8. Die Routine des Lebens unterbrechen

Sonntag, 16. Juli 1961

Wir brachten den ganzen Vormittag damit zu, einige Nagetiere zu beobachten, die wie flinke Eichhörnchen aussahen. Don Juan nannte sie Wasserratten. Er erklärte, sie seien sehr schnell, wenn es gelte, einer Gefahr zu entkommen, doch kaum waren sie ihrem Verfolger entwischt, hätten sie die scheußliche Angewohnheit, stehenzubleiben, ja sogar auf einen Stein zu klettern, sich dort auf die Hinterpfoten zu stellen, umherzulugen und sich zu putzen. »Sie haben sehr gute Augen«, sagte Don Juan. »Man darf sich nur bewegen, solange sie rennen, du mußt lernen, vorherzusagen, wann und wo sie stehenbleiben werden, damit du zur selben Zeit stehenbleibst.«

Ich war ganz davon in Anspruch genommen, sie zu beobachten; für einen Jäger wäre es ein guter Tag gewesen, denn ich entdeckte sehr viele dieser Tiere. Und schließlich konnte ich fast jedesmal ihre Bewegungen voraussagen.

Dann zeigte mir Don Juan, wie man Fallen baut, um sie zu fangen. Er erklärte, daß ein Jäger sich Zeit für die Beobachtung ihrer Freßplätze und Schlupfwinkel nehmen muß, um entscheiden zu können, wo er seine Fallen aufstellen soll; er muß sie dann in der Nacht aufstellen, und am nächsten Tag braucht er die Nager nur noch aufzuscheuchen, damit sie in seine Fangvorrichtung hineinrennen.

Wir suchten einige Stöcke zusammen und begannen, die Falle zu bauen. Ich hatte meine beinah fertig und war gespannt, ob sie funktionieren würde, als Don Juan plötzlich innehielt, auf sein linkes Handgelenk schaute, als sehe er auf die Uhr, obwohl er nie eine Besessen hat, und sagte, daß es nach seinem Chronometer Mittagszeit sei. Ich hielt gerade eine lange Gerte in der Hand, die ich zu einem Reifen biegen wollte. Automatisch legte ich sie zu den übrigen Jagdutensilien auf den Boden.

Don Juan sah mich neugierig an. Dann ahmte er den heulenden Ton einer Fabriksirene nach, die zur Mittagspause bläst. Ich lachte. Sein Sirenenton war perfekt. Ich ging auf ihn zu und stellte fest, daß er mich anstarrte. Bedächtig schüttelte er den Kopf. »Ich will verflucht sein«, sagte er. »Was ist los?« fragte ich. Wieder ahmte er den langen, klagenden Ton einer Fabriksirene nach. »Die Pause ist um«, sagte er. »Geh wieder an die Arbeit.« Einen Augenblick war ich verblüfft, aber dann meinte ich, er machte Witze, vielleicht, weil wir tatsächlich nichts hatten, um eine Mahlzeit zuzubereiten. Ich war ganz von den Nagetieren in Anspruch genommen gewesen und hatte vergessen, daß wir keinen Proviant hatten. Ich nahm die Gerte wieder auf und versuchte, sie zusammenzubinden. Im nächsten Augenblick blies Don Juan seine „Sirene" erneut. »Feierabend«, sagte er. Er blickte auf seine Phantasie-Uhr, sah mich an und zwinkerte mir zu. »Es ist fünf Uhr«, sagte er mit der Miene eines Menschen, der ein Geheimnis verrät. Ich glaubte, er sei der Jagd plötzlich überdrüssig und wolle die ganze Sache abblasen. Ich warf einfach alles hin und fing an, mich für den Aufbruch vorzubereiten. Ich sah ihn nicht an. Ich nahm an, daß er ebenfalls seine Sachen zusammensuchte. Als ich fertig war, blickte ich auf und sah ihn ein paar Meter entfernt mit gekreuzten Beinen sitzen.

»Ich bin fertig«, sagte ich. »Wir können jederzeit gehen.« Er stand auf und kletterte auf einen Felsen. Dort stand er, etwa zwei Meter über dem Boden, und sah mich an. Er legte die Hände seitlich an den Mund und brachte einen langen, durchdringenden Ton hervor. Es klang wie eine überdimensionale Fabriksirene. Er drehte sich einmal im Kreis herum, wobei er diesen klagenden Ton ausstieß. »Was tust du da, Don Juan?« fragte ich.

Er sagte, er gebe der ganzen Welt das Zeichen zum Heimgehen. Ich war völlig durcheinander. Ich konnte mir nicht klar werden, ob er Spaß machte, oder ob er schlicht den Verstand verloren hatte. Ich beobachtete ihn aufmerksam und versuchte das, was er da tat, mit irgend etwas in Verbindung zu bringen, was er vorhin gesagt hatte. Wir hatten den ganzen Vormittag kaum miteinander gesprochen, und ich konnte mich an nichts Wichtiges erinnern. Don Juan stand immer noch auf dem Felsen. Er sah mich an, lächelte und blinzelte mir wieder zu. Plötzlich erschrak ich. Don Juan legte die Hände beidseitig an den Mund und ließ wieder einen langen, sirenenartigen Ton erklingen.

Er sagte, es sei acht Uhr morgens, und ich solle mein Arbeitszeug bereithalten, denn es liege ein langer Tag vor uns. Nun war ich vollends verwirrt. Binnen Sekunden mündete meine Furcht in den unwiderstehlichen Wunsch, vom Schauplatz zu fliehen. Ich glaubte, Don Juan sei verrückt geworden. Ich wollte gerade davonlaufen, als er vom Felsen herabglitt und lächelnd auf mich zu kam. »Du hältst mich für verrückt, nicht wahr?« sagte er.

Ich sagte, er habe mir mit seinem unberechenbaren Verhalten sinnlose Angst eingejagt.

Er entgegnete, wir seien jetzt quitt. Ich verstand nicht, was er damit meinte. Ich überließ mich ganz dem Gedanken, daß seine Handlungen durch und durch verrückt erschienen. Er erklärte, er habe absichtlich versucht, mir durch die Wucht seines unvorhersehbaren Verhaltens einen gehörigen Schrecken einzujagen, weil ich selbst ihn durch die Wucht meines vorhersehbaren Verhaltens um den Verstand brächte. Meine Routinegewohnheiten seien ebenso verrückt wie sein Nachahmen der Sirene. Ich war entsetzt und versicherte, daß ich wirklich keinerlei Routine hätte. Ich sagte ihm, ich sei eher der Meinung, daß mein Leben ziemlich chaotisch sei, gerade, weil es mir an gesunder Routine fehlte.

Don Juan lachte und forderte mich durch ein Zeichen auf, mich neben ihn zu setzen.

Wieder hatte die ganze Situation sich rätselhaft verändert. Meine Furcht war geschwunden, sobald er zu sprechen angefangen hatte.

»Worin besteht meine Routine?« fragte ich. »Alles, was du tust, ist Routine«.

»Trifft das nicht auf uns alle zu?«

»Nicht auf alle. Ich tu nichts aus Routine.«
»Wodurch wurde dies alles ausgelöst, Don Juan? Was habe ich gesagt oder getan, das dich zu dem Verhalten von eben veranlaßt hat?«

»Du machtest dir über das Mittagessen Sorgen.«
»Ich habe nichts dergleichen gesagt; wie konntest du wissen, daß ich mir um das Essen Gedanken machte?«
»Du sorgst dich jeden Tag gegen Mittag um das Essen, und gegen sechs Uhr abends und gegen acht Uhr morgens«, sagte er mit boshaftem Grinsen. »Du sorgst dich zu diesen Zeiten auch dann um das Essen, wenn du nicht hungrig bist. Ich brauchte nur meine Sirene zu blasen, um dein Routinedenken bildlich zu machen. Dein Denken ist darauf trainiert, nach einem Signal zu arbeiten.«

Er sah mich fragend an. Ich konnte mich nicht verteidigen, »Du bist drauf und dran, die Jagd zu einer Routine zu machen«, fuhr er fort. »Du hast bereits deinen Rhythmus bei der Jagd gefunden. Du sprichst zu einer bestimmten Zeit, du ißt zu einer bestimmten Zeit, und du schläfst zu einer bestimmten Zeit ein.« Ich wußte nichts zu sagen. Was Don Juan als meine Eßgewohnheiten beschrieben hatte, war das Schema für alle Dinge in meinem Leben. Dennoch war ich fest davon überzeugt, daß mein Leben weniger Routine war als das der meisten Freunde und Bekannten. »Jetzt weißt du sehr viel über die Jagd«, fuhr Don Juan fort. »Du wirst ohne weiteres erkennen, daß ein guter Jäger vor allem eines weiß - er kennt die Routinegewohnheiten seiner Beute. Das ist es, was ihn zu einem guten Jäger macht. Wenn du dich daran erinnerst, wie ich vorging, als ich dich die Jagd lehrte, dann wirst du vielleicht verstehen, was ich meine. Zuerst lehrte ich dich, die Gewohnheiten des Jagdwildes zu beobachten, und dann prüften wir die Fallen auf ihr routinemäßiges Funktionieren. Diese Schritte sind die äußeren Formen der Jagd. Jetzt muß ich dich den letzten und bei weitem schwierigsten Schritt lehren. Vielleicht werden Jahre vergehen, bevor du sagen kannst, daß du ihn verstehst und daß du ein Jäger bist.« Don Juan machte eine Pause, um mir Zeit zu lassen. Er nahm den Hut ab und ahmte die Putzbewegungen der Nagetiere nach, die wir beobachtet hatten. Dies kam mir sehr spaßig vor. Sein runder Kopf ließ ihn wie eines dieser Nagetiere aussehen. »Ein Jäger sein bedeutet nicht nur, das Wild in der Falle zu fangen« , fuhr er fort. »Ein Jäger, der sein Salz wert ist, fängt das Wild nicht deshalb, weil er seine Fallen aufstellt oder weil er die Routine seiner Beute kennt, sondern weil er selbst keine Routine hat. Das ist sein Vorteil. Er ist ganz anders als die Tiere, denen er nachstellt, die an feste Gewohnheiten und berechenbare Routinetricks gebunden sind. Er ist frei, beweglich, unberechenbar.« Was Don Juan mir da sagte, kam mir als willkürliche, irrationale Idealisierung vor. Ich konnte mir ein Leben ohne Routine nicht vorstellen. Ich wollte ihm gegenüber ganz aufrichtig sein und ihm nicht einfach zustimmen oder widersprechen. Ich glaubte, daß es für mich wie für jeden anderen unmöglich sei, das, was ihm vorschwebte, zu vollbringen.

»Ich gebe nichts auf das, was du glaubst«, sagte er. »Um ein Jäger zu sein, mußt du die Routine deines Lebens unterbrechen. Du warst geschickt bei der Jagd. Du hast schnell gelernt, und nun kannst du sehen, daß du genau wie deine Beute bist, leicht berechenbar.« Ich bat ihn, sich genauer auszudrücken und mir konkrete Beispiele zu nennen.

»Ich spreche über die Jagd«, sagte er ruhig. »Darum befasse ich mich mit dem, was die Tiere tun; mit ihren Freßplätzen; damit, wo, wie und wann sie schlafen; wo sie ihr Nest bauen; wie sie laufen. Das sind die Routinegewohnheiten, die ich dir erkläre, damit du sie in deinem eigenen Wesen erkennst. Du hast die Gewohnheiten der Tiere in der Wüste beobachtet. Sie fressen und trinken an bestimmten Plätzen, sie bauen an bestimmten Plätzen ihr Nest, sie hinterlassen auf bestimmte Art ihre Spuren. Tatsächlich kann ein guter Jäger alles, was sie tun, vorhersehen oder rekonstruieren.

Wie ich dir schon sagte, verhältst du dich meiner Meinung nach wie deine Beute. Einmal in meinem Leben hat auch mir jemand dasselbe gesagt. Du bist also in dieser Hinsicht nicht einmalig. Wir alle verhalten uns wie die Beute, der wir nachstellen. Das macht uns natürlich auch zur Beute für jemand oder etwas anderes. Nun muß ein Jäger, der all dies weiß, sich darum bemühen, nicht mehr selbst Beute zu sein. Siehst du nun, was ich meine?« Wieder brachte ich meine Meinung zum Ausdruck, daß sein Vorschlag undurchführbar sei.

»Es braucht Zeit«, sagte Don Juan. »Du kannst damit beginnen, daß du nicht jeden Tag um Schlag zwölf zu Mittag ißt.«

Er sah mich an und lächelte wohlwollend. Seine Miene war sehr spaßig und brachte mich zum Lachen. »Es gibt bestimmte Tiere, die sich nicht fangen lassen«, fuhr er fort.

»Zum Beispiel gibt es bestimmte Arten Rehe, denen ein Jäger vielleicht durch bloßes Glück einmal im Leben begegnet.«

Don Juan machte eine dramatische Pause und sah mich durchdringend an. Er schien auf eine Frage zu warten, aber mir fiel keine ein.

»Wodurch, glaubst du, sind sie so schwer aufzuspüren und so einzigartig?« fragte er. »Ich zuckte mit den Schultern, denn ich wußte nichts zu sagen. »Sie haben keine Routine«, sagte er im Ton einer Offenbarung. »Das ist es, was sie zu magischen Wesen macht.«
»Ein Reh muß nachts schlafen«, sagte ich. »Ist das keine Routine?«
»Gewiß, wenn das Reh jede Nacht zu einer bestimmten Zeit, an seinem bestimmten Ort schläft. Aber diese magischen Wesen tun das nicht. Vielleicht wirst du es eines Tages feststellen. Vielleicht wird es dein Schicksal sein, den Rest deines Lebens eines von ihnen zu jagen.«
»Was meinst du damit?«

»Du liebst die Jagd; vielleicht wird dein Weg eines Tages irgendwo in der Welt den Weg eines magischen Wesens kreuzen, und du wirst ihm nachstellen. Einem magischen Wesen zu begegnen, ist ein unvergeßliches Erlebnis. Ich selbst hatte das große Glück, einem über den Weg zu laufen. Unsere Begegnung fand statt, nachdem ich viel über die Jagd gelernt und mich darin geübt hatte. Eines Tages war ich in einem dichten Wald in den Bergen von Zentralmexiko, als ich plötzlich ein leises Pfeifen hörte. Ich kannte es noch nicht. Nie in all den Jahren, in denen ich die Wildnis durchstreift hatte, hatte ich einen solchen Klang gehört. Ich konnte ihn nicht lokalisieren; er schien von verschiedenen Stellen auszugehen. Ich glaubte, daß ich vielleicht von einem Rudel irgendwelcher unbekannter Tiere umgeben sei. Noch einmal hörte ich das durchdringende Pfeifen. Es schien von überallher zu kommen. Plötzlich wurde mir bewußt, was für ein Glück ich hatte. Ich wußte, es war ein magisches Wesen, ein Reh. Ich wußte auch, daß ein magisches Reh die Routine normaler Menschen und die Routine der Jäger kennt. Man kann sich sehr einfach vorstellen, was ein normaler Mensch in einer solchen Situation macht. Zunächst verwandelt ihn seine Angst auf der Stelle in eine Beute. Und ist er zur Beute geworden, so bleiben ihm nur zwei Möglichkeiten, zu handeln. Entweder er flieht, oder er behauptet sich. Wenn er nicht bewaffnet ist, dann wird er normalerweise aufs offene Feld fliehen und um sein Leben laufen. Ist er bewaffnet, dann wird er seine Waffe bereithalten und den Platz behaupten, entweder, indem er auf der Stelle erstarrt, oder, indem er sich zu Boden fallen läßt.

Ein Jäger in der Wildnis hingegen wird nie irgendwohin gehen, ohne zunächst die Punkte auszumachen, die ihm Schutz bieten können, daher würde er sofort in Deckung gehen. Er würde zum Beispiel seinen Poncho als Köder auf den Boden werfen oder über einen Ast hängen, dann würde er sich verstecken und darauf warten, daß das Wild den nächsten Schritt tut. Nun, in der Gegenwart des magischen Rehs tat ich weder das eine noch das andere. Ich machte schnell einen Kopfstand und begann leise zu jammern; mir liefen tatsächlich die Tränen, ich weinte so lange, daß ich einer Ohnmacht nahe war. Plötzlich spürte ich einen sanften Hauch; irgend etwas schnupperte an meinem Haar hinter dem rechten Ohr. Ich versuchte, meinen Kopf zu wenden, um zu sehen, was es sei, und dabei fiel ich um und setzte mich aufrecht, gerade rechtzeitig, um ein leuchtendes Geschöpf zu sehen, das mich anschaute. Das Reh sah mich an, und ich sagte ihm, daß ich ihm kein Leid tun würde. Und das Reh sprach zu mir.« Don Juan hielt inne und sah mich an. Ich mußte lächeln. Die Vorstellung eines sprechenden Rehs war recht unglaubhaft, um es vorsichtig auszudrücken. »Es sprach zu mir«, sagte Don Juan grinsend. »Das Reh sprach?«
»Ja, das tat es.«

Don Juan stand auf und packte sein Bündel mit den Jagdutensilien zusammen.

»Sprach es wirklich?« fragte ich perplex. Don Juan brüllte vor Lachen. »Was sagte es?« fragte ich halb im Scherz. Ich war überzeugt, daß er mich auf den Arm nahm. Don Juan schwieg einen Augenblick, als versuchte er, sich zu erinnern, dann leuchteten seine Augen auf, und er verriet mir, was das Reh gesagt hatte.

»Das magische Reh sagte „Guten Tag, mein Freund"«, fuhr Don Juan fort. »Und ich antwortete: „Guten Tag". Dann fragte es mich: „Warum weinst du?" Und ich sagte: „Weil ich traurig bin." Darauf kam das magische Wesen ganz nah an mein Ohr und sagte so deutlich, wie ich jetzt spreche: „Sei nicht traurig".« Don Juan sah mich an. Der Schalk blitzte in seinen Augen. Er lachte schallend.

Ich meinte, sein Gespräch mit dem Reh sei doch etwas töricht gewesen.

»Was hattest du erwartet?« fragte er, immer noch lachend. »Ich bin ein Indianer.«

Sein Humor war so umwerfend, daß mir nichts anderes übrig blieb, als mit ihm zu lachen.

»Du glaubst nicht, daß ein magisches Reh spricht, nicht wahr?«
»Es tut mir leid, aber ich kann einfach nicht glauben, daß es so etwas gibt«, sagte ich. »Ich mach dir deswegen keinen Vorwurf«, tröstete er mich. »Das ist eines der schwierigsten Dinge.«