Ein neuer Job
Nicolai begleitete mich bis zu meiner Wohnungstür. Ich bat ihn noch hinein, doch er lehnte ab. Als ich die Wohnungstür aufgeschlossen hatte gab er mir meinen Karton. Er sah mich an und strich mir wie im Krankenhaus zärtlich mit seinem Finger über meine Wange. Ich fühlte, dass sein Finger ungewöhnlich kalt war. Also ich hatte auch oft kalte Hände, aber diese Kälte war irgendwie anders. Nicolai blickte mir tief in die Augen und kam ein Stück näher auf mich zu. Fast hätte ich angenommen er würde mich gleich küssen. Doch irgendwie war er zögerlich. „Soll ich uns einen Kaffee machen?“, fragte ich ihn, um die Situation etwas aufzulockern. Doch er winkte ab. „Ich muss los.“ Er drehte sich um und ging schnell die Treppe hinunter. Diese Reaktion hatte ich nun gar nicht verstanden. Hatte ich etwas falsch gemacht? War ich zu aufdringlich? Schickte es sich nicht, als Frau einen Mann zum Kaffee einzuladen? Mein letztes Date war ja auch schon eine Ewigkeit her und im Grunde genommen hatte ich null Ahnung was Männer angeht. Maria! Ich sollte Maria anrufen. Die weiß immer eine Antwort. Gerade wenn es um Männer ging. Ich ging in meine Wohnung und schloss die Tür.
Etwas aufgewühlt wegen der Ereignisse der letzten Tage ging ich durch meine kleine Wohnung. Alles war noch so wie ich es hinterlassen hatte. Eigentlich logisch. Wer sollte auch hier gewesen sein? Schließlich war ich ja alleine. Nur nicht sentimental werden. Und doch wurde ich irgendwie traurig. Ich verspürte Sehnsucht, große Sehnsucht nach Nicolai. Gedanklich ließ ich mir jede einzelne Szene, jedes einzelne Wort von Nicolai immer wieder durch meinen Kopf gehen. Was war das eigentlich was mich an ihm so faszinierte? Eines war auf jeden Fall klar, er war einfach bildhübsch. Und irgendwie hatte er so eine geheimnisvolle Ausstrahlung, die mich immer mehr in seinem Bann zog. Und er hatte mich gerettet. Obwohl ich mich daran gar nicht mehr so richtig erinnern konnte.
Ich ging an den Kühlschrank und öffnete ihn. Mal sehen was dieser noch so hergab. Irgendwie hatte ich Hunger. Doch ich fand nur einen bereits angeschimmelten Käse. Auch die Gemüsepizza von wahrscheinlich vor 2 Wochen hatte auch schon alle Farben angenommen. O.k. dachte ich mir, ich werde Einkaufen gehen und mir dann einen neuen Job suchen. Doch irgendwie hatte ich auf diese Dinge so überhaupt keine Lust. Ich warf mich auf mein Bett und dachte an Nicolai – und schlief ein.
Lautes Klingeln an meiner Wohnungstür riss mich aus meinem Schlaf. Oh Gott! Wer ist das denn? Ich sprang auf und ging zur Tür. Durch den Türspion erblickte ich Maria. Mein Gott, die hatte ich total vergessen. Freudig machte ich ihr die Tür auf. „Mensch Alexandra, wo steckst du denn? Ist was passiert? Warum meldest du dich nicht?“, schoss eine Frage nach der anderen aus ihr heraus. „Maria. Tut mir leid. Ich hatte einen Unfall. Ich lag im Koma. Seit gestern bin ich erst wieder zu Hause.“ Maria schrie auf. „Was? Einen Unfall?“ Sie nahm mich in die Arme und drückte mich fest an ihre Brust. Ich bekam kaum Luft und versuchte mich aus ihrer Umarmung zu befreien. „Ich mach uns einen Kaffee und dann will ich alles wissen.“. Ich ging ins Badezimmer und nahm eine heiße Dusche. Mit einem Handtuch um den Kopf gewickelt und in meinem weißen kuschligen Bademantel setzte ich mich an den Tisch wo bereits Maria ihren Kaffee schlürfte. „Deine Milch ist alle.“, kam es fast vorwurfsvoll aus ihr heraus. „Oh tut mir leid Maria! Ich bin erst seit gestern wieder in meiner Wohnung. Und Einkaufen war ich noch nicht.“, konterte ich zurück. „Was ist eigentlich passiert?“, wollte nun Maria wissen. Nachdenklich nippte ich an meiner Tasse Kaffee. So richtig konnte ich mich ja noch nicht an alles erinnern, mir fehlte immer noch ein Stück. Also versuchte ich so weit wie möglich ihr mein Desaster zu schildern. Und ich erzählte ihr von Nicolai. Von meinem Retter. In diesem Moment klingelte es an meiner Tür. Ich wollte gerade aufstehen, als Maria mir einen Wink gab sitzen zu bleiben. Sie ging zur Tür und öffnete. Ich hörte einen kurzen weiblichen Schrei und dann eine mir vertraute Stimme. Eine Stimme, die sofort mein Blut in Wallung brachte. Nicolai? Ja, es war Nicolai. „Hallo, ich wollte zu Alexandra. Ist sie zu Hause?“ Ich sprang auf und eilte zur Tür. Freudestrahlend blickte ich ihn an. Maria blieb der Mund offen stehen. Ihr Blick wanderte zu mir und dann wieder zu ihm. „Also du bist Nicolai. Alexandra‘s Retter. Hi, ich bin Maria.“ Lächelnd streckte sie ihm ihre Hand zur Begrüßung entgegen. Nicolai nickte kurz und gab ihr die Hand. „Komm doch rein.“, bat ich nun endlich Nicolai. Und diesmal tat er es auch. Ich sah Maria eindringlich an und hoffte sie würde aus meinen Augen herauslesen können, dass sie verschwinden sollte. Aber Pustekuchen. Maria war von ihm anscheinend genauso fasziniert wie ich, so dass sie ihre Augen von ihm nicht abwenden konnte. Fast hatte ich den Eindruck sie starrte ihn regelrecht an. „Wollen wir alle einen Kaffee zusammen trinken?“, fragte sie ihn nun auch noch ganz ungeniert. „Also das wäre ganz entzückend, mit zwei so hinreißenden Damen einen Kaffee zu trinken. Aber ich habe nicht viel Zeit. Ich wollte nur nach Alexandra sehen, wie es ihr geht.“ Wieder sah ich Maria eindringlich an und funkelte böse mit den Augen. Und endlich kapierte sie es. „Alexandra, ich mach mich mal auf den Weg. Ich rufe dich heute Abend an.“ Sie drückte mir ein Küsschen auf die Wange, nahm ihre Tasche und ging zur Tür. Süß lächelte sie Nicolai an, als sie an ihm vorbeiging. „Schnapp ihn dir, es wird Zeit, dass du mal was zwischen die Beine bekommst.“, gab sie mir mit nicht geraden leisen Worten beim Abschied zu verstehen. Toll dachte ich, das hat Nicolai jetzt bestimmt gehört. Mein Gott war mir das peinlich. Als ich mich Nicolai zuwandte sah ich, dass er ein ziemlich verschmitztes Lächeln in seinem Gesicht hatte. Langsam ging er durch meine Wohnung und sah sich jedes Zimmer an. Ich, immer noch mit meinem Handtuch um den Kopf und im Bademantel, war irgendwie verlegen. „Hast du denn schon etwas gegessen?“, fragte er mich fast etwas besorgt. „Nein, ich muss erst Einkaufen gehen.“ „Dann zieh dir was über. Ich lade dich zum Frühstück ein.“ Er will mit mir frühstücken gehen? Frühstück mit Nicolai? Wir beide zusammen. Was ziehe ich denn jetzt an? Ich bin ja gar nicht vorbereitet. In diesem Moment sah mich Nicolai an, und ich hatte den Eindruck er würde meine Gedanken wirklich lesen können. „Lass dir Zeit, ich warte gerne.“ Mir wurde auf einmal heiß und leichte Röte stieg mir ins Gesicht. „Ich beeile mich.“, stotterte ich hervor und verschwand ins Badezimmer. Nicolai setzte sich derweil an den Küchentisch und wartete. Nach fast einer halben Stunde gut überlegtem „Was ziehe ich denn nun an?“ stand ich fix und fertig vor ihm. Lächelnd blickte er mich mit seinen geheimnisvollen Augen an. Und ich lächelte zurück.
Ich hatte keine Ahnung, wohin er mit mir zum Frühstück fahren würde, aber ich wollte diese Gelegenheit natürlich nutzen und mehr über ihn erfahren. Ich hatte viele Fragen auf meiner Seele und es wurde Zeit für Antworten. Mit welcher Frage fange ich jetzt an, überlegte ich mir, als wir bereits auf der Straße mit seinem Auto fuhren. „Ich war eigentlich die ganze Zeit ganz schön unhöflich zu dir.“, sprach auf einmal Nicolai und blickte kurz zu mir. „Ich hatte mich dir noch gar nicht richtig vorgestellt.“ Nun verschlug es mir erst recht die Sprache. Kann er doch Gedanken lesen? Ich sah ihn an und wollte gerade etwas erwidern, als er mir zuvor kam. „Also, ich heiße Nicolai Donatus. Ich bin 40 Jahre, ich habe eine eigene Firma und ich bin Single.“ Er machte eine kurze Pause, dann sprach er weiter. „Das ist doch das was du wissen wolltest“. Verschmitzt warf er mir von der Seite einen kurzen Blick zu. Er ist Single? Oh lieber Gott ich danke dir. Also stehen meine Chancen doch gar nicht schlecht. „Ich bin Alexandra Mattner, ich bin 39 Jahre, ich habe gerade keinen Job und ich bin auch Single.“, antwortete ich ihm und strahlte ihn an. „Ich weiß.“ Ja, natürlich weiß er das. So langsam wurde es mir doch ein wenig unheimlich. „Wo fährst du denn mit mir hin?“, wollte ich nun wissen. „Es gibt ein kleines schönes Hotel, direkt am See. Dort kann man gut frühstücken. Lass dich überraschen.“ In diesem Moment fühlte ich mich unheimlich gut, wie schon lange nicht mehr. Wenn sich jetzt noch die Sonne blicken lassen würde, dann wäre dieser Morgen perfekt.
Nach einer halben Stunde kamen wir an. Elegant parkte er vor dem Hotel. Er stieg aus und öffnete mir die Tür. Der Himmel war immer noch leicht bedeckt, so dass die Sonne es schwer hatte, ihre Strahlen durchzuschicken. Auf der Terrasse zu frühstücken wäre zu kühl gewesen. Also suchten wir uns im Hotel ein schönes Plätzchen aus mit direktem Blick auf das Wasser. Kaum hatten wir Platz genommen erschien auch schon der Kellner. Er begrüßte Nicolai wie einen alten Freund, den er lange nicht gesehen hatte. Für einen Moment sahen sich die beiden tief in die Augen. Dann sah der Kellner kurz zu mir herüber und musterte mich. Irgendwie war mir das peinlich. Warum starrte der mich so an? Doch auf einmal zog ein sanftes Lächeln über sein Gesicht. „Für die Dame einen Kaffee und ein Croissant mit Erdbeerkonfitüre?“, fragte er mich sehr höflich. Ich nickte ihn an. „Und Nicolai? Wie immer?“ Und Nicolai nickte ebenfalls. Der Kellner zündete die Kerze auf unserem Tisch an und ging weg. „Du gehst wohl öfters hierher?“, fragte ich Nicolai. „Ja, ich bin hier sehr gerne.“ antwortete er und sah mir in die Augen. Dabei fiel mir auf, dass seine Augen irgendwie leicht rötlich aussahen. Fast so, als ob sie entzündet waren. Viellicht war er überarbeitet, ein wenig übermüdet? Als ich ihn das fragen wollte, kam gerade der Kellner zurück. Er servierte mir meinen Kaffee und ein leckeres Croissant. Nicolai stellte er ein Glas mit rotem Saft hin. „Isst du nichts?“, fragte ich ihn. „Nein, ich muss ein wenig auf meine Figur achten. Ich trinke nur einen Tomatensaft.“, antwortete er irgendwie leicht beschämt. „Lass es dir schmecken.“ Dann nahm er sein Glas und trank es in einem Zug aus. Ich strich etwas Marmelade auf mein Croissant und biss hinein. Als ich Nicolai wieder ansah fiel mir auf, dass seine Augen nicht mehr so rötlich aussahen, denn da waren sie wieder – ein blaues und ein braunes Auge, klar und deutlich. Komisch. Etwas irritiert davon sah ich schnell auf mein Croissant und trank einen Schluck Kaffee. Irgendwie kam mir das seltsam vor. Oder waren es Auswirkungen des Blitzschlages? Ach vergiss es Alexandra.
„Also du hast gerade keinen Job? Was ist eigentlich ganz genau passiert?“, wollte er von mir nun wissen. „Das ist eine lange Geschichte.“, antwortete ich ihm etwas betrübt. „Erzähl, ich habe viel Zeit. Und ich liebe lange Geschichten“. Ich überlegte kurz und wollte gerade anfangen zu erzählen, als er mir wieder zuvor kam. „Vielleicht magst du ja vorher mir etwas von deiner Kindheit erzählen. Dann könnte ich mir ein viel besseres Bild von dir machen.“ „Na, ja. Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich bin in einem Waisenheim aufgewachsen. Meine Mutter wollte mich nicht haben und hat mich als Baby vor einem Waisenheim abgelegt. Ich habe bis heute keine Ahnung wer sie ist, ob sie noch lebt. Von meinem Vater weiß ich auch nichts.“, sagte ich traurig. Mein Blick ging nach draußen zum See. Schon lange hatte ich über diese Dinge nicht mehr gesprochen. Mit wem denn auch? „Das tut mir leid. So etwas muss furchtbar sein. Also hast du gar keine Familie?“, fragte mich Nicolai sehr eindringlich. „Es gibt nur einen Mann der mir sehr wichtig ist und dem ich sehr wichtig bin. Er ist in all den Jahren wie ein Vater für mich gewesen. Dr. Carl Frederik. Er macht gerade eine Weltreise. Na ja und dann hab ich noch Maria. Sie ist meine einzige Freundin. Du hast sie ja heute bereits kennengelernt.“ „Und warum hast du keinen Freund? Du bist sehr hübsch.“ Ich wurde verlegen. Mit Komplimenten konnte ich nicht umgehen. Was sage ich ihm denn jetzt? „Hm, vielen Dank.“, beschämt blickte ich nach unten. „Der Richtige war noch nicht dabei. Ich lege mich nicht so schnell fest. Und ich bin sehr anspruchsvoll.“ Das klang jetzt bestimmt ganz cool, dachte ich mir und sah schnell aus dem Fenster. Dieser Mann schaffte es immer wieder, mich in null Komma nichts zu verunsichern.
Nicolai winkte dem Kellner zu, der auch gleich zu uns rüberkam. „Ich möchte gerne zahlen.“ Nicolai holte seine Geldbörse aus seinem grauen Jackett, das ihm umwerfend gut stand. Währenddessen sah der Kellner mich lächelnd an. Mir fiel auf, dass er sehr blass war, fast so blass wie Nicolai. Und erst jetzt bemerkte ich, dass auch er ein blaues und ein braunes Auge hatte. Verwundert sah ich beide an. Nachdem Nicolai bezahlt hatte verabschiedete sich der Kellner höflich von uns und ging weg. Wir standen auf und gingen nach draußen. Von der Sonne war immer noch nichts zu sehen. „Komm, wir gehen ein wenig am Wasser entlang spazieren.“, sprach Nicolai. Wie konnte ich da nein sagen. Höflich legte er mir sein Jackett um meine Schultern, als er bemerkte dass ich leicht friere. Dann gingen wir eine Weile schweigend nebeneinander her. Beim See angekommen setzten wir uns auf einen Baumstumpf und sahen zwei kleinen Kindern zu die mit einem bunten Ball spielten. Sie warfen sich ihn immer gegenseitig zu. „Du hast also keinen Job zur Zeit?“, durchbrach endlich Nicolai das Schweigen. „Möchtest du wieder arbeiten?“, fragte er gleich hinterher. „Ja, natürlich möchte ich wieder arbeiten. Ich muss ja schließlich meine Miete bezahlen. Und ein paar neue Schuhe brauche ich auch mal wieder.“, antwortete ich ihm mit deutlich klarer Stimme. Denn das war mir wirklich wichtig, dass ich wieder eine Arbeit hatte. „Was hältst du davon in meiner Firma anzufangen? Meine Sekretärin hat aufgehört. Der Platz wäre frei. Nicolai sah mich mit einem ernsthaften Blick an. „Was ist das denn für eine Firma die du hast?“, fragte ich ihn nun sehr neugierig. Er sah kurz auf den Boden und dann zu mir. „Ich habe eine Blutspendebank.“ „Eine Blutspendebank?“, fragte ich ihn etwas entsetzt, weil ich echt glaubte mich verhört zu haben. „Ja, genau. Eine Blutspendebank. Du glaubst gar nicht wie groß die Nachfrage von Krankenhäusern nach Blutkonserven ist. Das menschliche Blut ist so edel und kostbar wie ein guter Wein. Jeder der gesund ist kann Blut spenden und sollte es. Du auch!“ Als Nicolai das sagte sah er mich ein wenig verschmitzt an. „Komm doch morgen früh einfach mal in mein Büro vorbei. Dann kannst du dir das alles ansehen.“ Er holte aus seiner Brieftasche eine Visitenkarte und überreichte sie mir. Plötzlich wurden wir von lautem Kindergeschrei aus unserer Zweisamkeit herausgerissen. Die beiden Kinder standen aufgeregt am Wasser und mussten mit ansehen wie ihr bunter Ball vom Ufer abtrieb. Das eine Kind zog sich gerade die Schuhe aus und wollte ins Wasser gehen, als ich aufsprang und es gerade noch zurückhalten konnte. „Das ist zu gefährlich, bleibe hier. Der Ball ist schon zu weit draußen. Deine Mami kauft dir bestimmt einen neuen Ball.“, versuchte ich das Kind zu trösten. Doch so leicht ließ sich das Kind nicht trösten. Es fing herzzerreißend an zu weinen. Nicolai stand jetzt auch auf und ging zum Ufer. Er blickte auf den See, wo der bunte Ball immer weiter abtrieb. Es war aussichtslos ihn zurückzubekommen. „Nimm die Kinder und bringe sie ins Hotel.“, forderte er mich fast unfreundlich auf. Etwas komisch sah ich ihn an, folgte aber seiner Anweisung. Mit beiden Kindern ging ich in Richtung Hotel. Vom weitem kam mir eine junge Frau entgegen. Die Kinder rissen sich von meiner Hand los und rannten auf sie aufgeregt zu. Das musste wohl die Mutter sein, dachte ich mir. In diesem Moment verdunkelte sich der Himmel und es wurde etwas stürmisch. Es fing an zu regnen. „Gehen sie schnell ins Hotel zurück.“, rief ich der Mutter zu. Dann drehte ich mich um und rannte zurück zum See. Wo war denn jetzt Nicolai? Unter einem Baum am Ufer des Sees suchte ich etwas Schutz und blickte auf das Wasser. Von weitem konnte ich den bunten Ball sehen und einen Mann – der über das Wasser lief. Nicolai? In diesem Moment kam eine heftige Windböe auf und über mir krachte etwas. Ich blickte nach oben und sah wie ein Ast direkt auf meinen Kopf zukam. Er schlug an meine Stirn und ich fiel – mal wieder ins Wasser. Mir wurde schwarz vor Augen…
„Alexandra, wach auf.“, hörte ich irgendwie weit entfernt eine Stimme. Langsam öffnete ich meine Augen. Um mich herum standen vielen Menschen. Und zwei Kinder. Eines davon hielt einen bunten Ball in der Hand. Ich kam zu mir und stellte fest, dass ich mich in der Hotellobby auf einem Sofa befand, eingehüllt in eine Decke. Mein Blick ging als erstes unter die Decke. Mein Gott, ich war ja nackt! Was ist denn nun schon wieder passiert? „Es ist mir jedes Mal eine Freude, dich zu retten.“, sprach eine mir bekannte Stimme. Ich sah zur Seite und erblickte Nicolai. Sanft streichelte er mir über meine Wange. „Was ist denn nun schon wieder passiert?“, fragte ich ihn noch nicht ganz klar in meinen Gedanken. „Na, du bist von einem Ast getroffen worden. Unten am See. Und dann wieder mal in’s Wasser gefallen. Weißt du es nicht mehr? Du wolltest den Ball holen.“, antwortete Nicolai. Das Kind mit dem Ball beugte sich zu mir und gab mir einen Kuss auf die Stirn. „Danke schön, dass ich meinen Ball wieder hab. Du bist sehr mutig.“ Ich sah dem Kind fragend ins Gesicht. Hier stimmte was nicht. Das spürte ich. „Nicolai, ich hab den Ball nicht geholt.“, sagte ich leicht empört und versuchte mich aufzurichten wobei ich mir die Decke bis fast zum Kinn zog. „Ich habe dich auf dem Wasser gesehen. Ja, du bist über das Wasser gelaufen. Direkt zum Ball hin.“ Ich war mir dessen voll bewusst, was ich da gerade gesprochen hatte. Doch die Leute um mich herum lächelten und fingen an zu tuscheln. Es war nicht zu überhören, dass sie mich für leicht verrückt hielten. „Alexandra, du hast einen nicht gerade kleinen Ast auf den Kopf bekommen. Das kann schon mal einen kleinen Gedächtnisverlust hervorrufen. Wir sollten sowieso ins Krankenhaus fahren, um ganz sicher zu gehen, dass nichts weiter passiert ist.“ Nicolai schien sehr besorgt um mich zu sein. „Quatsch, ich muss nicht ins Krankenhaus. Aber du kannst mich bitte nach Hause fahren.“, sagte ich jetzt leicht genervt. „Wo sind eigentlich meine Sachen?“, fragte ich Nicolai. „Und wer hat mich ausgezogen?“ Entsetzt blickte ich in Nicolais Augen. Der lächelte mich süß an und verzog sanft seine Mundwinkel. „Keine Sorge, ich hatte meine Augen zugemacht. Ich konnte dich doch nicht mit nassen Sachen liegen lassen.“ Das glaube ich jetzt aber nicht. Nicolai hatte mich tatsächlich ausgezogen? Ob er geschmult hat? Das würde doch jeder Mann machen. Was hatte ich eigentlich für Unterwäsche an? Der Gedanke, dass Nicolai mich nackt gesehen hatte verschaffte mir nicht gerade Wohlbehagen. Aber immerhin. Er hatte mich ein zweites Mal gerettet. War wohl doch mein Schutzengel.
Auf dem Weg zurück in die Stadt sprach keiner von uns. Ich wollte das nicht glauben, dass ich den Ball aus dem Wasser geholt hatte. Das stimmte nicht. Ich habe Nicolai gesehen, wie er über das Wasser lief, direkt zum Ball hin. Das habe ich mir nicht eingebildet. In diesem Moment tauchten Bilder von meinem Unfall in meinem Kopf auf, als mich der Blitz im Wasser getroffen hatte. Verschweigt mir Nicolai etwas? Wie konnte er mich damals überhaupt retten? Weit und breit war niemand zu sehen. Wo kam er so plötzlich her? Ich war so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht bemerkte, dass wir schon vor meiner Haustür angehalten hatten. „Also wenn du einen neuen Job willst, dann komme morgen um 9.00 Uhr in meine Firma. Ich zeige dir alles und du kannst es dir anschließend ja überlegen.“, sprach Nicolai zu mir. Ich sah Nicolai in seine geheimnisvollen Augen. Er verschweigt mir etwas. Aber was? „Hm.“, sagte ich nachdenklich und schaute kurz aus dem Fenster. „Ich bräuchte ja schon einen neuen Job.“ Dann wandte ich mich ihm wieder zu. „O.k., ich komme morgen um 9.00 Uhr in deine Firma.“, sagte ich dann doch und stieg aus dem Auto aus. „Ich freue mich, dann bis morgen.“ Er fuhr los. Nachdenklich sah ich ihm noch eine Weile nach. Die Decke immer noch um meinen nackten Körper geschlungen, ging ich eilig in meine Wohnung.
Noch am selben Abend rief ich Maria an. Ich hatte das starke Verlangen, mit jemanden Vertrautem über Nicolai zu reden. Vielleicht bilde ich mir das merkwürdige Verhalten von Nicolai ja nur ein. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Nicolai mir wirklich etwas verheimlichte. Maria und ich telefonierten sehr lange. Es tat gut mit ihr zu reden. Für sie war der Fall klar. Ich war ganz einfach in Nicolai verliebt. Und da sehen wir Frauen gerne die Dinge anders und reimen uns da was zusammen.
Am nächsten Morgen erschien ich pünktlich um 9.00 Uhr in der Firma von Nicolai. Eine ältere Dame öffnete mir die Tür. „Guten Morgen, mein Name ist Alexandra Mattner. Herr Donatus erwartet mich.“, sprach ich zu ihr. „Ja, dann kommse mal rein in die jute Stube. Ick mach hier jegrade sauber. Ick bin nämlich die Putzfrau hier. Der Herr Doktor ist aber noch nicht da.“, sprach die ältere Dame ganz berlinerisch zu mir. „Aber ick mach Ihnen mal ne’n Kaffee. Sie können ja im Büro von Herrn Doktor schon mal Platz nehmen. Wollnse och Blut spenden junge Dame? Sie sehen ja jetzt schon ganz schön blass aus. Na ick weß ja nicht ob det so jut ist.“, säuselte sie unaufhörlich weiter. Ich lächelte charmant und folgte ihr. Wir gingen einen langen Flur entlang. Alles war sehr sauber, sehr steril. Überall an den Fenstern waren Jalousien angebracht, die leicht herunter gelassen waren, so dass die Morgensonne nicht ganz hereinscheinen konnte. Wir kamen an der Rezeption vorbei, an der eine junge Frau saß und telefonierte. Ich nickte kurz ihr freundlich zu. Sie war hübsch, sehr hübsch. Ob sie mit Nicolai mal was hatte? Sie würden ja rein äußerlich sehr gut harmonieren. Oh Gott, bin ich etwa eifersüchtig? Schnell verwarf ich diesen Gedanken. Dann kamen wir in den Wartebereich. Hier standen edle Stühle an der Wand und ein schwarzes Ledersofa vor dem sich ein Glastisch mit Zeitschriften befand. In einer Ecke sah ich einen großen Kaffeeautomaten. Dann kamen wir zu Nicolai Büros. An seiner Bürotür war ein goldenes Schild angebracht. „Dr. med. Nicolai Donatus“ Aha, ein Doktor also. Das hat er mir ja gar nicht erzählt. Die Putzfrau schloss die Tür auf und bat mich Platz zu nehmen. Na die hat ja vertrauen. Lässt mich einfach so in sein Büro. Nun gut, ich nahm auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz und sah mich um. Plötzlich stand eine junge Frau in der Tür. „Hallo, sind sie Frau Mattner?“, fragte sie mich höflich. Ich stand auf und nickte. „Ich bin Eva Holster, die Sekretärin von Dr. Donatus. Also, die Ex-Sekretärin. Ich hole nur noch ein paar Sachen aus meinem Büro. Dr. Donatus hat mir bereits von Ihnen erzählt. Der Job wird ihnen gefallen.“, sprach sie zu mir und kam näher auf mich zu. Mir fiel an ihr auf, dass sie sehr blass war, ihre Haut wirkte wie zartes Porzellan, wie bei Nicolai und diesem Kellner. Sie sah einfach perfekt aus. Fast zu perfekt. Und auch sie hatte ein blaues und ein braunes Auge. Vielleicht sind die alle irgendwie verwandt und verschwägert? Ist schon merkwürdig. Bei der nächsten Gelegenheit werde ich mal Nicolai fragen. Jedenfalls, sie war wirklich sehr hübsch. Fast wurde ich ein wenig neidisch. Und mir stellte sich die gleiche Frage wie vorhin. Ob sie vielleicht mit ihm was hatte und jetzt aufhörte, weil er sie nicht mehr wollte? Alexandra! Reiß dich zusammen! Du bist ja eifersüchtig. „Ich gehe aus Deutschland weg, ich werde heiraten, in Schottland.“, sprach sie plötzlich und strahlte mich an. Mein Herz überschlug sich um ein doppeltes vor Freude als ich diese Worte aus ihrem Munde hörte. Ja, genau das wollte ich wissen. Sie heiratet. Und sie geht nach Schottland. Und ich werde die neue Sekretärin. Auf einmal wollte ich diesen Job unbedingt. Jetzt fieberte ich regelrecht danach. Wo bleibt eigentlich Nicolai? „Ach, Dr. Donatus hatte gerade angerufen. Er verspätet sich ein wenig. Sie dürfen aber ruhig hier in seinem Büro warten. Ich muss sie nur leider alleine lassen. Ich hab wenig Zeit, mein Flug geht in 2 Stunden.“, sprach sie, zwinkerte mir freundlich zu und rief beim Hinausgehen „Alles Gute.“ Ich nahm wieder Platz und ließ die Umgebung auf mich wirken. Das könnte hier ein totaler Neuanfang für mich werden. Und du hättest vor allem einen super netten Chef. Aber ob das so gut wäre, wenn man ineinander verliebt ist und dann zusammen arbeitet? Warum eigentlich nicht. Außerdem, ich weiß ja gar nicht was er für Gefühle für mich hat. Ob er verliebt in mich ist? Ich versank so in meine Gedanken, dass ich es gar nicht bemerkte wie Nicolai plötzlich den Raum betrat. „Hallo Alexandra!“ Erschrocken stand ich auf und sah ihn an. “Warum hast du zwei verschiedenfarbige Augen, so wie der Kellner und deine Ex-Sekretärin?“ Ich konnte nicht anders, diese Frage kam wie von selbst. Sein Blick verdüsterte sich für einen Moment. „Ein genetischer Fehler.“, antwortete er kurz und knapp und ging zu seinem Schreibtisch hinüber. „Entschuldige, ich wollte nicht unhöflich sein. Ich war nur verwundert.“ Mist, ich hätte nicht fragen sollen. Doch er ignorierte meine Entschuldigung und tat so, als ob nichts war. „Hast du dich schon mal in der Firma umgesehen?“, fragte er mich. „Nein, aber ich habe deine Sekretärin kennengelernt.“ „Ja, es ist sehr schade, dass sie aufhört. Aber sie will aus Berlin weg. Na ja und sie heiratet, die Glückliche.“, sprach Nicolai, was fast auch ein bisschen neidisch klang. „Komm, ich zeige dir mal alles.“ Wir gingen aus seinem Büro. Zuerst stellte er mich der jungen Frau an der Rezeption vor. Sarah. Sie trug kurze schwarze Haare und wirkte von der Gestalt zart und jung. Auch sie war sehr hübsch, um nicht zu sagen bildhübsch. Mir fiel natürlich auf, dass auch sie ein blaues und ein braunes Auge hatte. So viele Menschen auf einmal mit demselben genetischen Fehler. Sehr merkwürdig. Aber ich verkniff es mir lieber, noch mal danach zu fragen. Nicolai und ich gingen weiter. Er zeigte mir die Labors, die Behandlungszimmer, einen großen Kühlraum und zu guter Schluss mein zukünftiges Büro. „Also das wäre hier dein Büro. Es ist zwar etwas weiter weg von meinem, aber wir sind ja hier ganz modern mit Telefon und Email.“, sprach Nicolai lächelnd zu mir. „Ich denke über dein Gehalt werden wir uns auch einigen. Einen Vertrag habe ich bereits aufgesetzt. Du brauchst ihn nur noch zu unterschreiben.“ Ich sah Nicolai an. Er wollte wohl unbedingt, dass ich hier bei ihm arbeite. „Ich würde mich sehr freuen, dich als meine neue Mitarbeiterin begrüßen zu dürfen.“, sagte er und streckte mir seine Hand entgegen. Also wenn ich diese Chance nicht ergreife dann bin ich aber ganz schön blöd. Ich reichte ihm meine Hand entgegen. „Ja, das ist super. Ich will den Job.“, sprach ich ganz energisch. Als sich unsere Hände berührten, spürte ich ein eigenartiges Kribbeln in meinem Körper. Seine Hand war so kalt. Für ein paar Sekunden sahen wir uns ganz tief in die Augen. Dann unterbrach Nicolai ruckartig den für mich zauberhaften Moment. „Prima, aber bevor du unterschreibst möchte ich dir noch ein wenig Blut abzapfen.“ „Was?“, rief ich ein wenig empört. „Du willst mir Blut abnehmen?“ „Ja, das gehört zum Arbeitsvertrag.“, sagte er etwas verschmitzt. „Schließlich arbeitest du in einer Blutspendebank. Da ist doch nichts dabei. Du tust etwas Gutes für die Menschheit. Komm!“ Er nahm mich an die Hand und ging mit mir aus dem Büro. „Tut auch gar nicht weh.“, sagte er und ließ meine Hand wieder los. Inzwischen hatte ich mich an seine kalten Hände gewöhnt. Ich verbot mir selber, ihn danach zu fragen, warum er denn immer so kalte Hände hätte.
Er führte mich in ein Behandlungszimmer. Schüchtern stand ich im Zimmer und schaute mir den weißen sterilen Raum an. „Lege dich bitte auf die Liege.“, forderte er mich auf. Währenddessen zog er sich einen Kittel an. Das flößte mir jetzt doch ein wenig Angst ein. Er gab auf einmal ein völlig anderes Bild von sich her. Vor mir stand jetzt ein Arzt. Er wirkte so reif, viel älter. Aber immer noch bzw. jetzt erst recht – total sexy. Nicolai oder besser Dr. Donatus holte ein Tablett mit Utensilien aus dem Schrank und stellte es auf einen kleinen Tisch neben der Liege ab. Dann krempelte er an meinem rechten Arm den Blusenärmel nach oben auf und legte einen Schlauch um meinen Oberarm, um das Blut in der Vene zu stauen. Er zog sich sterile Handschuhe an, nahm eine kleine Sprühflasche mit Desinfektionsmittel und sprühte es auf meine Armbeuge. Dann klopfte er ein paarmal auf meine Vene. „Die hat sich aber ganz schön versteckt.“, sagte Nicolai zu mir und lächelte mich an. „Na, die hat Angst, wie ich.“, antwortete ich etwas schüchtern. „Ich bin ganz vorsichtig. Versprochen. Machst du bitte eine Faust.“, forderte er mich auf. Ich machte meine Hand zu einer Faust und schloss gleichzeitig meine Augen. Ich hasste Blut abnehmen. Und Spritzen überhaupt. Doch neugierig wie ich war öffnete ich ein Auge und sah ihm zu. Er setzte die Spritze an, so sanft, ich merkte gar nichts. Es tat überhaupt nicht weh. „So, du kannst die Faust langsam wieder aufmachen.“ Er löste mit der anderen Hand geschickt den Schlauch um meinen Oberarm. Das Blut floss in ein Röhrchen. Als es voll war setzte er gleich noch ein Röhrchen an. Neugierig blicke ich auf das Röhrchen. Mein Blut war dunkelrot. Irgendwie wurde mir flau in meiner Magengegend. Als ich mich aufrichten wollte, drückte mich Nicolai etwas unsanft zurück auf die Liege. Er setzte ein weiteres Röhrchen an. Jetzt wurde mir schwindlig. Der Raum fing an sich zu drehen. Ich konnte Nicolai nicht mehr klar sehen. „Wie viele Röhrchen denn noch?“, stammelte ich fragend. Ich sah zu meinem Arm hinunter. Er zog die Nadel raus. Blut tropfte aus meinem Arm. Doch anstatt ein Pflaster draufzumachen ging er mit seinem Mund an die Wunde und leckte und saugte. Mir wurde schlecht. Während er weiter aus meinem Arm mein Blut absaugte sah er mich mit roten Augen an. Ich erschrak. „Nicolai! Hör auf! Nein! Was machst du da?“. Dann wurde ich wohl wiedermal ohnmächtig…
Als ich aufwachte lag ich immer noch auf der Liege. „Na, das war wohl doch etwas zu viel Blut was ich dir abgenommen hatte?“, fragte mich Nicolai. Ganz benommen blickte ich ihn an. Er hatte wieder seinen Kittel ausgezogen. „Bleib bitte noch liegen.“, sprach er zu mir und drückte meine Hand. „Du bekommst gleich einen starken Kaffee und ein leckeres Brötchen. Dann kommst du wieder auf die Beine. Ich bin gleich wieder da.“ Er nahm das Tablett mit den Röhrchen und ging aus dem Zimmer. Ich konnte noch einen Blick auf das Tablett werfen und glaubte 7 gezählt zu haben. 7 Blutröhrchen? Das ist aber ganz schön viel. Hätte nicht eins auch gereicht? Oder maximal zwei? Ich wollte nicht mehr liegen bleiben. Dazu war ich irgendwie viel zu aufgewühlt. Hatte ich geträumt? Ich glaubte Nicolai mit roten Augen gesehen zu haben? Und er saugte Blut aus meinem Arm. Ich versuchte langsam aufzustehen, musste mich jedoch gleich wieder an der Liege abstützen. 7 solcher Röhrchen waren definitiv zu viel. Das merkte ich jetzt ganz genau. Ich startete einen neuen Versuch. Schön langsam, dann klappt es auch mit dem Aufstehen. Und tatsächlich. Ich stand wieder auf meinen Beinen. Noch etwas wacklig, aber ich stand. Langsam ging ich aus dem Zimmer und den Flur nach rechts entlang. Ich suchte das Büro von Nicolai. Als ich es gefunden hatte, verhielt ich mich erst Mal leise, als ich vor der offenen Tür stand. Er bemerkte mich anscheinend nicht. Nicolai stand an der Wand vor einem Bild und hängte es ab. Dahinter war ein Tresor. Er tippte ein paar Zahlen auf eine grün leuchtende Armatur und der Tresor öffnete sich. Er wirkte sehr vertieft und musste mich wirklich nicht bemerken. Neugierig blickte ich ihm zu. Die Tür des Tresors öffnete sich. Jetzt erst sah ich, dass er das Tablett mit meinem Blut dabei hatte. Er nahm ein Röhrchen, machte es auf und roch dran. Er schloss die Augen setzte es an seinen Mund und trank. Er trank das ganze Röhrchen leer. Ich stand wie versteinert da. Vor Schreck fast wie gelähmt. Was passierte da gerade eben? Nicolai nahm die anderen Röhrchen und legte sie in den Tresor. Dann machte er ihn wieder zu und hängte das Bild davor. Ich schlich mich leise zurück ins Behandlungszimmer. Doch bevor ich die Tür öffnen konnte wurde mir schlecht und schwarz vor Augen. Ich fiel hin.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf der Liege im Behandlungszimmer. Neben mir standen auf dem kleinen Tisch ein Wurstbrötchen und ein großer Becher mit Kaffee, der einen herrlichen Duft verströmte. Nicolai stand angelehnt am Fenster und sah zu mir hinüber. Er wirkte ernst. „Es tut mir leid, ich hätte dich nicht alleine lassen sollen.“, sprach er zu mir. „Wieso? Was ist passiert?“, fragte ich ihn und fasste mir an meinen Kopf der mir höllisch weh tat. „Alexandra, du bist von der Liege gerollt und hast dir auf dem Fußboden den Kopf angeschlagen.“, antwortete mir Nicolai. „Was bin ich? Ich bin nicht von der Liege gerollt.“, erwiderte ich energisch und versuchte mich zu erinnern. „Ich war doch schon aufgestanden und auf den Flur gegangen. Ich habe dich gesucht.“ Nicolai sah mich an. „Du hast mein Blut getrunken, das habe ich gesehen.“, sagte ich ihm direkt ins Gesicht und erwartete seine Reaktion. „Alexandra, das hast du dir nur eingebildet. Ich glaube, du hast einfach zu viel erlebt in den letzten Tagen. Jetzt beiß mal von dem Brötchen ab und trink deinen Kaffee. Und bleibe bitte noch liegen. Hörst du?“ Nicolai ging aus dem Zimmer ohne sich noch einmal umzudrehen.
Was war passiert? Was geht hier vor sich? Drehe ich durch? Hat mein Kopf in letzter Zeit wirklich zu viel abgekommen? Das war real, das habe ich mir nicht eingebildet. Ich trank meinen Kaffee und knabberte an meinem Brötchen. Dann legte ich mich wieder hin und machte die Augen für einen Moment zu. Als ich sie öffnete stand Nicolai vor mir. Wie aus dem Nichts. Er reichte mir seine Hand und zog mich sanft nach oben. „Was meinst du? Wirst du heute schon bei mir arbeiten können?“, fragte er und lächelte mich an. Ja, das wollte ich. Das, was ich glaubte gesehen zu haben, verdrängte ich.