste unter ihnen sprach schließlich zu mir. Er sagte, Don Juan habe keinen Hut aufgehabt und keinen langen Mantel getragen und sei ganz gewiß nicht auf einem Holzbein gehumpelt; vielmehr habe er eine schwarze Kapuze oder einen Schal auf dem Kopf getragen und eine bis auf den Boden reichende jettschwarze Tunika angehabt, die fast wie eine Mönchskutte aussah.
»Nein!« rief ein anderer
junger Mann leise. »Er trug keine Kapuze.«
»Das stimmt«, sagten die anderen.
Der junge Mann, der zuerst gesprochen hatte, sah mich fassungslos mit ungläubiger Miene an.
Ich sagte ihnen, wir müßten gründlich und ganz leise besprechen, was geschehen war, und ich sei sicher, Don Juan wolle, daß wir dies lösten und habe uns deshalb allein gelassen. Der ganz rechts von mir sitzende junge Mann sagte, Don Juan sei in Lumpen gegangen. Er habe einen zerschlissenen Poncho oder eine Art Indianermantel und einen sehr ramponierten Sombrero getragen. Er habe einen Korb mit irgendwelchen Gegenständen in der Hand gehabt, doch der junge Mann war nicht sicher, worum es sich dabei handelte. Er fügte hinzu, Don Juan sei bestimmt nicht wie ein Bettler gekleidet gewesen, sondern eher wie ein Mann, der von einer sehr langen Reise zurückkehrt und fremdartige Dinge mit sich führt. Der junge Mann, der ihn mit einer schwarzen Kapuze gesehen kitte, sagte, Don Juan habe nichts in der Hand getragen, doch sei sein Haar lang und ungepflegt gewesen, so als sei er ein Wilder, der soeben einen Mönch erschlagen und seine Kleider angezogen habe, ohne jedoch sein wildes Aussehen verbergen zu können. Der junge Mann zu meiner Linken lachte leise und meinte, wie komisch dies doch alles sei. Er meinte, Don Juan sei gekleidet gewesen wie ein soeben vom Pferd gestiegener wohlhabener Mann. Er habe Leder-Leggins getragen, wie sie im Westen bei Reitern üblich sind, große Sporen, eine Reitpeitsche, mit der er dauernd auf seine linke Handfläche geklopft habe, einen Chihuahua-Hut mit kegelförmigem Kopf teil und zwei 45-kalibrige automatische Revolver. Er meinte, Don Juan habe das Bild eines wohlhabenden Ranchers abgegeben.
Der junge Mann ganz rechts von mir lachte verlegen und war nicht bereit zu berichten, was er gesehen hatte. Ich überredete ihn, aber die anderen schienen sich nicht dafür zu interessieren. Er schien zu scheu zu sein, um zu sprechen.
Das Feuer war kurz vor dem Verlöschen, als Don Juan hinter dem Felsblock hervortrat.
»Wir wollen die jungen Männer besser ihrem Vorhaben überlassen«, sagte er. »Sag ihnen Lebewohl.«
Er sah sie nicht an. Er ging langsam davon, um mir Zeit zu lassen, mich zu verabschieden. Die jungen Männer umarmten mich.
Es gab keine Flammen mehr an der Feuerstelle, aber die glühenden Kohlen strahlten einen ausreichend hellen Schimmer aus. Auf einige Meter Entfernung sah Don Juan aus wie ein dunkler Schatten, und die jungen Männer bildeten einen Kreis von scharf umrissenen, statischen Silhouetten. Sie wirkten wie eine Reihe jettschwarzer Statuen vor dunklem Hintergrund. Erst in diesem Augenblick befiel mich die Wirkung des ganzen Ereignisses. Ein Frösteln lief mir über den Rücken. Ich lief zu Don Juan. In sehr eindringlichem Ton verlangte er, ich solle mich nicht umdrehen und nach den jungen Männern sehen, denn in diesem Augenblick seien sie ein Kreis von Schatten. Ich spürte eine Kraft von außen auf meinen Magen einwirken. Es war, als griffe eine Hand nach mir. Ich schrie unwillkürlich auf. Don Juan flüsterte, diese Gegend sei so voller Kraft, daß es mir leicht fallen würde, die »Gangart der Kraft« anzuwenden. Wir trabten mehrere Stunden lang. Ich stürzte fünfmal hin. Don Juan zählte mit lauter Stimme mit, wie oft ich aus dem Gleichgewicht kam. Schließlich blieb er stehen. »Setz dich«, flüsterte er mir ins Ohr, »schmieg dich gegen die Felsen und bedeck deinen Bauch mit den Händen.«
Sonntag, 15. April 1962
Sobald es morgens hell genug war, brachen wir auf. Don Juan führte mich zu der Stelle, wo wir das Auto zurückgelassen hatten. Ich war hungrig, fühlte mich aber ansonsten gestärkt und gut ausgeruht. Wir aßen ein paar Kekse und tranken einige Flaschen Mineralwasser, die ich im Auto hatte. Ich wollte ihm einige Fragen stellen, die mich bedrängten, aber er legte den Finger an den Mund.
Gegen Nachmittag waren wir in der Grenzstadt angelangt, in der ich ihn, auf seine Bitte hin, verlassen sollte. Wir gingen in ein Restaurant, um etwas zu essen. Das Lokal war leer. Wir saßen an einem Tisch neben dem Fenster mit Ausblick auf die belebte Hauptstraße und bestellten unser Essen.
Don Juan schien entspannt zu
sein; seine Augen glitzerten listig. Ich fühlte mich ermutigt und
ließ eine Salve von Fragen auf ihn los. Vor allem wollte ich etwas
über seine Verkleidung erfahren. »Ich habe euch nur ein wenig von
meinem Nicht-tun gezeigt«, sagte er, und seine Augen schienen zu
glühen. »Aber keiner von uns sah dieselbe Verkleidung«, sagte ich.
»Wie hast du das gemacht?«
»Das ist ganz einfach«, antwortete er. »Es waren nur Verkleidungen,
weil alles, was wir tun, irgendwie nur Verkleidung ist. Alles, was
wir tun, ist, wie ich dir sagte, eine Sache des Tuns. Ein Wissender
könnte sich an das Tun eines jeden anschließen und mit den
sonderbarsten Sachen kommen. Aber sie sind im Grunde gar
nicht sonderbar. Sie sind es nur für diejenigen, die im
Tun gefangen sind.«
Diese vier jungen Männer und du, ihr kanntet das Nicht-tun noch nicht. Daher war es leicht, euch hinters Licht zu führen.«
»Aber wie hast du uns hinters Licht geführt?«
»Das würdest du nicht verstehen. Es gibt für dich keine Möglichkeit, das zu begreifen.«
»Stell mich doch auf die
Probe, Don Juan, bitte.«
»Sagen wir, wenn wir geboren werden, bringt jeder von uns einen
kleinen Ring von Kraft mit auf die Welt. Dieser kleine Ring tritt
beinah sofort in Aktion. Jeder von uns ist also schon von Geburt an
angeschlossen, und unsere Kraftringe sind mit denen aller anderen
verbunden. Mit anderen Worten, unsere Kraftringe sind an das Tun
der Welt angeschlossen, damit die Welt entsteht.«
»Gib mir doch ein Beispiel, damit ich es verstehe«, sagte ich.
»Unsere Kraftringe zum Beispiel, deiner und meiner, sind jetzt eben
an das Tun in diesem Raum angeschlossen. Wir machen diesen Raum.
Genau in diesem Augenblick spinnen unsere Ringe der Kraft diesen
Raum ins Sein.«
»Einen Moment mal«, sagte ich. »Dieser Raum ist von sich aus da;
Ich schaffe ihn nicht. Ich habe nichts mit ihm zu tun.« Don Juan
schien sich nicht um meine kritischen Einwände zu kümmern. Ganz
ruhig behauptete er, der Raum, in dem wir uns befanden, werde durch
die Macht der Kraftringe aller ins Sein gebracht und dort
festgehalten.
»Siehst du«, fuhr er fort, »jeder von uns versteht sich auf das Tun, das einen Raum zum Raum macht, denn wir alle verbringen einen mehr oder weniger großen Teil unseres Lebens in Räumen. Ein Wissender hingegen schafft sich einen anderen Kraftring. Ich möchte ihn den Ring des Nicht-tuns nennen, denn er ist an das Nichttun angeschlossen. Mit diesem Ring kann er daher eine andere Welt hervorspinnen.« Eine junge Kellnerin brachte unser Essen und schien uns mißtrauisch anzusehen. Don Juan flüsterte mir zu, ich solle bezahlen, um ihr zu zeigen, daß wir genügend Geld hätten. »Ich kann es ihr nicht verdenken, daß sie dir mißtraut«, sagte er und lachte schallend. »Du siehst aus wie der Teufel.« Ich bezahlte und gab der Frau ein Trinkgeld, und nachdem sie uns allein gelassen hatte, sah ich Don Juan an und versuchte, den Faden unseres Gesprächs wieder aufzunehmen. Er kam mir zu Hilfe. »Dein Problem ist, daß du deinen Extra-Kraftring noch nicht entwickelt hast, und daß dein Körper sich noch nicht auf das Nichttun versteht«, sagte er. Ich verstand nicht, was er meinte. Meine Gedanken kreisten um eine ganz prosaische Frage. Ich wollte lediglich wissen: Hatte er ein Piratenkostüm angehabt oder nicht?
Don Juan antwortete nicht,
sondern lachte schallend. Ich bat ihn um eine Erklärung. »Aber ich
habe es dir doch eben erklärt«, erwiderte er. »Du meinst, du hast
kein Kostüm angezogen?« fragte ich ihn. »Ich tat nichts anderes,
als meinen Kraftring an dein Tun anzuschließen«, sagte er. »Das
übrige hast du selbst besorgt, und die anderen ebenfalls.«
»Das ist unglaublich!« rief ich.
»Wir alle haben gelernt, im Tun überein zustimmen«, sagte er leise. »Du hast keine Vorstellung davon, welche Macht diese Übereinkunft hat. Aber glücklicherweise ist das Nicht-tun ebenso wunderbar und stark.«
Ich spürte ein unkontrollierbares Beben im Magen. Zwischen meiner unmittelbaren Erfahrung und seiner Erklärung bestand eine unüberbrückbare Kluft. Meine letzte Abwehr bestand darin, daß ich, wie ich es immer tat, zu Zweifeln und Mißtrauen Zuflucht nahm und mich fragte: Hat Don Juan vielleicht mit den jungen Männern unter einer Decke gesteckt und die ganze Geschichte arrangiert?
Ich wechselte das Thema und fragte ihn nach den vier Lehrlingen.
Sagtest du nicht, daß sie Schatten waren?« fragte ich. Das stimmt.« Waren sie Verbündete?«
»Nein. Sie waren Lehrlinge eines Mannes, den ich kenne.« Warum nanntest du sie Schatten?«
Weil sie in diesem Augenblick von der Kraft des Nicht-tuns berührt worden waren, und da sie nicht so töricht sind wie du, verwandeln sie sich in etwas anderes als alles, was du kennst. Aus diesem Grund wollte ich nicht, daß du sie anschaust. Es hätte dir nur Schaden zugefügt.«
Ich hatte keine weiteren Fragen. Ich war auch nicht sehr hungrig. Don Juan griff herzhaft zu und schien in ausgezeichneter Stimmung zu sein. Ich aber war deprimiert. Plötzlich merkte ich, wie eine zehrende Müdigkeit von mir Besitz ergriff. Ich erkannte, daß Don Juans Weg zu mühselig für mich war. Ich sagte, daß ich nicht die Fähigkeit hätte, ein Zauberer zu werden. „Vielleicht wird eine weitere Begegnung mit Mescalito dir helfen«, sagte er.
Ich beteuerte, das liege mir ganz und gar fern, und ich zöge nicht einmal die Möglichkeit in Betracht.
»Bei dir müssen sehr tiefgreifende Dinge geschehen, damit du es zuläßt, daß dein Körper aus all dem, was du gelernt hast, Nutzen zieht«, sagte er.
Ich vertrat die Meinung, ich sei eben wirklich nicht fähig, das ungewöhnliche Leben eines Zauberers zu leben, weil ich kein Indianer war.
»Wenn ich mich von allen meinen Verpflichtungen losmachte, könnte ich vielleicht in deiner Welt besser bestehen«, sagte ich. »Oder wenn ich mit dir in die Wildnis gehen und dort leben würde. Sowie die Dinge jetzt sind, macht mich die Tatsache, daß ich mit je einem Fuß in beiden Welten stehe, für beide untauglich.« Er sah mich lange an.
»Dies ist deine Welt«, sagte er und deutete auf die belebte Straße vor dem Fenster. »Du bist ein Mensch dieser Welt. Und dort draußen, in dieser Welt, ist dein Jagdgrund. Wir haben keine Möglichkeit, dem Tun unserer Welt zu entfliehen, und darum macht ein Krieger seine Welt zu seinem Jagdgrund. Als Jäger weiß der Krieger, daß die Welt geschaffen ist, um benutzt zu werden. Darum benutzt er jedes Stück von ihr. Ein Krieger ist wie ein Freibeuter, der keine Skrupel hat, alles, was er will, zu nehmen und zu benutzen, nur daß es dem Krieger nichts ausmacht und er nicht beleidigt ist, wenn er selbst genommen und benutzt wird.«