|325|NEUN

Ragnar umarmte mich. Beide hatten wir Tränen in den Augen. Im ersten Moment bekamen wir kein Wort über die Lippen, doch war ich gefasst genug, einen Blick über die Schulter zu werfen, um mich davon zu überzeugen, dass Alfred in Sicherheit war. Er kauerte im Schatten eines Wollballens neben dem Eingang und hatte die Kapuze tief in die Stirn gezogen. «Ich habe gedacht, du wärst tot!», sagte ich zu Ragnar.

«Ich habe gehofft, dass du kommst», sagte er im gleichen Moment, und für eine Weile redeten wir beide aufeinander ein, ohne dem anderen zuzuhören. Dann kam Brida aus dem hinteren Teil der Kirche auf uns zu. Aus dem Mädchen von damals war eine Frau geworden. Sie lachte, als sie mich sah, und gab mir einen sehr schicklichen Kuss.

«Uhtred!», sagte sie, und es klang wie ein Streicheln. Wir waren damals, obwohl fast noch Kinder, ein Liebespaar gewesen. Dann hatte sie, die Sächsin, sich entschieden, an Ragnars Seite bei den Dänen zu leben. Die anderen Frauen in der Kirche waren behängt mit Silber, Jett, Bernstein und Gold, doch Brida trug keinen Schmuck außer einem elfenbeinernen Kamm, mit dem sie ihre langen schwarzen Haare hochgesteckt hatte. «Uhtred», wiederholte sie.

«Warum bist du nicht tot?», fragte ich Ragnar. Er war eine Geisel gewesen, und deren Leben war im gleichen Moment dem Tod geweiht, in dem Guthrum die Grenze überschritten und damit den Frieden gebrochen hatte.

«Wulfhere mochte uns», antwortete Ragnar. Er legte mir den Arm um die Schulter und zog mich nach vorn zur |326|Feuerstelle, in der die Flammen hoch aufloderten. «Das ist Uhtred», sagte er zu den Würfelspielern, «ein Sachse, also Abschaum, aber er ist auch mein Freund und Bruder. Bier», er deutete auf mehrere Krüge. «Oder lieber Wein? Ja, Wulfhere hat uns am Leben gelassen.»

«Habt ihr ihn denn am Leben gelassen?»

«Das versteht sich doch von selbst. Er ist hier und sitzt mit Guthrum an der Tafel.»

«Wulfhere? Habt ihr ihn zum Gefangenen gemacht?»

«Zum Verbündeten», antwortete Ragnar, drückte mir einen Humpen in die Hand und zog mich an seiner Seite zum Sitzen ans Feuer. «Er hat die Seiten gewechselt.» Er grinste mich an, und ich musste lachen aus schierer Freude darüber, dass ich ihn lebend vor mir sah. Er war ein großer Mann mit goldenem Haar und offenem Gesicht, so voller Übermut, Leben und Herzlichkeit, wie auch das seines Vaters gewesen war. «Wulfhere und ich haben uns mit Bridas Hilfe oft unterhalten», fuhr Ragnar fort. «Und wir haben uns angefreundet. Es ist schwer, einen Freund zu töten.»

«Du hast ihn überredet, die Seiten zu wechseln?»

«Ihn zu überreden war nicht nötig», antwortete Ragnar. «Ihm war klar, dass wir gewinnen und dass er seine Länder nur dann behalten kann, wenn er sich auf unsere Seite schlägt. Wirst du dieses Bier auch trinken oder nur hineinstarren?»

Ich setzte den Humpen an die Lippen, ließ ein paar Tropfen durch den Bart sickern und erinnerte mich an ein Gespräch mit Wulfhere, in dem er mir gesagt hatte, dass wir, wenn die Dänen kämen, alles daransetzen müssten, um zu überleben. Aber Wulfhere? Alfreds Vetter und der Aldermann von Wiltunscir? Er sollte die Seiten gewechselt haben? Wie viele andere Thegn mochten seinem Vorbild gefolgt sein und nun den Dänen dienen?

|327|«Wer ist das?», fragte Brida mit einem Blick auf Alfred. Wie er so still und allein im Schatten hockte, machte er einen geradezu unheimlichen Eindruck.

«Ein Diener», antwortete ich.

«Er kann zu uns ans Feuer kommen.»

«Das kann er nicht», sagte ich streng. «Ich bestrafe ihn gerade.»

«Was hast du getan?», rief Brida auf Englisch. Er hob den Kopf und sah sie an, doch sein Gesicht war im Schatten der Kapuze nicht zu erkennen.

«Ein Wörtchen, du Bastard», sagte ich, «und ich peitsche dich bis auf die Knochen aus», warnte ich ihn. Ich sah nur seine Augen im Schatten der Kapuze. «Er hat mich beleidigt», erklärte ich auf Dänisch. «Zur Strafe muss er jetzt schweigen, und für jedes Wort, dass er trotzdem spricht, bekommt er zehn Peitschenhiebe.»

Sie gaben sich mit meiner Antwort zufrieden. Ragnar vergaß den sonderbaren Diener und berichtete, wie er Wulfhere dazu bewegen konnte, einen Boten mit dem Versprechen zu Guthrum zu schicken, die Geiseln zu schonen, und wie Guthrum Wulfhere von dem bevorstehenden Angriff unterrichtete, sodass dem Aldermann genügend Zeit blieb, die Geiseln vor Alfreds Rache in Sicherheit zu bringen. Deshalb also, dachte ich, war Wulfhere am Tag des Angriffs schon so früh weggeritten. Er hatte gewusst, dass die Dänen kommen würden. «Du nennst ihn einen Verbündeten», sagte ich. «Heißt das, er ist nur ein Freund, oder wird er auch für Guthrum kämpfen?»

«Er ist ein Verbündeter und hat geschworen, uns zu unterstützen», antwortete Ragnar. «Jedenfalls hat er geschworen, für den Sachsenkönig zu kämpfen.»

«Für den Sachsenkönig?», fragte ich verwirrt. «Für Alfred?»

|328|«Nein, für den wahren König. Den Sohn dieses anderen.»

Ragnar meinte Æthelwold, den Erben von Alfreds Bruder König Æthelred, und an ihn, Æthelwold, wollten die Dänen aus verständlichen Gründen. Sie würden ihn, einen Sachsen, als König über Wessex einsetzen und damit ihre Eroberung nach innen absichern. Zwar war Guthrum, der sich bereits König von Ostanglien nannte, darauf aus, selbst den Thron von Wessex zu besteigen, doch indem er Æthelwold krönte, konnte er noch mehr Westsachsen dazu bringen, für ihren wahren König und damit für ihn zu kämpfen. Wenn dann die Herrschaft der Dänen schließlich gefestigt wäre, würde Æthelwold in aller Stille umgebracht werden.

«Will Wulfhere auch für dich kämpfen?», beharrte ich.

«Natürlich will er das. Ihm bleibt nichts anderes übrig, wenn er sein Land behalten will», antwortete Ragnar. «Bloß in welchem Kampf? Wir sitzen hier nur herum und drehen Däumchen.»

«Es ist Winter.»

«Für einen Kampf die beste Zeit. Sonst gibt es schließlich nichts zu tun.» Er wollte wissen, wo ich seit dem Julfest war, und ich sagte, ich sei in Defnascir gewesen. Er ging davon aus, dass ich mich dort um die Sicherheit meiner Familie gekümmert hatte, und er ging auch davon aus, dass ich jetzt nach Cippanhamm gekommen war, um mich ihm anzuschließen. «Du hast Alfred doch nicht etwa Treue geschworen, oder?», fragte er.

«Wer weiß, wo Alfred ist?», entgegnete ich ausweichend.

«Du hast ihm früher schon einmal Treue geschworen», warf er mir vor.

«Ja, aber nur für ein Jahr, und dieses Jahr ist längst |329|vorbei», sagte ich und das war keine Lüge, doch ich verschwieg, dass ich mich Alfred erneut verpflichtet hatte.

«Also kannst du dich mir anschließen», sagte er freudig. «Du wirst mir Treue schwören, oder?»

Ich tat die Frage leichthin ab, obwohl sie mir Sorge bereitete. «Dir Treue schwören?», erwiderte ich. «Um hier herumzusitzen und Däumchen zu drehen?»

«Wir könnten ein paar Raubzüge unternehmen», schlug Ragnar vor, «und ein paar Männer bewachen den Sumpf. Dort ist Alfred. Er hat sich in den Sumpf verkrochen. Aber Svein wird ihn dort bald ausgraben.» Guthrum und seine Männer hatten also noch nicht erfahren, dass Sveins Flotte verkohlt am Strand lag.

«Warum unternehmt ihr dann nichts?», fragte ich.

«Weil Guthrum sein Heer nicht teilen möchte», antwortete Ragnar. Ich erinnerte mich an Ragnars Großvater und dessen Warnung an Guthrum, sein Heer niemals mehr aufzuteilen. Genau das hatte Guthrum in der Schlacht auf Æscs Hügel getan und damit den Westsachsen zum ersten Sieg über die Dänen verholfen. Und erneut hatte er es getan, als er von Werham aufgebrochen war, um Exanceaster anzugreifen, und der Teil seines Heeres, der als Flotte über die See kommen sollte, war im Sturm untergegangen. «Ich habe ihm geraten, das Heer in zwölf Gruppen aufzuteilen, um zwölf weitere Städte einzunehmen und zu besetzen. Wir hätten dann den ganzen Süden von Wessex in der Hand. Aber er will nicht auf mich hören.»

«Den Norden und Osten hält er doch schon besetzt», entgegnete ich wie zu Guthrums Verteidigung.

«Wir sollten auch den Rest besetzen! Stattdessen hoffen wir im Frühling auf Verstärkung. Sie wird ganz bestimmt eintreffen, denn dieses Land hier ist gutes Land, viel besser als das im Norden.» Er schien die Frage nach |330|meinem Treueschwur vergessen zu haben und erzählte stattdessen von den Vorkommnissen in Northumbrien wie auch davon, dass unsere gemeinsamen Feinde Kjartan und Sven zu Wohlstand gekommen seien, sich aber aus Angst vor Ragnars Rache aus ihrer Festung in Dunholm nicht herauswagten. Die beiden hatten seine Schwester entführt und, soweit Ragnar wusste, war sie immer noch in ihrer Gewalt. Wir, Ragnar und ich, hatten geschworen, diesen Vater und seinen Sohn zu töten. Von der Bebbanburg wusste Ragnar nichts Neues zu berichten, außer dass mein verräterischer Onkel immer noch dort lebte und die Festung in Besitz hielt. «Wenn wir mit Wessex fertig sind», versprach Ragnar, «werden wir in den Norden ziehen. Du und ich. Wir tragen unsere Schwerter nach Dunholm.»

«Unsere Schwerter nach Dunholm», wiederholte ich und hob meinen Bierhumpen.

Ich trank nicht viel und falls doch, verspürte ich kaum eine Wirkung. Ich saß da und dachte nach. Mit einem einzigen Satz hätte ich Alfreds Dasein beenden können. Ich könnte ihn verraten. Ich könnte ihn vor Guthrum schleifen lassen und zusehen, wie er starb. Guthrum würde mir sogar verzeihen, dass ich seine Mutter beleidigt hatte, wenn ich ihm Alfred auslieferte. Und so könnte ich ganz Wessex ausschalten, weil sich ohne Alfred kein Fyrd mehr bilden ließ. Ich könnte bei meinem Freund Ragnar bleiben, ich könnte noch mehr Armreifen gewinnen, und ich könnte mir einen Namen machen, der überall, wohin die Nordmänner segelten, ruhmreich klang. Und all das würde mich nur einen einzigen Satz kosten.

Auf diese Art wurde ich an diesem Abend in der königlichen Kirche von Cippanhamm in große Versuchung geführt. Es liegt eine solche Verlockung in der Verworrenheit. Wären alle Übel dieser Welt hinter eine Tür gesperrt |331|und die Menschen aufgefordert, diese Tür niemals zu öffnen, so würde sie doch geöffnet, denn in der Zerstörung findet sich auch reine Freude. Als Ragnar wieder einmal laut auflachte und mir so heftig auf die Schulter schlug, dass es schmerzte, spürte ich, wie mir der Verrat auf der Zunge lag. Das ist Alfred, hätte ich gesagt und mit dem Finger auf ihn gezeigt, und mit diesem Satz wäre es um England geschehen. Er wollte mir schon über die Lippen gehen, als ich im letzten Moment innehielt. Ich sah mich von Brida aus scharfsichtigen Augen beobachtet und dachte an Iseult. In einem oder zwei Jahren würde Iseult so ähnlich aussehen wie Brida. Die beiden waren gleichermaßen schön, hatten eine ähnlich dunkle Hauttönung und das gleiche Feuer in der Seele. Wenn ich den Verrat beginge, würde Iseult sterben, und diesen Gedanken konnte ich nicht ertragen. Ich dachte auch an Æthelflaed, Alfreds Tochter, und ich wusste, dass sie versklavt werden würde, und ich wusste auch, dass überall da, wo sich ein paar Sachsen an ein Feuer setzten, mein Name verflucht wäre. Ich wäre für alle Zeit Uhtredærwe, der Mann, der ein ganzes Volk vernichtet hätte.

«Was wolltest du gerade sagen?», fragte Brida.

«Dass es seit Menschengedenken keinen so harten Winter in Wessex gegeben hat.»

Ich sah ihrem Blick an, dass sie mir nicht glaubte. Dann lächelte sie und sagte auf Englisch: «Verrate mir doch eines, Uhtred. Wenn du Ragnar für tot gehalten hast, warum bist du dann hierhergekommen?»

«Weil ich nicht weiß, wohin ich mich sonst wenden könnte», antwortete ich.

«Warum ausgerechnet Cippanhamm? Du weißt doch, dass Guthrum hier ist, der deine Beleidigungen bestimmt nicht vergessen hat.»

|332|Es hatte sich also herumgesprochen. Ich spürte Furcht in mir aufsteigen.

Brida wechselte wieder ins Dänische. «Guthrum will deinen Tod.»

«Das meint er nicht ernst», sagte Ragnar.

«Das meint er ernst», beharrte Brida.

«Ich werde nicht zulassen, dass er Uhtred tötet», sagte Ragnar. «Jetzt bist du hier, bei uns.» Er schlug mir wieder auf die Schulter, schaute sich im Kreis um und warnte seine Männer mit stummen Blicken davor, mich an Guthrum zu verraten. Keiner rührte sich, aber die meisten waren längst betrunken, und manche schliefen schon.

«Jetzt bist du hier», sagte Brida. «Doch vor nicht allzu langer Zeit hast du noch für Alfred gekämpft und Guthrum beleidigt.»

«Ich war auf dem Weg nach Defnascir», erwiderte ich, als sei damit irgendetwas erklärt.

«Armer Uhtred», sagte Brida. Sie streichelte mit der Rechten Nihtgengas schwarz-weißes Nackenfell. «Und ich dachte, du würdest von den Sachsen als Held gefeiert.»

«Als Held? Warum?»

«Als der Mann, der Ubba getötet hat.»

«Alfred will keine Helden», sagte ich so laut, dass er es hören konnte. «Nur Heilige.»

«Erzähl uns von Ubba», verlangte Ragnar. Ich musste also meinen Kampf gegen Ubba schildern, und zwar in allen Einzelheiten, denn die Dänen lieben solche Geschichten. Ich machte aus Ubba einen großen Helden, dem es fast schon gelungen war, die gesamte Streitmacht von Wessex zu zerschlagen, und pries ihn als jemanden, der wie ein Gott gekämpft und mit seiner großen Streitaxt unseren Schildwall aufgebrochen habe. Den von den |333|brennenden Schiffen aufsteigenden Rauch, der sich über das Schlachtfeld legte, beschrieb ich als eine Wolke aus der Unterwelt und erzählte, dass ich mich unversehens Ubba gegenübergesehen habe, der voller Siegesgewissheit über uns herfiel. Das stimmte natürlich nicht. Ich hatte Ubba nicht zufällig gegenübergestanden, sondern den Zweikampf mit ihm gesucht. Doch für eine gute Geschichte gehört es sich, dass sie mit Bescheidenheit vorgetragen wird, und meine Zuhörer, denen diese Gepflogenheit vertraut war, murmelten Worte der Anerkennung. «Nie zuvor habe ich mich so gefürchtet», sagte ich und erzählte, wie wir gekämpft hatten, mein Schlangenhauch gegen Ubbas Axt, und wie er meinen Schild zu Feuerholz zerhackte und wie er schließlich auf den Gedärmen eines gefallenen Kämpfers ausrutschte und stürzte. Die Dänen am Feuer seufzten voller Mitgefühl. «Ich durchtrennte die Sehnen seines Arms», sagte ich und schlug mit der linken Handkante in die rechte Armbeuge, um zu zeigen, wo es Ubba getroffen hatte. «Und dann gab ich ihm den Rest.»

«Ist er mannhaft gestorben?», fragte einer der Zuhörer besorgt.

«Als ein wahrer Held», antwortete ich und berichtete, dass ich dem Sterbenden seine Streitaxt in die Hand gelegt hatte, damit er in Walhalla einziehen konnte. «Er ist sehr gut gestorben», bemerkte ich zum Schluss.

«Er war ein Krieger», sagte Ragnar mit schwerer Zunge, betrunken und schläfrig. Das Feuer war heruntergebrannt, und die Schatten verdichteten sich. Weitere Geschichten wurden erzählt, während die Asche verglühte und nur noch ein paar Kerzen flackerten. Die Männer waren eingeschlafen. Ich saß mit Ragnar zusammen, bis auch er sich niederlegte und zu schnarchen begann. Ich wartete noch eine Weile und schlich dann zu Alfred zurück, der immer |334|noch neben dem Eingang hockte. «Wir gehen», sagte ich. Er erhob sich wortlos.

Unbemerkt traten wir hinaus in die Nacht und zogen das Tor leise hinter uns zu. «Mit wem hast du gesprochen?», wollte Alfred wissen.

«Mit Graf Ragnar.»

Er blieb verwundert stehen. «War er nicht eine der Geiseln?»

«Wulfhere hat sie leben lassen», antwortete ich.

«Er hat sie leben lassen?», fragte er erstaunt.

«Und Wulfhere steht jetzt auf Guthrums Seite», gab ich ihm die schlechten Nachrichten weiter. «Er ist hier, im Palas. Er hat zugestimmt, für Guthrum zu kämpfen.»

«Hier?» Alfred konnte kaum seinen Ohren trauen. Wulfhere war sein Vetter und der Mann von Alfreds Nichte. Er gehörte zur Familie. «Er ist hier?»

«An Guthrums Seite», bestätigte ich schroff.

Er starrte mich einfach nur an. «Nein», hauchte er tonlos. «Und Æthelwold?», fragte er.

«In Gefangenschaft.»

«In Gefangenschaft?», fragte Alfred zweifelnd. Er wusste, dass ein gefangener Æthelwold den Dänen nur dann von Nutzen sein konnte, wenn er sich dazu bereit erklärt hatte, als König von Ihren Gnaden den Thron von Wessex zu besteigen.

«Sie halten ihn gefangen», wiederholte ich, was die Auskunft nicht wahrer machte, aber ich mochte Æthelwold und schuldete ihm einen Gefallen, «und wir können nichts daran ändern. Lasst uns von hier verschwinden», drängte ich. Doch in diesem Moment ging das Kirchentor auf, und Brida trat mit Nihtgenga heraus.

Sie hieß den Hund an ihrer Seite zu bleiben und kam auf mich zu. Die Nacht war frostig, und ihr musste sehr |335|kalt gewesen sein, da sie nur ein einfaches blaues Wollkleid trug, doch sie zitterte nicht. «Gehst du wieder?», fragte sie auf Englisch. «Bleibst du nicht bei uns?»

«Ich habe Frau und Kind», sagte ich.

Sie lächelte. «Die du heute Abend mit keinem Wort erwähnt hast, Uhtred. Was ist passiert?», fragte sie und sah mich einfach nur auf eine Art an, bei der mir unbehaglich wurde. «Du bist mit einer anderen Frau zusammen.»

«Ja», gab ich zu. «Sie sieht aus wie du.»

Sie lachte. «Und sie will, dass du für Alfred kämpfst?»

«Sie kann in die Zukunft sehen», sagte ich ausweichend. «Sie zeigt sich ihr im Traum.»

Brida starrte mich an. Nihtgenga winselte leise, und sie tätschelte ihn. «Und hat sie Alfred überleben sehen?»

«Mehr noch», antwortete ich. «Sie hat ihn siegen sehen.» Neben mir erstarrte Alfred, und ich hoffte, dass er so viel Vernunft hatte, den Kopf gesenkt zu halten.

«Sieger?»

«Sie sieht einen grünen Leichenberg», sagte ich, «ein weißes Pferd und ein Wessex, das wiederauflebt.»

«Deine Frau hat seltsame Träume», erwiderte Brida. «Du hast aber meine erste Frage noch nicht beantwortet, Uhtred. Warum bist du hierhergekommen, wenn du doch glauben musstest, dass Ragnar tot ist.»

Darauf hatte ich keine Antwort, also gab ich auch keine.

«Wen hast du hier zu treffen gehofft?»

«Dich?»

Sie wusste, dass ich log, und schüttelte den Kopf. «Warum bist du gekommen?» Als ich immer noch nicht antwortete, lächelte sie traurig. «Wenn ich Alfred wäre», sagte sie, «und in den Sümpfen festsäße, würde ich einen Kundschafter nach Cippanhamm schicken, der Dänisch spricht.»

|336|«Wenn du das denkst, warum sagst du es dann nicht denen da?», entgegnete ich und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Wachen vor dem Tor zum Palas.

«Weil Guthrum ein furchtsamer Tor ist», antwortete sie heftig. «Warum sollte ich ihm helfen? Wenn Guthrum scheitert, wird Ragnar zum Anführer.»

«Warum ist er es nicht längst?»

«Weil er wie sein Vater ist. Anständig. Er hat Guthrum sein Wort gegeben, und er wird es halten. Heute Abend bat er dich um einen Treueschwur, doch du hast dich ihm verweigert.»

«Ich will Bebbanburg nicht als Geschenk der Dänen», erwiderte ich.

Sie dachte darüber nach und schien Verständnis für mich zu haben. «Aber glaubst du denn, dass dir die Westsachsen helfen könnten, Bebbanburg zurückzugewinnen?», fragte sie verächtlich. «Die liegt am anderen Ende Britanniens, Uhtred, und der letzte Sachsenkönig verfault gerade in den Sümpfen.»

«Das hier wird mir Bebbanburg zurückgewinnen», sagte ich und schlug den Umhang über meinem Schwert zurück.

«Du und Ragnar, ihr könntet über den Norden herrschen», sagte Brida.

«Vielleicht werden wir das auch», erwiderte ich. «Sag Ragnar, dass ich mit ihm in den Norden ziehen werde, wenn das hier alles entschieden ist. Ich werde gegen Kjartan kämpfen, aber erst dann, wenn die Zeit reif dazu ist.»

«Ich hoffe, dass du lange genug am Leben bleibst, um dein Versprechen einzulösen.» Sie beugte sich zu mir und küsste mich auf die Wange. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ging in die Kirche zurück.

Alfred holte tief Luft. «Wer ist Kjartan?»

|337|«Ein Feind», antwortete ich, kurz angebunden, und versuchte ihn wegzuziehen, doch er hielt mich zurück und schaute Brida nach.

«Ist sie das Mädchen, das mit dir in Wintanceaster war?», fragte er und erinnerte damit an die Zeit, als wir, Brida und ich, nach Wessex gekommen waren.

«Ja.»

«Und kann Iseult wirklich in die Zukunft sehen?»

«Sie hat sich noch nicht geirrt.»

Er bekreuzigte sich und ließ sich dann von mir durch die Stadt führen. Es war ruhig in den Straßen, und wir blieben unbehelligt. Statt zum Westtor zu gehen, bestand er darauf, zum Nonnenkloster zurückzukehren. Dort angelangt, kauerten wir uns vor eines der fast erloschenen Feuer im Innenhof und wärmten uns an der Glut. Die Männer hatten sich zum Schlafen in die Nonnenkirche zurückgezogen. Dann nahm Alfred ein halbabgebranntes Stück Holz zur Hand, trug es als Fackel vor sich her und ging auf die Reihe der Türen zu, hinter denen die Zellen der Nonnen lagen. Eine der Türen war mit zwei Haspen und einer kurzen, schweren Kette versperrt. Alfred blieb davor stehen.

«Zieh dein Schwert», befahl er mir.

Er löste die Kette von den Haspen und stieß die Tür nach innen auf. Er trat vorsichtig ein und streifte die Kapuze in den Nacken zurück. Im Schein der hocherhobenen Fackel sah ich einen großen Mann auf dem Boden liegen und schlafen.

«Steapa!», zischte Alfred.

Steapa hatte nur so getan, als ob er schliefe. Blitzschnell war er auf den Beinen, aber noch ehe er zum Schlag ausholen konnte, hatte ich ihm die Spitze meines Schwertes auf die Brust gepflanzt. Dann erkannte er Alfreds geschundenes Gesicht und erstarrte. «Herr?»

|338|«Du kommst mit uns», sagte Alfred.

«Herr!» Steapa fiel vor seinem König auf die Knie.

In der Zelle war es genauso bitter kalt wie draußen. «Steck dein Schwert wieder weg, Uhtred.» Steapa sah mich an und wirkte nur mäßig überrascht, in mir seinen ehemaligen Zweikampfgegner zu erkennen. «Ihr beide werdet Freunde», ordnete Alfred an, und der große Mann nickte. «Und jetzt müssen wir noch jemanden holen», sagte Alfred, «also kommt.»

«Noch jemanden?», fragte ich.

«Du hast doch von einer Nonne gesprochen.»

Die richtige Zelle war schnell gefunden. Die Frau lag vor der Wand auf dem Boden, halb verdeckt vor einem Dänen, der geräuschvoll schnarchte. Im Schein einer Kerze zeigte sich ein kleines, verängstigtes Gesicht hinter dem Bart des Mannes. Der Bart war schwarz, und ihr Haar war golden. Sie starrte uns aus weitaufgerissenen Augen an und schnappte nach Luft, wovon der Däne erwachte, blinzelnd hochblickte und dann den schweren Mantel beiseitewarf, der ihm als Decke diente. Steapa versetzte ihm einen Hieb, der ein Geräusch verursachte, als wäre auf einen Bullen losgeknüppelt worden, es klang dumpf und hart zugleich. Die Nonne versuchte, ihre Nacktheit zu verbergen, und Alfred zog den Mantel wieder über sie. Ihm war der Anblick peinlich gewesen, mir dagegen hatte er sehr gefallen, denn sie war jung und schön, und ich fragte mich, wie eine solche Frau ihren Liebreiz an die Kirche verschwenden konnte. «Du weißt, wer ich bin?», fragte Alfred. Sie schüttelte den Kopf. «Ich bin dein König», sagte er leise, «und du wirst jetzt mit uns kommen, Schwester.»

Sie hatte keine Kleider mehr, also hüllten wir sie in den schweren Mantel. Der Däne war tot, seine Kehle aufgeschlitzt von der Klinge des Wespenstachels. Ich fand an |339|einem Lederriemen um seinen Hals einen Beutel voller Münzen. «Das Geld geht an die Kirche», bestimmte Alfred.

«Ich habe es gefunden», sagte ich. «Und ich habe ihn getötet.»

«Es ist sündiges Geld, und es muss geläutert werden», entgegnete er. Dann wandte er sich an die Nonne und fragte lächelnd: «Sind noch andere Schwestern hier?»

«Nein», antwortete sie leise.

«Du bist jetzt in Sicherheit, Schwester.» Er richtete sich auf. «Wir können gehen.»

Steapa hob die Nonne hoch und trug sie nach draußen. Ihr Name war Hild. Sie klammerte sich an ihm fest und wimmerte, entweder wegen der Kälte oder, was wahrscheinlicher war, wegen ihrer Erinnerung an das, was man ihr angetan hatte.

Wir hätten Cippanhamm in dieser Nacht mit nur hundert Kämpfern einnehmen können. Es war so kalt, dass sich niemand auf der Brustwehr zeigte. Die Wächter hatten sich in das Torhaus zurückgezogen und wärmten sich am Feuer. Als wir den schweren Torriegel öffneten, wollte einer übellaunig wissen, wer wir seien. «Guthrums Männer», antwortete ich, und niemand kümmerte sich weiter um uns. Eine halbe Stunde später waren wir wieder in der Wassermühle, bei Pater Adelbert, Egwine und den drei Soldaten.

«Wir sollten Gott für unsere Rettung danken», sagte Alfred zu Pater Adelbert, der sich entsetzt über das Blut und die blauen Flecken im Gesicht des Königs zeigte. «Sprecht ein Gebet, Pater», verlangte Alfred.

Adelbert betete, doch ich hörte nicht zu. Ich kauerte am Feuer und fürchtete, dass mir nie wieder warm werden würde. Dann schlief ich ein.

|340|Es schneite den ganzen nächsten Tag über. Wir machten ein Feuer und kümmerten uns nicht um den Rauch, der über der Mühle aufstieg, denn es würde sich wohl kein Däne wegen eines fernen grauen Rauchfadens vor einem grauem Himmel durch Eis und Schnee auf den Weg machen.

Alfred brütete vor sich hin. Er sprach nur wenig an diesem Tag, fragte mich aber einmal, ob ich denn wirklich sicher sein könne, dass Wulfhere die Seiten gewechselt hatte. «Jedenfalls haben wir ihn nicht mit Guthrum zusammen gesehen», fügte er hinzu, voll verzweifelter Hoffnung, von seinem Vetter doch nicht verraten worden zu sein.

«Die Geiseln leben», sagte ich.

«Gütiger Himmel!» Er lehnte den Kopf an die Wand und starrte hinaus in das Schneegewirbel vor dem kleinen Fenster. «Er gehört doch zur Familie», klagte er und verstummte dann wieder.

Ich verfütterte das letzte Heu, das wir mitgebracht hatten, an die Pferde und schärfte dann, weil sonst nichts zu tun war, meine Schwerter. Hild weinte. Alfred versuchte, sie zu trösten, war aber zu linkisch und fand nicht die richtigen Worte. Seltsamerweise war es Steapa, dem es gelang, sie mit seiner leise grollenden Stimme zu beruhigen. Und als Schlangenhauch und Wespenstachel geschärft waren und draußen der Schnee auf eine lautlose Welt fiel, fing auch ich an zu grübeln.

Ich dachte an Ragnar und daran, dass er meinen Treueschwur wollte, daran, dass ich mich ihm verpflichten sollte.

Die Welt ist aus großer Unordnung entstanden und wird in großer Unordnung enden. Die Götter schufen sie und werden sie in ihrem Kampf untereinander auch wieder |341|verwüsten. Doch zwischen der Unordnung ihrer Geburt und der Unordnung ihres Todes herrscht Ordnung in der Welt, gestiftet durch Schwüre, die uns binden wie die Schnallen eines Harnischs.

Bevor ich Alfred Treue schwor, hatte ich mich an Ragnar binden wollen. Doch jetzt empörte es mich fast, von ihm darum gebeten worden zu sein. In mir war Stolz gewachsen und hatte mich verändert. Ich war Uhtred von Bebbanburg, Ubbas Bezwinger, und durchaus gewillt, mich einem König zu verpflichten, nicht aber einem Ebenbürtigen. Wer Treue schwört, dient dem, der ihm den Schwur abnimmt. Ragnar hatte mich als einen Freund bezeichnet und mich wie einen Bruder behandelt, doch sein Verlangen nach meinem Treueid machte deutlich, dass er in mir keinen Ebenbürtigen sah. Für einen Dänen waren alle Sachsen Geringere, und darum verlangte er nach einem Schwur. Hätte ich ihn geleistet, wäre er großzügig gewesen und hätte dennoch erwartet, dass ich ihm Dankbarkeit zollte. Falls ich Bebbanburg jemals zurückerobern sollte, würde ich meinen Besitz nur so lange halten können, wie er es gestattete. Über all das hatte ich noch nie länger nachgedacht, doch plötzlich, an diesem kalten Tag, begriff ich, dass ich bei den Dänen immer nur so viel wert war wie meine Freunde, und ohne diese Freunde wäre ich nichts weiter als irgendein umherziehender Krieger ohne Land. Unter den Sachsen hingegen war ich ein ebenbürtiger Sachse, und unter den Sachsen war ich nicht auf die Großzügigkeit anderer angewiesen.

«Du siehst nachdenklich aus, Uhtred», sagte Alfred und schreckte mich aus meinen Grübeleien auf.

«Mir ist gerade durch den Kopf gegangen, dass wir etwas Warmes zu essen haben sollten.» Ich warf Holz aufs Feuer, ging mit einem Kessel hinaus an den Mühlbach, |342|zerschlug die Eiskruste, die sich darüber gebildet hatte, und schöpfte Wasser. Steapa war mir nach draußen gefolgt, nicht um zu reden, sondern um zu pinkeln. «Du hast vor dem Witanegemot gelogen», sagte ich.

Er verknotete den Strick, der ihm als Gürtel diente, wandte sich mir zu und knurrte: «Wären die Dänen nicht gekommen, hätte ich dich getötet.»

Ich widersprach ihm nicht, denn er hatte wahrscheinlich recht. «Bei Cynuit», sagte ich, «als Ubba fiel, wo warst du da?»

«Dort.»

«Ich war mitten in der Schlacht, aber ich habe dich nirgends gesehen», entgegnete ich.

«Behauptest du, ich wäre nicht da gewesen?», blaffte er.

«Du warst bei Odda dem Jüngeren, oder?», fragte ich, und er nickte. «Sein Vater hatte dir den Auftrag gegeben, ihn zu beschützen», riet ich, und erneut nickte er. «Und Odda der Jüngere hat sich aus aller Gefahr herausgehalten. War es so?»

Sein Schweigen bestätigte mir, dass ich recht hatte. Als er sich umdrehte, um ins Haus zurückzukehren, hielt ich ihn am Arm fest. Das überraschte ihn. Steapa war so groß, so stark und so furchterregend, dass es wohl kaum jemand wagte, ihn an etwas zu hindern. Ich sah Wut in ihm aufkeimen und gab ihr zusätzlich Nahrung. «Du warst Oddas Amme», höhnte ich. «Der große Steapa Snotor war eine Amme. Während sich andere Männer mit den Dänen schlugen, hast du nur Oddas Händchen gehalten.»

Er starrte mich an. Die ausdruckslose Miene und der wölfische Blick verrieten schiere Wut und Mordlust. Ich hatte sie durch meine Dreistigkeit geweckt, weil ich ihn verspottet hatte, und ich sah noch mehr. Steapa Snotor |343|war wirklich ein dummer Klotz. Er würde mich töten, wenn man ihn dazu auffordern würde, doch ohne eine solche Aufforderung wusste er nicht, was er machen sollte. Ich hielt ihm den mit Wasser gefüllten Kessel hin. «Trag das rein!» Er zögerte. «Steh nicht herum wie ein Ochse!», herrschte ich ihn an. «Und wenn wir das nächste Mal gegen die Dänen kämpfen, stehst du auf meiner Seite.»

«He?»

«Wir sind Krieger», sagte ich. «Unsere Aufgabe ist es nicht, Schwächlinge zu hätscheln, sondern unsere Feinde zu töten.»

Dann sammelte ich Feuerholz und kehrte ins Haus zurück. Alfred sah ausdruckslos vor sich hin. Steapa saß neben Hild, die nun eher ihn zu trösten schien, als von ihm getröstet zu werden. Ich zerkleinerte Haferkekse und getrockneten Fisch und rührte beides in den Wasserkessel, der über dem Feuer hing. Es wurde ein scheußlicher Fraß, aber er war immerhin warm.

In dieser Nacht hörte es zu schneien auf, und am nächsten Morgen machten wir uns auf den Weg zurück.

 

Alfred hätte sich den Gang nach Cippanhamm sparen können, denn was er dort erfahren hatte, hätten ihm auch Kundschafter sagen können. Aber er hatte unbedingt selbst gehen wollen und war besorgter als bei seiner Abreise zurückgekommen. Immerhin wusste er jetzt, dass Guthrums Streitmacht nicht groß genug war, um ganz Wessex zu unterwerfen, und dass er darum auf Verstärkung warten musste. Aber Alfred wusste nun auch, dass Guthrum den Adel von Wessex auf seine Seite zu ziehen versuchte. Wulfhere hatte sich den Dänen schon verpflichtet. Und wer sonst noch?

|344|«Wird der Fyrd von Wiltunscir für Wulfhere kämpfen?», fragte Alfred.

Natürlich würden die Männer für Wulfhere kämpfen. Die meisten von ihnen waren ihrem Herrn treu ergeben, und wenn ihr Herr befahl, unter seinem Banner in den Krieg zu ziehen, gehorchten sie ihm. Die Männer aus denjenigen Teilen der Grafschaft, die nicht von den Dänen besetzt waren, mochten sich Alfred anschließen, alle anderen aber würden tun, was sie immer taten, und ihren Herren folgen. Und es war zu befürchten, dass weitere Aldermänner dem Vorbild Wulfheres folgen würden. Sie hatten gesehen, dass Wulfhere seinen Landbesitz nicht verloren hatte, sie würden an ihre eigene Zukunft denken und an die Sicherheit ihrer Familien, und dann würden sie sich den Dänen anschließen. Genauso machten es die Dänen schon immer. Ihre Heere waren zu klein und ungeordnet, um ein großes Königreich zu bezwingen. Also schmeichelten sie den ansässigen Herren, versprachen ihnen Schutz, machten ein paar zu Königen, schmeichelten auch ihnen und brachten sie um, sobald sie ihre Eroberungen gesichert hatten.

Nach Æthelingæg zurückgekehrt, tat Alfred, was er am besten konnte. Er schrieb Briefe an alle Aldermänner, Thegn und Bischöfe in Wessex und ließ sie durch Boten überbringen. In diesen auf Pergamentschnipseln verfassten Briefen hieß es: Ich lebe, und nach Ostern werde ich Wessex aus den Händen der Heiden befreien, und ihr werdet mir dabei helfen.

«Du musst mir Lesen und Schreiben beibringen», sagte Iseult, als ich ihr von den Briefen erzählte.

«Warum?»

«Es hat Zauberkraft.»

«Zauberkraft?»

|345|«Wörter sind wie ein Atemhauch», sagte sie, «du sprichst sie aus, und sie sind verflogen. Durch die Schrift aber werden sie gebannt. Man kann Geschichten und Gedichte aufschreiben.»

«Hild wird es dich lehren», sagte ich. Und so kam es. Die Nonne brachte ihr das Alphabet bei, indem sie mit einem Stock Buchstaben in den Lehmboden kratzte. Ich sah den beiden manchmal bei ihren Übungen zu. Man hätte sie für Schwestern halten können, nur war das Haar der einen schwarz wie ein Rabenflügel und das der anderen von leuchtendem Gold.

Während Iseult die Buchstaben lernte, unterwies ich die Männer im Schwertkampf, bis sie so ermüdet waren, dass sie mich nicht einmal mehr verfluchen mochten. Wir besserten auch einen Knüppelpfad aus, der zu den Hügeln im Süden führte, wo wir am Rand der Marsch eine neue Festung aus Erdwällen und Baumstämmen bauten. Die Dänen beobachteten uns, doch sie ließen uns bei unserer Arbeit unbehelligt, und als Guthrum begriff, was wir da bauten, waren wir schon fertig. Ende Februar kamen hundert dänische Reiter, um uns den Kampf anzusagen, aber als sie das Dickicht aus Dornzweigen, den Graben dahinter, die hohen Palisaden und unsere Speere erblickten, machten sie wieder kehrt.

Am nächsten Tag machte ich mich mit sechzig Männern auf den Weg zu jenem Gehöft, vor dem ich die dänischen Pferde gesehen hatte. Sie waren verschwunden, die Gebäude niedergebrannt. Wir durchstreiften die Umgebung und fanden ein von Füchsen gerissenes Lamm, trafen aber nirgends auf Feinde. Von diesem Tag an ritten wir immer tiefer ins Landesinnere und verbreiteten die Botschaft, dass der König lebte und den Kampf gegen die Feinde aufnehmen wollte. Manchmal begegneten uns dänische |346|Horden, aber wir ließen uns nur auf einen Kampf ein, wenn wir in der Überzahl waren, denn wir konnten es uns nicht leisten, Männer zu verlieren.

Dann brachte Ælswith eine Tochter zur Welt, die auf den Namen Æthelgifu getauft wurde. Ælswith wollte die Marschen verlassen und nach Dornwaraceaster gehen. Huppa von Thornsæta hatte in einem Antwortschreiben auf Alfreds Botschaft mitgeteilt, dass er die Stadt hielte und es dort sicher sei und dass er dem König mit seinem Fyrd unterstützen würde, sobald dieser danach verlangte. Dornwaraceaster war kleiner als Cippanhamm, hatte aber eine feste römische Ringmauer. Dorthin wollte sich Ælswith zurückziehen, denn sie war es leid, in den Sümpfen zu leben, und der ständigen Feuchtigkeit und kalten Nebel überdrüssig. Sie fürchtete, ihr Neugeborenes könnte erfrieren und Edward wieder krank werden, und Bischof Alewold bestärkte sie. Er träumte von der Behaglichkeit eines großen Hauses in Dornwaraceaster, von warmen Feuern und standesgemäßer Bequemlichkeit. Alfred aber weigerte sich, die Sümpfe zu verlassen. Denn wenn er ginge, würden die Dänen unverzüglich aus Cippanhamm abziehen und Dornwaraceaster belagern. Das würde ihn zum Gefangenen des Feindes machen, und die ganze Festung wäre bald durch Hunger geschwächt. In der Marsch aber war er frei, und es gab zu essen. Er schrieb weitere Briefe, um ganz Wessex kundzutun, dass er lebte, seine Streitmacht immer größer werde und dass er die Heiden nach Ostern, aber noch vor Pfingsten, angreifen werde.

Dieser Winter ging mit unablässigem Regen zu Ende. Ich erinnere mich, auf dem schlammigen Wall der neuen Festung gestanden und zugesehen zu haben, wie es regnete und regnete und regnete. Kettenhemden rosteten, Tücher faulten, und Lebensmittel schimmelten. Unsere Stiefel |347|lösten sich auf, und wir hatten niemanden, der wusste, wie man neue macht. Wir stapften und rutschten durch den Morast, unsere Kleidung wurden niemals trocken, und unablässig trieb der Westwind neue Regenwolken vor sich her. Es tropfte durch die Strohdächer, in den Hütten stand das Wasser, und die Welt war in Düsternis gehüllt. Immerhin hatten wir zu essen. Zwar wurden die Vorräte allmählich knapp, weil immer mehr Männer nach Æthelingæg kamen, doch niemand musste hungern, und niemand beklagte sich. Bis auf Bischof Alewold, der jedes Mal das Gesicht verzog, wenn ihm wieder einmal Fischeintopf vorgesetzt wurde. Alles Wild, das in den Sümpfen lebte, hatten wir erjagt und verzehrt, doch blieb uns genug an Fischen, Aalen und Geflügel, während die Menschen jenseits der Marsch, in den Gebieten, die von den Dänen ausgeplündert worden waren, hungern mussten. Wir übten uns weiter an unseren Waffen, schlugen uns in Scheinkämpfen mit Stöcken, bewachten die Hügel und hießen die Boten willkommen, die uns Nachrichten brachten. Burgweard, der Anführer der Flotte, schrieb aus Hamtun und berichtete, dass die Stadt zwar von den Sachsen gehalten, aber zugleich von dänischen Schiffen bedroht werde. «Ich glaube nicht, dass er gegen sie kämpft», sagte Leofric mürrisch.

«Davon hat er auch nichts geschrieben», erwiderte ich.

«Er hat Angst, dass seine hübschen Schiffe ein paar Kratzer abkriegen könnten», knurrte Leofric.

«Immerhin hat er die Schiffe noch.»

Es kam auch ein Brief aus dem fernen Kent, geschrieben von einem Priester, der dem König mitteilte, dass Wikinger aus Lundene die Stadt Contwaraburg besetzt hielten, dass zahlreiche Dänen auf der Insel Sceapig siedelten und dass der Aldermann mit den Eindringlingen Frieden geschlossen habe. Aus Suth Seaxa wurden weitere |348|dänische Überfälle gemeldet, Arnulf aber, der dortige Aldermann, sicherte dem König die Unterstützung seines Fyrds zu. Zum Zeichen seiner Ergebenheit hatte er Alfred ein Evangelium geschenkt, das dieser tagein, tagaus bei sich trug, bis sich die Seiten schließlich mit Wasser vollgesogen hatten und die Tinte verlaufen war. Wiglaf, der Aldermann von Sumorsæte, rückte Anfang März mit siebzig Kämpfern an. Er behauptete, sich in den Hügeln südlich von Baðum versteckt gehalten zu haben, und Alfred hörte nicht auf die Gerüchte, wonach Wiglaf mit Guthrum verhandelt hatte. Worauf es ankam, war, dass der Aldermann nach Æthelingæg gekommen war. Alfred übertrug ihm den Befehl über seine Männer, die nun täglich durchs Hinterland streiften, um die Dänen zu beobachten und ihre Versorgungstruppen zu überfallen. Nicht alle Neuigkeiten waren so erfreulich. Wilfrith von Hamptonscir war über das Meer ins Frankenland geflohen, ebenso wie ein gutes Dutzend anderer Aldermänner und Thegn.

Odda der Jüngere war jedoch immer noch in Wessex. Durch einen Priester ließ er Alfred die Botschaft bringen, dass er, der Aldermann von Defnascir, Exanceaster halte. «Gott sei gepriesen», hieß es in seinem Brief, «die Stadt ist frei von Heiden.»

«Doch wo mögen sie stecken?», fragte Alfred den Priester. Wir wussten, dass sich Svein, obwohl er seine Schiffe verloren hatte, nicht auf den Weg zu Guthrum gemacht hatte. Wahrscheinlich hielt er sich noch irgendwo in Defnascir versteckt.

Der Priester, ein junger Mann, der vor Ehrfurcht angesichts des Königs zitterte, zögerte und stammelte dann, Svein sei bei Exanceaster.

«Bei?», fragte der König.

|349|«In der Nähe», brachte er heraus.

«Belagert er die Stadt?»

«Nein, Herr.»

Alfred las den Brief ein zweites Mal. Er setzte stets großes Vertrauen in das geschriebene Wort und suchte nun nach einem Hinweis, der ihm beim ersten Lesen womöglich entgangen war. «Sie sind nicht in Exanceaster», fasste er anschließend zusammen, «aber es steht nicht hier, wo sie sonst sind. Oder wie viele Leute sie haben. Oder was sie planen.»

«Sie sind ganz in der Nähe, Herr», wiederholte der Priester kläglich. «Im Westen, glaube ich.»

«Im Westen?»

«Ich glaube, sie sind im Westen.»

«Was liegt dort im Westen?», fragte mich Alfred.

«Das Hochmoor», antwortete ich.

Verärgert warf Alfred den Brief hin. «Vielleicht solltest du nach Defnascir gehen und herauszufinden versuchen, was diese Heiden vorhaben.»

«Ja, Herr», sagte ich.

«Dann kannst du auch gleich nach Frau und Kind sehen», meinte Alfred.

Damit wollte er mir einen Stachel ins Fleisch bohren. Die Priester hatten wieder an Einfluss gewonnen und träufelten dem König unablässig, so wie der Winterregen fiel, ihr Gift in die Ohren. Gott, so sagten die Priester, verhelfe den Sachsen nur dann zum Sieg über die Dänen, wenn wir ein tugendhaftes Leben führten. Iseult aber, die Heidin, und ich, ein verheirateter Mann, lebten in Sünde, wofür man vor allem ihr die Schuld gab. Und so wurde getuschelt, dass Iseult zwischen Alfred und dem Sieg stünde. Niemand sagte dies offen, noch nicht, doch Iseult spürte es. Hild stand auf Iseults Seite, und sie war eine Nonne |350|und ein Opfer der Dänen, doch meinten viele, dass sie von Iseult nur verdorben werde. Ich gab mich taub gegenüber dem Geflüster, bis mir Alfreds Tochter eines Tages Ausführlicheres erzählte.

Æthelflæd war fast sieben Jahre alt und das Herzenskind ihres Vaters. Ælswith dagegen bevorzugte den kränklichen Edward und war in jenen Wintertagen vollauf mit dem neugeborenen Kind beschäftigt, weshalb Æthelflæd viel Freiraum genoss. Sie hielt sich meist an der Seite ihres Vaters, wanderte manchmal aber auch allein durch das Dorf und ließ sich von den Soldaten und den Anwohnern verwöhnen. Mit ihren goldenen Locken und den strahlend blauen Augen war sie ein wahrer Sonnenschein unter diesem trübseligen grauen Himmel. Eines Tages traf ich sie in der Festung, wo sie eine dänische Reiterschar beobachtete, die gekommen war, um uns zu beobachten. Ich sagte ihr, sie solle ins Dorf zurückzukehren, und sie tat so, als gehorche sie, doch später, als die Dänen abgezogen waren, fand ich sie in einem der mit Torf gedeckten Unterstände hinter dem Wall. «Ich hatte gehofft, die Dänen würden angreifen», sagte sie mir.

«Damit sie dich verschleppen?»

«Nein, ich wollte sehen, wie du sie tötest.»

Es war einer jener seltenen Tage, an denen es ausnahmsweise nicht regnete. Die grünen Hügel leuchteten im Sonnenlicht, und ich saß auf dem Wall, zog Schlangenhauch aus der Scheide und machte mich daran, die beiden Schneiden mit einem Wetzstein zu schleifen. Æthelflæd wollte unbedingt einmal den Wetzstein benutzen. Sie legte die schwere Klinge auf ihren Schoß und führte mit gerunzelter Stirn den Stein über das Eisen. «Wie viele Dänen hast du schon getötet», wollte sie wissen.

«Genug.»

|351|«Mama sagt, dass du unseren Herrn Jesus nicht lieb hast.»

«Den haben wir doch alle lieb», sagte ich ausweichend.

«Wenn du unseren Herrn Jesus lieben würdest», sagte sie ernst, «könntest du doch noch mehr Dänen töten. – Was ist das?» Sie hatte eine tiefe Scharte in der Klinge entdeckt.

«Da hat es ein anderes Schwert getroffen», antwortete ich. Es war in Cippanhamm passiert, als Steapa mit seinem riesigen Schwert zugeschlagen hatte.

Sie machte sich mit dem Wetzstein eifrig an der schadhaften Stelle zu schaffen. «Mama sagt, Iseult ist ein Aglæcwif.» Sie verhaspelte sich und strahlte dann übers ganze Gesicht, weil sie glaubte, das Wort richtig ausgesprochen zu haben. Ich sagte nichts. Aglæcwif bedeutet so viel wie Ungeheuer oder böser Geist. «Das meint auch der Bischof», verriet das Mädchen. «Ich mag ihn nicht.»

«Nein?»

«Er sabbert.» Sie versuchte vorzumachen, wie ihm der Speichel aus den Mundwinkeln troff. «Ist Iseult wirklich ein Aglæcwif?»

«Natürlich nicht. Sie hat dafür gesorgt, dass es Edward wieder besser geht.»

«Das war der Herr Jesus. Er hat mir auch eine Schwester geschenkt.» Sie runzelte die Stirn, verärgert darüber, dass es ihr trotz aller Anstrengung nicht gelingen wollte, die Scharte auszuwetzen.

«Iseult ist eine gute Frau», sagte ich.

«Sie lernt lesen. Ich kann schon lesen.»

«Wirklich?»

«Fast. Wenn sie lesen kann, wird vielleicht eine Christin aus ihr. Ich wäre gern ein Aglæcwif.»

«Das wärst du gern?», fragte ich überrascht.

|352|Wie zur Antwort knurrte sie mich an und bog die Finger ihrer kleinen Hand zu Klauen. Dann lachte sie. «Sind das Dänen?», fragte sie und zeigte auf eine Reitergruppe, die von Süden kam.

«Das ist Wiglaf», antwortete ich.

«Der ist nett.»

Ich schickte sie auf Wiglafs Pferd ins Dorf zurück, dachte über alles nach, was sie gesagt hatte, und fragte mich wieder einmal, weshalb ich mich eigentlich unter Christen aufhielt, die in mir doch nur eine leibhaftige Beleidigung ihres Gottes sahen. Ich war für sie Uhtredærwe, der mit einer Aglæcwif zusammenlebte und mit den Dwolgods falsche Götter verehrte. Daraus machte ich auch kein Hehl. Stolz trug ich mein Hammeramulett, vor dem Alfred immer, so auch an diesem Abend, zurückzuckte. Er hatte mich zu sich in seinen Palas gerufen, wo ich ihn mit Beocca über ein Tafl-Brett gebeugt antraf, der mit der größeren Anzahl Steine spielte. Es ist ein scheinbar einfaches Spiel, dieses Tafl, bei dem einer der Mitspieler einen König und ein Dutzend Steine hat und der andere doppelt so viele Steine, aber keinen König. Und dann werden die Steine auf dem in Quadrate unterteilten Brett herumgeschoben, bis alle Steine des einen oder des anderen Spieler eingekreist sind. Ich hatte keine Geduld für dieses Spiel. Alfred aber fand großen Gefallen daran, schien jedoch in dieser Runde im Nachteil zu sein und war deshalb erleichtert, mich zu sehen. «Ich will, dass du nach Defnascir reitest», sagte er.

«Natürlich, Herr.»

«Ich fürchte, Euer König ist ernstlich bedroht, Herr», frohlockte Beocca.

«Sei’s drum», entgegnete Alfred gereizt. Er wandte sich mir zu. «Du gehst nach Defnascir, aber Iseult bleibt hier.»

|353|Ich hielt mich im Zaum. «Soll sie wieder als Geisel herhalten?», fragte ich.

«Ich brauche ihre Arznei», antwortete der König.

«Arznei, die von einer Aglæcwif gemischt wird?»

Er strafte mich mit strengem Blick. «Sie ist eine Heilerin», sagte er, «also Gottes Werkzeug, und mit Gottes Hilfe wird auch sie zur Wahrheit finden. Übrigens musst du schnell sein und kannst deshalb unterwegs keine Frau brauchen. Du gehst nach Defnascir und suchst Svein und, wenn du ihn gefunden hast, sagst du Odda dem Jüngeren, dass er seinen Fyrd aufstellen soll. Sag ihm, dass Svein aus der Grafschaft vertrieben werden muss. Wenn ihm das gelungen ist, soll Odda mit seinen Truppen hierherkommen. Als Anführer meiner Leibwache hat er in meiner Nähe zu sein.»

«Ihr wollt, dass ich Odda Befehle erteile?», fragte ich halb verwundert, halb höhnisch.

«Ja», antwortete Alfred. «Und dir befehle ich, Frieden mit ihm zu halten.»

«Ja, Herr.»

Er hörte den Spott in meiner Stimme. «Wir sind alle Sachsen, Uhtred. Es ist höchste Zeit, alte Wunden heilen zu lassen.»

Beocca, der dem König nicht die Laune verderben wollte, indem er ihn im Tafl schlug, sammelte die Spielsteine vom Brett. «Ein Haus, das mit sich selbst uneins wird, kann nicht bestehen», zitierte er. «So steht es im Evangelium des Matthäus.»

«Gelobt sei Gott für diese Wahrheit», sagte Alfred. «Und wir müssen Svein loswerden.» Das war die größere Wahrheit. Alfred wollte nach Ostern gegen Guthrum ins Feld ziehen, was er aber kaum tun konnte, wenn ihm Sveins Streitkräfte im Nacken säßen. «Du findest Svein», ordnete der König an, «und Steapa begleitet dich.»

|354|«Steapa!»

«Er kennt die Gegend», sagte Alfred, «und ich habe ihm befohlen, dir zu gehorchen.»

«Es ist besser, wenn ihr zu zweit seid», mischte sich Beocca ein. «Auch Josua sandte zwei Kundschafter nach Jericho.»

«Ihr liefert mich meinen Feinden aus», bemerkte ich wütend, doch als ich darüber nachdachte, erschien mir Alfreds Befehl, mich als Kundschafter loszuschicken, durchaus vernünftig. Die Dänen in Defnascir wären vor Leuten des Königs auf der Hut. Ich aber beherrschte ihre Sprache und konnte selbst als Däne durchgehen, weshalb nur ich für diesen Auftrag in Frage kam. Und als Begleiter eignete sich niemand besser als Steapa, der aus Defnascir stammte, das Land bestens kannte und als Getreuer Oddas wie kein anderer berufen war, ihm eine Botschaft des Königs zu überbringen.

Und so brachen wir beide an einem verregneten Tag von Æthelingæg auf und ritten nach Süden.

Steapa mochte mich nicht, und ich mochte ihn nicht, sodass der Ritt ziemlich schweigsam verlief, abgesehen davon, dass ich hin und wieder vorschlug, welchen Weg wir einschlagen sollten, womit er stets einverstanden war. Wir hielten uns in der Nähe der großen Römerstraße, waren aber vorsichtig, denn solche Straßen nutzten die Dänen bei ihren Streifzügen nach Beute oder Vorräten häufig. Außerdem würde auch Svein diese Straße nehmen, wenn er nach Cippanhamm zog, um sich Guthrum anzuschließen. Allerdings sahen wir weder Dänen noch Sachsen. Jedes Dorf und jedes Gehöft, an dem wir vorbeikamen, war geplündert und in Brand gesteckt worden. Wir reisten durch ein totes Land.

Am zweiten Tag wechselte Steapa unvermittelt und ohne |355|ein Wort der Erklärung die Richtung und drängte stur auf die Hügel im Westen zu. Ich folgte ihm, weil er sich in dieser Gegend gut auskannte, und glaubte, dass er auf das Hochmoor von Dærentmora zusteuerte. Er ritt schnell und mit verbissener Miene. Auf meine Ermahnung, dass wir uns vorsichtiger verhalten sollten, reagierte er nicht. Stattdessen sprengte er fast im Galopp auf ein enges Tal zu, bis ein Gehöft in Sicht kam.

Oder was von dem Gehöft noch übriggeblieben war. Nur verkohlte Trümmer lagen noch inmitten einer grünen Weide und von hohen Bäumen umgeben, an deren Zweigen sich ein erster Frühlingshauch bemerkbar machte. Die Weide war von blühenden Blumen gesäumt, doch da, wo einst mehrere Gebäude gestanden hatten, sah man nur Schutt und Asche. Steapa stieg vom Pferd und ging auf die Ruine zu. Anstelle seines Schwertes, das er an die dänischen Besatzer von Cippanhamm hatte abtreten müssen, trug er eine riesige Streitaxt bei sich, mit der er jetzt in den schwarzen Überresten stocherte.

Ich hielt sein Pferd fest, band anschließend beide Tiere an dem verkohlten Stamm einer Esche fest und beobachtete ihn. Ich spürte, dass ein falsches Wort einen Zornesausbruch bewirken konnte, also sagte ich nichts. Vor einem Hundegerippe kauerte er nieder, starrte lange in die verkohlten Trümmer und streckte dann die Hand aus, um den schwarzen Schädel zu streicheln. Ich weiß nicht, ob es Tränen oder Regentropfen waren, die ihm übers Gesicht rannen.

Hier waren einst an die zwei Dutzend Menschen zu Hause gewesen. Am Südrand des Weilers hatte ein größeres Gebäude gestanden. Ich schaute mich in seinen Trümmern um und sah, dass die Dänen auf der Suche nach versteckten Münzen bei den Pfosten Löcher gegraben |356|hatten. Steapa stand zwischen den Überresten einer kleineren Hütte. Vielleicht, so dachte ich, war er darin aufgewachsen. Ich mochte mich nicht in seine Nähe begeben und fragte mich, ob ich es wagen konnte, ihn zum Weiterreiten aufzufordern. Er hatte sich darangemacht, mit der riesigen Streitaxt den feuchten Boden aufzuhacken und mit bloßen Händen ein flaches Grab für die Gebeine des Hundes auszuheben. An den Knochen klebten noch Reste von Fell, das Fleisch aber war vollständig abgenagt worden, und die Rippen lagen verstreut umher. Der Überfall hatte also schon vor mehreren Wochen stattgefunden. Steapa sammelte die Knochen ein und legte sie behutsam in das Grab.

In diesem Moment tauchten Leute auf. Man kann tagelang durch verwüstete Landstriche ziehen, ohne einer Menschenseele zu begegnen, wird aber selbst längst beobachtet. Wenn der Feind kommt, versteckt sich das Volk in den Wäldern und wartet, bis die Gefahr vorbei ist. Jetzt traten drei Männer, mit Spießen bewaffnet, aus dem nahen Gehölz.

«Steapa!», rief ich. Er wandte sich mir zu, offenbar wütend über die Unterbrechung, sah aber dann, dass ich Richtung Westen deutete.

Er stieß einen Schrei des Erkennens aus, und die drei Männer eilten herbei, ließen die Waffen fallen und umarmten den Riesen. Alle sprachen durcheinander, doch als sie sich ein wenig beruhigt hatten, nahm ich einen von ihnen beiseite und fragte ihn, was geschehen war. Ich erfuhr, dass die Dänen kurz nach dem Julfest aufgetaucht waren, plötzlich und ohne Vorwarnung, zu einer Zeit, da noch niemand geahnt hatte, dass die Heiden überhaupt in Defnascir waren. Die drei Männer hatten in einem nahegelegenen Wald eine Buche gefällt, als die Dänen über |357|den Weiler hergefallen waren. Seitdem hielten sie sich versteckt, denn die Dänen streiften auf der Suche nach Nahrung umher. Sachsen hatten sie unterdessen keine gesehen.

Sie hatten die Bewohner auf einer Weide im Süden begraben. Steapa ging dorthin und kniete sich ins nasse Gras. «Seine Mutter liegt dort», sagte einer der Männer. Er sprach ein so eigentümliches Englisch, dass ich ihn ständig bitten musste, sich zu wiederholen. Aber so viel verstand ich. «Steapa war ein guter Sohn. Er brachte ihr Geld und befreite sie aus der Knechtschaft.»

«Und sein Vater?»

«Der ist schon lange tot.»

Weil ich dachte, Steapa würde gleich seine Mutter ausgraben, trat ich zu ihm. «Wir haben einen Auftrag zu erfüllen», sagte ich.

Er starrte mich mit ausdrucksloser Miene an.

«Den Auftrag, Dänen zu töten», erklärte ich. «Die Dänen, die diese Menschen hier getötet haben, müssen sterben.»

Er nickte, erhob sich zu seiner vollen Größe, wischte die Klinge der Axt ab und stieg in den Sattel. «Dänen töten», sagte er und ließ seine Mutter in ihrem kalten Grab zurück, während wir uns auf die Suche nach diesen Dänen machten.