Jane sucht Arbeit

 

Jane Cleveland raschelte mit der Zeitung und stieß einen tiefen Seufzer aus, der aus dem Innersten ihrer Seele zu steigen schien. Angewidert betrachtete sie die marmorne Tischplatte vor sich, auf der sich ein Teller mit einer Toastscheibe, garniert mit einem verlorenen Ei, sowie ein Kännchen Tee befanden. Nicht etwa, weil sie keinen Hunger hatte. Das war keineswegs der Fall, Jane hatte einen Bärenhunger. Sie hätte in diesem Augenblick gut und gern ein riesengroßes Steak mit Bratkartoffeln und einer Portion Butterbohnen vertilgen und dazu ein etwas aufregenderes Getränk als den faden Tee trinken können.

Aber junge Frauen, in deren Kasse totale Ebbe herrscht, können nicht wählerisch sein. Jane durfte sich schon glücklich schätzen, dass sie in der Lage war, ein verlorenes Ei und ein Kännchen Tee zu bestellen. Morgen würde sie sich vermutlich nicht einmal mehr das leisten können, es sei denn…

Sie wandte sich wieder dem Anzeigenteil im Daily Leader zu. Um es klar und deutlich zu sagen, Jane war arbeitslos, und ihre Lage wurde allmählich brenzlig. Die Wirtin ihrer schäbigen Pension hatte sie bereits mehrmals mit schrägen Blicken gemustert.

»Und dabei«, sagte Jane zu sich selbst, wobei sie, wie es ihre Gewohnheit war, trotzig das Kinn hob, »und dabei bin ich intelligent, sehe gut aus und habe eine anständige Erziehung genossen. Was wollen die Leute eigentlich noch mehr?«

Nach dem Daily Leader zu schließen, wollten die Leute Stenotypistinnen mit reichlicher Berufserfahrung, Geschäftsführerinnen mit etwas Eigenkapital, Interessentinnen an lukrativen Hühnerzuchtbetrieben (auch hier war ein bisschen Eigenkapital erforderlich) sowie unzählige Köchinnen, Zimmermädchen und Putzfrauen – insbesondere Putzfrauen.

»Es würde mir ja gar nichts ausmachen, mich als Putzfrau zu verdingen«, sagte Jane zu sich, »aber selbst hier würde man mich nicht ohne Berufserfahrung nehmen. Wahrscheinlich könnte ich irgendwo eine Stelle als Hausmädchen finden, aber Hausmädchen zahlt man nun mal kein nennenswertes Gehalt.«

Sie seufzte abermals tief auf, legte die Zeitung vor sich hin und machte sich mit dem gesunden Appetit der Jugend über das verlorene Ei her.

Als sie den letzten Bissen verschlungen hatte, trank sie ihren Tee und blätterte dabei die Zeitung durch bis zu den Kleinanzeigen. Das war immer ihre letzte Hoffnung.

Hätte sie bloß zweitausend Pfund besessen, so wäre alles kinderleicht. Es gab da mindestens sieben einmalige Anlagemöglichkeiten, die alle nicht weniger als dreitausend Pfund im Jahr abwarfen. Jane schnitt eine Grimasse.

»Wenn ich zweitausend Pfund hätte«, murmelte sie, »würde ich mich bestimmt nicht so leicht davon trennen.«

Sie ließ ihre Augen rasch bis zum Ende der Spalte gleiten und dann mit der Gewandtheit langer Übung wieder daran emporwandern.

Da war die Dame, die so wunderbar hohe Preise für abgelegte Kleidung bezahlte, wobei sie zur Besichtigung von »Damengarderobe« sogar zu einem nachhause kam. Da war der Herr, der alles kaufte, aber sich vorzugsweise für Zähne interessierte. Da waren die Damen »von Stand«, die unbedingt verreisen mussten und daher ihre Pelzmäntel zu geradezu spottbilligen Preisen abgeben wollten. Da waren der verarmte Geistliche, die schwer arbeitende Witwe, der kriegsversehrte Offizier, die alle unbedingt Beträge zwischen fünfzig und zweihundert Pfund benötigten. Und dann hielt Jane abrupt inne. Sie stellte ihre Teetasse hin und las die Annonce ein zweites Mal.

»Es ist natürlich ein Haken dabei«, murmelte sie. »Hinter dieser Art von Angeboten steckt immer ein Haken. Ich muss vorsichtig sein. Aber trotzdem…«

Die Anzeige, die Jane Cleveland so interessierte, lautete folgendermaßen:

 

»Wenn Sie – junge Dame, Alter zwischen fünfundzwanzig und dreißig dunkelblaue Augen, hellblonde Haare, schwarze Augenbrauen und Wimpern, gerade Nase, schlanke Figur, Größe ein Meter achtundsechzig mit Schauspieltalent und französischen Sprachkenntnissen – sich heute zwischen 17 und 18 Uhr bei der Adresse Endersleigh Street 7 melden, haben wir ein interessantes Angebot für Sie.«

 

»›Die Unschuld vom Lande‹ oder ›Wie man auf die schiefe Bahn gerät‹«, spöttelte Jane halblaut. »Auf jeden Fall ist Vorsicht geboten. Aber eigentlich werden für so was zu viele besondere Eigenschaften verlangt. Ob vielleicht… gehen wir die Bedingungen noch einmal durch.«

Sie fing von vorne an.

»Alter fünfundzwanzig bis dreißig – ich bin sechsundzwanzig. Augen dunkelblau – stimmt. Haare hellblond, Augenbrauen und Wimpern schwarz – stimmt alles. Gerade Nase? Na ja – ziemlich gerade, jedenfalls keine Haken- und keine Himmelfahrtsnase. Und eine schlanke Figur hab ich – selbst für heutzutage. Groß bin ich zwar nur ein Meter siebenundsechzig – aber ich könnte ja Schuhe mit hohen Absätzen tragen. Schauspieltalent hab ich auch, nicht überwältigend vielleicht, aber ich kann gut anderer Leute Stimmen imitieren, und Französisch spreche ich wie ein Engel oder eine geborene Französin. Kurz und gut, ich bin genau die Richtige. Die müssten vor Freude schier in die Luft springen, wenn ich mich dort melde. Also los, Jane, auf in den Kampf.«

Entschlossen riss Jane die Anzeige aus der Zeitung und steckte sie in ihre Handtasche. Dann rief sie mit neu erwachter Energie in der Stimme nach ihrer Rechnung.

Um zehn Minuten vor fünf war Jane bereits in der Gegend der Endersleigh Street, um sich ein wenig umzusehen. Die Endersleigh Street selbst ist eine kleine, zwischen zwei größere Straßen eingezwängte Nebenstraße nicht weit vom Oxford Circus entfernt. Die graubraunen Häuserfronten wirkten eintönig, aber respektabel.

Nummer 7 schien sich durch nichts von den Nachbarhäusern zu unterscheiden. Es bestand ebenfalls ausschließlich aus Büroetagen. Doch während Jane an der Fassade emporblickte, dämmerte es ihr zum ersten Mal, dass sie nicht das einzige blauäugige, blondhaarige, mit einer geraden Nase ausgestattete, schlanke Mädchen zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahren war. In London wimmelte es offensichtlich von derartigen weiblichen Wesen, und mindestens vierzig bis fünfzig davon hatten sich vor der Endersleigh Street 7 versammelt.

»Die Konkurrenz«, seufzte Jane. »Ich reihe mich am besten schleunigst in die Warteschlange ein.«

Sie tat es genau in dem Moment, als drei weitere Mädchen um die Straßenecke bogen. Hinter ihnen tauchten noch andere auf. Jane vertrieb sich die Zeit, indem sie ihre unmittelbaren Nachbarinnen genau unter die Lupe nahm. Bei allen entdeckte sie glücklicherweise etwas, das nicht stimmte – blonde statt dunkle Wimpern; Augen, die mehr grau als blau waren; blonde Haare, die ihre Farbe der Kunst eines Friseurs und nicht der Natur verdankten, interessante Nasenformen und Figuren, die man nur mit größter Nachsicht als schlank bezeichnen konnte. Jane fasste wieder Mut.

»Ich glaube, ich habe geradeso gut eine Chance wie alle anderen hier«, murmelte sie vor sich hin. »Bin gespannt, um was es sich bei der Sache dreht. Ein Statistinnenjob hoffentlich.«

Die Warteschlange rückte langsam aber stetig voran. Nach einer Weile setzte, aus dem Haus kommend, ein zweiter Strom von Mädchen ein. Einige von ihnen warfen verächtlich die Köpfe zurück, andere grinsten spöttisch.

»Abgelehnt«, frohlockte Jane. »Ich hoffe zu Gott, es ist noch nicht alles besetzt, bis ich drinnen bin.«

Und die Schlange rückte immer noch vorwärts. Ängstliche Blicke senkten sich auf winzige Taschenspiegel, Nasen wurden frisch gepudert, Lippenstifte gezückt.

Ich wünschte, ich hätte einen fescheren Hut, dachte Jane betrübt.

Endlich war sie an der Reihe. Im Hausflur befand sich auf der einen Seite eine Glastür mit der Aufschrift »Messrs. Cuthbertsons«. Durch diese Tür wurden die Bewerberinnen einzeln eingelassen. Nun kam Jane dran. Sie holte tief Luft und ging hinein.

Sie gelangte in ein Vorzimmer, das offensichtlich für das Büropersonal bestimmt war. An seinem Ende war eine weitere Glastür. Jane wurde angewiesen, durch diese Tür zu gehen. Sie tat es und sah sich nun in einem wesentlich kleineren Raum. Darin stand ein riesiger Schreibtisch, und hinter diesem saß ein Mann mittleren Alters mit scharfen Augen und einem dichten, ziemlich fremdländisch wirkenden Schnurrbart. Sein Blick glitt über Jane hinweg, dann deutete er auf eine Tür zur Linken.

»Bitte, warten Sie dort drinnen«, sagte er knapp.

Jane gehorchte. In dem Raum, den sie nun betrat, waren schon mehrere Personen. In steifer Haltung saßen dort fünf Mädchen, die sich alle untereinander mit bösen Blicken maßen. Es war Jane klar, dass man sie unter die aussichtsreichsten Kandidatinnen eingereiht hatte, und sie schöpfte neue Hoffnung. Nichtsdestoweniger musste sie zugeben, dass diese fünf Mädchen hier den in der Annonce geforderten Bedingungen ebenso entsprachen wie sie selbst.

Die Zeit verging. Durch das Büro nebenan strömten offenbar weitere Scharen von Mädchen. Die meisten wurden durch eine andere Tür, die zum Korridor ging, wieder nach draußen geschleust, aber hin und wieder gesellte sich ein Neuankömmling zur Gruppe der Auserwählten. Um halb sieben waren schließlich vierzehn junge Damen in dem Nebenzimmer versammelt.

Jane hörte Stimmengemurmel aus dem Büro, und kurz darauf trat der ausländisch aussehende Herr, den sie im Geist wegen seines martialischen Schnurrbarts den »Oberst« getauft hatte, in die Tür.

»Meine Damen, ich würde mich nun gern einzeln mit Ihnen unterhalten«, sagte er. »In der Reihenfolge, in der Sie gekommen sind, bitte.«

Jane war demnach die Sechste auf der Liste. Zwanzig Minuten verstrichen, ehe sie hereingerufen wurde. Der »Oberst« stand aufrecht im Zimmer, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und stellte ihr rasch hintereinander einige Fragen. Er prüfte ihre Französischkenntnisse und maß schließlich ihre Größe.

»Es wäre möglich, Mademoiselle«, sagte er dann auf Französisch, »dass Sie den Anforderungen entsprechen. Ich weiß es noch nicht. Aber es wäre möglich.«

»Um was für einen Posten handelt es sich denn, wenn ich fragen darf«, erkundigte sich Jane ohne Umschweife.

Er zuckte mit den Achseln.

»Das kann ich Ihnen noch nicht sagen. Wenn die Wahl auf Sie fällt – dann werden Sie es erfahren.«

»Das scheint mir alles sehr geheimnisvoll«, wandte Jane ein. »Ich kann unmöglich eine Tätigkeit annehmen, ohne genau darüber Bescheid zu wissen. Darf ich fragen, ob es etwas mit dem Film zu tun hat?«

»Dem Film? Nein, absolut nicht.«

»Ach!«, stieß Jane verblüfft hervor.

Der »Oberst« musterte sie aufmerksam.

»Sie besitzen Intelligenz, ja? Und Diskretion?«

»Ich besitze jede Menge Intelligenz und Diskretion«, entgegnete Jane ruhig. »Wie steht’s mit der Bezahlung?«

»Die Bezahlung wird zweitausend Pfund betragen – für eine Arbeitsdauer von zwei Wochen.«

»Oh!«, hauchte Jane.

Die Höhe der genannten Summe überwältigte sie derart, dass sie im Augenblick kein weiteres Wort herausbrachte.

»Ich habe noch eine weitere junge Dame in die engere Wahl gezogen«, fuhr der Oberst fort. »Sie sind beide gleich gut geeignet. Vielleicht gibt es unter den verbleibenden Damen noch andere, die infrage kommen. Ich werde Ihnen nun weitere Anweisungen geben. Sie kennen das Hotel ›Harridge’s‹?«

Jane rang nach Luft. Wer in England kannte nicht das »Harridge’s«, jenes berühmte Haus in einer bescheidenen Nebenstraße von Mayfair, wo regelmäßig Mitglieder regierender Häuser und andere Berühmtheiten abzusteigen pflegten. Erst heute Morgen hatte Jane von der Ankunft der Großherzogin Pauline von Ostrowa gelesen. Sie war nach England gekommen, um einen großen Wohltätigkeitsbasar zur Unterstützung russischer Flüchtlinge zu eröffnen, und sie wohnte natürlich im »Harridge’s«.

»Ja«, antwortete Jane auf die Frage des Obersten.

»Schön. Begeben Sie sich dorthin. Fragen Sie nach Graf Streptitsch. Schicken Sie Ihre Visitenkarte hinauf – Sie haben doch eine Visitenkarte?«

Jane holte eine aus der Tasche. Der Oberst nahm sie und kritzelte in eine Ecke davon ein winziges P. Dann gab er Jane die Karte zurück.

»Das garantiert Ihnen, dass der Graf Sie auch bestimmt empfängt. Er wird daraus ersehen, dass ich Sie geschickt habe. Die endgültige Entscheidung liegt bei ihm – und bei einer anderen Person. Sollte er Sie für geeignet halten, wird er Ihnen erklären, um was es sich handelt, und Sie können dann sein Angebot annehmen oder ablehnen. Sind Sie damit einverstanden?«

»Vollkommen«, erwiderte Jane.

Vorläufig wenigstens, dachte sie, als sie auf die Straße trat. Ich kann keinen Haken an der Geschichte entdecken. Und doch muss es einen geben. Für nichts kriegt man nichts. Es muss sich um irgendeine illegale Sache handeln! Etwas anderes bleibt gar nicht übrig.

Sie wurde ganz vergnügt bei dem Gedanken. Die Idee einer illegalen Beschäftigung schien ihr nicht so übel, vorausgesetzt natürlich, diese hielt sich im Rahmen. Die Zeitungen waren in letzter Zeit voll von den »Heldentaten« verschiedener »Gangsterbräute« gewesen, und Jane hatte sich schon ernstlich überlegt, ob sie sich, sollte alles andere schief gehen, nicht auch auf dieses Metier verlegen sollte.

Mit leichtem Schaudern trat sie durch das geheiligte Portal des »Harridge’s«. Mehr als je zuvor wünschte sie, sie hätte einen neuen Hut.

Aber sie marschierte tapfer zur Rezeption, holte ihre Karte heraus und fragte ohne jedes Zaudern in der Stimme nach Graf Streptitsch. Ihr schien, als sehe der Portier sie recht neugierig an, doch er nahm ihre Karte und gab sie einem kleinen Hotelpagen, wobei er diesem leise einige Anweisungen erteilte, die Jane nicht verstand. Nach einer Weile kehrte der Page zurück und forderte Jane auf, ihm zu folgen. Sie fuhren mit dem Lift nach oben und gingen einen Korridor entlang bis zu einer breiten Doppeltür. Der Page klopfte an. Einen Augenblick später fand sich Jane in einem großen Raum einem hochgewachsenen, schlanken Herrn mit blondem Bart gegenüber, der lässig ihre Visitenkarte zwischen langen weißen Fingern hielt.

»Miss Jane Cleveland«, las er langsam. »Ich bin Graf Streptitsch.«

Seine Lippen öffneten sich zu etwas, das wohl ein Lächeln darstellen sollte, und entblößten zwei Reihen weißer ebenmäßiger Zähne. Das Resultat erweckte jedoch keineswegs den Eindruck von Heiterkeit.

»Wenn ich recht verstehe, haben Sie sich auf unsere Annonce hin beworben«, fuhr der Graf fort. »Unser guter Oberst Kranin hat Sie dann zu uns geschickt.«

Er ist also doch ein Oberst, dachte Jane, erfreut über ihre Menschenkenntnis, doch sie nickte bloß.

»Sie werden es mir nicht übel nehmen, wenn ich Ihnen nun ein paar Fragen stelle?«

Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern unterzog Jane sofort einem Verhör, das demjenigen des Obersten Kranin fast aufs Haar glich. Ihre Antworten schienen ihn zu befriedigen. Er nickte ein- oder zweimal mit dem Kopf.

»Ich möchte Sie nun bitten, Mademoiselle, langsam bis zur Tür und wieder zurück zu gehen.«

Vielleicht wollen die mich als Mannequin, dachte Jane, während sie gehorchte. Aber nein, einem Mannequin würden sie nicht zweitausend Pfund bezahlen. Trotzdem, ich stelle vorläufig lieber noch keine Fragen.

Graf Streptitsch runzelte die Stirn. Er trommelte mit seinen weißen Fingern auf die Tischplatte. Plötzlich erhob er sich, öffnete die Tür zu einem Nebenzimmer und sprach mit jemandem dort drinnen.

Er kehrte zu seinem Platz zurück, und gleich darauf erschien eine kleine ältere Dame aus dem Nebenzimmer, dessen Tür sie hinter sich schloss. Sie war dick und auffallend hässlich, dennoch merkte man ihrem Auftreten an, dass sie eine bedeutende Persönlichkeit war.

»Nun, Anna Michaelowna«, sagte der Graf. »Was halten Sie von ihr?«

Die Dame musterte Jane von oben bis unten, als wäre das Mädchen eine Wachsfigur in einem Panoptikum. Sie machte nicht die geringsten Anstalten, Jane zu begrüßen.

»Sie könnte passen«, meinte sie schließlich. »Eine Ähnlichkeit im buchstäblichen Sinn ist zwar kaum vorhanden. Aber die Figur und die Farben sind sehr gut, besser als bei den anderen. Was meinen Sie, Feodor Alexandrowitsch?«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung, Anna Michaelowna.«

»Spricht sie Französisch?«

»Ihr Französisch ist ausgezeichnet.«

Jane kam sich mehr und mehr wie eine Wachspuppe vor. Keiner dieser beiden merkwürdigen Leute schien auf den Gedanken zu kommen, dass sie ein menschliches Wesen war.

»Aber wird sie auch schweigen können?«, fragte die Dame, indem sie Jane stirnrunzelnd betrachtete.

»Das ist die Prinzessin Poporensky«, wandte sich Graf Streptitsch auf Französisch an Jane. »Sie möchte wissen, ob Sie schweigen können.«

Jane richtete ihre Antwort an die Prinzessin.

»Ehe man mir nicht erklärt, um welche Tätigkeit es sich handelt, kann ich schwerlich irgendetwas versprechen.«

»Es ist richtig, was sie da sagt, die Kleine«, meinte die Dame. »Ich glaube, sie ist intelligent, Feodor Alexandrowitsch intelligenter als die anderen. Sagen Sie mir, Kleine, haben Sie auch Mut?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Jane verwirrt. »Ich hab’s nicht gerade besonders gern, wenn man mir Schmerzen zufügt, aber ich kann’s ertragen.«

»Oh, das habe ich nicht gemeint. Sie haben keine Angst vor Gefahren, nein?«

»Ach so!«, rief Jane. »Gefahren! Nein, das nicht. Gefahren, die liebe ich.«

»Und Sie sind arm? Würden Sie gern viel Geld verdienen?«

»Und ob«, rief Jane schon beinahe enthusiastisch.

Graf Streptitsch und Prinzessin Poporensky wechselten einen Blick. Dann nickten sie beide gleichzeitig.

»Soll ich erklären, Anna Michaelowna?«, fragte Streptitsch.

Die Prinzessin schüttelte den Kopf.

»Ihre Hoheit möchte das selbst tun.«

»Das ist unnötig – und unklug.«

»Dennoch, so lautet ihr Befehl. Ich soll das Mädchen zu ihr bringen, sobald Sie mit Ihrem Interview fertig sind.«

Streptitsch zuckte die Achseln. Er war sichtlich nicht erbaut darüber. Aber ebenso sichtlich verspürte er keine Neigung, sich dem Befehl zu widersetzen. Er wandte sich zu Jane.

»Die Prinzessin Poporensky wird Sie nun Ihrer Hoheit, der Großherzogin Pauline vorstellen. Haben Sie keine Angst.«

Jane hatte absolut keine Angst. Sie war von dem Gedanken entzückt, einer echten, lebendigen Großherzogin vorgestellt zu werden. Ihr Wesen war nicht von sozialistischen Ideen angekränkelt. Für den Augenblick machte sie sich nicht einmal mehr Sorgen wegen ihres Hutes.

Prinzessin Poporensky watschelte Jane gewichtigen Schritts voraus, wobei sie es trotz widriger Umstände fertigbrachte, ihrem Gang eine gewisse Würde zu verleihen. Sie durchschritten den Nebenraum, eine Art Vorzimmer, und die Prinzessin klopfte an eine Tür in der gegenüberliegenden Wand. Eine Stimme von drinnen antwortete. Die Prinzessin öffnete die Tür und trat über die Schwelle, dicht gefolgt von Jane.

»Madame«, begann sie in feierlichem Ton, »gestatten Sie, dass ich Ihnen Miss Jane Cleveland vorstelle.«

Eine junge Frau, die in einem tiefen Sessel im Hintergrund des Raums gesessen hatte, sprang auf und eilte auf die beiden zu. Ein oder zwei Minuten lang starrte sie Jane wie gebannt an, dann brach sie in fröhliches Lachen aus.

»Aber das ist ja fantastisch, Anna«, rief sie. »Ich hätte nie geglaubt, dass es so gut funktionieren würde. Kommen Sie, wir wollen uns Seite an Seite betrachten.«

Sie ergriff Jane beim Arm und zog sie mit sich durchs Zimmer bis zu einem mannshohen Spiegel an der Wand.

»Sehen Sie?«, rief sie entzückt. »Das perfekte Ebenbild.«

Schon beim ersten Anblick der Großherzogin Pauline hatte Jane angefangen zu begreifen. Die Großherzogin war eine junge Frau, vielleicht ein oder zwei Jahre älter als Jane. Sie hatte Haare vom gleichen Blondton wie Jane und die gleiche schlanke Figur. Sie war lediglich eine Spur größer. Jetzt, da sie beide nebeneinander standen, war die Ähnlichkeit wirklich frappant.

Die Großherzogin klatschte in die Hände. Sie schien eine außergewöhnlich heitere junge Frau zu sein.

»Es könnte nicht besser sein«, rief sie aus. »Sie müssen Feodor Alexandrowitsch in meinem Namen beglückwünschen, Anna. Er hat wirklich großartige Arbeit geleistet.«

»Bisher, Madame«, entgegnete die Prinzessin mit gedämpfter Stimme, »weiß diese junge Frau noch nicht, was von ihr verlangt wird.«

»Stimmt.« Die Großherzogin beruhigte sich ein wenig. »Das habe ich ganz vergessen. Nun, ich werde sie aufklären. Lassen Sie uns allein, Anna Michaelowna.«

»Aber, Madame – «

»Lassen Sie uns allein, habe ich gesagt.«

Die Großherzogin stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf. Mit merklichem Widerstreben verließ Anna Michaelowna den Raum. Die Großherzogin setzte sich und bedeutete Jane, das Gleiche zu tun.

»Sie sind schon lästig, diese alten Frauen«, bemerkte Pauline. »Aber sie gehören nun einmal dazu. Anna Michaelowna ist noch besser als die meisten anderen. Nun, Miss ach ja, Miss Jane Cleveland. Der Name gefällt mir. Sie übrigens auch. Sie sind sympathisch. Ich merke sofort, ob Menschen sympathisch sind.«

»Das ist sehr klug von Ihnen, Madame.« Jane tat zum ersten Mal den Mund auf.

»Ich bin klug«, gab Pauline ruhig zurück. »So, und nun will ich Ihnen alles erklären. Zwar gibt es da nicht viel zu erklären. Sie kennen die Geschichte von Ostrowa. Praktisch meine ganze Familie ist tot – von den Kommunisten ausgerottet worden. Ich bin wahrscheinlich die Letzte meiner Linie. Und ich bin eine Frau, wir haben keine weibliche Erbfolge. Man möchte daher meinen, sie würden mich in Ruhe lassen. Aber nein, wohin ich gehe, werden Attentatsversuche gegen mich unternommen. Absurd, nicht wahr? Diesen Leuten geht eben jeder Sinn für das rechte Maß ab.«

»Ich verstehe«, murmelte Jane in dem unbestimmten Gefühl, es werde eine Antwort von ihr erwartet.

»Die meiste Zeit lebe ich in strenger Zurückgezogenheit – wo ich Vorkehrungen für meinen Schutz treffen kann. Aber hin und wieder muss ich an öffentlichen Feierlichkeiten teilnehmen. Während meines Aufenthalts hier zum Beispiel muss ich mehrere halböffentliche Veranstaltungen besuchen. Und ebenso in Paris, auf meinem Rückweg. Ich habe nämlich einen Besitz in Ungarn, wissen Sie. Man kann dort wunderbar Sport treiben.«

»Tatsächlich?«, sagte Jane.

»Ja, fabelhaft. Ich liebe Sport. Außerdem – eigentlich dürfte ich Ihnen das gar nicht erzählen, aber ich tu’s doch, weil Sie so ein sympathisches Gesicht haben –, also, es werden dort gewisse Vorbereitungen getroffen in aller Stille, verstehen Sie. Kurz gesagt, es ist sehr wichtig, dass ich während der nächsten zwei Wochen nicht umgebracht werde.«

»Aber bestimmt ist die Polizei…«, begann Jane.

»Die Polizei? O ja, die ist sicherlich ausgezeichnet. Und wir selbst haben auch unsere Spione. Es ist gut möglich, dass ich vor einem Attentatsversuch gewarnt werde. Aber vielleicht eben auch nicht.«

Sie zuckte die Achseln.

»Langsam verstehe ich«, sagte Jane bedächtig. »Sie wünschen, dass ich Ihren Platz einnehme?«

»Nur bei bestimmten Gelegenheiten«, sprudelte die Großherzogin hervor. »Sie müssten sich irgendwo zu meiner Verfügung halten, verstehen Sie? Ich werde Sie während der nächsten vierzehn Tage vielleicht zweimal, dreimal oder auch viermal brauchen. Das wird jedes Mal anlässlich irgendeiner öffentlichen Veranstaltung sein. Bei intimen Geselligkeiten jeder Art können Sie mich natürlich nicht vertreten.«

»Natürlich nicht«, bestätigte Jane.

»Sie eignen sich wirklich ausgezeichnet für diese Aufgabe. Es war ein kluger Einfall von Feodor Alexandrowitsch, diese Annonce, finden Sie nicht?«

»Und angenommen, ich werde ermordet?«

Die Großherzogin hob die Schultern.

»Dieses Risiko besteht natürlich, aber laut unseren eigenen geheimen Informationen möchte man mich entführen, nicht sofort umbringen. Aber ich will ganz ehrlich sein – es besteht natürlich immer die Möglichkeit, dass ein Bombenattentat auf mich geplant ist.«

»Aha«, murmelte Jane in einem Versuch, die unbeschwerte Art von Pauline zu imitieren. Sie hätte zu gerne die Frage der Bezahlung zur Sprache gebracht, wusste jedoch nicht so recht, wie sie das Thema anschneiden sollte. Aber Pauline enthob sie ihrer Sorge.

»Wir werden Sie natürlich gut dafür bezahlen«, bemerkte sie leichthin. »Ich kann mich momentan nicht genau erinnern, wie viel Feodor Alexandrowitsch vorgeschlagen hat. Wir sprachen von Francs oder Kronen, glaube ich.«

»Oberst Kranin«, sagte Jane, »sagte etwas von zweitausend Pfund.«

»Genau«, entgegnete Pauline lebhaft. »Jetzt erinnere ich mich wieder. Es ist hoffentlich genug, ja? Oder würden Sie lieber dreitausend haben?«

»Tja«, meinte Jane, »wenn es Ihnen nichts ausmacht, so hätte ich lieber dreitausend.«

»Sie verstehen sich auf geschäftliche Dinge, wie ich sehe«, sagte die Großherzogin freundlich. »Ich wünschte, ich täte es auch. Aber ich habe überhaupt keinen Begriff von Geld. Was ich mir wünsche, muss ich haben, und damit basta.«

Jane schien das eine schlichte, aber bewundernswerte Lebenseinstellung.

»Und dann besteht natürlich, wie Sie sagen, eine gewisse Gefahr«, fuhr Pauline nachdenklich fort. »Obwohl Sie mir nicht so aussehen, als ob Sie die Gefahr fürchteten. Ich selbst tue es auch nicht. Ich hoffe, Sie denken nicht, es geschehe aus Feigheit, dass ich Sie meine Rolle spielen lassen will? Sehen Sie, es ist für Ostrowa von allergrößter Wichtigkeit, dass ich heirate und mindestens zwei Söhne bekomme. Danach kommt es nicht mehr darauf an, was mit mir geschieht.«

»Ich verstehe«, sagte Jane.

»Und Sie sind einverstanden?«

»Ja«, erklärte Jane fest, »ich bin einverstanden.«

Pauline klatschte mehrmals heftig in die Hände. Sofort erschien Prinzessin Poporensky im Zimmer.

»Ich habe ihr alles erzählt, Anna«, verkündete die Großherzogin. »Sie wird sich nach unseren Wünschen richten, und sie soll dreitausend Pfund bekommen. Sagen Sie Feodor, er soll es sich notieren. Sie ist mir wirklich sehr ähnlich, meinen Sie nicht? Allerdings sieht sie besser aus, finde ich.«

Die Prinzessin watschelte aus dem Zimmer und kehrte mit Graf Streptitsch zurück.

»Wir haben alles geregelt, Feodor Alexandrowitsch«, sagte die Großherzogin.

Er verbeugte sich.

»Wird sie ihre Rolle aber auch spielen können?«, fragte er mit einem zweifelnden Blick auf Jane.

»Ich werd’s Ihnen zeigen«, sagte Jane plötzlich. »Sie gestatten, Madame?«, wandte sie sich zur Großherzogin.

Diese nickte erfreut.

Jane erhob sich. »Aber das ist ja fantastisch, Anna«, rief sie. »Ich hätte nie geglaubt, dass es so gut funktionieren würde. Kommen Sie, wir wollen uns Seite an Seite betrachten.«

Und wie Pauline es schon getan hatte, zog sie ihrerseits die Großherzogin vor den Spiegel.

»Sehen Sie? Das perfekte Ebenbild!«

Es war in Wort, Bewegung und Mimik eine ausgezeichnete Imitation von Paulines Begrüßung, und die Prinzessin nickte beifällig.

»Das war gut«, meinte Anna. »Die meisten Menschen würden sich davon täuschen lassen.«

»Sie sind wirklich sehr geschickt«, lobte Pauline. »Ich könnte niemals einen anderen Menschen nachmachen, und wenn es um mein Leben ginge.«

Jane glaubte ihr aufs Wort. Ihr war bereits aufgefallen, dass Pauline eine sehr egozentrische Persönlichkeit war.

»Anna wird nun alle Einzelheiten mit Ihnen besprechen«, fuhr die Großherzogin fort. »Führen Sie sie in mein Schlafzimmer, Anna, und probieren Sie ihr ein paar von meinen Kleidern an.«

Ein liebenswürdiges Nicken, und Jane war entlassen. Prinzessin Poporensky geleitete sie hinaus.

»Dieses hier wird Ihre Hoheit zur Eröffnung des Basars tragen«, erläuterte die alte Dame, während sie eine gewagte Kreation in Weiß und Schwarz emporhielt. »Das wird in drei Tagen sein. Es könnte sich die Notwendigkeit ergeben, dass Sie sie dort vertreten müssen. Wir wissen es noch nicht, weil wir noch keine Informationen darüber haben.« Auf Annas Geheiß streifte Jane ihre eigenen abgetragenen Kleidungsstücke ab und schlüpfte in das Kleid. Es passte ausgezeichnet. Anna Michaelowna nickte beifällig.

»Es passt genau – nur ein bisschen zu lang, da Sie etwa zwei Zentimeter kleiner sind als Ihre Hoheit.«

»Dem kann man leicht abhelfen«, sagte Jane rasch. »Die Großherzogin trägt Schuhe mit flachen Absätzen, wie ich bemerkt habe. Wenn ich die gleiche Art von Schuhen trage, aber mit hohen Absätzen, stimmt die Länge.«

Anna Michaelowna zeigte ihr die Schuhe, die die Großherzogin gewöhnlich zu dem Kleid trug – Sandaletten aus Eidechsenleder mit gekreuzten Zehenriemen. Jane prägte sich die Form ein, um sich ein möglichst ähnliches Modell zu besorgen, nur mit anderen Absätzen.

»Es wäre ratsam«, fuhr Anna Michaelowna fort, »wenn Sie außerdem ein Kleid kaufen würden, das in Farbe und Material von dem Ihrer Hoheit vollständig absticht. Sollte es sich dann kurzfristig ergeben, dass Sie an ihre Stelle treten müssen, würde der Austausch wahrscheinlich weniger auffallen.«

Jane überlegte einen Moment.

»Wie wär’s mit leuchtend rotem Marocain? Und vielleicht trage ich dazu eine Brille. Das verändert das Aussehen sehr stark.«

Beide Vorschläge fanden Beifall, und man besprach weitere Einzelheiten.

Jane verließ das Hotel mit Banknoten im Wert von hundert Pfund in der Handtasche sowie mit der Anweisung, sich die notwendigen Kleidungsstücke zu besorgen und sich sodann unter dem Namen Miss Montresor aus New York ein Zimmer im Hotel »Blitz« zu nehmen.

Am zweiten Tag nach diesen Ereignissen stattete ihr Graf Streptitsch dort einen Besuch ab.

»Welch eine Verwandlung«, bemerkte er, während er sich verbeugte.

Jane antwortete mit einer spöttischen Verneigung. Ihre neue Garderobe und das Luxusdasein, das sie jetzt führte, machten ihr großen Spaß.

»Das ist ja alles wunderschön«, seufzte sie. »Aber ich fürchte, Ihr Besuch bedeutet, dass ich nunmehr an die Arbeit gehen und mir mein Geld verdienen muss.«

»Das ist richtig. Wir haben Informationen erhalten. Demnach scheint die Möglichkeit zu bestehen, dass man den Versuch unternehmen wird, Ihre Hoheit auf dem Rückweg von dem Wohltätigkeitsbasar zu entführen. Dieser Basar soll, wie Sie wissen, in ›Orion House‹ stattfinden, welches ungefähr zehn Meilen außerhalb von London liegt. Ihre Hoheit wird an dem Basar leider in eigener Person teilnehmen müssen, da die Gräfin von Anchester, die ihn organisiert, sie persönlich kennt. Aber ich habe folgenden Plan ausgearbeitet.«

Jane hörte ihm aufmerksam zu. Sie stellte ein paar Fragen und erklärte schließlich, sie habe die Rolle, die sie spielen sollte, genau verstanden.

Am nächsten Morgen strahlte die Sonne vom wolkenlosen Himmel – das ideale Wetter für eines der großen gesellschaftlichen Ereignisse der Londoner Saison, dem Wohltätigkeitsbasar, der unter Leitung der Gräfin von Anchester zu Gunsten der in England lebenden Flüchtlinge aus Ostrowa in »Orion House« stattfinden sollte.

Mit Rücksicht auf die Unberechenbarkeit des englischen Klimas wurde der Basar selbst in den weitläufigen Salons von »Orion House« abgehalten, das sich seit fünfhundert Jahren im Besitz der Grafen von Anchester befand. Es waren unter anderem verschiedene Privatsammlungen zu besichtigen, und als eine besonders hübsche Idee hatten hundert Damen der Londoner Gesellschaft jeweils eine Perle aus ihren eigenen Kolliers gestiftet, die am folgenden Tag einzeln versteigert werden sollten. Außerdem fanden im Schlosspark zahlreiche Theaterveranstaltungen und andere Vorführungen statt.

Jane in ihrer Rolle als Miss Montresor war frühzeitig zur Stelle. Sie trug ein Kleid aus leuchtend rotem Marocain und dazu ein eng anliegendes rotes Hütchen. Ihre Füße steckten in hochhackigen Sandaletten aus Eidechsenleder. Die Ankunft der Großherzogin Pauline war ein großes Ereignis. Sie wurde zur Rednertribüne geleitet, und ein kleines Mädchen überreichte ihr den obligaten Rosenstrauß. Sie hielt eine kurze, liebenswürdige Ansprache und erklärte sodann den Wohltätigkeitsbasar für eröffnet. Sie wurde von Graf Streptitsch und Prinzessin Poporensky begleitet. Sie trug das Kleid, das Jane schon kannte, weiß mit einem auffallenden schwarzen Muster, und dazu einen kleinen schwarzen Hut, über dessen Krempe üppige weiße Straußenfedern wallten. Ein zarter Spitzenschleier fiel ihr tief in die Stirn. Jane lächelte in sich hinein.

Die Großherzogin machte einen Rundgang durch den Basar, wobei sie vor jedem Stand kurz anhielt, etwas kaufte und ein paar liebenswürdige Worte sprach. Dann traf sie Anstalten, sich zu verabschieden.

Das war der Moment für Janes Auftritt. Sie wandte sich an Prinzessin Poporensky und bat, der Großherzogin vorgestellt zu werden.

»Ach ja!«, rief Pauline mit heller Stimme. »Miss Montresor, ich erinnere mich an den Namen. Eine amerikanische Journalistin, wenn ich mich nicht irre. Sie hat viel für unsere Sache getan. Es wäre mir ein Vergnügen, ihr ein kurzes Interview für ihre Zeitung zu geben. Gibt es hier irgendwo einen Platz, wo wir ungestört sind?«

Sofort wurde der Großherzogin ein kleines Vorzimmer zur Verfügung gestellt, und man schickte Graf Streptitsch aus, um Miss Montresor hereinzuholen. Sobald er seinen Auftrag ausgeführt und sich wieder zurückgezogen hatte, fand mithilfe von Prinzessin Poporensky ein blitzschneller Kleidertausch statt.

Drei Minuten später öffnete sich die Tür, und die Großherzogin erschien, ihren Rosenstrauß dicht vors Gesicht haltend.

Mit einem liebenswürdigen Neigen des Kopfes und ein paar französischen Abschiedsworten an die Gräfin von Anchester rauschte sie hinaus und bestieg ihren wartenden Wagen. Prinzessin Poporensky nahm den Platz neben ihr ein, und der Wagen fuhr davon.

»So«, sagte Jane, »das war’s. Wie es wohl Miss Montresor ergehen mag?«

»Auf sie wird niemand achten. Sie kann unbemerkt hinausschlüpfen.«

»Das stimmt«, gab Jane zu. »Ich habe meine Sache gut gemacht, nicht wahr?«

»Sie haben Ihre Rolle ausgezeichnet gespielt, ja.«

»Warum ist der Graf nicht mit uns gekommen?«

»Er musste dort bleiben, denn jemand muss über die Sicherheit Ihrer Hoheit wachen.«

»Hoffentlich wirft niemand eine Bombe«, meinte Jane besorgt. »He! Wir biegen ja von der Hauptstraße ab. Was soll das?«

Der Wagen raste mit zunehmender Geschwindigkeit eine Nebenstraße hinunter.

Jane fuhr hoch und redete protestierend auf den Chauffeur ein. Dieser lachte bloß und erhöhte das Tempo. Jane ließ sich wieder in den Sitz zurücksinken.

»Ihre Spione hatten Recht«, lachte sie. »Da haben wir den Salat. Ich denke, je länger ich meine Rolle spiele, desto besser ist es für die Sicherheit der Großherzogin. Auf alle Fälle müssen wir genug Zeit gewinnen, dass sie heil nach London kommt.«

Die drohende Gefahr ließ Janes Herz höher schlagen. Der Gedanke an ein Bombenattentat hatte ihr missfallen, doch diese Art Abenteuer appellierte an ihre sportlichen Instinkte.

Plötzlich hielt der Wagen mit quietschenden Reifen. Ein Mann sprang auf das Trittbrett. Er hielt einen Revolver in der Hand.

»Hände hoch«, zischte er.

Prinzessin Poporenskys Hände fuhren blitzschnell in die Höhe, Jane hingegen blickte den Mann bloß verächtlich an und ließ die Hände im Schoß ruhen.

»Fragen Sie ihn, was dieses empörende Benehmen zu bedeuten hat«, sagte sie auf Französisch zu ihrer Begleiterin.

Ehe diese jedoch dazu kam, zu antworten, fiel ihr der Mann ins Wort und überschüttete die beiden Frauen mit einem Redeschwall in irgendeiner fremden Sprache.

Jane, die kein Wort verstand, zuckte bloß die Achseln und schwieg. Der Chauffeur war unterdessen von seinem Sitz geklettert und neben den anderen Mann getreten.

»Würde sich die hochedle Dame bitte herausbemühen?«, fragte er grinsend.

Den Blumenstrauß wieder dicht vor ihr Gesicht haltend, stieg Jane aus dem Wagen. Prinzessin Poporensky folgte ihr.

»Würde die hochedle Dame nun bitte hier langkommen?« Jane nahm keine Notiz von dem unverschämten Ton des Mannes, sondern ging aus freien Stücken auf ein niedriges, verwinkeltes Haus zu, das etwa hundert Meter entfernt von der Stelle, wo der Wagen gehalten hatte, stand. Die Straße war eine Sackgasse, die in der Zufahrt zu diesem offensichtlich unbewohnten Gebäude mündete.

Der Mann, der noch immer mit seinem Revolver herumfuchtelte, marschierte dicht hinter den beiden Frauen her. Als sie die Vortreppe hinaufstiegen, drängte er sich an ihnen vorbei und riss links eine Tür auf. Sie führte in ein leeres Zimmer, in das man lediglich einen Tisch und zwei Stühle gestellt hatte.

Jane trat ein und setzte sich. Anna Michaelowna folgte ihr. Der Mann schlug die Tür zu und drehte den Schlüssel im Schloss.

Jane ging zum Fenster und blickte hinaus.

»Ich könnte natürlich hinausspringen«, meinte sie, »aber ich würde nicht weit kommen. Nein, vorläufig müssen wir wohl hier bleiben und uns mit unserer Lage abfinden. Ob die uns wohl etwas zu essen bringen werden?«

Etwa eine halbe Stunde später wurde ihre Frage beantwortet.

Eine große Terrine dampfender Suppe wurde hereingebracht und vor sie auf den Tisch gestellt. Dazu gab es zwei Stück trockenes Brot.

»Nicht gerade ein fürstliches Mahl«, bemerkte Jane fröhlich, während die Tür wieder von außen verschlossen wurde. »Wollen Sie anfangen oder soll ich?«

Die Prinzessin Poporensky winkte schon bei dem Gedanken an Essen entsetzt ab.

»Wie könnte ich einen Bissen hinunterbringen? Wer weiß, in welcher Gefahr sich meine Herrin womöglich befindet?«

»Ach, der passiert nichts«, entgegnete Jane trocken. »Ich mache mir eher Sorgen um meine eigene Person. Wissen Sie, diese Leute werden ganz und gar nicht erfreut sein, wenn sie merken, dass sie die Falsche erwischt haben. Ja, sie könnten sogar ausgesprochen unangenehm werden. Nun, ich werde eben so lange wie möglich die hoheitsvolle Großherzogin mimen und, falls sich eine Gelegenheit bietet, schleunigst verschwinden.«

Jane hatte Hunger und aß die Suppe allein auf. Sie hatte einen etwas komischen Beigeschmack, aber sie war heiß und gut gewürzt.

Hinterher fühlte sich Jane schläfrig. Die Prinzessin Poporensky schien lautlos vor sich hin zu weinen. Jane setzte sich möglichst bequem auf dem unbequemen Stuhl zurecht und ließ den Kopf auf die Brust sinken.

Nach wenigen Minuten war sie fest eingeschlafen.

 

Jane schreckte aus ihrem Schlaf hoch. Irgendwie war ihr zu Mute, als hätte sie sehr lange geschlafen. Sie spürte einen unangenehmen, dumpfen Druck im Kopf.

Und dann sah sie plötzlich etwas, das sie ruckartig hellwach werden ließ. Sie hatte das leuchtend rote Kleid an.

Sie richtete sich auf und schaute sich um. Ja, sie saß noch immer in dem Zimmer in dem leeren Haus. Alles war noch genauso wie zu dem Zeitpunkt, als sie eingeschlafen war mit Ausnahme von zwei Tatsachen. Erstens, die Prinzessin Poporensky saß nicht mehr auf dem anderen Stuhl. Und Tatsache Nummer zwei, ihre eigene unerklärliche Verwandlung.

Ich kann das Ganze nicht geträumt haben, dachte Jane, denn hätte ich es geträumt, dann wäre ich nicht hier.

Als sie einen Blick zum Fenster warf, kam ihr ein weiterer bedeutsamer Umstand zu Bewusstsein. Bei ihrer Ankunft hatte strahlende Sonne durchs Fenster geschienen. Jetzt warf das Haus einen langen Schatten auf die sonnenbeschienene Einfahrt.

Das Haus blickt nach Westen, überlegte sie. Als ich einschlief, war es Nachmittag. Also muss es jetzt früh morgens sein. Also war ein Schlafmittel in der Suppe. Also – ach, ich weiß nicht. Das Ganze ist verrückt.

Sie erhob sich und ging zur Tür. Diese war unversperrt. Jane durchsuchte das Haus. Es war still und leer.

Jane drückte die Handflächen gegen ihren schmerzenden Kopf und versuchte nachzudenken. Da fiel ihr Blick auf eine zerrissene Zeitung, die neben der Eingangstür lag. Eine dicke Schlagzeile stach ihr ins Auge.

 

Amerikanische Gangsterbraut in England, las sie. Das Mädchen im roten Kleid. Sensationeller Überfall beim Wohltätigkeitsbasar in »Orion House«

.

Mit wankenden Knien trat Jane in die Sonne hinaus und ließ sich auf den Eingangsstufen nieder. Während sie las, wurden ihre Augen immer größer.

Der Bericht schilderte knapp folgenden Tatbestand: Unmittelbar nach der Abfahrt der Großherzogin Pauline hatten drei Männer und eine junge Frau in einem roten Kleid plötzlich Schusswaffen gezogen und damit die Menge in Schach gehalten. Sie hatten die hundert Perlen an sich genommen und in einem schnellen Sportwagen die Flucht ergriffen. Bisher war noch keine Spur von ihnen gefunden worden. Wie verlautet, habe die junge Frau im roten Kleid zuvor unter dem Namen einer Miss Montresor aus New York im Hotel »Blitz« gewohnt.

»Ich bin erledigt«, stöhnte Jane. »Absolut erledigt. Ich habe ja von Anfang an gewusst, dass ein Haken dran war.«

Und dann zuckte sie zusammen. Ein sonderbares Geräusch durchschnitt die Stille. Es war die Stimme eines Mannes, der in kurzen Abständen immer wieder das gleiche Wort hervorstieß.

»Verdammt«, schimpfte die Stimme. »Verdammt.« Und gleich darauf wieder: »Verdammt!«

Jane durchrieselte es kalt. Das Wort drückte so haargenau ihre eigenen Gefühle aus. Sie lief die Stufen hinunter. Am Fuß der Treppe lag ein junger Mann, der sich mühte, den Kopf vom Erdboden zu erheben. Sein Gesicht erschien Jane als eines der nettesten, das sie je gesehen. Es war voller Sommersprossen und trug einen liebenswürdig-ironischen Zug.

»Verdammt, mein Kopf«, stöhnte der junge Mann. »Verdammt – «

Er unterbrach sich plötzlich und starrte zu Jane hinauf.

»Ich muss träumen«, sagte er schwach.

»Das Gleiche habe ich auch gesagt«, entgegnete Jane. »Aber wir träumen nicht. Was ist mit Ihrem Kopf los?«

»Jemand hat mir einen Schlag über den Schädel gegeben. Gott sei Dank habe ich einen ziemlich harten Schädel.«

Er setzte sich mühsam auf und verzog das Gesicht. »Mein Gehirn wird hoffentlich auch bald wieder funktionieren. Ich bin noch immer am gleichen Ort, wie ich sehe.«

»Wie sind Sie denn hierher gekommen?«, fragte Jane neugierig.

»Das ist eine lange Geschichte. Übrigens, sind Sie nicht diese Großherzogin Dingsda? Hab ich nicht Recht?«

»Nein, die bin ich nicht. Ich heiße schlicht Jane Cleveland.«

»Na, immerhin sehen Sie nicht schlicht aus«, witzelte der junge Mann, wobei er sie jedoch mit unverhohlener Bewunderung musterte.

Jane wurde rot.

»Ich sollte Ihnen wohl ein Glas Wasser bringen, nicht wahr?«, fragte sie unsicher.

»Ich glaube, das ist in solchen Fällen üblich«, stimmte der junge Mann zu. »Trotzdem würde ich eigentlich lieber einen Schluck Whisky haben, falls Sie einen auftreiben können.«

Jane fand keinen Whisky. Der junge Mann trank stattdessen einen großen Schluck Wasser und verkündete hinterher, nun fühle er sich besser.

»Soll ich Ihnen jetzt mein Abenteuer erzählen, oder wollen Sie mir Ihres erzählen?«, fragte er dann.

»Sie zuerst.«

»Meins ist eigentlich eher banal. Ich bemerkte zufällig, dass die Großherzogin bei dem bewussten Basar mit flachen Schuhen in ein Zimmer hineinging und mit hochhackigen Schuhen wieder herauskam. Das fand ich irgendwie sonderbar. Und sonderbare Dinge reizen meine Neugier.

Ich fuhr also mit meinem Motorrad hinter ihrem Wagen her. Ich sah, wie Sie in dieses Haus gebracht wurden. Etwa zehn Minuten später kam ein großer Sportwagen angerast. Eine junge Frau in Rot und drei Männer stiegen aus. Die Frau trug tatsächlich flache Schuhe. Die vier gingen ins Haus. Kurz darauf kam die Frau in einem schwarz-weiß gemusterten Kleid heraus und fuhr, begleitet von einer alten Weibsperson und einem großen Mann mit blondem Bart, in dem ersten Wagen davon. Die anderen fuhren im Sportwagen ab. Ich dachte, jetzt seien alle weg, und wollte gerade durch das Fenster dort klettern, um Sie zu retten, als mir irgendjemand von hinten eins über den Schädel gab. Das ist alles. Jetzt sind Sie dran.«

Jane erzählte, was ihr widerfahren war.

»Und es ist ein Riesenglück für mich, dass Sie hinter uns hergefahren sind«, schloss sie. »Denn denken Sie nur, in was für einer schrecklichen Situation ich sonst wäre. Die Großherzogin hätte ein hieb- und stichfestes Alibi. Sie verließ den Basar vor dem Überfall und kam in ihrem Wagen in London an. Würde mir da irgendein Mensch auf der Welt meine total unmögliche Geschichte geglaubt haben?«

»Nie im Leben«, versicherte der junge Mann.

Die beiden waren so in ihre gegenseitigen Erzählungen vertieft, dass sie ihre Umgebung völlig vergessen hatten. Nun blickten sie auf und sahen erschrocken einen hochgewachsenen, grämlich blickenden Mann an der Hauswand lehnen. Er nickte ihnen zu.

»Sehr interessant«, bemerkte er.

»Wer sind Sie?«, fragte Jane scharf.

Der grämlich blickende Mann blinzelte leicht belustigt.

»Kriminalinspektor Farrell«, sagte er sanft. »Es wäre uns wohl tatsächlich ein bisschen schwer gefallen, Ihrer Erzählung Glauben zu schenken, wenn sich da nicht ein oder zwei Dinge ereignet hätten.«

»Nämlich?«

»Ja, sehen Sie, wir haben zum Beispiel heute Morgen erfahren, dass die echte Großherzogin in Paris mit einem Chauffeur durchgebrannt ist.«

Jane schnappte nach Luft.

»Außerdem wussten wir, dass sich diese bewusste amerikanische Gangsterbraut seit Kurzem in England aufhielt, und haben mit einem Coup von ihr gerechnet. Wir werden die Bande sehr schnell geschnappt haben, verlassen Sie sich darauf. Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment.«

Er lief die Stufen hinauf ins Haus.

»So was!«, stieß Jane hervor. Nach einer Pause erklärte sie unvermittelt: »Ich finde es riesig intelligent von Ihnen, dass Sie den Trick mit den Schuhen bemerkt haben.«

»Durchaus nicht«, entgegnete der junge Mann. »Ich bin im Schuhgeschäft groß geworden. Mein Vater ist so eine Art Schuhkönig. Er wollte, dass ich in seine Fußstapfen trete, ein solides Leben führe und heirate und so. Niemand Spezielles – bloß im Prinzip. Aber ich wollte lieber Künstler werden.« Er seufzte.

»Ach, das tut mir aber leid«, erklärte Jane mitfühlend.

»Seit sechs Jahren versuche ich es nun. Und es hat keinen Zweck, sich etwas vorzumachen: Ich bin ein miserabler Maler. Ich hätte gute Lust, das Ganze hinzuwerfen und wie der verlorene Sohn nachhause zurückzukehren. Dort wartet ein guter Job auf mich.«

»Ach ja, ein Job ist etwas Fabelhaftes«, seufzte Jane. »Glauben Sie, Sie könnten mir vielleicht einen besorgen – als Schuhverkäuferin oder so?«

»Ich wüsste einen besseren für Sie – falls Sie ihn annehmen wollen.«

»Oh, was für einen?«

»Egal, das erzähle ich Ihnen später. Wissen Sie, bis gestern bin ich noch nie einem Mädchen begegnet, das ich hätte heiraten mögen.«

»Gestern?«

»Bis zu dem Wohltätigkeitsbasar. Da habe ich sie gesehen – diejenige welche!«

Er blickte Jane fest an.

»Wie hübsch der Rittersporn blüht«, stotterte Jane errötend.

»Das sind Lupinen«, verbesserte der junge Mann.

»Macht nichts«, sagte Jane.

»Macht überhaupt nichts«, stimmte er zu. Und er rückte ein bisschen näher an Jane heran.