3. Die Täuschungen des Geistes
Das Bindeglied zum Geist läutern
Die Sonne war noch nicht aufgegangen über den Gipfeln im Osten, aber es war schon heiß. Als wir den ersten Abhang erreichten, ein paar Meilen vor der Stadt, blieb Don Juan stehen und wandte sich zur Böschung neben dem Highway. Er setzte sich unter ein paar große Felsblöcke, die beim Bau der Straße aus der Bergflanke herausgesprengt worden waren, und gab mir ein Zeichen, mich neben ihn zu setzen. Hier machten wir meistens halt, um uns zu unterhalten oder zu rasten auf dem Weg in die nahen Berge. Diesmal, verkündete Don Juan, könnte es ein langer Ausflug werden; vielleicht würden wir einige Tage in den Bergen bleiben.
»Nun wollen wir über den dritten abstrakten Kern sprechen«, sagte Don Juan. »Man nennt ihn auch die Täuschungen des Geistes, das Sich-selbst-Anpirschen oder das Läutern des Bindeglieds.«
Ich war erstaunt über die Vielfalt der Namen, sagte aber nichts. Ich wartete, bis er seine Erklärung fortsetzte. »Und wieder, genau wie beim ersten und zweiten Kern«, fuhr er fort, »könnte dies eine Geschichte für sich sein. Die Geschichte erzählt, wie der Geist, nachdem er an die Tür jenes Mannes, über den wir sprachen, angeklopft und bei ihm keinen Erfolg gehabt hatte, das einzig noch mögliche Mittel einsetzte: Täuschungstricks. Immerhin, der Geist hatte auch früher schon ausweglose Situationen mit Hilfe von Tricks überwunden. Es war klar, daß er, wenn er bei diesem Mann etwas erreichen wollte, ihn überreden mußte. Darum begann der Geist, den Mann in den Geheimnissen der Zauberei zu unterweisen. Und die Zauberlehre wurde das, was sie ist: ein Weg der Listen und Schliche. Die Geschichte erzählt, wie der Geist den Mann überredete, indem er ihn zwischen den Bewußtseinsebenen hin und herwechseln ließ, um ihm zu zeigen, wie er die Energie sparen konnte, die er brauchte, um sein Bindeglied zu stärken.«
Wollten wir diese Geschichte in eine heutige Situation versetzen, so sagte Don Juan, dann sähen wir den Fall des Naguals, dieses lebendigen Mittlers des Geistes, wie er die Struktur dieses abstrakten Kerns wiederholt, wie er auf Listen und Schliche zurückgreift, um andere zu unterweisen.
Er stand plötzlich auf und machte sich auf den Weg in die Berge. Ich folgte ihm, und wir begannen Seite an Seite den Aufstieg. Am Spätnachmittag erreichten wir den Gipfel eines hohen Berges. Selbst in dieser Höhe war es noch immer sehr warm. Den ganzen Tag waren wir einem kaum erkennbaren Pfad gefolgt. Endlich erreichten wir eine kleine Lichtung, einen alten Aussichtspunkt, der das Land nach Norden und Westen überblickte.
Dort setzten wir uns, und Don Juan nahm unser Gespräch über die Geschichten der Zauberei wieder auf. Er sagte, jetzt kenne ich die Geschichte, wie die Absicht sich dem Nagual Elias offenbarte, und die Geschichte, wie der Geist an die Tür des Nagual Julian klopfte. Und ich wisse auch, wie er selbst dem Geist begegnet war, und sicherlich würde ich nicht vergessen, wie ich ihm begegnet war. Alle diese Geschichten, erklärte er, hätten dieselbe Struktur; nur die handelnden Personen unterschieden sich. Jede Geschichte sei eine abstrakte Tragikomödie mit einem abstrakten Darsteller, der Absicht, und zwei menschlichen Darstellern, dem Nagual und seinem Lehrling. Das Drehbuch sei der abstrakte Kern.
Ich glaubte endlich verstanden zu haben, was er meinte, aber ich konnte mir selbst nicht recht erklären, was ich verstanden hatte, noch konnte ich es Don Juan erklären. Als ich versuchte meine Gedanken in Worte zu fassen, brachte ich nur ein Stammeln heraus.
Don Juan schien meine seelische Verfassung zu erkennen. Er schlug vor, ich solle mich entspannen und zuhören. Seine nächste Geschichte, sagte er, handele davon, wie der Lehrling in die Sphäre des Geistes geführt werde - ein Prozeß, den die Zauberer als Illusionstricks des Geistes bezeichnen oder als Läutern des Bindeglieds zur Absicht.
»Ich habe dir bereits die Geschichte erzählt, wie der Nagual Julian mich, nachdem ich angeschossen worden war, in sein Haus brachte und meine Wunde pflegte, bis ich mich erholt hatte«, fuhr Don Juan fort. »Aber ich habe dir nicht erzählt, wie er mein Bindeglied läuterte, wie er mich lehrte, mich selbst anzupirschen.
Das erste, was ein Nagual mit seinem künftigen Lehrling tut, ist, ihn durch einen Trick zu täuschen. Das heißt, er versetzt seinem Bindeglied zum Geist einen Stoß. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine läuft über halbwegs normale Bahnen, wie ich es bei dir machte; die andere geschieht durch Mittel regelrechter Zauberei, wie mein Wohltäter sie bei mir einsetzte.«
Wieder erzählte Don Juan mir die Geschichte, wie sein Wohltäter die Leute, die an der Straße zusammengelaufen waren, davon überzeugte, daß der Verwundete sein Sohn wäre. Dann bezahlte er ein paar Leute dafür, daß sie Don Juan, noch immer bewußtlos vom Schock und vom Blutverlust, zu seinem Haus trugen. Dort erwachte Don Juan nach Tagen und sah sich einem freundlichen alten Mann und seiner dicken Frau gegenüber, die seine Wunde pflegten.
Der alte Mann sagte, daß er Belisario heiße und daß seine Frau eine berühmte Heilerin sei; sie beide würden seine Wunde heilen. Don Juan sagte ihm, er habe kein Geld, aber Belisario schlug vor, die Zahlung werde sich schon irgendwie regeln lassen, wenn er erst geheilt wäre.
Don Juan erzählte, er sei damals ganz verwirrt gewesen, was für ihn kein unbekannter Zustand war. Er war nur ein muskulöser, rücksichtsloser Indianer von zwanzig Jahren, ohne Hirn und ohne Bildung, und mit einem schlimmen Charakter. Er hatte keine Ahnung von Dankbarkeit. Er fand es recht freundlich von dem Alten und seiner Frau, daß sie ihm geholfen hatten. Aber er hatte die Absicht, zu warten, bis seine Wunde geheilt wäre, und dann einfach in der Nacht zu verschwinden.
Als er sich einigermaßen erholt hatte und an Flucht dachte, führte der alte Belisario ihn in ein Zimmer und vertraute ihm flüsternd an, daß das Haus, in dem sie lebten, einem Ungeheuer gehöre, das ihn und seine Frau als Gefangene hielt. Er bat Don Juan, er möge ihnen helfen, ihrem Zwingherrn und Quälgeist zu entfliehen und ihre Freiheit wiederzuerlangen. Bevor Don Juan antworten konnte, platzte ein fischköpfiges Ungeheuer - wie aus dem Schauermärchen - in das Zimmer, als habe es vor der Tür gelauscht. Es war von grünlich-grauer Farbe, hatte nur ein starres Auge mitten auf der Stirn und war groß wie eine Tür. Er stürzte sich auf Don Juan zischend wie eine Schlange und bereit, ihn in Stücke zu reißen, und jagte ihm einen solchen Schrecken ein, daß er in Ohnmacht fiel.
»Seine Methode, meinem Bindeglied zum Geist einen Stoß zu versetzen, war meisterhaft«, lachte Don Juan. »Mein Wohltäter hatte mich natürlich vor dem Auftritt des Ungeheuers in den Zustand gesteigerter Bewußtheit wechseln lassen, und was ich tatsächlich als Ungeheuer sah, war etwas, das die Zauberer als anorganisches Wesen bezeichnen, ein formloses Energiefeld.«
Don Juan sagte, er wisse von unzähligen Fällen, in denen die teuflische Art seines Wohltäters spaßig peinliche Situationen für all seine Lehrlinge geschaffen habe, besonders für Don Juan, dessen steifer Ernst ihn zur perfekten Zielscheibe für die lehrreichen Scherze seines Wohltäters machte. Nach kurzem Überlegen fügte er hinzu, diese Scherze hätten seinem Wohltäter natürlich viel Spaß gemacht.
»Falls du glaubst, ich lache über dich - was ich tu -, so ist es nichts im Vergleich zu der Art, wie er über mich lachte«, fuhr Don Juan fort. »Mein teuflischer Wohltäter hatte gelernt zu weinen, um sein Lachen zu verbergen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie er weinte, als ich meine Lehrzeit begann.«
Don Juan fuhr fort mit seiner Geschichte und meinte, sein Leben sei nach dem Schock, als er jenes Ungeheuer sah, nie wieder geworden wie vorher. Dafür sorgte sein Wohltäter. Don Juan erklärte, daß ein Nagual, sobald er seinen künftigen Schüler, besonders seinen Nagual-Schüler, in die Illusionstricks eingeführt hat, versuchen muß, sich dessen Einwilligung zu sichern. Diese Einwilligung könne auf zweierlei Art erfolgen. Entweder der künftige Schüler ist so diszipliniert und eingestimmt, daß es nur seiner Entscheidung bedarf, sich dem Nagual anzuschließen, wie es bei der jungen Talia der Fall gewesen war. Oder der künftige Schüler hat wenig oder gar keine Disziplin und in diesem Fall muß ein Nagual viel Zeit und Mühe aufwenden, um seinen Schüler zu gewinnen. Im Falle Don Juans, der ein ungebärdiger junger Bauer war, ohne jeden Gedanken im Kopf, nahm das Bemühen, ihn zu gewinnen, zwei groteske Wendungen.
Bald nach dem ersten Stoß versetzte sein Wohltäter ihm einen zweiten, indem er Don Juan seine Verwandlungskunst zeigte. Eines Tages wurde sein Wohltäter ein junger Mann. Don Juan konnte sich diese Verwandlung nicht anders erklären denn als Beispiel einer mitreißenden Schauspielkunst.
»Wie erreichte er solche Veränderungen?« fragte ich.
»Er war ein Magier und auch ein Künstler«, antwortete Don Juan. »Seine Magie war, daß er sich verwandelte, indem er seinen Montagepunkt in jene Position bewegte, die die jeweils von ihm gewünschte Veränderung herbeiführte. Seine Kunst war, diese Verwandlungen zu vervollkommnen.«
»Ich verstehe noch immer nicht, was du mir da erzählst«, sagte ich.
Die Wahrnehmung, sagte Don Juan, ist der Angelpunkt all dessen, was der Mensch ist und tut, und die Wahrnehmung wird bestimmt durch die Lage des Montagepunktes. Wenn also dieser Punkt seine Position verändert, so verändert sich entsprechend auch die Art, wie der Mensch die Welt wahrnimmt. Ein Zauberer, der weiß, wohin er seinen Montagepunkt verschieben muß, kann alles werden, was er nur will.
»Der Nagual Julian konnte seinen Montagepunkt mit so wunderbarer Kunstfertigkeit bewegen, daß er die subtilsten Verwandlungen hervorrufen konnte«, fuhr Don Juan fort. »Wenn ein Zauberer zum Beispiel eine Krähe wird, so ist dies gewiß eine große Leistung. Doch es erfordert eine weite und daher unscharfe Verschiebung des Montagepunkts. Diesen aber in die Position eines dicken Mannes, eines alten Mannes zu bewegen, erfordert eine ganz winzige Verschiebung und die genaueste Kenntnis der menschlichen Natur.«
»Ich möchte von solchen Dingen lieber nicht als Tatsachen denken oder sprechen«, sagte ich.
Don Juan lachte, als hätte ich etwas unglaublich Spaßiges gesagt.
»Gab es denn einen Grund für die Verwandlungen deines Wohltäters?« fragte ich. »Oder amüsierte er sich nur?«
»Sei nicht dumm. Die Krieger tun nichts, nur um sich zu amüsieren«, antwortete er. »Seine Verwandlungen waren strategischer Art. Sie waren diktiert von der Notwendigkeit, wie etwa seine Verwandlung von Alt zu Jung. Hin und wieder waren die Konsequenzen spaßig, aber das ist eine andere Geschichte.«
Ich erinnerte ihn daran, daß ich ihn früher einmal gefragt hatte, wie sein Wohltäter diese Verwandlungen erlernt habe. Er hatte mir damals erzählt, sein Wohltäter habe einen Lehrer gehabt. Doch wer das sei, wollte er mir nicht sagen.
»Jener ganz geheimnisvolle Zauberer, der unser Schutzbefohlener ist, hat es ihn gelehrt«, antwortete Don Juan kurz.
»Welcher geheimnisvolle Zauberer?« fragte ich.
»Der dem Tod Trotzende«, sagte er und sah mich fragend an. Für alle Zauberer aus Don Juans Nagual-Zug war der dem Tode Trotzende eine höchst lebendige Figur. Der dem Tod Trotzende war, wie sie glaubten, ein Zauberer aus alten Zeiten. Es sei ihm gelungen, bis zum heutigen Tag am Leben zu bleiben, indem er seinen Montagepunkt manipulierte und auf bestimmte Art und Weise an bestimmte Stellen innerhalb seines gesamten Energiefeldes bewegte. Solche Manöver hatten ihm den Fortbestand seines Bewußtseins und seiner Lebenskraft ermöglicht.
Don Juan hatte mir von dem Abkommen erzählt, das die Seher seiner Schule vor Jahrhunderten mit jenem dem Tode Trotzenden geschlossen hatten. Er machte ihnen Geschenke, im Tausch gegen Lebenskraft. Aufgrund dieser Vereinbarung betrachteten sie ihn als ihren Schutzbefohlenen und nannten ihn den »Pächter«.
Don Juan hatte mir erklärt, daß die Zauberer alter Zeiten Meister darin waren, ihren Montagepunkt zu bewegen. Dabei entdeckten sie außerordentliche Tatsachen über die Wahrnehmung; aber sie entdeckten auch, wie leicht es war, sich auf Abwege zu verirren. Die Situation des dem Tode Trotzenden war für Don Juan ein klassisches Beispiel für eine solche Verirrung.
Don Juan wiederholte mir bei jeder Gelegenheit, daß der Montagepunkt, von jemandem angestoßen, der ihn nicht nur sieht, sondern auch genug Energie hat, um ihn zu bewegen, an jede Stelle im Innern der leuchtenden Kugel gleitet, wohin der Schiebende ihn lenken mag. Sein Strahlen genügt, um die faserförmigen Energiefelder zu entzünden, die er berührt. Die daraus folgende Wahrnehmung der Welt, sagte Don Juan, sei ebenso vollständig und doch nicht dieselbe wie unsere normale Wahrnehmung der Alltagswelt; darum sei Besonnenheit das Wichtigste bei der Bewegung des Montagepunktes.
Don Juan fuhr fort mit seiner Geschichte und sagte, er habe sich bald daran gewöhnt, den alten Mann, der ihm das Leben gerettet hatte, als einen in Wirklichkeit jungen Mann zu sehen, der sich als Greis verkleidet hatte. Eines Tages aber sei der junge Mann wieder der alte Belisario gewesen, den Don Juan kennengelernt hatte. Er und die Frau, die Don Juan für seine Gattin hielt, packten ihre Koffer, und aus dem Nichts tauchten zwei grinsende Männer mit einem Maultiergespann auf.
Lachend genoß Don Juan seine Geschichte. Während die Maultiertreiber ihre Maultiere bepackten, so erzählte er, führte Belisario ihn zur Seite und erklärte ihm, daß er und seine Frau sich wieder verkleidet hätten. Er war wieder ein alter Mann, und seine schöne Frau war eine übellaunige fette Indianerin.
»Ich war so jung und blöde, daß nur das Offensichtliche für mich zählte«, fuhr Don Juan fort. »Erst vor wenigen Tagen hatte ich seine unglaubliche Verwandlung aus einem schwachen Greis von siebzig Jahren in einen kräftigen jungen Mann von Mitte zwanzig erlebt, und ich glaubte ihm aufs Wort, daß das Alter nur eine Verkleidung sei. Seine Frau hatte sich aus einer mürrischen, fetten Indianerin in eine schöne und schlanke junge Frau verwandelt. Die Frau hatte sich natürlich nicht auf dieselbe Weise verwandelt wie mein Wohltäter. Er hatte ganz einfach die Frau verändert. Natürlich hätte ich das alles damals erkennen können, aber klug werden wir immer nur langsam und schrittweise.«
Der alte Mann, sagte Don Juan, habe ihm versichert, daß seine Wunde nun geheilt sei, auch wenn er sich noch nicht völlig wohl fühlte. Dann umarmte er Don Juan und flüsterte mit wahrhaft trauriger Stimme: »Du hast dem Ungeheuer so gut gefallen, daß es mich und meine Frau aus der Knechtschaft entlassen hat, um dich als seinen einzigen Diener zu nehmen.«
»Ich hätte ihn ausgelacht«, fuhr Don Juan fort, »wäre nicht dieses dumpfe tierische Knurren und ein fürchterliches Gepolter gewesen, das aus den Zimmern des Ungeheuers kam.«
Don Juans Augen leuchteten vor innerer Wonne. Ich versuchte ernst zu bleiben, aber ich mußte unwillkürlich lachen.
Belisario, der Don Juans Furcht erkannte, entschuldigte sich überschwänglich für diese Laune des Schicksals, die ihn selbst in die Freiheit und Don Juan in die Sklaverei geführt habe. Er schnalzte verächtlich mit der Zunge und verfluchte das Ungeheuer. Tränen standen ihm in den Augen, als er all die Pflichten aufzählte, die das Ungeheuer jeden Tag erfüllt sehen wollte. Und als Don Juan protestierte, vertraute er ihm an, daß es keinen Ausweg gäbe, weil das Ungeheuer über unerreichbare Kenntnisse der Hexerei verfüge.
Don Juan bat Belisario, ihm irgendeine Strategie zu empfehlen. Und Belisario begann mit einer weitschweifigen Erklärung, daß strategische Pläne lediglich im Umgang mit normalen Menschen angebracht wären. In menschlichen Situationen könnten wir Pläne und Ränke schmieden und damit - je nach unserem Glück, unserer List und Entschlossenheit - auch Erfolg haben. Doch angesichts des Unbekannten, und besonders in Don Juans Situation, könne man nur auf ein Überleben hoffen, wenn man bereit sei, zu verstehen und sich zu fügen.
Kaum hörbar murmelnd, gestand Belisario Don Juan, er werde nach dem Staat Durango ziehen und dort die Zauberei erlernen, um sicherzugehen, daß das Ungeheuer ihn nie mehr verfolgen könne. Er fragte Don Juan, ob auch er daran dächte, die Zauberei zu erlernen. Don Juan, ganz entsetzt bei der bloßen Vorstellung, erklärte, mit Hexen wolle er nichts zu tun haben.
Don Juan hielt sich den Bauch vor Lachen und gab zu, daß es ihm Spaß mache, sich auszumalen, wie sein Wohltäter diesen Wortwechsel genossen haben mochte. Besonders als er selbst, starr vor Angst und Selbstgerechtigkeit, diese harmlose Einladung, die Zauberei zu erlernen, mit den Worten zurückwies: »Ich bin ein Indianer. Von Geburt bin ich dazu erzogen, Hexen zu hassen.« Belisario wechselte Blicke mit seiner Frau, und sein Körper begann zu zittern. Don Juan merkte, daß er lautlos weinte - offensichtlich verletzt durch die Zurückweisung. Seine Frau mußte ihn stützen, bis er seine Haltung wiederfand.
Nachdem Belisario und seine Frau gegangen waren, kehrte er noch einmal zurück, um Don Juan einen letzten guten Rat zu geben. Er sagte, daß das Ungeheuer Frauen verabscheue und er, Don Juan, sich nach einem männlichen Ersatz umsehen solle - für den unwahrscheinlichen Fall, daß das Ungeheuer an diesem Gefallen finden und die Sklaven wechseln mochte. Allerdings dürfe er sich nicht zuviel erhoffen, denn es könne Jahre dauern, bevor das Ungeheuer ihm erlaubte, das Haus zu verlassen. Das Ungeheuer wolle sichergehen, daß seine Sklaven ihm treu ergeben oder doch gehorsam wären.
Don Juan hielt es nicht mehr aus. Er brach weinend zusammen und sagte zu Belisario, daß niemand ihn versklaven könne. Er habe immer die Möglichkeit, sich umzubringen. Der Alte, gerührt durch Don Juans Gefühlsausbruch, gestand ihm, er habe einst denselben Gedanken gehabt; leider jedoch habe das Ungeheuer seine Gedanken gelesen und ihn daran gehindert, sich das Leben zu nehmen, so oft er es auch versuchte.
Belisario erneuerte sein Angebot, Don Juan nach Durango mitzunehmen, um dort die Zauberei zu erlernen. Dies sei die einzige Möglichkeit. Dieser Vorschlag, sagte Don Juan zu ihm, sei wie ein Sprung vom Regen in die Traufe.
Belisario weinte laut und umarmte Don Juan. Er verfluchte den Augenblick, als er dem anderen das Leben gerettet hatte, und beteuerte, er habe nicht ahnen können, daß sie einst Plätze tauschen würden. Er putzte sich die Nase, sah Don Juan mit geröteten Augen an und sagte: »Verkleidung ist die einzige Möglichkeit, zu überleben. Wenn du dich nicht richtig benimmst, kann das Ungeheuer deine Seele rauben und dich in einen Idioten verwandeln, der nichts anderes kann, als seine häuslichen Pflichten zu erfüllen. Wie schade, daß ich keine Zeit habe, dich die Schauspielerei zu lehren.« Und er weinte noch mehr.
Don Juan bat ihn mit tränenerstickter Stimme, ihm doch zu verraten, wie er sich verkleiden könne. Belisario vertraute ihm an, daß das Ungeheuer furchtbar kurzsichtig sei, und empfahl Don Juan, mit verschiedenen Kleidern zu experimentieren, ganz wie es ihm gefiel. Immerhin habe er jahrelang Zeit, um verschiedene Verkleidungen auszuprobieren. Er umarmte Don Juan vor der Tür und weinte hemmungslos. Seine Frau streichelte schüchtern Don Juans Hand. Dann waren sie fort.
»Niemals in meinem Leben, weder vorher noch nachher, habe ich solche Angst und Verzweiflung empfunden«, sagte Don Juan. »Das Ungeheuer polterte im Haus, als warte es ungeduldig auf mich. Ich setzte mich neben die Tür und winselte wie ein kranker Hund. Dann erbrach ich mich vor Angst.«
Stundenlang saß Don Juan dort und wagte nicht, sich zu bewegen. Er wagte nicht, fortzulaufen, er wagte nicht, ins Haus zu gehen. Man könne ohne Übertreibung sagen, meinte er, daß er nah daran war zu sterben, als er Belisario sah, der auf der anderen Straßenseite heftig mit den Armen fuchtelte und seine Aufmerksamkeit zu erregen suchte. Ihn nur wiederzusehen, brachte Don Juan sofort Erleichterung. Belisario hockte am Bürgersteig und beobachtete das Haus. Er bedeutete Don Juan zu bleiben, wo er war.
Nach qualvoll langer Pause kroch Belisario auf Händen und Knien ein paar Meter in Don Juans Richtung, dann blieb er wieder völlig reglos hocken. So rückte er kriechend vor, bis er bei Don Juan angekommen war. Es dauerte Stunden. Viele Passanten waren vorbeigegangen, aber niemand schien Don Juans Verzweiflung oder das Verhalten des Alten bemerkt zu haben. Als die beiden nebeneinander saßen, flüsterte Belisario, es sei ihm als unrecht erschienen, Don Juan zurückzulassen wie einen am Pfosten angelernten Hund. Seine Frau habe ihm Vorwürfe gemacht; er aber sei zurückgekehrt, um ihn zu retten. Immerhin habe er Don Juan seine Freiheit zu verdanken.
In gebieterischem Flüsterton fragte er Don Juan, ob er bereit wäre, um seiner Notlage zu entrinnen. Don Juan beteuerte, er werde alles tun. Belisario steckte Don Juan verstohlen ein Kleiderbündel zu. Dann skizzierte er seinen Plan. Don Juan sollte sich in den Winkel des Hauses begeben, der von den Zimmern des Ungeheuers am weitesten entfernt lag, und sich dort langsam ausziehen, immer ein Kleidungsstück nach dem anderen, angefangen mit seinem Hut und die Schuhe aufsparend bis zuletzt. Dann sollte er seine Kleider über ein Holzgestell streifen, ein Gebilde ähnlich einer Kleiderpuppe, das er schnell und praktisch bauen sollte, sobald er im Innern des Hauses wäre. Als nächsten Schritt sah der Plan vor, daß Don Juan die einzige Verkleidung anlegen sollte, die das Ungeheuer täuschen konnte: die Kleider in dem Bündel.
Don Juan lief ins Haus und bereitete alles vor. Er baute eine Art Vogelscheuche aus Latten, die er hinter dem Hause fand, zog seine Kleider aus und hängte sie darüber. Doch als er das Bündel aufschnürte, erlebte er die Überraschung seines Lebens. Das Bündel enthielt Frauenkleider!
»Ich fühlte mich dumm und verloren«, sagte Don Juan, »und ich wollte schon meine eigenen Sachen wieder anziehen, als ich das unmenschliche Knurren des Ungeheuers hörte. Ich war in dem Glauben erzogen, daß Frauen verächtlich wären, und nur dazu da, den Männern zu dienen. Frauenkleider anzuziehen, das bedeutete für mich soviel, wie eine Frau zu werden. Aber meine Angst vor dem Ungeheuer war so groß, daß ich die Augen schloß und die verdammten Kleider anzog.«
Ich sah Don Juan an und stellte ihn mir in Frauenkleidern vor. Es war eine so alberne Vorstellung, daß ich wider Willen in ein schallendes Gelächter ausbrach.
Don Juan erzählte, daß der alte Belisario, der ihn auf der anderen Straßenseite erwartete, hemmungslos zu weinen anfing, als er Don Juan in dieser Verkleidung sah. Weinend geleitete er Don Juan zum Rande der Stadt, wo seine Frau mit den zwei Maultiertreibern wartete. Einer der beiden fragte Belisario ganz unverschämt, ob er dieses ulkige Mädchen entfuhren und ins Bordell verkaufen wolle. Der Alte weinte so sehr, daß er einer Ohnmacht nahe schien. Die jungen Maultiertreiber wußten nicht, was sie tun sollten, doch Belisarios Frau, statt zu jammern, fing schallend an zu lachen. Und Don Juan verstand nicht, warum.
In der Dunkelheit brach die Gruppe auf. Sie zogen auf wenig begangenen Pfaden stetig nach Norden. Belisario sprach nicht viel. Offenbar fürchtete er sich und erwartete Schwierigkeiten. Seine Frau zankte die ganze Zeit mit ihm und klagte, sie hätten ihre Chance auf Freiheit verspielt, indem sie Don Juan mitnahmen. Belisario gab ihr den strikten Befehl, nicht mehr davon zu sprechen, weil er fürchtete, die Maultiertreiber könnten herausfinden, daß Don Juan verkleidet war. Er ermahnte Don Juan, er solle, weil er sich nicht überzeugend wie eine Frau zu verhalten wußte, wenigstens so tun, als sei er ein geistesgestörtes Mädchen.
Nach wenigen Tagen hatte Don Juans Furcht nachgelassen. Ja, er wurde so zuversichtlich, daß er sich kaum noch an seine Furcht erinnerte. Wären die Kleider nicht gewesen, die er trug, er hätte sich einbilden können, das ganze Erlebnis sei nur ein Traum gewesen.
Unter solchen Bedingungen in Frauenkleidern herumzulaufen, erforderte natürlich eine Reihe von gründlichen Veränderungen. Belisarios Frau gab Don Juan allen Ernstes Nachhilfestunden in fraulichem Verhalten. Don Juan half ihr kochen, waschen und Feuerholz sammeln. Belisario rasierte Don Juan den Kopf und bestrich ihn mit einer übelriechenden Tinktur; den Maultiertreibern erzählte er, das Mädchen sei von Läusen befallen gewesen. Weil er damals noch immer ein bartloser Junge war, sagte Don Juan, sei es nicht schwer gewesen, sich als Frau auszugeben. Doch er haßte sich und all diese Leute, und vor allem sein Schicksal. In Frauenkleidern herumzulaufen und Frauenarbeit zu tun, das war mehr, als er ertragen konnte.
Eines Tages hatte er genug. Die Maultiertreiber brachten das Faß zum Überlaufen. Sie erwarteten und verlangten, daß dieses sonderbare Mädchen sie hingebungsvoll bediene. Don Juan mußte sich dauernd ihrer Annäherungsversuche erwehren.
Ich fühlte mich gezwungen, eine Frage zu stellen.
»Steckten die Maultiertreiber mit deinem Wohltäter unter einer Decke?« fragte ich.
»Nein«, antwortete er und lachte schallend. »Sie waren einfach zwei brave Leute, die zeitweilig in seinen Bann geraten waren. Er hatte ihre Maultiere gemietet, um Heilpflanzen zu transportieren, und ihnen erzählt, er wolle sie ordentlich entlohnen, wenn sie ihm halfen, eine junge Frau zu kidnappen.
Die Taten, zu denen der Nagual Julian fähig war, überforderten meine Phantasie. Ich versuchte mir Don Juan vorzustellen, wie er sich sexueller Avancen erwehrte, und brüllte vor Lachen.
Don Juan setzte seinen Bericht fort. Damals habe er ein ernstes Wort mit dem Alten gesprochen, sagte er. Die Maskerade hatte lange genug gedauert, die Männer machten bereits Annäherungsversuche. Belisario aber empfahl ihm unbekümmert, etwas mehr Verständnis aufzubringen; Männer seien nun einmal Männer. Und wieder fing er an zu weinen - zur größten Verblüffung Don Juans, der schließlich die Frauen heftig verteidigte.
So leidenschaftlich beklagte er das Los der Frauen, daß er über sich selbst erschrak. Er sagte zu Belisario, es ginge ihm nun so schlecht, daß er lieber der Sklave des Ungeheuers geblieben wäre.
Don Juans Unruhe steigerte sich noch, als der Alte, hemmungslos weinend, dummes Zeug zu schwatzen begann: Das Leben sei süß, und der geringe Preis, den man dafür bezahlen müsse, sei doch ein Witz. Das Ungeheuer werde Don Juans Seele verschlingen und ihm nicht einmal gestatten, sich umzubringen. »Flirte doch mit den Maultiertreibern«, empfahl er Don Juan in beschwichtigendem Ton. »Sie sind primitive Bauern. Sie wollten nur ein wenig spielen. Stoße zurück, wenn sie dich schubsen. Laß sie dein Bein streicheln. Was kümmert es dich?« Und wieder weinte er hemmungslos. Don Juan fragte ihn, warum er so weine. »Weil du der perfekte Mann bist für all dies«, sagte er, und sein Körper krümmte sich unter leidenschaftlichem Schluchzen.
Don Juan dankte ihm für seinen guten Willen, für all die Mühe, die er sich um seinetwillen machte. Aber, so sagte er zu Belisario, jetzt fühle er sich in Sicherheit und wolle gehen.
»Die Kunst des Pirschens besteht darin, alle Feinheiten deiner Verkleidung zu erlernen«, sagte Belisario, ohne auf Don Juans Worte zu achten. »Und sie besteht darin, sie so gut zu lernen, daß niemand merkt, daß du verkleidet bist. Zu diesem Zweck mußt du rücksichtslos, listig, geduldig und sanft sein.«
Don Juan hatte keine Ahnung, wovon Belisario redete. Aber statt nachzufragen, bat er ihn um Männerkleidung. Belisario war sehr verständnisvoll. Er gab Don Juan einige alte Kleidungsstücke und ein paar Pesos. Er versprach Don Juan, seine Verkleidung werde immer für ihn bereit liegen, falls er sie brauchte. Noch einmal drängte er ihn, mit nach Durango zu kommen, um dort die Zauberei zu erlernen und sich für immer von dem Ungeheuer zu befreien. Don Juan lehnte ab. Darum sagte Belisario ihm Lebewohl und klopfte ihm den Rücken - mehrmals mit beträchtlicher Kraft. Don Juan zog sich um und fragte Belisario nach dem Weg. Wenn Don Juan dem Pfad nach Norden folge, antwortete er, werde er früher oder später die nächste Stadt erreichen. Es sei gut möglich, sagte er, daß sie sich über den Weg liefen; denn schließlich strebten sie alle in die gleiche Richtung - fort von dem Ungeheuer. Endlich befreit, machte sich Don Juan auf den Weg, so schnell er konnte. Er war vier bis fünf Meilen gelaufen, bevor er auf menschliche Spuren stieß. Er wußte, daß eine Stadt in der Nähe war, und gedachte, dort Arbeit zu finden, bis er sich entschlossen hätte, wohin er gehen wollte. Er setzte sich, um einen Moment zu rasten, und rechnete nur mit den normalen Schwierigkeiten, die einem Fremden in einer kleinen, abgelegenen Stadt widerfahren, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung im Gebüsch neben dem Maultierpfad entdeckte. Er spürte, daß jemand ihn beobachtete. Er erschrak so sehr, daß er aufsprang und zur Stadt zu laufen anfing; das Ungeheuer sprang ihm nach und stürzte sich auf ihn, um ihn am Hals zu packen. Es verfehlte ihn nur um Zentimeter. Don Juan schrie, wie er noch nie geschrien hatte; aber er hatte genügend Selbstbeherrschung, um kehrtzumachen und in die Richtung zu laufen, aus der er gekommen war.
Während Don Juan um sein Leben rannte, verfolgte das Ungeheuer ihn durch die Büsche - nur wenige Meter von ihm entfernt. Don Juan sagte, es sei das fürchterlichste Geräusch gewesen, das er jemals gehört hätte. Endlich sah er in der Feme die langsam trottenden Maultiere und schrie um Hilfe.
Belisario erkannte Don Juan. Mit allen Anzeichen des Entsetzens lief er ihm entgegen. Er warf Don Juan das Bündel Frauenkleider zu und rief: »Renne wie eine Frau, du Narr!«
Don Juan gestand, er habe nicht gewußt, woher er die Geistesgegenwart nahm, um zu laufen wie eine Frau; aber er tat es. Das Ungeheuer verfolgte ihn nicht mehr. Und Belisario befahl ihm, sich rasch umzukleiden, während er selbst das Ungeheuer fernhalten wollte.
Gesenkten Kopfes gesellte sich Don Juan zu Belisarios Frau und den grinsenden Maultiertreibern. Sie kehrten um und zogen auf anderen Pfaden weiter. Tagelang sprach niemand ein Wort; dann begann Belisario, ihn täglich zu unterrichten. Die Indianerfrauen, so belehrte er Don Juan, seien praktisch veranlagt und kämen immer direkt zum Kern der Sache. Aber sie seien auch sehr schüchtern und zeigten bei Gefahr körperliche Anzeichen von Furcht - zum Beispiel unruhige Augen, angespannten Mund und geweitete Nasenflügel. All diese Zeichen gingen einher mit einer furchtsamen Halsstarrigkeit, gefolgt von schüchternem Lachen.
In jeder Stadt, die sie passierten, zwang er Don Juan, seine Kenntnisse in fraulichem Verhalten zu üben. Und Don Juan glaubte allen Ernstes, daß er ihm Schauspielunterricht erteile. Doch Belisario behauptete, er lehre ihn die Kunst des Pirschens. Das Pirschen, sagte er zu Don Juan, sei eine Kunst, die man auf alles anwenden könne. Man lerne es in vier Schritten: Rücksichtslosigkeit, List, Geduld und Sanftheit.
Ich fühlte mich wieder gezwungen, seinen Bericht zu unterbrechen.
»Aber wird das Pirschen nicht in einem extrem gesteigerten Bewußtseinszustand gelehrt?«
»Gewiß«, erwiderte er grinsend. »Aber du mußt wissen, das Herumlaufen in Frauenkleidern ist für manche Männer eine Tür zum gesteigerten Bewußtsein. Solche Mittel sind sogar wirksamer als ein Stoß gegen den Montagepunkt, aber leider sind sie nur schwer zu arrangieren.«
Sein Wohltäter, sagte Don Juan, exerzierte mit ihm jeden Tag die Stimmungen des Pirschens. Don Juan müsse begreifen, verlangte er, daß Rücksichtslosigkeit niemals Härte sein dürfe, List niemals Grausamkeit, Geduld niemals Nachlässigkeit und Sanftheit niemals Albernheit.
Er lehrte ihn, daß diese vier Schritte geübt und vervollkommnet werden müßten, bis sie so glatt von der Hand gingen, daß sie unbemerkt blieben. Er glaubte, die Frauen wären geborene Pirscherinnen. Er glaubte so fest daran, daß er behauptete, nur als Frau verkleidet könne ein Mann wirklich die Kunst des Pirschens erlernen.
»In jeder Stadt, die wir passierten, gingen wir zusammen auf den Markt, und ich feilschte mit jedermann«, fuhr Don Juan fort. »Mein Wohltäter stand neben mir und beobachtete mich. >Sei rücksichtslos, aber charmant<, pflegte er zu sagen. >Sei listig, aber freundlich. Sei sanft, aber lebensgefährlich. Nur Frauen sind dazu fähig. Wenn ein Mann so handelt, benimmt er sich nur geziert.<« Manchmal tauchte das Ungeheuer auf, als wollte es dafür sorgen, daß Don Juan auf dem richtigen Kurs blieb. Don Juan sah es manchmal durch das Land streifen. Er sah es meist, nachdem Belisario ihm kräftig den Rücken massiert hatte - angeblich, um einen stechenden Nervenschmerz in seinem Nacken zu lindem. Don Juan lachte und meinte, er habe keine Ahnung gehabt, daß er in den Zustand gesteigerter Bewußtheit hineinmanipuliert wurde. »Es dauerte einen Monat, bis wir die Stadt Durango erreichten«, fuhr Don Juan fort. »In diesem Monat bekam ich einen Vorgeschmack auf die vier Stimmungen des Pirschens. Es veränderte mich eigentlich kaum, aber es gab mir eine Ahnung, was es heißt, eine Frau zu sein.«
Er schwieg lange, wie mir schien. Dann machte er eine Bemerkung, die mich eigentlich nicht überraschen sollte - aber sie tat es. Er sagte, er habe mich im Norden Mexikos die vier Stimmungen des Pirschens gelehrt, und zwar mit Hilfe von Vicente Medrano und Silvio Manuel. Er gab dazu keine weitere Erklärung, sondern ließ seine Worte nachwirken. Ich versuchte mich zu erinnern, aber schließlich gab ich es auf. Am liebsten hätte ich schreiend beteuert, ich könnte mich nicht erinnern an etwas, das niemals stattgefunden habe.
Während ich meinen Protest vorzubringen suchte, beschlichen mich ängstliche Zweifel. Ich wußte, Don Juan sagte so etwas nicht, um mich zu ärgern. Wie immer, wenn ich mich an Zustände gesteigerter Bewußtheit erinnern sollte, wurde mir schmerzlich bewußt, daß eigentlich kein Zusammenhang bestand zwischen den Ereignissen, die ich unter seiner Führung erlebte. Diese Ereignisse hingen nicht in zeitlicher Reihenfolge zusammen, wie die Ereignisse meines Alltagslebens es taten. Es war gut möglich, daß Don Juan recht hatte. In seiner Welt gab es nichts, dessen ich mir sicher sein durfte.
Ich wollte meine Zweifel äußern, aber er hörte mich nicht an; vielmehr forderte er mich auf, mich zu erinnern. Inzwischen war es ganz dunkel geworden. Ein Wind war aufgekommen, aber ich spürte keine Kälte. Don Juan hatte mir einen flachen Stein gegeben, den ich mir auf die Brust legen sollte. Mein Bewußtsein nahm die ganze Umgebung sehr scharf wahr. Plötzlich spürte ich einen Sog, der weder von außen noch von innen zu kommen schien; vielmehr war es ein Gefühl, als ob irgend etwas unentwegt an einem Teil von mir zerrte. Und dann erinnerte ich mich mit erschütternder Klarheit an eine Begegnung, die ich vor ein paar Jahren gehabt hatte. Ich erinnerte mich an Ereignisse und Menschen - so lebhaft, daß es mich erschreckte. Ich schauderte.
Ich erzählte es Don Juan, der nicht beeindruckt schien. Er ermahnte mich nur, meiner seelischen oder körperlichen Furcht nicht nachzugehen.
Meine Erinnerung war so phänomenal, daß es schien, als erlebte ich das Ereignis noch einmal. Don Juan schwieg. Er sah mich nicht einmal an. Ich war wie betäubt. Das Gefühl der Betäubung wich nur langsam. Ich sagte zu Don Juan, was ich ihm immer sagte, wenn ich mich an ein Ereignis ohne zeitliche Reihenfolge erinnerte.
»Wie kann das sein, Don Juan? Wie konnte ich all dies vergessen?«
Und er beruhigte mich, wie er es in solchen Fällen tat.
»Dies ist eine Art von Vergessen, die nichts mit der normalen Erinnerung zu tun hat«, versicherte er mir. »Es hängt zusammen mit der Bewegung des Montagepunktes.«
Ich wisse zwar sehr genau, was die Absicht sei, sagte er, aber ich beherrschte dieses Wissen noch nicht. Wenn man wisse, was die Absicht sei, müsse man dieses Wissen jederzeit erklären oder anwenden können. Ein Nagual sei aufgrund seiner Stellung verpflichtet, sein Wissen auf diese Weise zu beherrschen.
»Woran hast du dich erinnert?« fragte er mich.
»An das erste Mal, als du mir von den vier Stimmungen des Pirschens erzähltest«, sagte ich.
Irgendein Vorgang, unerklärlich in den Begriffen meines gewohnten Bewußtseins von dieser Welt, hatte eine Erinnerung freigesetzt, die einen Moment vorher noch nicht existiert hatte. Und ich erinnerte mich an eine ganze Kette von Ereignissen, die vor vielen Jahren geschehen waren.
Gerade als ich Don Juans Haus in Sonora verlassen wollte, hatte er mich gebeten, ihn an einem bestimmten Tag der folgenden Woche zu treffen - gegen Mittag, jenseits der US-Grenze, in Nogales, Arizona, an der Greyhound-Busstation.
Ich kam etwa eine Stunde zu früh. Er stand an der Tür. Ich begrüßte ihn. Er antwortete nicht, sondern zog mich hastig beiseite und flüsterte, ich solle meine Hände aus den Hosentaschen nehmen. Ich war sprachlos. Er ließ mir keine Zeit zu antworten, sondern sagte, mein Hosenschlitz stünde offen, und es sei schändlich offenbar, daß ich sexuell erregt wäre.
Das Tempo, mit dem ich mich hastig bedeckte, war phänomenal. Bis ich erkannte, daß es ein grober Scherz war, standen wir auf der Straße. Don Juan lachte und schlug mich auf den Rücken, wiederholt und kräftig, als belustige er sich nur über den Scherz. Plötzlich fand ich mich in einem Zustand gesteigerter Bewußtheit. Wir gingen in ein Café und setzten uns. Meine Sinne waren so scharf, daß ich alles anschauen wollte und meinte, das Wesen der Dinge zu sehen.
»Verschwende keine Energie!« befahl Don Juan mit ernster Stimme. »Ich habe dich hierhergebracht, um festzustellen, ob du auch essen kannst, wenn dein Montagepunkt sich bewegt hat. Versuche jetzt nicht mehr als dies.«
Dann aber setzte sich ein Mann zu mir an den Tisch, der meine ganze Aufmerksamkeit fesselte.
»Laß deine Augen kreisen«, befahl Don Juan. Es war mir unmöglich, den Mann nicht zu beobachten. Ich ärgerte mich über Don Juans Befehle.
»Was siehst du?« hörte ich Don Juan fragen.
Ich sah einen leuchtenden Kokon, bestehend aus durchsichtigen Flügeln, die über den Kokon selbst gefaltet waren. Die Flügel breiteten sich aus, flatterten einen Moment, blätterten ab, fielen herunter und wurden durch neue Flügel ersetzt, die den gleichen Vorgang wiederholten.
Don Juan drehte entschlossen meinen Stuhl herum, bis ich die Wand anschaute.
»Welch eine Verschwendung«, sagte er mit einem lauten Seufzer, nachdem ich ihm geschildert hatte, was ich sah. »Du hast beinah deine ganze Energie erschöpft. Halte dich zurück! Ein Krieger muß sich konzentrieren. Wer kümmert sich schon, verdammt, um Flügel an einem leuchtenden Kokon?«
Die gesteigerte Bewußtheit, sagte er, sei wie ein Sprungbrett, von ihr könne man in die Unendlichkeit springen. Immer wieder betonte er, daß der Montagepunkt, nachdem er sich gelöst habe, entweder an einer Stelle, nicht weit von seiner üblichen verharre, oder sich immer weiter bewege, bis ins Unendliche.
»Die Leute haben keine Ahnung von der seltsamen Macht, die wir in uns tragen«, fuhr er fort. »In diesem Augenblick zum Beispiel hast du die Möglichkeit, das Unendliche zu erreichen. Wenn du weitermachst mit deinem nutzlosen Treiben, könntest du es schaffen, deinen Montagepunkt über eine gewisse Schwelle hinauszuschieben, von wo es keine Rückkehr mehr gibt.«
Ich begriff die Gefahr, von der er sprach; oder vielmehr, ich hatte das körperliche Gefühl, am Rand eines Abgrunds zu stehen. Wenn ich mich zu weit vorbeugte, würde ich hineinfallen.
»Dein Montagepunkt hat sich in die gesteigerte Bewußtheit bewegt«, fuhr er fort, »weil ich dir meine Energie geliehen habe.« Wir aßen schweigend, eine sehr einfache Mahlzeit. Don Juan erlaubte mir nicht, Tee oder Kaffee zu trinken.
»Während du meine Energie benutzt«, sagte er, »bist du nicht in deiner eigenen Zeit. Du bist in meiner. Ich trinke Wasser.« Während wir zu meinem Auto zurückgingen, war mir ein wenig Übel. Ich schwankte und verlor beinah die Balance. Es war ein Gefühl, ähnlich wie bei dem ersten Gehversuch mit einer neuen Brille.
»Nimm dich zusammen«, sagte Don Juan grinsend. »Dort, wohin wir fahren, wirst du äußerste Exaktheit brauchen.«
Er wies mich an, über die internationale Grenze in die Zwillingsstadt Nogales in Mexiko zu fahren. Während ich steuerte, gab er mir Anweisungen: Welche Straßen ich fahren sollte, wann ich nach rechts oder links abbiegen sollte, wie schnell ich fahren sollte.
»Ich kenne diese Gegend«, sagte ich, ziemlich gereizt. »Sag mir, wohin du fahren willst, und ich werde dich hinbringen. Wie ein Taxifahrer.«
»Okay«, sagte er. »Bring mich zur Nummer 1573, Heavenward Avenue!«
Ich wußte nicht, wo die Heavenward Avenue war, oder ob es überhaupt solch eine Straße gab. Ich hatte sogar den Verdacht, er habe den Namen nur erfunden, um mich in Verlegenheit zu bringen. Ich schwieg. In seinen strahlenden Augen lag ein spöttisches Glitzern.
»Die Selbstsucht ist ein wahrer Tyrann«, sagte er. »Wir müssen unaufhörlich auf ihren Sturz hinarbeiten.«
Er sagte mir wieder, wie ich fahren sollte. Endlich bat er mich, vor einem einstöckigen, hellbraunen Haus an einer Straßenecke zu halten, in einem wohlhabenden Stadtviertel.
Das Haus hatte etwas Besonderes, das mir sofort ins Auge fiel: Rundherum lag eine dicke Schicht von ockerfarbenem Kies. Das massive Gartentor, die Fensterrahmen und das Balkenwerk des Hauses - alles war ockerfarben; genau wie der Kies. Alle Fenster, soweit ich sie sehen konnte, hatten geschlossene Jalousien. Anscheinend war es die typische Vorortvilla der gehobenen Mittelschicht.
Wir stiegen aus. Don Juan ging voran. Er klopfte nicht an und öffnete auch die Tür nicht mit einem Schlüssel. Als wir kamen, schwang die Tür lautlos an geölten Scharnieren auf - ganz von selbst, soweit ich feststellen konnte.
Don Juan trat rasch ein. Er bat mich nicht hinein. Ich folgte ihm einfach. Ich war neugierig zu sehen, wer die Tür von innen geöffnet hatte. Aber da war niemand.
Das Innere des Hauses wirkte sehr beruhigend. Es gab keine Bilder an den glatten, peinlich sauberen Wänden. Es gab auch keine Lampen oder Buchregale. Ein goldgelber Fliesenboden bildete einen reizvollen Kontrast zu dem nachgedunkelten Weiß der Wände. Wir befanden uns in einem schmalen, engen Korridor, der in ein geräumiges Wohnzimmer führte, mit hoher Decke und einem ziegelgemauerten Kamin. Die eine Hälfte des Zimmers war völlig leer, doch vor dem Kamin standen kostbare Möbel im Halbkreis: zwei große beige Sofas in der Mitte, flankiert von zwei Sesseln, die mit gleichfarbigem Stoff bezogen waren. In der Mitte stand ein schwerer, runder Kaffeetisch aus massiver Eiche. Nach allem, was ich gesehen hatte, waren die Bewohner dieses Hauses anscheinend reiche Leute - mit einer Vorliebe für das Spartanische. Und anscheinend saßen sie gerne vor dem Kamin.
Zwei Männer, etwa Mitte Fünfzig, saßen auf den Sesseln. Sie standen auf, als wir eintraten. Der eine war Indianer, der andere Südamerikaner. Don Juan stellte mich zuerst dem Indianer vor, der näher bei mir stand.
»Dies ist Silvio Manuel«, sagte Don Juan zu mir. »Er ist der mächtigste und gefährlichste Zauberer meines Zuges, und auch der geheimnisvollste.«
Silvio Manuels Gesichtszüge waren wie aus einem Maya-Fresco. Sein Teint war blaß, beinah gelb. Ich fand, er sah chinesisch aus. Seine Augen standen schräg, doch ohne das Lidfältchen. Sie waren groß, schwarz und leuchtend. Er war bartlos. Sein Haar war jettschwarz, mit grauen Strähnen darin. Er hatte hohe Wangenknochen und volle Lippen. Er war fast eins achtzig groß, drahtig, und bekleidet mit gelbem Sporthemd, brauner Hose und einem leichten beigen Jackett. Nach seiner Kleidung und seinem Benehmen zu urteilen, war er ein Amerikaner mexikanischer Herkunft. Ich lächelte und steckte Silvio Manuel die Hand entgegen, aber er nahm sie nicht. Er nickte nachlässig.
»Und dies ist Vicente Medrano«, sagte Don Juan, zu dem anderen Mann gewandt. »Er ist der kenntnisreichste und älteste meiner Gefährten. Er ist nicht nach Lebensjahren der ältere, sondern weil er der erste Schüler meines Wohltäters war.«
Vicente nickte ebenso nachlässig wie Silvio Manuel; er sprach ebenfalls kein Wort.
Er war etwas größer als Silvio Manuel, aber ebenso hager. Er hatte einen rosigen Teint und einen sauber gestutzten Kinn- und Schnurrbart. Seine Gesichtszüge waren fast fein zu nennen: eine schmale, schön gemeißelte Nase, ein kleiner Mund, dünne Lippen. Buschige, dunkle Augenbrauen kontrastierten mit seinem ergrauenden Haupthaar und Bart. Seine Augen waren braun. Sie strahlten und lachten, trotz seiner finsteren Miene.
Er war konservativ gekleidet, mit einem grünlichen Leinenanzug und einem offenen Sporthemd. Auch er schien Mexiko-Amerikaner zu sein. In ihm vermutete ich den Besitzer des Hauses.
Neben den beiden wirkte Don Juan wie ein indianischer Bauer. Sein Strohhut, seine ausgetretenen Schuhe, seine alte Khakihose und sein kariertes Hemd hätten zu einem Gärtner gepaßt oder zu einem Tagelöhner.
Als ich die drei nebeneinander sah, hatte ich den Eindruck, als sei Don Juan verkleidet. Mir kam der militärische Vergleich in den Sinn, als sei Don Juan der Kommandant einer geheimen Operation - ein Offizier, der seine jahrelange Befehlsgewalt nicht verhehlen konnte, auch wenn er es versuchte.
Ich hatte außerdem das Gefühl, als wären die drei etwa im gleichen Alter, wiewohl Don Juan wesentlich älter wirkte als die beiden anderen, und doch unendlich viel kräftiger.
»Ihr wißt wohl bereits, daß Carlos bei weitem der größte Genießer ist, dem ich je begegnet bin«, sagte Don Juan mit ganz ernstem Gesicht. »Größer noch als unser Wohltäter. Ich versichere euch, falls es jemanden gibt, für den genußvolles Sichgehenlassen eine ernste Arbeit ist, so ist's dieser Mann.«
Ich lachte, aber sonst lachte niemand. Die beiden Männer beobachteten mich mit seltsamem Glitzern in ihren Augen.
»Ihr gebt gewiß ein denkwürdiges Dreigespann ab«, fuhr Don Juan fort. »Der Älteste und Kenntnisreichste, der Gefährlichste und Mächtigste, und der selbstsüchtigste Genießer.«
Sie lachten noch immer nicht. Sie musterten mich, bis ich verlegen wurde. Dann brach Vicente das Schweigen.
»Ich weiß nicht, warum du ihn ins Haus gebracht hast«, sagte er ungerührt und in scharfem Ton. »Er kann uns wenig nützen. Bring ihn hinaus auf den Hof!« »Und binde ihn an«, fügte Silvio Manuel hinzu.
Don Juan wandte sich an mich. »Komm«, sagte er leise, mit raschem Kopfnicken nach draußen weisend.
Es war ganz klar, daß die beiden Männer mich nicht mochten. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich war verärgert und gekränkt, aber diese Empfindungen wurden irgendwie abgelenkt durch meinen Zustand gesteigerter Bewußtheit.
Wir gingen auf den Hof. Don Juan hob unerwartet ein ledernes Seil auf und wirbelte es mit unglaublicher Geschwindigkeit um meinen Hals. Seine Bewegungen waren so schnell und geschickt, daß ich im nächsten Moment - bevor mir klar wurde, wie mir geschah - wie ein Hund mit dem Hals an eine der beiden Hohlblocksäulen gebunden war, die das schwere Dach der hinteren Veranda trugen.
Don Juan schüttelte resigniert und irgendwie ungläubig den Kopf und kehrte ins Haus zurück, während ich ihn anbrüllte, er solle mich losbinden. Das Seil spannte sich so eng um meinen Hals, daß ich nicht so laut schreien konnte, wie ich gewollt hätte.
Ich konnte nicht glauben, was hier geschah. Ich unterdrückte meine Wut und versuchte den Knochen an meinem Hals zu lösen. Er war so fest, daß es schien, als wären die Lederstränge verleimt. Ich brach mir die Fingernägel bei dem Versuch, sie auseinanderzuziehen.
Ich hatte einen wilden Wutausbruch und knurrte ohnmächtig wie ein Tier. Dann schlang ich mir das Seil um das Handgelenk, stemmte mich mit den Füßen gegen die Hohlblocksäule und zog. Aber das Leder war zu zäh für meine Muskelkraft. Ich fühlte mich gedemütigt und hatte Angst. Die Furcht machte mich für einen Moment besonnen. Ich wußte, ich hatte mich von Don Juans gespielter Vernunft täuschen lassen.
Ich versuchte meine Situation objektiv zu prüfen, und ich erkannte, daß es keinen anderen Ausweg gab, als das Lederseil durchzutrennen. Ich rieb es kräftig gegen die scharfe Kante der Hohlblocksäule. Ich dachte, wenn ich das Seil durch trennen konnte, bevor einer der Männer auf den Hof kam, hatte ich eine Chance, zu meinem Wagen zu rennen und zu verschwinden, um niemals wiederzukommen.
Schwitzend und keuchend rieb ich das Seil, bis ich es beinah durchgescheuert hatte. Dann stemmte ich einen Fuß gegen die Säule, wickelte mir das Seil um das Handgelenk und zog verzweifelt - bis es riß und ich rückwärts ins Haus geschleudert wurde.
Als ich durch die offene Tür polterte, standen Don Juan, Vicente und Silvio Manuel in der Mitte des Zimmers und klatschten Beifall.
»Welch ein dramatischer Auftritt«, sagte Vicente und half mir auf die Beine. »Ich habe mich in dir getäuscht. Ich hätte niemals geglaubt, daß du zu solchen Wutausbrüchen fähig bist.«
Don Juan kam zu mir, er zog den Knoten auf und befreite mich von dem Seilende um meinen Hals.
Ich zitterte vor Angst, Erschöpfung und Wut. Mit bebender Stimme fragte ich Don Juan, warum er mich so quäle. Die drei Männer lachten und wirkten in diesem Moment alles andere als bedrohlich.
»Wir wollten dich prüfen und feststellen, was für ein Mensch du wirklich bist«, sagte Don Juan. Er führte mich zu einem der Sofas und bat mich höflich, dort Platz zu nehmen. Vicente und Silvio Manuel setzten sich auf die beiden Sessel; Don Juan saß mir gegenüber, auf der anderen Couch.
Ich lachte nervös, aber ich hatte keine Bedenken mehr gegen meine Situation, auch nicht gegen Don Juan und seine Freunde. Alle drei betrachteten mich mit unverhohlener Neugier. Vicente konnte nicht aufhören zu lächeln, obwohl er anscheinend verzweifelt bemüht war, ein ernstes Gesicht zu wahren. Silvio Manuel schüttelte rhythmisch den Kopf, während er mich anstarrte. Sein Blick war unkonzentriert, aber auf mich gerichtet.
»Wir haben dich angebunden«, fuhr Don Juan fort, »weil wir wissen wollten, ob du sanft oder geduldig bist, oder rücksichtslos, oder listig. Du bist keines von alledem, haben wir festgestellt. Du bist ein gewaltiger Genießer, der sich gehenläßt - genau wie ich sagte.
Hättest du nicht in deiner Gewalttätigkeit geschwelgt, dann hättest du sicher bemerkt, daß dieser schreckliche Knoten um deinen Hals ein Schwindel war. Er zieht sich von selbst auf. Vicente hat diesen Knoten erfunden, um seine Freunde zu necken.«
»Du hast das Seil gewalttätig zerfetzt. Du bist gewiß nicht sanft«, sagte Silvio Manuel.
Alle schwiegen einen Moment, dann fingen sie an zu lachen. »Du bist weder rücksichtslos noch listig«, fuhr Don Juan fort.
»Wärst du es, du hättest ohne weiteres beide Knoten aufgezogen und wärst mit einem wertvollen Lederseil davongelaufen. Du bist auch nicht geduldig. Wärst du es, dann hättest du gewinselt und geschrien, bis du gemerkt hättest, daß eine Schere dort an der Wand hängt; damit hättest du in zwei Sekunden das Seil durchtrennen und dir die Qual und Anstrengung ersparen können. Gewalttätig oder stumpfsinnig zu sein, das braucht man dich nicht zu lehren. Das bist du bereits. Aber du kannst noch lernen, rücksichtslos, listig, geduldig und sanft zu sein.«
Rücksichtslosigkeit und List, Geduld und Sanftheit, erklärte Don Juan, seien die Quintessenz des Pirschens. Sie seien die Grundlagen, die - mit ihren Abwandlungen - in sorgfältig überlegten Schritten gelehrt werden müßten.
Er sprach anscheinend zu mir, schaute aber Vicente und Silvio Manuel an, die mit größter Aufmerksamkeit lauschten und manchmal zustimmend nickten.
Das Pirschen zu lehren, betonte er immer wieder, sei eine der schwierigsten Aufgaben der Zauberer. Was immer sie tun würden, um mich das Pirschen zu lehren - und was immer ich davon halten mochte -, stets würden sie ihr Tun durch Makellosigkeit leiten lassen.
»Glaube uns, wir wissen, was wir tun. Dafür sorgte unser Wohltäter, der Nagual Julian«, sagte Don Juan - und alle lachten so schallend, daß mir ganz unbehaglich wurde. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte.
Auch wenn das Verhalten der Zauberer einem außenstehenden Betrachter als böse erscheinen mochte, sei es - wie Don Juan noch einmal betonte - in Wirklichkeit immer makellos.
»Wie erkennt man den Unterschied, wenn man der Adressat solchen Verhaltens ist?« fragte ich.
»Böse Taten begehen die Leute um persönlicher Vorteile willen«, sagte er. »Die Zauberer haben bei ihrem Tun einen tieferen Sinn, der nichts mit persönlichen Vorteilen zu tun hat. Die Tatsache, daß ihr Tun ihnen Freude macht, zählt nicht als Vorteil. Dies ist eine Eigenschaft ihres Charakters. Der Durchschnittsmensch handelt nur, wenn ihm ein Profit winkt. Die Krieger können beanspruchen, nicht für Profit zu handeln, sondern für den Geist.«
Ich wurde nachdenklich. Ein Handeln ohne Gedanken an einen Vorteil, das war eine fremde Vorstellung für mich. Ich war so erzogen, daß ich bei allem, was ich tat, etwas investierte und mir irgendeine Belohnung erhoffte.
Don Juan mochte mein Schweigen und Nachdenken als Skepsis deuten. Er lachte und schaute seine beiden Gefährten an.
»Nimm zum Beispiel uns vier«, fuhr er fort. »Du glaubst doch, daß du in dieser Situation investierst, um schließlich davon zu profitieren. Wenn du dich über uns ärgerst, wenn wir dich enttäuschen, kannst du uns etwas Böses antun, um uns heimzuzahlen. Wir dagegen denken nicht an persönlichen Vorteil. Unsere Handlungen sind durch Makellosigkeit bestimmt - wir können dir nicht böse sein oder enttäuscht sein von dir.«
Seit dem Augenblick, sagte Don Juan lächelnd, als wir uns an der Busstation trafen, sei alles, was er mit mir anstellte, von Makellosigkeit bestimmt gewesen - auch wenn ich es nicht glaubte. Er habe mich in einem unbedachten Moment überraschen müssen, sagte er, um mich in einen gesteigerten Bewußtseinszustand zu versetzen. Zu diesem Zweck habe er mir gesagt, mein Hosenschlitz stünde offen.
»Es war ein Mittel, um dir einen Schock zu versetzen«, sagte er grinsend. »Wir sind primitive Indianer, darum sind alle unsere Schocks irgendwie primitiv. Je gebildeter ein Krieger, desto feiner und komplizierter sind seine Schocks. Aber ich muß gestehen, daß wir viel Spaß hatten an unserer Grobheit; besonders als wir dich festbanden wie einen Hund.«
Die drei grinsten und lachten leise, als ob noch jemand im Haus wäre, den sie nicht stören wollten.
Jetzt, da ich im Zustand gesteigerter Bewußtheit sei, so sagte Don Juan mir leise, würde ich leichter verstehen, was er mir über die zwei großen Künste erzählen wolle: das Pirschen und die Absicht. Diese wären für alte wie neue Zauber ein krönender Abschluß der Ausbildung - das große Thema, mit dem die Zauberer sich heute wie vor Jahrhunderten beschäftigten. Das Pirschen sei der Anfang, betonte er; die Krieger lernten das Pirschen, bevor sie auf dem Pfad der Krieger etwas anderes unternehmen dürften. Alsdann lernten sie, etwas zu beabsichtigen; danach erst seien sie in der Lage, willentlich ihren Montagepunkt zu bewegen.
Ich wußte genau, wovon er sprach. Ohne zu wissen wieso, wußte ich, was die Bewegung des Montagepunktes bedeutete. Aber ich fand keine Worte, um mein Wissen zu erklären. Immer wieder versuchte ich es - aber sie lachten über mein Scheitern und feuerten mich an, es noch einmal zu versuchen.
»Soll ich es an deiner Statt aussprechen?« fragte Don Juan. »Vielleicht kann ich die Worte finden, die du sagen möchtest, aber nicht kannst.«
Sein Blick sagte mir, daß er mich ernsthaft um Erlaubnis fragte. Ich fand die Situation so absurd, so daß ich lachen mußte. Sehr geduldig fragte mich Don Juan noch einmal, und wieder mußte ich lachen. Die überraschten und besorgten Blicke der Männer sagten mir, daß sie meine Reaktion nicht verstanden. Don Juan erhob sich und sagte, ich sei zu erschöpft - es sei für mich Zeit, in die Alltagswelt zurückzukehren.
»Warte, warte«, flehte ich. »Ich bin ganz in Ordnung. Ich finde es nur komisch, daß du mich um Erlaubnis bittest.«
»Ich muß dich um Erlaubnis bitten«, sagte Don Juan. »Du allein kannst erlauben, daß die in dir aufgestauten Wörter angezapft werden. Ich habe wohl fälschlich angenommen, daß du mehr weißt, als du tatsächlich weißt. Die Wörter sind mächtig und wichtig. Sie sind das magische Eigentum dessen, der sie besitzt. Die Zauberer halten sich an die Faustregel: Je tiefer sich der Montagepunkt bewegt, desto stärker ist das Gefühl, als habe man ein Wissen - und keine Worte, es zu erklären. Auch beim Durchschnittsmenschen bewegt sich der Montagepunkt manchmal ohne ersichtliche Ursache, und ohne daß er sich dessen bewußt wird. Er erscheint höchstens sprachlos, verwirrt und ausweichend.« Vicente mischte sich ein und schlug vor, ich solle noch ein Weilchen bei ihnen bleiben. Don Juan stimmte zu und sah mich an. »Das erste Prinzip des Pirschens ist, daß ein Krieger sich selbst anpirscht«, sagte er. »Er pirscht sich rücksichtslos, listig, geduldig und sanft an.«
Fast hätte ich gelacht, aber er ließ mir keine Zeit dazu. Kurz und bündig definierte er das Pirschen als die Kunst, das eigene Verhalten auf neuartige Weise für bestimmte Ziele einzusetzen. Das normale menschliche Verhalten in der Alltagswelt, so sagte er, sei Routine. Und jedes Verhalten, das diese Routine unterbricht, habe einen ungewöhnlichen Effekt auf unser ganzes Dasein. Dieser ungewöhnliche Effekt sei es, was die Zauberer anstrebten, denn er summiere sich mit der Zeit.
Die Zauberer alter Zeiten, erklärte er, fanden durch ihr Sehen heraus, daß ungewöhnliches Verhalten den Montagepunkt zittern läßt. Später entdeckten sie auch, daß ungewöhnliches Verhalten, wenn systematisch geübt und klug gelenkt wird, den Montagepunkt zwingen kann, sich zu bewegen.
»Diese Zauberer und Seher fühlten sich natürlich aufgerufen«, fuhr Don Juan fort, »ein ganzes System von Verhaltensweisen zu erfinden, die weder kleinlich noch willkürlich sein sollten, sondern eine Kombination von Moral und Schönheit, wie sie die Zauberer und Seher von bloßen Hexern unterscheidet.«
Er machte eine Pause, und alle schauten mich an, als suchten sie in meinem Gesicht oder meinen Augen nach Anzeichen von Ermüdung.
»Jeder, der seinen Montagepunkt in eine neue Position bewegen kann, ist ein Zauberer«, fuhr Don Juan fort. »Aus dieser neuen Position kann er Gutes und Böses für seine Mitmenschen bewirken. Ein Zauberer zu sein, ist nicht viel anders, als wenn man Schuster oder Bäcker ist. Die Zauberer und Seher wollten über diesen Stand hinausgehen. Dazu brauchen sie Moral und Schönheit.«
Für die Zauberer, sagte er, sei das Pirschen die Basis, auf der ihr ganzes Tun gründe.
»Manche Zauberer haben Einwände gegen das Wort Pirschen«, fuhr er fort, »aber die Bezeichnung kam auf, weil es ein verstohlenes Verhalten erfordert.
Man nennt es auch die Kunst der Heimlichkeit, aber diese Bezeichnung ist ebenso unglücklich. Wir selbst sind friedfertige Zauberer, darum nennen wir es die Kunst der kontrollierten Torheit. Nenne es, wie du willst. Wir aber werden das Wort Pirschen beibehalten, weil es so leicht ist, von >Pirscher< zu sprechen, und so unbeholfen - wie mein Wohltäter spottete - von >Praktikern der kontrollierten Torheit<.«
Bei der Erwähnung ihres Wohltäters lachten die Männer wie Kinder.
Ich verstand vollkommen, was Don Juan sagte. Ich hatte keine Fragen oder Zweifel. Allenfalls hatte ich das Gefühl, mich an jedes seiner Worte klammem zu müssen, um einen festen Ankerpunkt zu haben. Sonst wären meine Gedanken ihm vorausgeeilt. Mir wurde bewußt, daß meine Augen an der Bewegung seiner Lippen hingen, und meine Ohren am Klang seiner Worte. Kaum aber war mir dies klar geworden, konnte ich ihm nicht mehr folgen. Meine Konzentration war gebrochen. Don Juan sprach weiter, aber ich hörte nicht mehr zu. Ich grübelte über die unvorstellbare Möglichkeit, dauernd im Zustand gesteigerter Bewußtheit zu leben. Welchen Überlebenswert konnte es haben? fragte ich mich. Konnte man Situationen besser einschätzen, war man schneller als der Durchschnittsmensch oder vielleicht intelligenter?
Don Juan unterbrach sich und fragte mich, woran ich dachte. »Ach, du denkst immer so praktisch«, seufzte er, nachdem ich ihm meine Phantasien mitgeteilt hatte. »Im Zustand gesteigerter Bewußtheit, glaubte ich, würdest du künstlerischer empfinden - oder mystischer.«
Dann wandte sich Don Juan an Vicente und bat ihn, meine Frage zu beantworten. Vicente räusperte sich und rieb sich die Handflächen an den Schenkeln trocken. Er wirkte, als hätte er Lampenfieber. Er tat mir leid. Meine Gedanken wirbelten durcheinander. Und als ich Vicente nun stammeln hörte, schoß mir ein Bild durch den Kopf: das Bild meines Vaters, mit seiner Schüchternheit und seiner Furcht vor Menschen. Aber ich fand keine Zeit, mich diesem Bild zu überlassen. Vicentes Augen strahlten auf - mit einem sonderbaren inneren Leuchten. Er machte ein komisch-ernstes Gesicht und begann mit der Autorität und den Gesten eines Professors zu sprechen.
»Um deine Frage zu beantworten«, sagte er, »so hat das gesteigerte Bewußtsein keinen besonderen Überlebenswert. Sonst befände sich die ganze Menschheit in diesem Zustand. Dies bleibt uns jedoch erspart, weil es so schwer ist, ihn zu erreichen. Allerdings besteht die Möglichkeit, daß auch ein Durchschnittsmensch in einen solchen Zustand gerät. Die Folge ist eine - oft unheilbare - Verwirrung.«
Die drei lachten schallend.
»Die Zauberer sagen, daß die gesteigerte Bewußtheit die Pforte zur Absicht ist«, sagte Don Juan. »Und sie nutzen sie als solche. Denk einmal darüber nach!«
Ich starrte sie alle der Reihe nach an. Mein Mund stand offen, und ich glaubte, wenn ich ihn offenhielt, würde ich endlich das Rätsel verstehen. Ich schloß die Augen, und da kam mir die Antwort. Ich fühlte sie. Ich dachte sie nicht. Aber ich konnte sie nicht in Worte fassen, so sehr ich mich anstrengte.
»Ach, ach«, sagte Don Juan, »nun hast du wieder von selbst eine Antwort der Zauberer gefunden, aber noch immer hast du nicht genug Energie, um sie zu erklären und in Worte zu fassen.«
Ich erlebte ein Gefühl, das mehr war als nur die Unfähigkeit, meine Gedanken zu äußern; es war, als erlebte ich etwas wieder, was ich seit Ewigkeiten vergessen hatte: nämlich die Empfindung, nicht zu wissen, was ich fühlte, weil ich noch nicht sprechen konnte und darum keine Möglichkeit hatte, meine Gefühle in Gedanken zu übersetzen.
»Zu denken und genau das zu sagen, was du gerade denkst, erfordert eine unglaubliche Energie«, sagte Don Juan, meine Empfindungen unterbrechend.
Meine Phantasievorstellung war so eindringlich gewesen, daß ich vergaß, was sie ausgelöst hatte. Betäubt starrte ich Don Juan an und gestand, ich hätte keine Ahnung, was ich oder die anderen eben gesagt oder getan hatten. Ich erinnerte mich an den Zwischenfall mit dem Lederseil und daran, was Don Juan mir unmittelbar danach sagte. Aber ich konnte mich nicht an jene Empfindung erinnern, die mich eben vorhin überwältigt hatte.
»Du suchst in der falschen Richtung«, sagte Don Juan. Du versuchst, dich an deine Gedanken zu erinnern, wie du dich normalerweise erinnerst - aber dies hier ist eine andere Situation. Vorhin hattest du die überwältigende Empfindung, als wüßtest du etwas ganz Besonderes. Solche Empfindungen kann man nicht mit Hilfe des Gedächtnisses erinnern. Du mußt sie erinnern, indem du sie zurück-beabsichtigst.«
Er wandte sich an Silvio Manuel, der sich, die Beine unter den Kaffeetisch gestreckt, auf seinem Sessel zurücklehnte. Silvio Manuel sah mich unverwandt an. Seine Augen waren schwarz - wie zwei funkelnde Obsidianperlen. Ohne einen Muskel zu regen, stieß er einen durchdringenden, vogelähnlichen Schrei aus. »Absicht!« rief er. »Absicht! Absicht/«
Mit jedem Schrei wurde seine Stimme unmenschlicher und durchdringender. Mir sträubten sich die Haare im Nacken. Ich spürte eine Gänsehaut. Mein Verstand aber, statt sich auf die Angst zu konzentrieren, die ich erlebte, kehrte direkt zu der Erinnerung jener Empfindung zurück, die ich erlebt hatte. Aber bevor ich sie ganz auskosten konnte, weitete sich diese Empfindung und entlud sich in etwas anderes. Und dann verstand ich nicht nur, warum die gesteigerte Bewußtheit die Pforte zur Absicht war, sondern ich verstand auch, was Absicht sei. Vor allem verstand ich, daß dieses Wissen nicht in Worte gefaßt werden konnte - daß dieses Wissen jedermann zu Gebot stand. Es war da, um gefühlt und genutzt zu werden, nicht aber, um erklärt zu werden. Man konnte zu diesem Wissen gelangen, indem man die Bewußtseinsebene wechselte: darum war die gesteigerte Bewußtheit eine Eingangspforte. Aber auch die Pforte war nicht zu erklären. Man konnte sie nur benutzen.
Und noch eine Erkenntnis hatte ich an diesem Tag - von selbst, ohne jede Nachhilfe: daß das natürliche Wissen der Absicht jedem zugänglich war; daß aber nur diejenigen es beherrschten, die bereit waren, es zu erforschen.
Ich war inzwischen sehr müde geworden, und dies war gewiß ein Grund, warum meine katholische Erziehung auf meine Reaktionen einzuwirken begann. Einen Augenblick glaubte ich, die Absicht sei Gott.
Ich sagte so etwas zu Don Juan, Vicente und Silvio Manuel. Sie lachten. Vicente, noch immer im Tonfall eines Professors, erklärte, die Absicht könne unmöglich Gott sein, denn sie sei eine Kraft, die man nicht beschreiben, geschweige denn sich vorstellen könne.
»Sei nicht überheblich«, sagte Don Juan zu mir. »Bemühe dich nicht, nach deinem ersten und einzigen Erlebnis hochfliegende Spekulationen anzustellen. Warte, bis du dein Wissen beherrschst, und dann erst entscheide dich!«
Die Erinnerung an die vier Stimmungen des Pirschens hatte mich erschöpft. Die spürbarste Wirkung war eine ganz ungewöhnliche Gleichgültigkeit. Es wäre mir egal gewesen, wenn ich oder Don Juan tot umgefallen wäre. Es war mir egal, ob wir die Nacht an jenem alten Aussichtspunkt verbrachten oder ob wir in völliger Finsternis den Rückweg antraten.
Don Juan war sehr verständnisvoll. Wie einen Blinden führte er mich an der Hand - zu einem wuchtigen Felsen. Er half mir, mich hinzusetzen und mich anzulehnen. Er empfahl mir, mich durch den natürlichen Schlaf wieder in einen normalen Bewußtseinszustand bringen zu lassen.