Der Besuch des Amerikaners und
andere Geschichten

 

 

 

 

Am Morgen eines frühen Maitags des Jahres neunzehnhundertacht bemerkte Gnazio, als er mit dem Maultier durch das Tor kam, um nach Vigàta zu reiten, dass auf dem Weg ein Mann stand, der auf einem Stativ einen Fotoapparat von den Ausmaßen eines kleinen Sarges befestigt hatte. Auf der Erde neben dem Stativ stand ein prallgefüllter Rucksack, der jeden Augenblick zu platzen drohte.

Der Mann war um die fünfunddreißig, blond, hochgewachsen, hager und offensichtlich ein Ausländer, schon allein wegen der Art, wie er gekleidet war.

«Goodbye», sagte der Ausländer.

«Goodbye», erwiderte Gnazio.

«Ihr sprecht Englisch?»

«Ich habe fünfundzwanzig Jahre in Amerika gelebt.»

«Oh, gut! Ich heiße Lyonel und bin Amerikaner.»

«Und ich heiße Gnazio», sagte Gnazio und nahm die Schiebermütze ab.

Der Mann kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand, Gnazio schüttelte sie, stieg aber nicht vom Maultier.

Sie redeten auf Amerikanisch weiter. Der Amerikaner in gutem Amerikanisch, Gnazio in verhunztem Amerikanisch.

«Seid Ihr der Eigentümer dieses Hauses?», fragte der Mann.

«Ja.»

«Wer hat es für Euch entworfen?»

Entworfen? Was heißt hier «entworfen»? Wie konnte dieser Kerl nur einen derartigen Blödsinn reden? Was war er denn? Ein Trottel vielleicht? Sie wohnten da zu sechst, und wie kann man zu so vielen in einem Entwurf wohnen?

«Das ist nicht entworfen, das ist ganz aus Stein, Holz und Mörtel gebaut, und ich selbst war’s, der das alles gemacht hat.»

Der Amerikaner sah ihn voller Bewunderung an.

«Habt Ihr etwa Architektur studiert?»

«Was ist denn das schon wieder, ‹Architektur›?»

«Na, sagen wir mal, das ist die Kunst, Häuser zu bauen.»

«So was habe ich nie studiert.»

Jetzt blickte der Mann ihn mit noch größerer Bewunderung an.

«Und wie seid Ihr auf den Gedanken gekommen, es so zu bauen?»

Bevor Gnazio antwortete, dachte er einen Augenblick nach.

«Ich hab’s so gebaut, weil so alles logischer ist, ich musste mir nur ein bisschen darüber klarwerden.»

«Wollt Ihr damit sagen, Ihr hättet dieses Haus gebaut, indem Ihr einer logischen, rationalen Vorstellung gefolgt seid?»

«Ja.»

«Darf ich es fotografieren?»

Aber was war denn nur so besonders an seinem Haus, dass der Amerikaner es fotografieren wollte? Manchmal waren die Leute wirklich verrückt!

«Fotografiert es, soviel Ihr wollt!»

«Ich möchte es auch von der anderen Seite fotografieren.»

«Warten Sie einen Augenblick! – Cola!»

Sein Sohn kam angelaufen.

«Cola, dieser Herr möchte das Haus fotografieren. Steh ihm zur Verfügung! Sieh zu, ob er Wasser oder Wein trinken möchte!»

Er verabschiedete sich und ritt nach Vigàta.

Nach drei Stunden kam er zurück. Der Amerikaner war mit dem Fotografieren fertig, aber noch nicht gegangen.

Er saß auf der Erde, den Rücken an einen Baum gelehnt, und zeichnete das Haus mit einem Bleistift auf großen weißen Karton.

Neben ihm lagen andere, bereits mit Zeichnungen bedeckte Blätter. Der Amerikaner zeichnete das gesamte Haus, Zimmer für Zimmer, auch die Straße, die Zisternen, den Backofen, die Vorratskammer, die gelben und die grünen Mauern, einfach alles.

«Nur noch fünf Minuten, und ich bin fertig», sagte er.

«Lasst Euch nur Zeit! Ich gehe ins Haus.»

«Einen Augenblick, entschuldigen Sie! Warum ist für Euch die Zahl Drei so wichtig?»

Gnazio sah ihn völlig verdattert an.

«Ich verstehe nicht ganz …»

«Die Zimmer, ausgenommen eines, sind alle auf drei mal drei Meter gebaut, die Entfernung zwischen einem Bau und dem anderen beträgt immer drei oder sechs Meter.»

Gnazio überlegte einen Moment.

«Daran habe ich gar nicht gedacht. Aber es kam mir wie das richtige Maß vor.»

«Ach so», sagte der Amerikaner.

Während Gnazio sich wusch, weil er so verschwitzt war, hörte er, dass Resina auf dem Balkon des oberen Zimmers angefangen hatte zu singen. Ihre Stimme war so sicher wie die ihrer Mutter.

Als er herunterkam, sagte Maruzza:

«In einer Viertelstunde ist das Essen fertig. Soll ich auch einen Teller für diesen Herrn herrichten?»

«Tu das!»

Er ging hinaus, um den Amerikaner einzuladen. Dieses Mal fand er ihn stehend vor, in einer Hand hielt er ein neues Blatt und in der anderen einen Bleistift. Nun aber schrieb er.

Er blickte Gnazio ganz verstört an.

«Wer ist dieses Mädchen mit der Muschel, das da singt?»

«Meine Tochter Resina.»

«Wer hat ihr nur diese Lieder beigebracht?»

«Keiner. Sie erfindet sie alle selbst. Oder vielleicht hat sie sie von meiner Frau gelernt, die noch besser singt als sie.»

«Hat Eure Frau etwa Musik studiert?»

«Aber woher!»

Da erst merkte Gnazio, dass der Amerikaner so etwas wie ein Notenblatt gezeichnet und darauf die Noten der Lieder eingetragen hatte, die Resina sang.

«Aber Ihr versteht ganz sicher was von Musik!»

«Ja. Ich habe in New York Violine studiert, und dann bin ich nach Europa gekommen, nach Deutschland, um mich noch besser ausbilden zu lassen. Doch dann habe ich in Hamburg gemerkt, dass meine eigentliche Begabung nicht in der Musik liegt, sondern in der Malerei. Aber lasst mich weiter zuhören, ich bitte Euch. Eure Tochter ist … Sie ist ein Wunder.»

Resina hörte auf.

«Sagt ihr bitte, sie soll weitersingen.»

«Resinù, willst du nicht noch etwas singen?»

«Nein», sagte das Mädchen und ging hinein.

«Tut mir leid. Sie hat einen eisernen Willen; wenn sie etwas sagt, dann ist das so. Mögt Ihr mit uns essen?»

«Sehr gerne. Sagt mir doch eines: Mit Eurem Sohn Cola habe ich mich ausgezeichnet durch Zeichen verständigt. Er hat mir gesagt, dass er und sein Bruder in dem Zimmer auf der ersten Etage rechts schlafen, in der Mitte Ihr und Eure Frau und in dem linken Zimmer die Mädchen und dass die Türen des rechten und des linken Zimmers sich zu Eurem Schlafzimmer öffnen. Stimmt das?»

«So ist es.»

«Aber wie werdet Ihr es halten, wenn Eure Kinder größer werden und ihre Unabhängigkeit brauchen? Sind sie dann immer gezwungen, durch Euer Zimmer zu gehen?»

Gnazio lachte.

«Aber sicher habe ich daran gedacht. Da, wo sich jetzt die Fenster der neuen Zimmer befinden, setze ich zwei Türen ein, eine für jedes Zimmer, und jedes mit seiner eigenen Treppe.»

«Und die Fenster versetzt Ihr dann nach dieser Seite?»

«Niemals, gütiger Himmel! Wenn ich die nach dieser Seite versetze, sehen sie ja das Meer! Nein, die Fenster lasse ich seitlich ein.»

«Wäre es aber nicht besser, sie würden zum Meer hin liegen?»

«Nein», sagte Gnazio resolut.

Da nahm der Amerikaner eine Zeichnung, die er bereits von der dem Olivenbaum gegenüberliegenden Fassade angefertigt hatte, und zeichnete mit einem Rotstift die Türen und Treppen ein.

«Denkt Ihr an eine solche Lösung?»

«Ganz genau.»

«Meinen Glückwunsch!»

«Wozu?»

«Pater!», rief Resina. «Kommt! Es ist Essenszeit.»

Als sie bei Tisch saßen, erzählte der Amerikaner Gnazio, er würde nicht mehr in Amerika leben, sondern in einer deutschen Stadt, die Hamburg hieß, und dass er sich mit Zeichnungen und Karikaturen durchs Leben schlage.

Am Ende bat er Gnazio um Erlaubnis, eine Karikatur von ihm anfertigen zu dürfen.

Dazu brauchte er fünf Minuten, und als alle sie dann sahen, fingen sie an zu lachen, auch Gnazio, denn er erschien sehr komisch auf dem Blatt.

«Ich schenke sie Euch», sagte der Amerikaner.

Und dann fragte er:

«Darf ich ein Porträt von Eurer Frau machen?»

«Er möchte ein Porträt von dir zeichnen», erklärte Gnazio Maruzza.

Doch seine Frau gab ihm durch ein Kopfschütteln zu verstehen, dass sie das nicht wollte.

«Tut mir leid, aber …», sagte Gnazio.

«Ich verstehe …», sagte der Amerikaner, ohne seinen Blick auch nur eine Sekunde von Maruzza abzuwenden.

Und weil sie sich auf diese eindringliche Weise beobachtet fühlte, verabschiedete sie sich von dem Amerikaner und stieg zum Schlafzimmer hinauf.

«Wir gehen jetzt arbeiten», sagte Gnazio.

«Ich baue nur den Fotoapparat ab und gehe dann», sagte der Amerikaner. «Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft.»

Sie verabschiedeten sich. Gnazio und Cola gingen hinaus. Der Amerikaner begann das Stativ abzubauen, und in diesem Augenblick fing Maruzza auf dem Balkon an zu singen.

Sie sang bis zur Abenddämmerung, als sie sah, dass Gnazio und ihr Sohn wieder zurückkamen. Gnazio ging ins Haus, während Maruzza die Treppe herunterkam.

Der Amerikaner war gegangen.

Doch er hatte eine Zeichnung auf dem Tisch zurückgelassen. Sie zeigte eine Sirene mit dem Gesicht und den nackten Brüsten Maruzzas. Neben ihr befand sich eine kleine Sirene mit dem Gesicht von Resina.

Wortlos nahm Maruzza die Zeichnung und warf sie ins Feuer.

Am ersten Januar des Jahres neunzehnhundertneun, als sie alle bei Tisch saßen, sagte Cola plötzlich:

«Ich will lernen, ich will in die Schule gehen.»

Maruzza und Gnazio sahen ihn verblüfft an.

«Aber jetzt bist du doch schon neun – man wird dich nicht mehr ins erste Schuljahr aufnehmen!», sagte Gnazio.

«Ich gehe ja auch nicht ins erste Schuljahr.»

«Wie willst du es dann anstellen?»

«Ein Gymnasiallehrer aus Vigàta gibt mir Privatunterricht, er heißt Sciortino. Danach schickt er mich zur Prüfung.»

«Wie hast du ihn kennengelernt?»

«Ich bringe ihm Eier nach Hause. Vor einer Woche hat er mich bei sich eintreten lassen, und da habe ich gesehen, dass er eine große Himmelskarte hat. Da haben wir angefangen, über Sterne zu reden. Danach hat er mich gefragt, welche Schulen ich besucht hätte, und ich habe ihm gesagt, keine, da hat er mir diesen Vorschlag gemacht.»

«Und wie viel will er für die Stunde?»

«Nichts, er will nicht bezahlt werden.»

«Aber wer hilft mir dann auf den Feldern?», versuchte Gnazio dagegenzuhalten, der bereits wusste, wie diese Sache ausgehen würde.

«Ich helfe Euch, patre!», sagte Calorio, der vier Jahre alt war.

«Nein, du bist noch viel zu klein.»

«Ich helfe dir», sagte Maruzza.

«Aber du musst dich um das Haus kümmern, um die Kinder …»

«Mach dir keine Sorgen! Doch wenn Cola lernen will, muss er das tun.»

Zwei Jahre später ging Gnazio eines Morgens um fünf ins Zimmer der beiden Jungen. Cola schlief, er war lange aufgeblieben und hatte die Sterne beobachtet. Gnazio trat ans Bett von Calorio, rief ihn leise und rüttelte ihn an der Schulter.

«Was ist?», sagte der Kleine und machte ein Auge auf.

«Steh auf, wasch dich und zieh dich an! Jetzt ist es so weit, dass du mit mir arbeiten kommst.»

Calorio wirkte zufrieden. Und in der Tat zeigte es sich schon seit diesem Morgen, was er immer sein würde, nämlich ein tüchtiger Arbeiter.

Jetzt verstand Gnazio die Worte der Lieder seiner Tochter Resina.

Allerdings sang Resina ganz andere Lieder als die ihrer Mutter, Lieder, die Gnazio beunruhigten.

Zum Beispiel sang sie die Geschichte von zwei Schwertfischen, die in eine Delphinin verliebt waren und immer um sie herumschwammen; sie gaben ihr keine Ruhe, doch die Delphinin konnte sich nicht zwischen ihnen entscheiden, und so forderten die Schwertfische sich zum Duell heraus, bei dem sie sich tödliche Wunden beibrachten; die Delphinin erfuhr durch eine Möwe von diesem Ereignis, doch statt zu weinen, sagte sie fröhlich und zufrieden, dass sie nun endlich frei sei, sich in den zu verlieben, den sie wollte.

Oder sie sang die Geschichte von einem Haifisch, der alle Zähne verloren hatte und daher nicht mehr fressen konnte; doch weil er einen Freund hatte, der Albatros hieß und ein Vogel war, schwamm er, wenn er Hunger hatte, dicht an der Oberfläche, öffnete das Maul, und der Albatros ließ die Fische hineinfallen, die er für ihn gefangen und klein gekaut hatte.

Es waren Geschichten über Liebe und Freundschaft.

Aber was konnte ein kleines Mädchen wie Resina denn von Liebe und Freundschaft wissen?

Zwar bezogen sich Maruzzas Lieder immer auf das Meer, das ist richtig, aber sie sprachen von dem, was ein junges Mädchen empfindet, wenn es sich verliebt, wenn es ein Kind bekommt, wenn jemand stirbt, der ihm nahestand. Resina indes wandte sich nicht ans Meer, und zwar aus dem einfachen Grund, weil es bei ihr, wenn sie sang, so war, als würde sie im Meer sein; sie musste es also auch nicht anrufen, und ihre Geschichten erzählten unvermeidlich von Schwertfischen, von Delphinen oder von Haifischen.

Unterdessen ging das Leben in Ninfa seinen Gang und veränderte die Dinge.

Eines Morgens fragte Gnazio, der Donna Pina seit zwei Wochen nicht mehr auf der Straße hatte vorbeilaufen sehen, einen Alten, ob er wohl etwas über sie wisse. Und der antwortete ihm, dass Donna Pina eine Krankheit in den Beinen bekommen habe und nicht mehr so lange Wege zurücklegen könne. Sie sei aber weiterhin mit Heilmitteln aus Kräutern zugange, nur wer jetzt geheilt werden wolle, müsse zu ihr gehen.

In der Nacht war es Gnazio, als würde er Geräusche im Zimmer der Mädchen hören. Er stand auf, ging nachschauen und merkte, dass Resina nicht in ihrem Bett war. Ciccina hingegen schlief tief und fest. Besorgt suchte er seine Tochter im Esszimmer, aber da war sie nicht. Er ging in das der Jungen und sah, dass auch Colas Bett leer war. Da stieg er aufs Dach, wo Cola sein Fernrohr aufbewahrte, und sogleich hörte er sie miteinander reden.

Seit Resina zehn Jahre alt geworden war, konnte sie sich nicht mehr von Cola trennen; sobald Bruder und Schwester es einzurichten vermochten, begaben sie sich irgendwohin, um miteinander zu reden. Jetzt sagte Resina zu Cola:

«So wie du mit dem Fernrohr Sterne siehst, die du vorher nicht sehen konntest, so entdecke ich, je älter ich werde, auf dem Grund des Meeres immer mehr Dinge, die ich vorher nicht gekannt habe …»

Was hatte dieses Mädchen nur für eine Phantasie!

Sie war doch noch nie im Meer gewesen! Sie war ja noch nicht einmal zum Strand hinuntergekommen! Tatsächlich war es so, dass Resina ihn einmal gefragt hatte, ob sie zum Strand hinunter dürfe, um das Meer aus der Nähe zu betrachten, doch er hatte ihr das abgeschlagen, und die Kleine hatte ihn nie wieder gefragt.

Dann, an einem Tag im Januar, machte sich Cola nach Palermo auf, um dort an der Universität zu studieren. Professor Sciortino hatte ihm in seinem Testament so viel Geld hinterlassen, dass er mindestens zehn Jahre lang fern von zu Hause für sich sorgen konnte. Gnazio begleitete ihn zum Bahnhof. Auch Resina bestand darauf, ihn zu begleiten, und sie weinte fürchterlich.

Am Bahnhof gab es jemanden, der Fotos machte. Cola und Resina ließen eines von sich gemeinsam aufnehmen. Cola hinterließ dem Fotografen seine Adresse in Palermo, und dieser sicherte ihm zu, dass er die Bilder schicken würde.

In derselben Nacht, in der ihr Bruder abgereist war, stieg Resina leise in das Dachkämmerchen hinauf. Gnazio hörte sie dennoch, und nach einer Weile folgte er ihr. Das Fernrohr war noch da, Cola hatte es Resina überlassen. Sie sang zwar mit leiser Stimme, doch trotzdem konnte Gnazio die Worte ihres Liedes verstehen.

Es erzählte die Geschichte von einem Bruder und seiner Schwester; der Junge war inmitten der Sterne geboren und das Mädchen auf dem Grund des Meeres. Es erzählte, wie jeder der beiden dorthin zurückkehren wollte, wo sie geboren worden waren, doch das bedeutete auch, dass sie dann für immer Abschied voneinander nehmen müssten …

Gnazio wollte nicht mehr weiterhören.

Er ging wieder hinunter, legte sich hin, konnte aber kein Auge mehr zutun.

An einem Vormittag des Jahres neunzehnhunderteinundzwanzig, als er nach Vigàta gegangen war, um Obst und Gemüse zu verkaufen, hörte Gnazio, wie ihn jemand rief, der bei der Post angestellt war.

«Da ist ein Brief für Euch gekommen!»

Gnazio wunderte sich. Noch nie in seinem Leben hatte jemand ihm einen Brief geschrieben. Cola kam alle vierzehn Tage über Samstag und Sonntag nach Ninfa, er brauchte also nicht zu schreiben. Wer konnte das bloß sein?

Er hatte die Befürchtung, dass dieser Brief ihm irgendetwas Schlimmes mitteilen könnte.

«Er kommt aus Deutschland», sagte der Postangestellte.

Gnazio öffnete den Umschlag mit zitternder Hand.

Drinnen befanden sich eine Fotografie und ein auf Amerikanisch geschriebener Brief. Die Fotografie zeigte ein Haus, das ihn an etwas erinnerte. Er betrachtete das Bild lange, und plötzlich begriff er, dass dieses Haus seinem eigenen glich. Auf dem Blatt stand geschrieben:

«Lieber Signor Mancio, ich weiß nicht, ob Sie sich noch an mich erinnern. Ich bin Lyonel Feininger, jener Amerikaner, der im Mai 1908 das Glück hatte, Ihnen zu begegnen, Ihr Haus zu fotografieren und zu zeichnen und Ihre ungewöhnliche Familie kennenzulernen. Einige Jahre nach meiner Rückkehr nach Deutschland hatte ein Freund von mir, ein Architekt (einer von denen, die Häuser bauen, erinnern Sie sich?), der Walter Gropius heißt, die Fotografien und Zeichnungen Ihres Hauses gesehen. Diese hatten ihn dermaßen beeindruckt, dass er sie von mir geschenkt bekommen wollte. Danach hat er sie ausgiebig erforscht, und das Ergebnis ist dieses Haus, von dem ich eine Fotografie beifüge. Gropius wollte, dass ich Ihnen schreibe, um Ihnen zu danken. Ich selber bewahre eine unauslöschliche Erinnerung an den bei Ihnen und Ihrer Familie verbrachten Tag. Geht es Ihrer Frau und Ihren Kindern gut? Singen Resina und Ihre Frau immer noch? Herzliche Grüße, Lyonel Feininger.»

Natürlich erinnerte er sich an den Amerikaner, der eine Karikatur von ihm angefertigt hatte!

Auf dem Rückweg zerriss er die Fotografie und das Blatt und warf es auf die Straße.

Dieser Brief hatte ihm einen Todesschrecken versetzt.

Dann schloss Cola ein paar Jahre später seine Studien an der Universität ab.

Er kam von Palermo zurück und blieb einen ganzen Monat in seinem Haus.

Äußerlich kannte man ihn kaum wieder – er war elegant gekleidet, geschniegelt und gebügelt –, doch in seinem Herzen war er immer noch der von eh und je. Er hatte sich nicht verlobt.

Und auch Resina hatte nicht heiraten wollen, obwohl es eine große Zahl von jungen Männern gab, die sie zur Frau begehrten.

Jede Nacht stiegen Cola und Resina aufs Dach und redeten miteinander.

Gnazio ging ihnen niemals nach, um sie heimlich zu belauschen.

Als der Monat vorüber war, begleiteten Gnazio, Maruzza, Resina, Calorio und Ciccina ihn allesamt zum Bahnhof. Sie waren schön angezogen, denn diesmal reiste Cola nach Amerika ab: Er war an eine amerikanische Universität berufen worden, um das größte Teleskop der Welt zu bauen.

«Was ist denn das, ein Stileskop?»

Da erklärte Cola, dass ein Teleskop ein einhundert Milliarden mal stärkeres Fernrohr sei als das, was sein Vater ihm einst geschenkt hatte. Als er das erklärte, waren sie alle sprachlos vor Erstaunen. Nur Resina lief zu ihrem Bruder und umarmte ihn voller Glück.

Der Tag kam, da entschloss sich Gnazio, nicht mehr nach Vigàta zu gehen. An seiner Stelle sollte Calorio dort Obst und Gemüse verkaufen. Er selbst mochte es nicht mehr, nicht wegen seines Alters, obwohl er inzwischen über siebzig Jahre alt war, sie aber keineswegs zeigte, sondern weil seit einiger Zeit Leute durch die Orte zogen, die ihm nicht gefielen. Sie trugen schwarze Hemden, die oben ein Totenkopfabzeichen hatten, sie grüßten sich, indem sie den rechten Arm mit ausgestreckter Hand hoben, und sie hatten einen Gummiknüppel bei sich, mit dem sie jeden schlugen, der nicht mit «Lalala» antwortete, wenn sie «Eijeijei» sagten. Und wie redeten die überhaupt?

Und dann, um das Fass vollzumachen, gab es im Ort jetzt drei Automobile, das heißt Karren ohne Pferde, allerdings mit einem Motor, der gewaltig stank und einen derartigen Krach machte, dass sein Maultier einmal, weil es Angst vor einem solchen Automobil hatte, das ganz dicht an ihm vorbeigeknattert war, zu Boden gestürzt war, mitsamt allen Tomaten, Kürbissen, Kartoffeln und Aprikosen, die er verkaufen wollte.

Nein, das war nicht mehr nach seinem Geschmack.