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Silas Hamer bekam es zum ersten Mal an einem winterlichen Abend im Februar zu hören. Er und Dick Borrow waren nach einem Essen, das Bernard Seldon, der Nervenspezialist, gegeben hatte, nachhause spaziert. Borrow war ungewöhnlich schweigsam gewesen, und Silas Hamer hatte ihn mit einiger Neugier gefragt, worüber er denn nachdächte. Borrows Antwort war anders als erwartet.
»Ich dachte gerade, dass von all diesen Männern heute Abend nur zwei von sich behaupten können, glücklich zu sein. Und diese beiden, komisch genug, sind du und ich!«
Das Wort »komisch« war angemessen, denn zwei Männer konnten gar nicht unterschiedlicher sein als Richard Borrow, der viel beschäftigte Pfarrer vom Ostende der Stadt, und Silas Hamer, der aalglatte, selbstgefällige Mann, der seine Millionen mit seiner Kenntnis von Haushaltswaren erworben hatte.
»Es ist merkwürdig, weißt du«, Borrow dachte laut, »ich glaube, du bist der einzige zufriedene Millionär, den ich je getroffen habe.«
Hamer schwieg einen Moment lang. Als er wieder zu sprechen begann, klang seine Stimme verändert.
»Ich war ein armseliger, vor Kälte schlotternder kleiner Zeitungsjunge. Damals wollte ich – jetzt habe ich es erreicht – Geld für Komfort und Luxus, nicht seine Macht. Nicht, um damit zu herrschen, sondern um es verschwenderisch auszugeben – für mich selbst. Ich bin ehrlich, was das betrifft, siehst du. Mit Geld kann man alles kaufen, sagt man. Das stimmt. Und weil ich mir alles das kaufen kann, was ich mir wünsche, deshalb bin ich zufrieden. Ich bin Materialist, Borrow, ein Materialist durch und durch.«
Das grelle, blendende Licht der erleuchteten Hauptverkehrsstraße bestätigte sein Glaubensbekenntnis. Die gedrungene Gestalt Silas Hamers wirkte in dem schweren, pelzgefütterten Mantel noch breiter, und das weiße Licht unterstrich die dicken Fleischrollen unterhalb seines Kinns. Im Gegensatz dazu spazierte neben ihm Dick Borrow mit schmalem asketischem Gesicht und den glühenden Augen eines Fanatikers.
»Du bist es«, ergänzte Hamer mit Nachdruck, »den ich nicht verstehen kann.«
Borrow lächelte.
»Ich lebe mitten im Elend, in Armut und Hunger – in allen Krankheiten des Fleisches. Nur eine Vision beherrscht mich und hält mich aufrecht. Es ist nicht leicht, dies zu verstehen – und ich nehme nicht an, dass du an Visionen glaubst. Dies ist aber meine Art von Glück.«
»Nein, daran glaube ich nicht«, sagte Silas Hamer überzeugt. »Ich glaube nur an das, was ich sehen und hören und berühren kann.«
»Ganz recht. Darin besteht der Unterschied zwischen uns. Nun denn, auf Wiedersehen, jetzt verschlingt mich die Erde.«
Sie hatten den Eingang zu der erleuchteten U-Bahn-Station, von der aus Borrow nachhause fuhr, erreicht. Hamer ging allein weiter. Er war froh über seinen Entschluss, den Wagen heute Abend fortgeschickt zu haben; so konnte er zu Fuß nachhause gehen. Die Luft war scharf und frostig, seine Sinne nahmen voller Wohlbehagen die umhüllende Wärme seines pelzgefütterten Mantels wahr.
Er blieb einen Augenblick auf dem Bürgersteig stehen, bevor er die Straße überquerte. Ein mächtiger Autobus bahnte sich den Weg auf ihn zu. Hamer empfand das Gefühl unendlicher Muße und wartete, dass er vorbeifuhr. Wenn er noch vor ihm hinübergehen wollte, müsste er sich beeilen – und Eile war ihm verhasst. Eine volltrunkene menschliche Gestalt schwankte an ihm vorbei auf die Fahrbahn. Hamer sah noch, wie der Autobus vergeblich auswich, dann hörte er einen grässlichen Schrei, und sein Blick blieb fassungslos – sein Entsetzen wuchs progressiv – auf einem formlosen, schlaffen Lumpenhaufen mitten auf der Straße haften.
Eine Menschenmenge sammelte sich wie von einem Magneten angezogen. Ein Polizist und der Fahrer des Busses bildeten den Mittelpunkt des Gedränges. Aber Hamers Blicke zog die Suggestivkraft des Grauens auf das leblose Bündel, das einmal ein Mensch gewesen war – ein Mensch wie er selbst. Hamer schauderte, als sei er selbst bedroht.
»Machen Sie sich keine Vorwürfe, Mann«, bemerkte ein primitiv aussehender Mann an seiner Seite. »Sie hätten es doch nicht verhindern können. Der war eben fällig.«
Hamer starrte den Mann an. Der Gedanke, dass es vielleicht im Bereich seiner Möglichkeit gelegen hatte, den Mann zurückzureißen, war ihm – wenn er ehrlich war – noch gar nicht gekommen. Verächtlich wies er diese absurde Mutmaßung von sich. Wenn er selbst so töricht gewesen wäre, würde er jetzt… Hamers Gedanken brachen abrupt ab, und er ging von der Menge fort. Er fühlte, wie er innerlich fror, zitterte vor einer namenlosen, unauslöschlichen Angst. Er war gezwungen, sich selbst zuzugeben, dass er auf einmal Angst, entsetzliche Angst vor dem Tod hatte – vor jenem Tod, der mit grässlicher Schnelligkeit und gewissenloser Gewissheit zu Armen und Reichen gleichermaßen kam…
Hamer ging schneller, doch die neue Angst blieb in ihm, sie hatte ihn in ihrem kalten und schaurigen Griff.
Er wunderte sich über sich selbst, denn er wusste, dass er von Natur aus kein Feigling war. Vor fünf Jahren, überlegte er, hätte ihn diese Angst noch nicht anfallen können. Damals war das Leben noch nicht so süß gewesen… Ja, das war es! Die Liebe zum Leben war der Schlüssel des Geheimnisses. Der Lebensgenuss hatte für ihn seinen Höhepunkt erreicht; er sah nur eine Bedrohung: den Tod, den Zerstörer!
Hamer bog aus der Hauptverkehrsstraße in eine schmale Seitengasse ab, die von hohen Mauern eingefasst war. Sie bot eine Abkürzung zu dem Platz, an dem sein Haus lag, das für seine Kunstschätze bekannt war.
Die Geräusche der Straßen wurden hinter Hamer immer schwächer und erstarben ganz; nur das weiche Auftreten seiner Schuhe war noch zu hören. Und dann kam aus dem Dunkel vor ihm ein anderer Ton.
Ein Mann saß gegen die Mauer gelehnt und spielte Flöte. Sicherlich einer der vielen Straßenmusikanten; warum hatte er sich diesen einsamen Ort ausgesucht? Wahrscheinlich fürchtete er zu dieser Nachtzeit die Polizei… Hamers Überlegungen wurden unterbrochen, als er mit Schrecken bemerkte, dass der Mann keine Beine mehr hatte. Ein Paar Krücken lehnten an der Mauer neben ihm. Hamer sah jetzt auch, dass es keine Flöte war, die er blies, sondern ein fremdartiges Instrument, dessen Töne höher und klarer waren als die einer Flöte.
Der Mann spielte weiter. Er bemerkte Hamers Herannahen nicht. Der Musikant hatte den Kopf weit zurückgeworfen, das Gesicht war dem Himmel zugewandt, als ob er sich an seiner eigenen Musik erfreute; die Töne entflogen seinem Instrument klar und fröhlich, stiegen höher und höher…
Es war eine eigenartige Melodie – besser ein Gespräch, es war überhaupt keine Melodie, ein einfacher Satz, der langsamen Weise des Violinparts aus »Rienzi« nicht unähnlich. Sie wurde wieder und wieder gespielt, lief von Schlüssel zu Schlüssel, von Harmonie zu Harmonie, immer steigend, und erreichte bei jedem Mal eine größere und grenzenlosere Freiheit.
Hamer hatte nie etwas ähnlich Schönes gehört. Es war eine besondere Eigenart darin, etwas Inspirierendes – etwas, das nach oben strebte… Hamer hielt sich krampfhaft mit beiden Händen an einem Vorsprung der Mauer neben sich fest. Er war sich nur einer Sache bewusst – er musste sich festhalten, koste es, was es wolle: Er musste sich festhalten…
Plötzlich wurde er gewahr, dass die Musik aufgehört hatte. Der Mann ohne Beine griff nach seinen Krücken. Da stand er, Silas Hamer, und krallte sich noch immer wie ein Mondwandler an einem Steinvorsprung fest, allein aus dem einfachen Grund, weil er die widersinnige Empfindung hatte – lächerlich, wenn man darüber nachdachte –, als erhebe er sich vom Boden, als trüge ihn die Musik nach oben…
Er lachte. Was für eine idiotische Vorstellung! Natürlich hatten seine Füße keinen Moment lang den Boden verlassen, welch merkwürdige Halluzinationen. Das rasche Aufschlagen von Holzstangen auf dem Bürgersteig sagte ihm, dass der Krüppel davonhumpelte. Hamer sah ihm nach, bis die Gestalt des Mannes von der Dunkelheit verschluckt war. Komischer Kauz!
Langsam setzte Hamer seinen Weg fort; doch er konnte die Gedanken an dieses merkwürdige Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, nicht loswerden.
Und dann, einem plötzlichen Impuls folgend, machte er kehrt und folgte eilig dem Mann, der in die andere Richtung gegangen war. Der Mann konnte noch nicht weit sein – Hamer würde ihn bald eingeholt haben.
Er rief, sobald er der verstümmelten Gestalt ansichtig geworden war, indem er langsamer weiterging: »Hallo, Moment mal!«
Der Mann hielt inne, bewegungslos, bis er eingeholt war. Eine Straßenlaterne brannte genau über seinem Kopf und erleuchtete jeden seiner Gesichtszüge. Silas Hamer hielt unwillkürlich den Atem an, so überrascht war er. Der Mann besaß einen einmalig schönen Kopf – den schönsten, den Hamer je gesehen hatte. Sein Alter war nicht zu bestimmen; sicherlich war er kein junger Mann mehr, und doch waren die vorherrschenden Ausdruckszüge Jugend und Kraft in leidenschaftlicher Intensität.
Hamer fand es sonderbar schwierig, eine Unterhaltung zu beginnen.
»Schauen Sie«, sagte er linkisch, »ich möchte gern wissen, was Sie da gerade gespielt haben.«
Der Mann lächelte… Mit seinem Lächeln schien plötzlich die Welt in lauter Fröhlichkeit getaucht.
»Es war ein altes Lied, ein sehr altes Lied – Jahre alt… Jahrhunderte alt.«
Er sprach mit eigentümlicher Reinheit und Deutlichkeit der Formulierung, wobei er jede Silbe gleichermaßen als kostbar betonte. Er war offensichtlich kein Engländer. Hamer konnte seine Nationalität nicht erraten.
»Sie sind kein Engländer, nicht wahr? Woher kommen Sie?«
Wieder das breite, fröhliche Lächeln.
»Ich bin über das Meer gekommen, Sir – vor langer Zeit – sehr langer Zeit.«
»Sie müssen einen bösen Unfall gehabt haben. War das vor Kurzem?«
»Es ist schon einige Zeit her, Sir.«
»Ein schlimmes Unglück, beide Beine zu verlieren.«
»Es war gut so«, sagte der Mann ruhig. Er wandte seine Augen in feierlichem Ernst seinem Befrager zu. »Sie waren böse.«
Hamer gab ihm einen Shilling in seine Hand und ging fort. Er war verwirrt und wusste mit der Antwort nichts anzufangen. Wie komisch, so zu sprechen. Wahrscheinlich eine Amputation wegen einer Krankheit, aber – wie sonderbar das geklungen hatte: »Sie waren böse.«
Hamer ging gedankenverloren nachhause. Er versuchte vergeblich, den Vorfall zu vergessen. Als er im Bett lag und sich die ersten Anzeichen von Schläfrigkeit bemerkbar machten, hörte er die Turmglocke in der Nachbarschaft eins schlagen. Ein klarer Schlag, dann Ruhe, die durch einen schwachen, bekannten Ton unterbrochen wurde… Langsam kroch die Erinnerung in sein Bewusstsein. Hamer spürte, wie sein Herz schneller schlug. Es war der Mann aus der Seitenstraße, irgendwo spielte er wieder – nicht weit entfernt.
Die Töne kamen fröhlich, die langsame Wendung mit ihrem lustigen Ruf, derselbe jagende kleine Satz…
»Es ist unheimlich«, murmelte Hamer, »es ist unheimlich. Es hat Flügel…«
Klarer und klarer, höher und höher, jeder Ton erhob sich über den vorhergehenden, Hamer war ergriffen. Diesmal wehrte er sich nicht, er gab sich dem hin… hoch… hinauf… Die Wellen der Töne schwangen höher und höher… Triumphierend und frei stiegen sie gen Himmel.
Höher und höher… Sie hatten die Grenze irdischer Töne überstiegen, doch sie setzten sich fort – aufsteigend, immer noch aufsteigend… Würden sie ihr höchstes Ziel erreichen, die vollkommene Erlösung?
Dann zog ihn etwas herunter, etwas Großes, Schweres und sich festklammerndes. Es zog ihn rücksichtslos wieder zur Erde herunter…
Hamer lag im Bett und schaute zum Fenster. Während er schwer und schmerzlich atmete, streckte er seinen Arm aus dem Bett heraus. Diese Bewegung kam ihm merkwürdig schwierig vor. Die Weichheit des Bettes war bedrückend, bedrückend auch die schweren Vorhänge vor dem Fenster, die die Luft aussperrten. Die Zimmerdecke schien auf ihn herabzustürzen. Er fühlte sich beengt und unfrei. Er rührte sich leicht unter der Bettdecke, und das Gewicht seines eigenen Körpers erschien ihm als das Erdrückendste von allem…