Mr Eastwood blickte zur Decke. Dann blickte er auf den Fußboden. Vom Fußboden wanderte sein Blick langsam zur rechten Wand hinüber. Ernst und entschlossen richtete er den Blick plötzlich auf die vor ihm stehende Schreibmaschine.
Das jungfräuliche Weiß des Bogens war lediglich durch eine Überschrift verunstaltet, die in großen Buchstaben niedergeschrieben worden war.
DAS GEHEIMNIS DER ZWEITEN GURKE lautete sie. Ein angenehmer Titel. Anthony Eastwood hatte das Gefühl, dass jeder, der diesen Titel läse, sofort von ihm angezogen und gefesselt sein würde. »Das Geheimnis der zweiten Gurke«, würden die Leute sagen. »Was kann das nur bedeuten? Eine richtige Gurke? Die zweite Gurke? Ich muss diese Geschichte unbedingt lesen.« Und sie würden von der vollendeten Leichtigkeit, mit der dieser Meister der Detektivgeschichte eine erregende Handlung um diese schlichte Gartenfrucht gewoben hatte, hingerissen und verzaubert werden.
Das alles war schön und gut. Wie jedermann wusste auch er genau, wie die Geschichte sein sollte – die Schwierigkeit war nur, dass er irgendwie mit ihr nicht zurechtkam. Die beiden wesentlichen Bestandteile einer Geschichte waren Titel und Handlung; der Rest war reines Handwerk. Manchmal führte der Titel von ganz allein zu einer Handlung, und dann ging alles Weitere automatisch. In diesem Fall schmückte der Titel jedoch nur den Anfang des Bogens, und nicht eine Spur von Handlung kam dabei zum Vorschein.
Wieder suchte Mr Eastwoods Blick Inspiration bei der Decke, beim Fußboden und bei der Tapete, und immer noch nahm nichts feste Gestalt an.
»Die Heldin werde ich Sonja nennen«, sagte Anthony, um endlich einen Schritt weiterzukommen. »Sonja oder möglicherweise auch Dolores – ihre Haut wird die Färbung des Elfenbeins haben, aber nicht in der Art, wie sie durch Krankheit entsteht, und ihre Augen werden grundlosen Teichen ähneln. Der Held wird George heißen, oder vielleicht auch John – zumindest soll es ein kurzer und typisch englischer Name sein. Und der Gärtner – einen Gärtner werde ich wahrscheinlich auch brauchen, denn irgendwie muss diese verdammte Gurke schließlich geerntet werden; der Gärtner könnte Schotte sein, und im Hinblick auf die ersten Nachtfröste sollte er vielleicht in amüsanter Weise pessimistisch sein.«
Diese Methode funktionierte zwar manchmal, aber an diesem Vormittag schien dem nicht so zu sein. Obgleich Anthony nicht nur Sonja, sondern auch George und den Gärtner ganz deutlich vor sich sah, zeigten sie doch nicht die geringste Bereitwilligkeit, aktiv zu werden und irgendetwas zu unternehmen.
»Natürlich könnte ich auch eine Banane daraus machen«, überlegte Anthony verzweifelt. »Oder einen Salatkopf, oder Rosenkohl – wie wäre es eigentlich mit Rosenkohl? Brüsseler Kohl heißt er auch, und das könnte ein Kodewort für Brüssel sein – gestohlene Namensaktien – ein zwielichtiger belgischer Baron.« Für einen kurzen Augenblick schien ein Lichtstrahl aufzuleuchten, aber dann erlosch er wieder. Der belgische Baron blieb im Dunkeln, und plötzlich erinnerte Anthony sich, dass erste Nachtfröste und Gurken unvereinbar waren; und damit fiel auch der Vorhang für die amüsanten Bemerkungen des schottischen Gärtners.
»Verdammt noch mal«, sagte Mr Eastwood.
Er erhob sich und griff nach der Daily Mail. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass irgendjemand auf eine Art und Weise zu Tode gekommen war, die einen transpirierenden Autor inspirieren könnte. Aber die Nachrichten dieses Vormittags waren größtenteils politisch und stammten aus dem Ausland. Angewidert schleuderte Mr Eastwood die Zeitung von sich.
Nachdem er einen Roman vom Tisch genommen hatte, schloss er die Augen und stieß mit dem Zeigefinger auf die aufgeschlagene Seite hinunter. Das auf diese Weise vom Schicksal ausgesuchte Wort lautete »Schaf«. Unverzüglich entfaltete sich in Mr Eastwoods Gedanken mit verblüffender Brillanz eine ganze Geschichte. Bezauberndes Mädchen – Liebhaber im Krieg umgekommen, ihr Verstand umnachtet, hütet Schafe in den schottischen Bergen – mystische Begegnung mit totem Liebhaber, Endeffekt – wie auf einem akademischen Bild mit Schafen und Mondschein, Mädchen liegt tot im Schnee, und zwei Fußspuren…
Es war eine wunderschöne Geschichte. Mit einem Seufzer und betrübtem Kopfschütteln tauchte Anthony aus seinen Fantasievorstellungen auf. Er wusste nur zu gut, dass der betreffende Redakteur eine Geschichte dieser Art nicht wollte – mochte sie auch noch so wunderschön sein. Jene Art von Geschichte, die dieser Mann haben wollte und auf der er hartnäckig bestand – zufälligerweise bezahlte er auch sehr anständig dafür –, musste von geheimnisvollen dunkelhaarigen Frauen handeln: Mit einem Stich ins Herz umgebracht, ein junger Held ungerechterweise verdächtigt, und dann plötzlich die Aufdeckung des Geheimnisses und dank völlig unangemessener Hinweise der Beweis, dass die am wenigsten verdächtigte Person der Täter war – tatsächlich also Das Geheimnis der zweiten Gurke.
Obgleich, überlegte Anthony, ich zehn zu eins wette, dass er den Titel ändert und irgendeinen völlig verrückten, etwa Mord ist meistens gemeint, nehmen wird – und das, ohne mich zu fragen! Zum Teufel mit dem verdammten Telefon! Ärgerlich schlenderte er hinüber und nahm den Hörer ab. Zweimal war er innerhalb der letzten Stunde bereits gestört worden: Einmal war es eine falsche Nummer, und das andere Mal war er von einer leichtfertigen Dame der Gesellschaft, die er bitterlich hasste, die jedoch zu hartnäckig war, als dass er sie abweisen konnte, mit einer Einladung zum Mittagessen überfallen worden.
»Hallo!«, knurrte er in den Hörer. Eine weibliche Stimme antwortete ihm, eine zärtliche Stimme mit leichtem ausländischem Akzent.
»Bist du es, Geliebter?«, sagte die Stimme sanft.
»Ich – äh – ich weiß nicht«, sagte Mr Eastwood vorsichtig. »Wer ist am Apparat?«
»Ich – Carmen. Hör zu, Geliebter. Ich werde verfolgt – bin in Gefahr – du musst sofort kommen. Es geht jetzt um Leben und Tod.«
»Verzeihung«, sagte Mr Eastwood höflich. »Aber ich fürchte, Sie haben die falsche Nummer…« Bevor er den Satz beenden konnte, unterbrach sie ihn.
»Madre de Dios! Sie kommen. Wenn sie merken, was ich tue, bringen sie mich um. Lass mich nicht im Stich. Komm sofort! Wenn du nicht kommst, bedeutet das für mich den Tod. Du weißt: Kirk Street 320. Das Kennwort ist Gurke… Schnell…«
Er hörte ein leises Klicken, als sie am anderen Ende der Leitung den Hörer auflegte. »Verdammt noch mal«, sagte Mr Eastwood äußerst erstaunt. Er nahm seine Tabaksdose und stopfte sich sorgfältig eine Pfeife.
Vermutlich, grübelte er, war es irgendeine merkwürdige Auswirkung meines unbewussten Ichs. Gurke – das kann sie einfach nicht gesagt haben. Die ganze Geschichte ist sehr ungewöhnlich. Hat sie nun Gurke gesagt, oder hat sie es nicht gesagt?
Unentschlossen wanderte er hin und her.
Kirk Street 320. Ich möchte nur wissen, was das alles zu bedeuten hat. Wahrscheinlich wartet sie jetzt darauf, dass der andere auftaucht. Wenn ich es ihr doch nur hätte erklären können. Kirk Street 320. Das Kennwort ist Gurke – o Gott, unmöglich, absurd – Halluzinationen eines strapazierten Gehirns!
Böse blickte er zu der Schreibmaschine hinüber.
Was hast du eigentlich für einen Sinn – das wüsste ich nun wirklich gern! Den ganzen Vormittag habe ich dich angestarrt, und was ist dabei herausgekommen? Ein Schriftsteller soll seine Handlungen aus dem Leben nehmen – aus dem Leben, verstehst du? Und das werde ich jetzt tun!
Er stülpte sich einen Hut auf den Kopf, blickte liebevoll auf seine unbezahlbare Sammlung alter Emaillen und verließ die Wohnung.
Wie die meisten Londoner wissen, ist die Kirk Street eine lange und ziemlich bunte Durchgangsstraße; in der Hauptsache voller antiquarischer Läden, wo alle Arten imitierter Waren zu Fantasiepreisen angeboten werden. Außerdem gibt es dort Altmessing-Läden, Glasläden sowie verkommene Gebrauchtwarengeschäfte und Läden mit getragener Bekleidung.
Nr. 320 war ein Geschäft, das sich ganz dem Verkauf alten Glases widmete. Gläserne Gegenstände aller Art füllten den Laden bis zum Überfluss. Anthony war gezwungen, sich vorsichtig zu bewegen, als er den Mittelgang entlangging, der von Weingläsern flankiert war, während Lüster und Kronleuchter leise klirrend über seinem Kopf pendelten. Eine sehr alte Dame saß im hinteren Teil des Ladens. Sie hatte einen knospenden Schnurrbart, um den so mancher Jüngling sie beneidet hätte, und ein grausames Benehmen.
Sie blickte Anthony an und sagte mit abweisender Stimme:
»Na?«
Anthony war ein junger Mann, der sich leicht aus der Fassung bringen ließ. Unverzüglich erkundigte er sich nach dem Preis einiger Weißweingläser.
»Sechs Stück fünfundvierzig Shilling.«
»Ach – wirklich?«, sagte Anthony. »Sehr nett, nicht? Und was kosten die hier?«
»Wunderschöne Stücke, altes Waterford. Die lasse ich Ihnen für achtzehn Guineen das Paar.«
Mr Eastwood merkte, dass er sich selbst in Schwierigkeiten brachte: Noch eine Minute, und wie hypnotisiert von den Augen der boshaften alten Frau, würde er irgendetwas kaufen. Und dennoch konnte er es nicht über sich bringen, den Laden wieder zu verlassen.
»Und der da?«, fragte er und deutete auf einen Kronleuchter.
»Fünfunddreißig Guineen.«
»Aha!«, sagte Mr Eastwood bedauernd. »Das ist leider mehr, als ich mir leisten kann.«
»Was suchen Sie denn?«, fragte die alte Dame. »Irgendein Hochzeitsgeschenk?«
»Richtig«, sagte Anthony und klammerte sich an diese Erklärung. »Aber es ist so schwer, das Passende zu finden.«
»So ist das also«, sagte die Dame und stand auf, als wäre sie zu einem Entschluss gekommen. »Hübsches altes Glas ist eigentlich nie verkehrt. Hier habe ich ein Paar alte Weinkaraffen – und hier ist ein hübsches kleines Likörservice, genau das Richtige für eine junge Frau…«
In den nächsten zehn Minuten litt Anthony Höllenqualen. Die Dame hatte ihn völlig in der Hand. Jedes nur denkbare Exemplar der Glasbläserkunst zog an seinen Augen vorüber. Er verzweifelte.
»Wunderschön, wunderschön«, rief er fast mechanisch aus, während er einen großen goldenen Kelch abstellte, der seiner Aufmerksamkeit aufgezwungen worden war. Dann platzte er heraus:
»Übrigens – haben Sie vielleicht Telefon?«
»Nein, wir nicht. Gegenüber im Postamt ist eine Telefonzelle. Na, wie finden Sie den Kelch oder wie wäre es mit diesen schönen alten Römern?«
Da Anthony keine Frau war, war er auch völlig unbewandert in der gelassenen Kunst, ein Geschäft zu verlassen, ohne etwas gekauft zu haben.
»Ich nehme lieber das Likörservice«, sagte er düster.
Mit Verbitterung im Herzen bezahlte er. Aber als die alte Dame das Päckchen einpackte, kehrte plötzlich sein Mut zurück. Schließlich würde sie ihn allerhöchstem für exzentrisch halten, und außerdem – was, zum Teufel, kümmerte es ihn, was sie dachte? »Gurke«, sagte er deutlich und bestimmt.
Unvermittelt unterbrach die alte Frau das Verpacken des Likörservices. »Wie? Was haben Sie gesagt?«
»Nichts«, log Anthony schnell.
»Ach so! Ich dachte schon, Sie hätten ›Gurke‹ gesagt.«
»Das habe ich auch«, erwiderte Anthony herausfordernd.
»Soso«, meinte die alte Dame. »Warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt? Einfach mir meine Zeit zu stehlen! Durch die Tür da drüben und die Treppe hoch. Sie wartet schon.«
Wie im Traum ging Anthony durch die Tür und stieg eine äußerst schmutzige Treppe hoch. Oben stand eine Tür ein Stück offen und gab den Blick in ein winziges Wohnzimmer frei.
Auf einem Stuhl saß, die Augen auf die Tür gerichtet und auf dem Gesicht einen Ausdruck gespannter Erwartung, ein Mädchen.
Und was für ein Mädchen! Sie hatte tatsächlich jene elfenbeinerne Haut, die Anthony so oft geschildert hatte. Und ihre Augen! So etwas von Augen! Engländerin war sie nicht; das sah er auf den ersten Blick. Vielmehr machte sie einen fremden exotischen Eindruck, der sich selbst in der kostbaren Schlichtheit ihres Kleides zeigte.
Anthony blieb im Türrahmen stehen; er war verlegen. Es schien an der Zeit zu sein, irgendwelche Erklärungen abzugeben. Aber mit einem Schrei des Entzückens sprang das Mädchen auf und warf sich in seine Arme.
»Du bist gekommen!«, rief sie. »Du bist gekommen! Oh, gelobt seien die Heiligen und die heilige Madonna!«
Anthony, der nie eine günstige Gelegenheit ungenützt verstreichen ließ, reagierte genauso inbrünstig. Schließlich entwand sie sich ihm und blickte mit bezaubernder Schüchternheit zu seinem Gesicht hoch.
»Hätte ich dich doch nur nie kennen gelernt«, erklärte sie. »Hätte ich es doch nur nie getan.«
»Bereust du es?«, fragte Anthony matt.
»Nein, selbst deine Augen wirken anders – und du bist zehnmal hübscher, als ich es für möglich gehalten habe.«
»Wirklich?«
Sich selbst redete Anthony jedoch ein: Ruhig bleiben, mein Junge, ruhig bleiben. Die Situation entwickelt sich zwar sehr nett, aber verliere jetzt bloß nicht den Kopf.
»Ich darf dich noch einmal küssen, ja?«
»Selbstverständlich«, sagte Anthony überzeugt. »So oft du willst.«
Es folgte ein sehr erfreuliches Zwischenspiel.
Wenn ich bloß wüsste, wer – zum Teufel – ich bin, überlegte Anthony. Ich flehe nur zum Himmel, dass der Wirkliche jetzt nicht auftaucht. Wie süß sie ist!
Plötzlich trat das Mädchen einen Schritt zurück, und auf seinem Gesicht zeigte sich vorübergehend Entsetzen.
»Hat man dich hierher verfolgt?«
»Um Himmels willen – nein!«
»Aber sie sind fürchterlich gerissen. Du kennst sie nicht so genau, wie ich sie kenne. Boris ist ein Schuft.«
»Die Sache mit Boris werde ich für dich regeln.«
»Du bist ein Löwe – jawohl, ein richtiger Löwe. Und die anderen, die sind nur canaille – alle! Übrigens: Ich habe es! Wenn sie es wüssten, würden sie mich sofort umbringen. Ich hatte solche Angst – ich wusste nicht, was ich tun sollte, und dann fielst du mir ein… Psst, was war das?«
Es war ein Geräusch unten im Laden. Mit einer Kopfbewegung andeutend, dass er bleiben sollte, wo er wäre, schlich sie auf Zehenspitzen zur Treppe. Mit blassem Gesicht und aufgerissenen Augen kehrte sie zurück.
»Madre de Dios! Die Polizei. Sie kommt herauf. Hast du ein Messer? Einen Revolver? Oder eine andere Waffe?«
»Mein liebes Kind, du erwartest doch nicht im Ernst von mir, dass ich einen Polizisten umbringe?«
»Ach, du bist wahnsinnig – wahnsinnig! Sie nehmen dich mit und hängen dich auf, bis du tot bist.«
»Was werden sie?«, fragte Mr Eastwood, und ein sehr unangenehmes Gefühl kroch an seiner Wirbelsäule empor.
Auf der Treppe erklangen Schritte.
»Jetzt kommen sie«, flüsterte das Mädchen. »Bestreite alles. Das ist die einzige Möglichkeit.«
»Das dürfte mir nicht schwerfallen«, murmelte Mr Eastwood sotto voce.
Nach kaum einer Minute betraten zwei Männer das Zimmer. Sie trugen zwar unauffällige Anzüge, hatten jedoch ein offizielles Gehabe, das auf lange Ausbildung schließen ließ. Der kleinere der beiden, ein dunkler Mann mit ruhigen grauen Augen, war der Sprecher.
»Ich verhafte Sie, Conrad Fleckman«, sagte er, »wegen Mordes an Anna Rosenburg. Alles, was Sie sagen, wird als Beweis gegen Sie verwendet. Hier ist der Haftbefehl. Es ist das Beste, Sie kommen ohne viel Federlesens mit.«
Ein halberstickter Aufschrei entrang sich den Lippen des Mädchens. Mit gefasstem Lächeln trat Anthony einen Schritt vor.
»Sie unterliegen einem Irrtum, mein Herr«, sagte er scherzhaft. »Ich heiße Anthony Eastwood.«
Seine Feststellung schien auf die beiden Kriminalbeamten nicht die geringste Wirkung zu haben.
»Darüber können wir uns noch später unterhalten«, sagte der Dunkle – derjenige, der vorhin schon geredet hatte. »Inzwischen kommen Sie mit.«
»Conrad«, jammerte das Mädchen. »Conrad, lass dich nicht einfach so mitnehmen.«
Anthony blickte die Kriminalbeamten an.
»Sie werden sicherlich nichts dagegen haben, dass ich mich von dieser jungen Dame verabschiede?«
Mit mehr Gefühl und Anstand, als er es erwartet hatte, gingen die beiden Männer zur Tür. Anthony zog das Mädchen in die Ecke neben dem Fenster und redete schnell und kaum vernehmbar auf es ein.
»Hör zu. Was ich eben sagte, ist wahr. Ich bin nicht Conrad Fleckman. Als du heute Vormittag bei mir anriefst, muss man dir eine falsche Nummer gegeben haben. Ich heiße Anthony Eastwood. Ich bin auf deine Bitte hin gekommen, weil – eben, ich bin gekommen.«
Ungläubig starrte sie ihn an.
»Du bist nicht Conrad Fleckman?«
»Nein.«
»Oh!«, rief sie in einem Ton tiefster Not. »Und ich habe dich geküsst!«
»Daran war nichts verkehrt«, versicherte Mr Eastwood. »Die ersten Christen haben den Kuss als festes Brauchtum eingeführt. Was äußerst vernünftig war. Jetzt pass auf: Ich werde also mit diesen Leuten mitfahren. Binnen Kurzem werde ich beweisen, wer ich wirklich bin. Bis dahin werden sie dich in Ruhe lassen, sodass du deinen kostbaren Conrad noch rechtzeitig warnen kannst. Später…«
»Ja?«
»Ach Gott – nur Folgendes: Meine Telefonnummer ist Northwestern 1743. Und gib Acht, dass man dich nicht wieder falsch verbindet.«
Sie warf ihm einen bezaubernden Blick zu, halb trauernd, halb lächelnd.
»Ich werde es nicht vergessen – ich werde es bestimmt nicht vergessen.«
»Also gut. Auf Wiedersehen. Und wenn…«
»Ja?«
»Um noch einmal auf die ersten Christen zurückzukommen: Einmal mehr würde doch nicht allzu viel ausmachen, nicht wahr?«
Sie schlang die Arme um seinen Nacken. Ihre Lippen berührten die seinen kaum.
»Ich mag dich gern – ja, ich mag dich. Du wirst immer daran denken, was auch passiert, nicht wahr?«
Widerstrebend löste Anthony sich von ihr und näherte sich seinen Häschern.
»Ich bin bereit, mit Ihnen zu kommen. Wie ich annehme, haben Sie nicht die Absicht, diese junge Dame ebenfalls festzunehmen, nicht wahr?«
»Nein, Sir – das geht uns nichts an«, sagte der Kleine.
Anständige Burschen, diese Männer von Scotland Yard, überlegte Anthony, als er den beiden die schmale Treppe hinunter folgte.
Von der alten Frau im Laden war nichts zu sehen; Anthony hörte jedoch, wie es hinter einer Tür im rückwärtigen Teil des Ladens schnaufte, und vermutete, dass sie die Ereignisse mit Vorsicht beobachtete.
Wieder auf der schmutzigen Kirk Street, holte Anthony tief Luft und richtete sich an den kleineren der beiden Männer.
»Also, Inspector – Sie sind doch wohl Inspector?«
»Ja, Sir. Detective Inspector Verrall. Das hier ist Detective Sergeant Carter.«
»Also, Inspector Verrall, jetzt ist wohl der Zeitpunkt gekommen, dass wir vernünftig miteinander reden – und auch, dass Sie mich anhören. Ich bin nicht dieser Conrad – wie hieß er noch? Mein Name ist Anthony Eastwood, wie ich bereits sagte, und von Beruf bin ich Schriftsteller. Wenn Sie mich zu meiner Wohnung begleiten wollen, werde ich in der Lage sein, meine Identität Ihnen gegenüber nachzuweisen.«
Irgendetwas in der sachlichen Art, in der Anthony sprach, schien die Beamten zu beeindrucken. Zum ersten Mal huschte ein zweifelnder Ausdruck über Verralls Gesicht. Carter war offenbar nicht so leicht zu überzeugen.
»Das könnte Ihnen so passen«, fauchte er. »Vielleicht erinnern Sie sich, dass die junge Dame Sie mit ›Conrad‹ anredete.«
»Aber das hat doch damit nichts zu tun. Ich gebe ja zu, dass ich mich aus – äh – persönlichen Gründen der Dame gegenüber als Conrad ausgab. Eine rein private Angelegenheit, verstehen Sie?«
»Und das sollen wir glauben, was?«, bemerkte Carter. »Nein, Sir, Sie kommen mit. Halt mal das Taxi an, Joe.«
Ein vorüberfahrendes Taxi wurde gestoppt, und die drei Männer stiegen ein. Anthony machte einen letzten Versuch und wandte sich dabei direkt an Verrall als den leichter zu Überzeugenden.
»Hören Sie, mein lieber Inspector wem schadet es eigentlich, wenn Sie mit in meine Wohnung kommen und sich überzeugen, dass ich die Wahrheit sage? Sie können das Taxi warten lassen, wenn Sie wollen – das ist doch ein großzügiges Angebot. Keine fünf Minuten wird es dauern.« Verrall blickte ihn forschend an.
»Also gut«, sagte er plötzlich. »Es klingt zwar merkwürdig, aber ich glaube, dass Sie die Wahrheit sagen. Schließlich wollen wir uns auf der Wache nicht blamieren, weil wir den Falschen verhaftet haben. Wie ist die Adresse?«
»Brandenburg Mansions achtundvierzig.«
Verrall beugte sich vor und rief dem Taxifahrer die Adresse zu. Schweigend saßen die drei im Wagen, bis sie an ihrem Ziel angekommen waren, Carter aus dem Wagen sprang und Anthony von Verrall mit einer Handbewegung aufgefordert wurde, dem Sergeant zu folgen.
»Für Unannehmlichkeiten besteht kein Grund«, erklärte Verrall, als er ebenfalls ausstieg. »Wir werden so tun, als käme Mr Eastwood mit zwei Freunden nachhause.«
Anthony war für diesen Vorschlag ausgesprochen dankbar, und seine Achtung vor der Kriminalbehörde stieg von Minute zu Minute.
Im Hausflur hatten sie das Glück, Rogers, dem Portier, zu begegnen. Anthony blieb stehen.
»Ah – guten Abend, Rogers«, bemerkte er beiläufig.
»Guten Abend, Mr Eastwood«, erwiderte der Portier respektvoll.
Er war Anthony zugetan, der ein Beispiel für liberale Gesinnung gab, welches man von seinen Nachbarn nicht immer sagen konnte.
An der Treppe blieb Anthony stehen.
»Übrigens, Rogers«, sagte er beiläufig, »wie lange wohne ich eigentlich jetzt schon hier? Ich habe mich mit meinen Freunden gerade darüber gestritten.«
»Warten Sie, Sir – es müssten jetzt wohl bald vier Jahre sein.«
»Dasselbe habe ich gesagt.«
Anthony warf den beiden Beamten einen triumphierenden Blick zu. Carter knurrte, aber Verrall lächelte strahlend.
»Gut, Sir, aber noch nicht genug«, bemerkte er. »Gehen wir nach oben?«
Anthony öffnete die Tür seiner Wohnung mit dem Wohnungstürschlüssel. Dankbar war er, dass ihm noch rechtzeitig einfiel, dass Seamark, sein Diener, nicht zuhause war. Je weniger Zeugen bei dieser Katastrophe, desto besser.
Die Schreibmaschine stand noch so, wie er sie verlassen hatte.
Carter schlenderte zum Tisch und studierte den auf dem Papier stehenden Titel. »Das Geheimnis der zweiten Gurke«, verkündete er mit verdrossener Stimme.
»Eine Geschichte von mir«, erklärte Anthony gleichgültig.
»Auch nicht schlecht, Sir«, sagte Verrall kopfnickend, und seine Augen blinzelten. »Übrigens – wovon handelt sie? Was war denn nun das Geheimnis der zweiten Gurke?«
»Jetzt haben Sie mich festgenagelt«, sagte Anthony. »Anlass zu diesen ganzen Schwierigkeiten war nämlich diese zweite Gurke.«
Carter sah ihn gespannt an. Plötzlich schüttelte er den Kopf und klopfte sich bedeutungsvoll gegen die Stirn.
»Schön blöde, mein armer Freund«, murmelte er deutlich vor sich hin.
»Und jetzt, Gentlemen«, sagte Mr Eastwood lebhaft, »an die Arbeit. Hier sind an mich adressierte Briefe, mein Scheckheft und die Mitteilungen meiner Verleger. Was wünschen Sie sonst noch?«
Verrall prüfte die Papiere, die Anthony ihm hingeschoben hatte. »Ich für meinen Teil, Sir«, sagte er respektvoll, »brauche nichts mehr. Ich bin überzeugt. Ich kann jedoch nicht die Verantwortung auf mich nehmen, Sie frei zu lassen. Verstehen Sie – obgleich alles dafür spricht, dass Sie seit einigen Jahren hier als Mr Eastwood wohnen, ist es dennoch möglich, dass Conrad Fleckman und Anthony Eastwood ein und dieselbe Person sind. Ich muss daher die Wohnung durchsuchen, Ihnen die Fingerabdrücke abnehmen und mit der Zentrale telefonieren.«
»Anscheinend ein ziemlich umfassendes Programm«, bemerkte Anthony. »Ich kann Ihnen versichern, dass Ihnen alle strafbaren Geheimnisse, die Ihnen in die Hände fallen, zur Verfügung stehen.«
Der Inspector grinste. Für einen Kriminalbeamten war er ungewöhnlich human.
»Wenn Sie vielleicht mit Carter in das kleine Zimmer am Ende des Korridors gehen wollen, Sir, solange ich zu tun habe.«
»Einverstanden«, sagte Anthony widerwillig. »Umgekehrt wird es wohl nicht möglich sein, nicht wahr?«
»Was soll das heißen?«
»Dass Sie und ich und ein paar Whisky mit Soda im kleinen Zimmer verschwinden, während unser Freund, der Sergeant, die schwere Aufgabe des Durchsuchens übernimmt.«
»Wenn Ihnen das lieber ist, Sir?«
»Es ist mir lieber.«
Sie überließen es Carter, den Inhalt des Schreibtisches mit geschäftsmäßiger Gewandtheit zu überprüfen. Als sie den Raum verließen, hörten sie, wie er den Hörer abnahm und Scotland Yard anrief.
»Es könnte schlimmer sein«, sagte Anthony, als er sich mit einem Whisky-Soda hinsetzte, nachdem er die Wünsche des Inspectors Verrall gastfreundschaftlich erfüllt hatte.
»Soll ich zuerst trinken, nur um Ihnen zu beweisen, dass der Whisky nicht vergiftet ist?«
Der Inspector lächelte. »Das alles verstößt gegen die Vorschriften«, bemerkte er. »Aber wir kennen uns in unserem Beruf einigermaßen aus. Von Anfang an war mir klar, dass wir einen Fehler begangen hatten. Aber man muss natürlich die üblichen Vorschriften einhalten. Sie können auch nicht so einfach vom roten Teppich runter, nicht wahr, Sir?«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte Anthony bedauernd. »Außerdem sieht der Sergeant auch nicht allzu umgänglich aus, nicht?«
»Ach, im Grunde ist Detective Sergeant Carter ein feiner Kerl. So leicht kann dem keiner etwas vormachen.«
»Das habe ich bereits festgestellt«, sagte Anthony. »Übrigens, Inspector«, fügte er hinzu, »spricht irgendetwas dagegen, dass ich ein paar Einzelheiten über mich erfahre?«
»Welcher Art, Sir?«
»Mann Gottes, merken Sie denn nicht, dass ich vor Neugierde platze? Wer war Anna Rosenburg, und warum habe ich sie ermordet?«
»Das alles werden Sie morgen in der Zeitung lesen, Sir.«
»›Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen‹«, zitierte Anthony. »Ich bin überzeugt, dass Sie meine völlig legale Neugierde befriedigen dürfen. Lassen Sie Ihre offizielle Zurückhaltung einmal beiseite und erzählen Sie!«
»Das ist gegen die Vorschriften, Sir.«
»Mein lieber Inspector, wo wir uns so schnell angefreundet haben.«
»Also gut, Sir. Anna Rosenburg war eine deutsche Jüdin, die in Hampstead wohnte. Ohne sichtlich etwas dafür zu tun, wurde sie Jahr für Jahr ständig reicher.«
»Bei mir ist es genau umgekehrt«, bemerkte Anthony dazu. »Ich tue sichtlich etwas und werde dafür von Jahr zu Jahr ärmer. Vielleicht ginge es mir besser, wenn ich in Hampstead wohnte. Ich höre immer wieder, dass Hampstead ausgesprochen anregend sein soll.«
»Es gab eine Zeit«, fuhr Verrall fort, »wo sie mit gebrauchter Kleidung handelte…«
»Das erklärt alles«, unterbrach Anthony ihn. »Ich erinnere mich, dass ich nach dem Krieg meine Uniform verkaufte – nicht die aus Khaki, sondern die andere. Die ganze Bude hing voller roter Hosen und goldener Litzen, die äußerst vorteilhaft ausgebreitet waren. Es erschien ein dicker Mann in einem karierten Anzug mit seinem Rolls-Royce und einem Faktotum nebst Koffer. Ein Pfund zehn Shilling bot er für das ganze Zeug. Schließlich legte ich noch einen Jagdmantel und ein paar Zeissgläser dazu, um auf zwei Pfund zu kommen, und auf ein Zeichen klappte das Faktotum den Koffer auf, schaufelte alles hinein, und der Dicke reichte mir eine Zehnpfundnote und fragte, ob ich herausgeben könne.«
»Vor etwa zehn Jahren«, fuhr der Inspector fort »lebten in London verschiedene politische Flüchtlinge aus Spanien unter ihnen ein gewisser Don Fernando Ferrarez mit seiner jungen Frau und einem Kind. Sie waren sehr arm, und die Frau war krank. Anna Rosenburg kam in das Haus, wo die Leute wohnten, und fragte, ob sie etwas zu verkaufen hätten. Don Fernando war nicht da, und seine Frau fasste den Entschluss sich von einem kostbaren spanischen Schal zu trennen der wunderbar bestickt war und zu den letzten Sachen gehört hatte, die Don Fernando ihr vor ihrer Flucht aus Spanien geschenkt hatte. Als Don Fernando heimkehrte, bekam er einen fürchterlichen Wutanfall, als er hörte, dass der Schal verkauft sei, und versuchte vergeblich, ihn zurückzukaufen. Als es ihm wenigstens gelang, die fragliche Frau, die alte Kleidungsstücke gekauft hatte, wiederzufinden, erklärte diese, sie hätte den Schal an eine Frau verkauft, deren Namen sie nicht kenne. Don Fernando war verzweifelt. Zwei Monate später wurde er mitten auf der Straße mit einem Dolch angegriffen und starb später an den Verletzungen. Von dieser Zeit an schien Anna Rosenburg merkwürdigerweise in Geld zu schwimmen. In den folgenden zehn Jahren wurde nicht weniger als achtmal in ihr Haus eingebrochen. Vier der Versuche wurden vereitelt und nichts kam abhanden; bei den übrigen viermal befand sich unter der Beute auch ein bestickter Schal.«
Der Inspector verstummte, und erst einer drängenden Geste Anthonys folgend, fuhr er fort: »Vor einer Woche traf Carmen Ferrarez, die junge Tochter Don Fernandos, aus einem französischen Kloster kommend, hier ein. Ihre erste Handlung bestand darin, Anna Rosenburg in Hampstead aufzusuchen. Angeblich hat sie der alten Frau eine heftige Szene gemacht, und als sie das Haus verließ, wurden ihre Abschiedsworte von einem der Diener mitgehört.
›Sie haben ihn noch!‹, schrie sie. ›Die ganzen Jahre hindurch sind Sie durch ihn reich geworden aber eines verspreche ich Ihnen feierlich: Letzten Endes wird er Ihnen Unglück bringen. Sie haben kein moralisches Recht auf ihn, und der Tag wird kommen, an dem Sie sich wünschen, Sie hätten den Schal der tausend Blüten nie gesehen.‹
Drei Tage später verschwand Carmen Ferrarez auf mysteriöse Weise aus dem Hotel, in dem sie wohnte. In ihrem Zimmer wurde ein Zettel mit einem Namen und einer Adresse gefunden – der Name lautete Conrad Fleckman. Ferner fand man eine Notiz von einem Mann, der behauptete, mit gebrauchter Kleidung zu handeln, und anfragte, ob sie die Absicht hätte, einen bestickten Schal zu verkaufen, von dem er annahm, dass sie ihn besaß. Die auf der Notiz angegebene Adresse war falsch.
Es ist klar, dass der Schal den Mittelpunkt dieser ganzen mysteriösen Geschichte bildet. Gestern Morgen erschien Conrad Fleckman nun bei Anna Rosenburg. Sie schloss sich mit ihm für gut eine Stunde ein, und als er sie verließ, musste sie sich zu Bett legen, so blass und erschüttert war sie durch die Unterhaltung. Sie ordnete jedoch noch an, dass Fleckman jederzeit vorgelassen würde, wenn er sich meldete. Gestern Abend stand Anna Rosenburg auf und verließ gegen neun Uhr ihre Wohnung; seitdem ist sie nicht zurückgekehrt. Heute Morgen wurde sie in dem Haus, in dem dieser Conrad Fleckman wohnt, erstochen aufgefunden. Neben ihr auf dem Fußboden lag – was glauben Sie wohl?«
»Der Schal?«, keuchte Anthony. »Der Schal der tausend Blüten.«
»Etwas viel Entsetzlicheres. Etwas, das die ganze mysteriöse Geschichte mit dem Schal erklärt und seinen geheimen Wert deutlich macht… Entschuldigen Sie, aber ich glaube, das ist der Chef…«
Tatsächlich hatte es draußen geläutet. Anthony zügelte seine Ungeduld, so gut es ihm möglich war, und wartete auf die Rückkehr des Inspectors. Soweit es seine eigene Lage betraf, war er jetzt erleichtert. Sobald man ihm die Fingerabdrücke abgenommen hätte, würde man den Irrtum feststellen.
Und dann würde vielleicht Carmen anrufen…
Der Schal der tausend Blüten! Was für eine seltsame Geschichte – genau die, die einen angemessenen Hintergrund für die atemberaubende dunkle Schönheit des Mädchens abgeben würde.
Carmen Ferrarez…
Er riss sich aus seinen Fantastereien. Wie lange dieser Inspector nur brauchte. Er stand auf und riss die Tür auf. In der Wohnung war es merkwürdig still. Waren sie etwa schon gegangen? Doch bestimmt nicht, ohne sich von ihm zu verabschieden.
Er schlenderte in das nächste Zimmer. Es war leer – und das Wohnzimmer war ebenfalls leer. Seltsam leer! Irgendwie wirkte alles kahl und wüst. Du lieber Himmel! Seine Emaillensammlung – das Silber!
Wie von Sinnen rannte er durch die Wohnung. Überall das Gleiche. Alles war ausgeplündert. Jedes Stück von Wert war verschwunden – und Anthony hatte beim Sammeln einen sehr guten Geschmack bewiesen.
Mit einem Aufstöhnen taumelte Anthony in einen Sessel und verbarg den Kopf in den Händen. Erst das Läuten der Wohnungsklingel schreckte ihn hoch. Er öffnete die Tür und stand Rogers gegenüber.
»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte Rogers. »Aber die Herren meinten, Sie brauchten vielleicht irgendetwas.«
»Die Herren?«
»Ihre beiden Freunde, Sir. So gut ich konnte, habe ich ihnen beim Verpacken geholfen. Glücklicherweise hatte ich zufällig zwei Kisten im Keller stehen.« Seine Augen blickten zu Boden. »So gut ich konnte, habe ich auch das Stroh zusammengefegt, Sir.«
»Hier oben haben Sie die Sachen eingepackt?«, stöhnte Anthony.
»Ja, Sir. War das denn nicht Ihr eigener Wunsch, Sir? Der große Herr forderte mich dazu auf, und da Sie hinten in dem kleinen Zimmer mit dem anderen Herrn sprachen, wollte ich nicht stören.«
»Nicht ich sprach mit ihm«, sagte Anthony. »Er redete vielmehr mit mir – zum Teufel mit ihm.«
Rogers hüstelte. »Und es tut mir aufrichtig leid, dass es nötig war, Sir«, murmelte er.
»Nötig?«
»Dass Sie sich von Ihren Schätzen trennen mussten, Sir.«
»Was? Ach ja! Ha, ha!« Er lachte verbissen auf. »Wahrscheinlich sind sie mittlerweile schon weggefahren, was? Diese – meine Freunde, meine ich.«
»O ja, Sir, schon vor einiger Zeit. Ich verstaute die Kisten im Taxi, und der große Herr ging noch einmal nach oben, und dann kamen beide heruntergelaufen und fuhren sofort weg… Verzeihung, Sir, aber stimmt irgendetwas nicht, Sir?«
Rogers hatte gut fragen. Das ächzende Stöhnen, das Anthony von sich gab, hätte überall Argwohn erweckt.
»Gar nichts stimmt – vielen Dank, Rogers. Aber ich bin mir völlig im Klaren, dass man Ihnen nicht den geringsten Vorwurf machen kann. Lassen Sie mich allein – ich muss schnell mal telefonieren.«
Fünf Minuten später war zu beobachten, wie Anthony seine Geschichte Inspector Driver, der mit einem Notizblock in der Hand ihm gegenüber saß, ausführlich berichtete. Ein unsympathischer Mann, dieser Inspector Driver, und (wie Anthony überlegte) einem wirklichen Inspector so gar nicht ähnlich! Ziemlich theatralisch, wenn man genau hinsah. Wieder einmal ein schlagender Beweis dafür, dass die Kunst der Natur überlegen ist. Anthony kam zum Ende seines Berichtes. Der Inspector klappte sein Notizbuch zu.
»Und?«, fragte Anthony besorgt.
»Sonnenklar«, sagte der Inspector. »Das war die Patterson Bande. In letzter Zeit hat sie sich verschiedene derart gerissene Sachen geleistet. Großer blonder Mann, kleiner dunkler Mann, und das Mädchen.«
»Das Mädchen?«
»Ja ebenfalls dunkel und verdammt gut aussehend. Tritt gewöhnlich als Lockvogel auf.«
»Ein – ein spanisches Mädchen?«
»Vielleicht bezeichnet sie sich als Spanierin. Geboren wurde sie jedenfalls in Hampstead.«
»Habe ich nicht gesagt, dass Hampstead eine anregende Gegend ist?«, murmelte Anthony.
»Ja, der Fall ist also sonnenklar«, sagte der Inspector und erhob sich, um zu gehen. »Sie hat hier angerufen und Sie mit ihrer Geschichte geleimt – in der Annahme, Sie würden dann auch bestimmt kommen. Dann geht sie zur alten Mutter Gibson, die nichts dagegen hat, ihr Zimmer gegen ein Trinkgeld vorübergehend an Leute zu vermieten, die es schrecklich finden, sich vor aller Augen zu treffen – Liebhaber, verstehen Sie, nichts Kriminelles. Sie fallen prompt darauf herein, die beiden fahren mit Ihnen hierher, und während der eine Ihnen einen Bären aufbindet, verschwindet der andere mit der Beute. Das waren todsicher die Pattersons – genauso arbeiten sie immer.«
»Und meine Sachen?«, fragte Anthony besorgt.
»Wir werden tun, was wir können, Sir. Aber die Pattersons sind ungewöhnlich gerissen.«
»Diesen Eindruck habe ich auch«, sagte Anthony verbittert. Der Inspector verabschiedete sich, und kaum war er gegangen, läutete es bereits wieder an der Tür. Anthony öffnete. Ein kleiner Junge mit einem Paket im Arm stand vor ihm.
»Für Sie, Sir.«
Mit einer gewissen Überraschung nahm Anthony es an sich. Eigentlich rechnete er nicht mit einem Paket irgendwelcher Art. Als er es in das Wohnzimmer gebracht hatte, schnitt er die Schnur auf.
Es war das Likörservice!
»Verdammt!«, sagte Anthony.
Dann erst fiel ihm auf, dass sich am Fuß eines der Gläser eine winzige kunstvolle Rose befand. Seine Gedanken eilten in jenes Zimmer im ersten Stock zurück, das in der Kirk Street lag.
»Ich mag dich gern – ja, ich mag dich. Du wirst immer daran denken, was auch passiert, nicht wahr?«
Das hatte sie gesagt. Was auch passiert… Hatte sie damit etwa gemeint…
Anthony nahm sich wieder nachdrücklich zusammen.
»Das genügt nicht«, ermahnte er sich.
Sein Blick fiel auf die Schreibmaschine, und mit entschlossenem Gesicht setzte er sich hin.
DAS GEHEIMNIS DER ZWEITEN GURKE
Sein Gesicht wirkte wieder verträumt. Der Schal der tausend Blüten. Was hatte man eigentlich auf dem Fußboden neben ihrem leblosen Körper gefunden? Jenes entsetzliche Ding, das das ganze Geheimnis erklärte?
Nichts, natürlich, da es sich nur um eine erfundene Geschichte gehandelt hatte, die seine Aufmerksamkeit fesseln sollte, und der Erzähler hatte nur jenen alten Trick aus Tausendundeiner Nacht angewandt: Die Geschichte zu unterbrechen, wenn sie am spannendsten war. Aber war es denn so unmöglich, dass tatsächlich irgendetwas Entsetzliches existierte, was das ganze Geheimnis erklärte? Dass es immer noch existierte? Vielleicht, wenn man sich gründlich damit beschäftigte?
Anthony zog den Bogen aus der Schreibmaschine und ersetzte ihn durch einen neuen. Dann tippte er die Überschrift:
DAS GEHEIMNIS DES SPANISCHEN SCHALS
Schweigend schaute er sie eine Weile an.
Dann begann er, rasend schnell auf die Maschine einzuhämmern…