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»So war die Geschichte, Herr Rechtsanwalt«, schloss der gut aussehende junge Mann im schäbigen Tweedanzug seinen etwas aufgeregten Bericht. »Was soll man da nur machen?«

»Es ist wohl mit Sicherheit anzunehmen, dass die Polizei Sie verhaften wird, Mr Vole, und da brauchen Sie einen Barrister*, der Sie vor Gericht verteidigt. Ich werde mich gleich mal mit meinem Kollegen in Verbindung setzen.«

Der Anwalt zog das Telefon zu sich heran und wählte eine Nummer.

»Mayhew von der Firma Mayhew und Brinskill am Apparat. Ich möchte gern mit Sir Wilfrid Robarts sprechen… Wilfrid? Hier ist John. Ich habe da einen Klienten, dessen Fall dich bestimmt interessieren wird… Ja, ich weiß, dass du viel zu tun hast, aber es ist sehr dringend… Schön, wann könnten wir zu einer Besprechung kommen?… Gut, wir werden pünktlich da sein.«

Er legte den Hörer auf und wandte sich an den jungen Mann. »Also, Sir Wilfrid Robarts erwartet uns um fünf Uhr.

Da sein Büro im Temple** ist, treffen wir uns am besten dort in der Halle.«

Leonard Vole erhob sich, und der Rechtsanwalt begleitete ihn bis zur Tür.

Eine müde Oktobersonne warf ihren wässerigen Schein auf die regennassen Straßen, als Leonard Vole in die Fleet Street – das Reich der Presse und des Gesetzes – einbog. Sobald er in die Halle des Temple trat, fühlte er sich um ein paar Jahrhunderte zurückversetzt. Draußen der dröhnende Verkehr der Gegenwart – drinnen die mittelalterliche Atmosphäre der dämmerigen Halle, über deren riesigen Steinquader Gestalten in schwarzen Roben, weißen Beffchen und grauen Perücken hin und her eilten. Leonard Vole wurde von einem leichten Schauder erfasst bei dem Gedanken, dass vielleicht schon bald ein paar solcher schwarzer Gestalten um seinen Kopf miteinander debattieren würden. Er hatte jedoch nicht viel Zeit, sich diesen Betrachtungen hinzugeben, denn er sah die hagere Gestalt seines Rechtsanwaltes auf sich zukommen, und wenige Minuten später betraten sie gemeinsam das Vorzimmer zu Sir Wilfrids Büro.

»Guten Tag, Mr Mayhew«, begrüßte der Bürovorsteher Carter den Anwalt, während die Stenotypistin Greta den beiden die Hüte abnahm und an die Haken hängte. »Sir Wilfrid muss jeden Augenblick kommen. Ich werde aber sofort zum Garderobenraum hinübergehen und sagen, dass Sie hier sind mit…«

»Mit Mr Leonard Vole. Vielen Dank, Carter.«

»Vielleicht nehmen Sie inzwischen in Sir Wilfrids Büro Platz?«

Damit führte er die Besucher in das innere Zimmer.

Mr Mayhew setzte sich, während Leonard Vole unruhig auf und ab ging. Die Tür öffnete sich wieder. Greta erschien und bot ihnen eine Tasse Tee an, wobei sie Leonard Vole fasziniert betrachtete. Vole lächelte ihr freundlich zu und meinte, er sei einer Erfrischung nicht abgeneigt. Aber Mr Mayhew fiel im schnell ins Wort und lehnte etwas schroff für beide ab, woraufhin Greta das Zimmer verließ, aber nicht, ohne Voles Lächeln zu erwidern.

»Wenn Sir Wilfrid kommt«, wandte sich Mr Mayhew an Vole, »möchte ich, dass Sie ihm die ganze Geschichte genauso erzählen, wie Sie sie mir erzählt haben.«

Der junge Mann versprach dies bereitwillig.

»Im Augenblick«, fuhr Mr Mayhew fort, »sind Sie also arbeitslos, nicht wahr?«

Vole wurde ziemlich verlegen. »Allerdings. Aber ich habe ein paar Pfund auf der Bank. Das ist ja nicht viel, doch vielleicht…«

Mr Mayhew wehrte ab. »Oh, ich habe dabei nicht an - hm – mein Honorar gedacht. Es ist mir daran gelegen, ein klares Bild von Ihren ganzen Verhältnissen zu bekommen. Wie lange sind Sie schon ohne Beschäftigung?«

»Seit einigen Monaten.«

»Und was haben Sie vordem gemacht?«

»Ich habe als Mechaniker in einer Autoreparaturwerkstatt gearbeitet.« Geduldig ließ Vole diese Fragen über sich ergehen.

»Wie lange waren Sie dort beschäftigt?«, begann Mr Mayhew von Neuem. »Etwa drei Monate.«

»Wurden Sie entlassen?«, fragte Mr Mayhew in etwas scharfem Ton.

»Nein, ich habe die Stelle selbst aufgegeben. Hatte mich mit dem Werkmeister in der Wolle. Ein richtiger Schw… ich wollte sagen, ein ziemlich gemeiner Kerl, der immer auf einem herumhackte.«

»So, so. Und davor?«

»Da arbeitete ich in einer Tankstelle. Aber die Situation wurde etwas heikel, und so ging ich eben.«

»Heikel?«, fragte Mr Mayhew erstaunt. »Inwiefern?«

Vole errötete leicht. »Na, die Tochter meines Arbeitgebers war halt ein wenig – in mich verschossen. Sie war fast noch ein Kind, und es ist nichts Unerlaubtes zwischen uns vorgefallen. Aber der Alte bekam die Geschichte satt und hielt es für richtiger, dass ich ginge. Wir trennten uns ganz freundschaftlich, und er gab mir noch ein anständiges Zeugnis.«

Bevor Mr Mayhew zu einer neuen Frage ausholen konnte,’ fuhr Vole grinsend fort: »Und davor habe ich Schaumbesen auf Provisionsbasis verkauft. Sie waren aber nichts wert. Hätte selbst einen besseren Schaumbesen erfinden können.«

Als er spürte, dass Mr Mayhew auf seinen leichtfertigen Ton nicht einging, setzte er hinzu: »Sie denken sicher, ich bin ein unsteter Gesell, der zu nichts Ausdauer hat. In gewissem Sinne stimmt das auch. Aber ich war nicht immer so. Das Leben in der Armee und im Ausland hat mich aus dem Geleise gebracht. Ich war in Deutschland; da gefiel es mir. Dort habe ich auch meine Frau kennen gelernt. Sie war Schauspielerin. Seit meiner Rückkehr nach England habe ich nicht so recht festen Fuß fassen können. Ich weiß nicht, was ich eigentlich will. Am liebsten arbeite ich an Automobilen und mache kleine Erfindungen dafür. Das ist interessant…«

Weiter kam er mit seinen Offenbarungen nicht, denn in diesem Augenblick trat Sir Wilfrid Robarts ein, der seine Perücke in der Hand und seine Robe überm Arm trug. Carter, der ihm auf dem Fuße folgte, nahm beides an sich und half ihm, sich seiner übrigen amtlichen Kleidungsstücke – Anwaltsrock und Beffchen – zu entledigen. Sir Wilfrid eilte auf Mr Mayhew zu und begrüßte ihn herzlich. Dieser stellte ihm Leonard Vole vor, und Sir Wilfrid bat den jungen Mann Platz zu nehmen.

»Die Verhandlung hat etwas länger gedauert, als ich dachte. Lassen Sie uns rasch zur Sache kommen. Also worum handelt es sich denn, Mr Vole?«

»Meine Frau bildet sich steif und fest ein, dass man mich verhaften wird«, stammelte Vole etwas verlegen. »Und da sie viel klüger ist als ich, mag sie vielleicht Recht haben.«

»Weswegen sollte man Sie denn verhaften wollen?«

Vole zögerte einen Augenblick. »Wegen – wegen Mordes, Sir«, brachte er schließlich stockend hervor.

Sir Wilfrid setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches und blickte ihn fragend an. Mr Mayhew zog eine Zeitung aus der Tasche und deutete auf einen Bericht. »Es handelt sich um den Fall von Miss Emily French, einer unverheirateten Dame, die mit einer älteren Haushälterin in Hampstead wohnte. Am Abend des 14. Oktober kehrte die Haushälterin in die Wohnung zurück und machte die Entdeckung, dass man anscheinend eingebrochen und ihre Herrin durch einen Schlag auf den Hinterkopf getötet hatte.«

»Und was haben Sie damit zu tun?«, fragte Sir Wilfrid den jungen Mann.

»Ich war gerade an diesem Abend bei ihr gewesen, und am nächsten Tag las ich in der Zeitung, dass die Polizei gern mit einem gewissen Leonard Vole sprechen möchte, da er ihnen ihrer Ansicht nach nützliche Auskunft geben könne. Ich ging natürlich sofort zur Wache, wo man eine ganze Reihe von Fragen an mich stellte.«

Sir Wilfrid unterbrach ihn scharf: »Hat man die übliche Warnung ausgesprochen?«

»Ich weiß nicht so recht. Sie haben mich gefragt, ob ich eine Aussage machen wolle. Die würden sie dann schriftlich niederlegen und bei einer eventuellen Verhandlung gebrauchen. Nennt man das eine Warnung?«

Sir Wilfrid tauschte einen bedeutungsvollen Blick mit Mr Mayhew aus und seufzte. »Das war nicht gut. Aber es lässt sich nun nicht mehr ändern.«

»Ich habe ihnen alles gesagt, was ich wusste, und sie waren sehr höflich zu mir, die Herren Kriminalbeamten. Schienen auch mit meiner Aussage zufrieden zu sein. Als ich dann nachhause kam und Romaine – das ist meine Frau – davon erzählte, bekam sie es mit der Angst zu tun. Sie redete sich ein, die Polizei stehe im Glauben, dass – dass ich der Täter sei. Und da hielt ich es für richtiger, einen Anwalt zu konsultieren. So kam ich zu Ihnen, Mr Mayhew. Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht einen Rat geben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass mir so etwas passieren soll. Es kommt mir vor wie ein böser Traum, aus dem ich bald aufwachen muss. Das Ganze ist so lächerlich.«

»Lächerlich, Mr Vole?«, fragte Mr Mayhew mit einiger Schärfe.

»Nun ja. Ich meine, ich bin immer sehr friedliebend gewesen – komme mit allen gut aus. Ich meine, ich bin kein Mensch, der – gewalttätig wird. Aber es wird doch wohl alles gut ausgehen, nicht wahr?« Dabei blickte er mit ängstlicher Miene von einem zum anderen.

Die Rechtsanwälte gingen nicht weiter darauf ein. Stattdessen fragte ihn Sir Wilfrid, ob er Miss French gut gekannt habe.

»O ja«, antwortete Vole. »Sie war immer sehr nett zu mir. Manchmal wurde es mir allerdings etwas lästig. Sie machte meinetwegen viel zu viel Umstände. Aber sie meinte es gut, und als ich in der Zeitung las, dass sie ermordet worden sei, war ich ganz erschüttert; ich mochte sie nämlich sehr gern.«

Mr Mayhew bat ihn dann, Sir Wilfrid doch zu erzählen, wie er ihre Bekanntschaft gemacht hatte, und Vole wandte sich gehorsam an Sir Wilfrid.

»Ich ging eines Tages durch die Oxford Street und beobachtete, wie eine alte Dame den Fahrdamm überquerte und mitten auf der Straße die unzähligen Pakete, mit denen sie beladen war, hinfallen ließ. Als sie sich bückte, um sie aufzuheben, rollt ein großer Omnibus in rasendem Tempo auf sie zu. Mit knapper Not gelang es ihr, den Bürgersteig zu erreichen. Na, ich habe dann die Pakete von der Straße aufgelesen und die alte Dame beruhigt. Sie wissen ja, wie das so ist.«

»Und war sie sehr froh darüber?«, fragte Sir Wilfrid.

»O ja, sie floss über vor Dankbarkeit. Man konnte meinen, ich hätte ihr das Leben gerettet und nicht nur ein paar lumpige Pakete.«

»Und Sie haben ihr tatsächlich nicht das Leben gerettet?«

»O nein. Es war durchaus nichts Heroisches. Ich hatte überhaupt nicht angenommen, dass ich sie je Wiedersehen würde.«

Sir Wilfrid, auf den diese schlichte Erzählung offenbar einen guten Eindruck machte, war inzwischen aufgestanden und hatte aus einer Schreibtischschublade ein Päckchen Zigaretten genommen. Er bot Vole eine an, der jedoch ablehnte, da er Nichtraucher sei.

»Zufällig«, fuhr Vole fort, »saß ich zwei Tage später hinter ihr im Theater. Sie blickte sich um, erkannte mich, und wir kamen ins Gespräch. Schließlich lud sie mich ein, sie doch einmal zu besuchen. Sie drängte mich sehr, gleich einen Tag auszumachen. Und da es unhöflich schien, die Einladung abzulehnen, schlug ich den folgenden Sonnabend vor.«

»Sie haben sie dann in ihrem Hause in Hampstead aufgesucht, wo sie mit ihrer Haushälterin allein lebte, nicht wahr?«

»Ja. Außerdem hatte sie noch acht Katzen. Acht Stück! Das Haus war wunderschön möbliert. Aber es roch ein bisschen zu sehr nach Katzen.«

»Wussten Sie, dass Miss French reich war?«

»Nach ihren Reden zu urteilen, musste sie ziemlich wohlhabend sein.«

Sir Wilfrid sah ihn forschend an. »Und wie steht’s mit Ihren pekuniären Verhältnissen?«

»Oh«, erwiderte Vole in heiterem Ton, »bei mir ist Ebbe in der Kasse. Schon lange.«

»Das ist ja eine dumme Geschichte.«

»Ja, nicht wahr? Ach so, Sie meinen wohl, man wird sagen, ich sei ein Speichellecker und hinter ihrem Gelde her gewesen?«

Der Verdacht, den Sir Wilfrid geschöpft hatte, wurde durch diese offenherzige Frage ziemlich zerstreut. »Das ist vielleicht etwas krass ausgedrückt. Doch so ähnlich werden die Leute wohl reden.«

»Aber das ist nicht wahr«, beteuerte Vole leidenschaftlich. »Ganz bestimmt nicht. In Wirklichkeit tat sie mir leid. Sie schien so einsam zu sein. Ich bin selbst bei einer alten Tante groß geworden, bei meiner Tante Betsy, und ich mag alte Damen gern.«

»Sie sprechen immer von alten Damen. Wissen Sie eigentlich, wie alt Miss French war?«

»Ich wusste es nicht, habe es aber nach dem Mord durch die Zeitungen erfahren. Sie war sechsundfünfzig.«

»Sechsundfünfzig. Sie nennen das alt. Aber ich möchte bezweifeln, dass Miss French sich für alt hielt.«

»Na, sie war jedenfalls kein Küken mehr.«

Sir Wilfrid runzelte die Stirn über diesen leichtfertigen Ton und setzte sich in seinen Schreibtischsessel. Nach einer Weile fuhr er fort:

»Sie haben Miss French also häufig besucht, nicht wahr?«

»Ja, etwa ein- bis zweimal in der Woche.«

»Haben Sie Ihre Frau bei diesen Besuchen mitgenommen?«

Diese Frage schien Vole peinlich zu sein. »Nein, das habe ich nicht getan.«

»Warum nicht?«

»Na – ehrlich gesagt, das hätte wohl nicht gut gepasst.«

»Wem hätte das nicht gepasst? Ihrer Frau oder Miss French?«

»Miss French…« Vole zögerte, und erst als Mr Mayhew ihn ermunterte fortzufahren, fügte er hinzu: »Sie war mir nämlich sehr zugetan.«

»Wollen Sie damit sagen, dass diese sechsundfünfzigjährige Frau in Sie, den Siebenundzwanzigjährigen, verliebt war?«, fragte Sir Wilfrid erstaunt.

Vole wehrte ganz entsetzt ab. »Um Gottes willen, nein! Davon war nicht die Rede. Sie hat mich nur verwöhnt und verhätschelt, immer gut aufgetischt und dergleichen. Sie behandelte mich wie einen Lieblingsneffen.«

Sir Wilfrid überlegte eine Weile. »Sehen Sie mal, Mr Vole, wenn es zu einer Verhandlung kommen sollte, wird man bestimmt fragen, warum Sie, ein gut aussehender, verheirateter junger Mann, einer älteren Dame, mit der Sie kaum etwas gemeinsam hatten, so viel Zeit widmeten.«

Vole gab dies ziemlich niedergeschlagen zu. »Ja, wie ich vorhin schon sagte, wird es heißen, ich sei hinter ihrem Geld her gewesen.« Mit gewinnender Offenheit setzte er hinzu: »Und in gewissem Sinne stimmt es ja vielleicht auch. Aber nur in einem gewissen Sinne.«

»Können Sie mir das etwas näher erklären?«, fragte Sir Wilfrid, dem dieses Zugeständnis offenbar gefiel.

»Na, sie hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie im Geld schwamm. Romaine und ich sind ziemlich knapp bei Kasse, und ich habe im Stillen gehofft – das gebe ich unumwunden zu –, dass Miss French mir mal Geld leihen würde, falls wirklich Not am Mann sei.«

»Haben Sie sie je um ein Darlehen gebeten oder Geld von ihr empfangen?«

»Nein, niemals. Unsere Lage war noch nicht so verzweifelt.«

Vole wurde auf einmal sehr nachdenklich. Der Ernst seiner Lage schien ihm zum Bewusstsein zu kommen. »Es sieht nicht gerade rosig für mich aus. Das sehe ich jetzt auch allmählich.«

»Wusste Miss French überhaupt, dass Sie verheiratet sind?«

Sir Wilfrid ließ nicht locker.

»O ja.«

»Und hat sie niemals Ihre Frau von sich aus eingeladen?«

»Nein.« Vole wurde wieder ein wenig verlegen. »Sie – sie lebte in der Illusion, dass meine Frau und ich nicht gut miteinander auskämen.«

»Haben Sie absichtlich diesen Eindruck bei ihr erweckt?«

»Nein, ganz gewiss nicht. Aber ich dachte mir, sie würde das Interesse an mir verlieren, wenn ich Romaine zu sehr in den Vordergrund schöbe. Es lag mir zwar fern, sie anzubetteln. Aber ich hatte eine kleine Erfindung für Automobile gemacht, und ich dachte, ich könnte sie vielleicht dazu überreden, die Sache zu finanzieren. Ich habe aber nicht genassauert.«

Es trat eine Pause ein, und dann forderte Sir Wilfrid ihn auf, ihm etwas über die Haushälterin zu erzählen.

»Janet MacKenzie?«, begann Leonard Vole. »Sie war ein regelrechter Drachen, das kann ich Ihnen versichern. Hat ihre Herrin nur so tyrannisiert. Sie hat ja gut für sie gesorgt. Aber in Janets Gegenwart durfte sich die arme Miss French nicht mucksen.« Er schwieg. Nach einer kleinen Pause setzte er nachdenklich hinzu: »Mich konnte Janet nicht ausstehen.«

»Warum nicht?«, fragte Sir Wilfrid.

»Eifersucht, nehme ich an. Sie fürchtete wohl, dass ich sie von ihrem Platz bei der alten Dame verdrängen könnte. Dabei habe ich Miss French nur Gesellschaft geleistet und ihr bei den Steuererklärungen und Wertpapieren etwas geholfen. Sie füllte nämlich nicht gern Formulare aus.«

Sir Wilfrid blickte ihn prüfend an. »So, das haben Sie also auch gemacht? Mr Vole, jetzt werde ich Ihnen eine schwer wiegende Frage stellen, und ich möchte eine ehrliche Antwort darauf haben. Es ging Ihnen doch finanziell schlecht und Sie verwalteten die Vermögensangelegenheiten dieser Dame. Haben Sie da zu irgendeiner Zeit mal einige dieser Wertpapiere für sich selbst verwandt?«

Vole fuhr auf und war im Begriff, dies leidenschaftlich abzustreiten. Aber Sir Wilfrid brachte ihn durch eine Geste zum Schweigen.

»Nein, nein, warten Sie einen Augenblick, bevor Sie antworten, Mr Vole. Es gibt nämlich zwei Verteidigungsmöglichkeiten für Sie. Entweder können wir auf Ihrer absoluten Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit aufbauen oder wir können – falls Sie die alte Dame doch betrogen haben – sagen, dass für Sie kein Grund vorlag, die Frau zu ermorden; denn Sie hätten ja die Gans getötet, die die goldenen Eier legte. Wie Sie sehen, hat jeder Standpunkt etwas für sich. Aber von Ihnen möchte ich die reine Wahrheit hören.«

»Ich versichere Ihnen hoch und heilig, Sir Wilfrid, dass ich kein unredliches Spiel getrieben habe, und niemand kann mir etwas Gegenteiliges nachweisen. So wahr ich hier stehe.«

Sir Wilfrid sah ihn durchdringend an. »Ich danke Ihnen, Mr Vole. Das bedeutet für mich eine ungeheure Erleichterung, und ich mache Ihnen das Kompliment, dass ich Sie für viel zu intelligent halte, um in einer so wichtigen Sache zu lügen. Und nun kommen wir zum…«

»Vierzehnten Oktober«, ergänzte Mr Mayhew.

Sir Wilfrid erhob sich. »Hatte Miss French Sie für diesen Abend eingeladen, Mr Vole?«

»Nein, das gerade nicht. Aber Janet MacKenzie hatte Ausgang, und ich wusste, dass Miss French dann allein war und sich einsam fühlte.«

»Es war Ihnen also bekannt, dass Janet MacKenzie nicht zuhause war. Das ist nicht besonders günstig.«

»Wieso? Janet MacKenzie hatte freitags immer Ausgang, und da ist es doch ganz natürlich, dass ich diesen Abend wählte, um Miss French Gesellschaft zu leisten.«

Sir Wilfrid äußerte sich nicht weiter dazu, sondern bat Vole, ihm die Vorgänge des Abends zu schildern.

»Ich kam«, berichtete Vole, »gegen ein Viertel vor acht bei Miss French an. Sie war gerade mit dem Essen fertig und wir tranken noch eine Tasse Kaffee zusammen. Darm spielten wir Karten. Kurz vor neun Uhr verabschiedete ich mich von ihr. Da es ein schöner Abend war, ging ich zu Fuß und war kurz vor halb zehn zuhause. Ich wohne in einem kleinen Haus in der Nähe des Bahnhofs Euston. Den Rest des Abends habe ich mit meiner Frau verbracht und bin nicht mehr ausgegangen. Das kann meine Frau bezeugen.«

Die beiden Rechtsanwälte tauschten wieder einen Blick aus, und Mr Mayhew fragte: »Verstehen Sie sich gut mit Ihrer Frau?«

»O ja, wir sind außerordentlich glücklich verheiratet. Romaine ist wundervoll – einfach wundervoll…«

Sir Wilfrid unterbrach diese Lobeshymne mit der nüchternen Frage: »Hat Sie eigentlich irgendjemand nachhause kommen sehen?«

»Nein, aber wozu denn auch? Meine Frau kann doch…«

»Leider ist die Aussage einer liebenden Ehefrau allein nicht völlig überzeugend«, fiel ihm Sir Wilfrid ins Wort.

»Oh, glaubt man etwa, meine Frau würde meinetwegen lügen?«

»Das soll schon vorgekommen sein, Mr Vole«, bemerkte Sir Wilfrid trocken.

»Aber das ist doch in diesem Fall gar nicht nötig. Es verhält sich tatsächlich alles so, wie ich es geschildert habe. Sie glauben mir doch, Sir Wilfrid, nicht wahr?«

»Ja, ich glaube Ihnen schon. Doch müssen Sie nicht mich überzeugen, sondern die Geschworenen.«

»Aber mein Gott, warum hätte ich denn wohl Miss French töten sollen?«

Während diese Frage noch durch den Raum schwebte, klopfte es an die Tür und Greta erschien mit der Abendzeitung. Sie legte das Blatt vor Sir Wilfrid auf den Tisch und wies dabei auf einen angestrichenen Paragrafen hin. Dann zog sie sich wieder zurück. Die beiden Rechtsanwälte beugten sich über die Zeitung und lasen die Stelle. Nach einer Weile richtete sich Sir Wilfrid auf.

»Hier wäre schon ein ganz ausreichendes Motiv. Miss French hat Ihnen nämlich ihr ganzes Vermögen vermacht.«

Vole schien wie vom Donner gerührt. »Mir? Ihr ganzes Vermögen? Das ist wohl ein Scherz.«

»Es ist kein Scherz, Mr Vole. Es steht hier schwarz auf weiß. Sie können sich selbst davon überzeugen.«

Mit diesen Worten reichte er Vole das Abendblatt hin. »Haben Sie nichts davon gewusst?«

»Gar nichts. Ich bin ihr natürlich sehr dankbar. Aber unter diesen Umständen wollte ich, sie hätte es nicht getan. Jetzt sieht die Sache ziemlich finster für mich aus, nicht wahr? Mein Gott, werden sie mich nun wohl verhaften?«

»Damit müssen Sie wahrscheinlich rechnen«, entgegnete Sir Wilfrid.

Vole stand ganz verwirrt auf. »Sie – Sie werden doch alles für mich tun, was Sie können, nicht wahr, Sir?«

Sir Wilfrid ging auf ihn zu und sprach beruhigend auf ihn ein.

»Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht. Lassen Sie das nur meine Sorge sein.«

»Mein Gott, ich kann es noch gar nicht fassen. Ich kann es einfach nicht glauben, dass ich, Leonard Vole, auf der Anklagebank sitzen und des Mordes bezichtigt werden soll.«

Er schüttelte sich, als erwache er aus einem bösen Traum. Dann wandte er sich an Mr Mayhew: »Ich verstehe nicht, warum die Polizei nicht glaubt, es sei ein Einbrecher gewesen. Das Fenster war doch eingeschlagen und alles durcheinander gewühlt – so stand es jedenfalls in den Zeitungen.«

Die Rechtsanwälte schwiegen. Nach dem letzten Bericht zu urteilen, schien die Polizei ganz und gar nicht der Ansicht zu sein, dass es sich um einen Einbruch handle.

 

In diesem Augenblick kam es zu einer neuen Unterbrechung. Der Bürovorsteher erschien und meldete Sir Wilfrid, dass zwei Herren draußen warteten, die Mr Vole zu sprechen wünschten.

Als Sir Wilfrid mit Carter hinausging, um mit den Herren zu reden, fragte Vole ängstlich:

»Ist es nun so weit?«

Mr Mayhew klopfte ihm beruhigend auf die Schulter und riet ihm, keine weiteren Aussagen zu machen.

»Wie wussten sie denn nur, dass ich hier bin?«

»Man hat Sie wahrscheinlich beschatten lassen.«

»Dann«, meinte Vole ganz ungläubig, »haben sie mich also wirklich in Verdacht?«

Ehe Mr Mayhew antworten konnte, kam Sir Wilfrid mit einem Inspektor von Scotland Yard und noch einem Detektivbeamten wieder ins Zimmer. Der Inspektor entschuldigte sich wegen der Störung und ging sofort auf Vole zu.

»Heißen Sie Leonard Vole?«

»Ja.«

»Ich bin Polizeiinspektor Hearne und habe einen Haftbefehl gegen Sie wegen des am 14. Oktober an Emily French verübten Mordes. Ich muss Sie warnen, dass alles, was Sie sagen, aufgeschrieben wird und gegen Sie verwandt werden kann.«

Vole warf einen nervösen Blick auf Sir Wilfrid und verließ mit den Polizeibeamten das Zimmer.

Sobald Sir Wilfrid die Tür hinter ihnen zugemacht hatte, erklärte er:

»Ich muss schon sagen, John, der junge Mann befindet sich in einer viel schlimmeren Lage, als er selbst anzunehmen scheint.«

»Das stimmt«, pflichtete ihm Mr Mayhew bei. »Was für einen Eindruck hat er auf dich gemacht?«

»Er scheint außerordentlich naiv zu sein. Und doch in gewisser Hinsicht ganz gerieben. Intelligent, möchte ich wohl sagen. Aber er ist sich ganz bestimmt nicht der Gefahr bewusst, in der er schwebt.«

»Glaubst du, dass er es getan hat?«

»Keine Ahnung. Im Großen und Ganzen möchte ich wohl sagen, nein.« In schärferem Ton fügte er hinzu: »Bist du auch der Ansicht?«

»Ja«, antwortete Mr Mayhew, »das ist auch meine Meinung.«

Sir Wilfrid bot Mr Mayhew die Tabaksdose an. Der nahm sie mit zum Schreibtisch und stopfte sich eine Pfeife.

»Na ja«, meinte Sir Wilfrid, »er hat anscheinend einen guten Eindruck bei uns beiden hinterlassen. Warum, weiß ich nicht. Eine so fadenscheinige Geschichte ist mir noch nicht vorgekommen. Weiß der Himmel, was wir damit anfangen sollen! Die einzige Aussage zu seinen Gunsten könnte von seiner Frau kommen – und wer wird schon einer Ehefrau glauben? Dazu ist sie noch eine Ausländerin. Neun der zwölf Geschworenen glauben von vornherein, dass jeder Ausländer ein Lügner ist. Außerdem wird sie vollständig aufgelöst sein und überhaupt nicht verstehen, was der Staatsanwalt zu ihr sagt. Immerhin, wir werden wohl mit ihr reden müssen. Ich kann dir aber jetzt schon sagen, sie wird hier einen hysterischen Anfall nach dem anderen bekommen.«

»Vielleicht möchtest du den Fall lieber nicht übernehmen?«

»Davon ist nicht die Rede gewesen. Ich habe nur darauf hingewiesen, dass der junge Mann uns eine unmögliche Geschichte aufgetischt hat.«

»Aber eine wahre«, behauptete Mr Mayhew und gab Sir Wilfrid die Tabaksdose zurück, während er nach Streichhölzern Umschau hielt.

»Sie muss wahr sein«, stimmte Sir Wilfrid zu und reichte Mr Mayhew eine Zündholzschachtel. »Sonst könnte sie nicht so idiotisch sein. Alle Tatsachen sprechen ja gegen ihn. Und doch könnte man sich vorstellen, dass alles so passiert ist, wie er es geschildert hat. Verdammt noch mal, ich hatte selbst eine Tante Betsy, die ich zärtlich liebte.«

Mr Mayhew entdeckte, dass die Schachtel leer war, und warf sie in den Papierkorb. »Er hat eine sehr sympathische Art.«

»Ja, er müsste eigentlich ein leichtes Spiel mit den Geschworenen haben, wenn er auch beim Richter keinen Blumentopf mit seinem Wesen gewinnen kann. Aber er ist der Typ, der sich auf dem Zeugenstand leicht ins Bockshorn jagen lässt. Es hängt eben sehr viel von seiner Frau ab.«

Es klopfte an die Tür, und Greta trat ziemlich aufgeregt ins Zimmer.

»Na, Greta, was ist denn los?«

»Mrs Vole ist hier«, erwiderte die Sekretärin im Flüsterton.

Während Mr Mayhew ganz erstaunt den Namen wiederholte, winkte Sir Wilfrid Greta zu sich und sagte:

»Der junge Mann, den Sie hier sahen, ist soeben wegen Mordes verhaftet worden. Glauben Sie, dass er der Täter ist?«

»O nein, Sir, auf keinen Fall.«

»Warum nicht?«

»Weil er viel zu nett ist.«

»Das ist also die Dritte im Bunde«, sagte Sir Wilfrid zu Mr Mayhew und forderte Greta auf, Mrs Vole ins Zimmer zu führen. »Wahrscheinlich sind wir drei leichtgläubige Narren, die sich von einem sympathischen jungen Mann einwickeln lassen.«

 

In diesem Augenblick trat eine etwa fünfunddreißigjährige Frau mit kastanienbraunem Haar und schiefergrauen Augen sehr ruhig und gelassen ins Zimmer. Mr Mayhew stellte sich und seinen Kollegen vor und ging mit teilnahmsvoller Miene auf sie zu, erhielt jedoch eine leichte Abfuhr.

»Sie sind also Mr Mayhew«, sagte Romaine Vole, und in ihrer dunklen Stimme schwang ein leiser ironischer Unterton mit. »Man hat mir in Ihrem Büro gesagt, dass ich Sie hier mit meinem Mann vorfinden würde. Aber wenn ich mich nicht irre, habe ich soeben meinen Mann unten in einen Wagen steigen sehen, und zwar in Begleitung von zwei Herren.«

»Nun, meine liebe Mrs Vole«, legte sich hier Sir Wilfrid ins Mittel, »Sie dürfen sich nicht aufregen.« Er hielt jedoch betroffen inne, als er merkte, dass Mrs Vole die Ruhe selber war, und fuhr etwas verlegen fort: »Wollen Sie nicht Platz nehmen?«

Mrs Vole setzte sich in den Sessel, den Sir Wilfrid ihr zurechtrückte, und Sir Wilfrid begann von Neuem:

»Es liegt durchaus kein Grund zur Beunruhigung vor, und Sie dürfen den Mut nicht sinken lassen.«

»O nein, das werde ich auch nicht tun«, erwiderte Mrs Vole nach einer kleinen Pause.

»Dann kann ich es Ihnen ja ruhig sagen: Ihr Mann ist soeben verhaftet worden.«

»Wegen des Mordes an Miss Emily French?«

»Ja, leider. Aber bitte regen Sie sich nicht auf.«

»Sie sagen mir das dauernd, Sir Wilfrid, dabei bin ich doch ganz ruhig.«

»Ja. Ich sehe, Sie sind sehr tapfer.«

»Wenn es Ihnen Spaß macht, können Sie es so nennen.«

»Vor allen Dingen muss man die Ruhe bewahren und mit Vernunft an die Sache herangehen.«

»Das soll mir recht sein. Aber Sie dürfen mir nichts verheimlichen, Sir Wilfrid. Sie brauchen mich nicht zu schonen. Ich will alles wissen.« Ihre Stimme nahm eine andere Klangfarbe an, als sie hinzusetzte: »Ich möchte auch – das Schlimmste wissen.«

Erleichtert über ihre sachliche Einstellung, begann Sir Wilfrid sie über das Verhältnis ihres Mannes zu Miss French auszuhorchen. Sie parierte seine Fragen mit großem Geschick und brachte ihn öfters in Verlegenheit. Als er schließlich aus ihrem eigenen Munde vernahm, dass sie diese merkwürdige Freundschaft nicht gestört habe, erklärte er begeistert:

»Ich bewundere Ihre Haltung, Mrs Vole, besonders da ich weiß, wie sehr Sie Ihren Mann lieben.«

»So, Sie wissen, wie sehr ich meinen Mann liebe?« Sie lächelte ihn an. »Darf ich fragen, woher Sie das wissen?«

»Ihr Mann hat es mir verraten. Er sprach von Ihrer Liebe in Worten, die mich wirklich bewegt haben.«

Es entstand eine kleine Pause. »Männer«, sagte Mrs Vole lakonisch, »sind mitunter sehr einfältig.«

Sir Wilfrid zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Wie bitte?«

»Es ist belanglos, Sir Wilfrid. Fahren Sie bitte fort.«

Sir Wilfrid erhob sich und kam auf das Testament zu sprechen.

»Kurz nachdem Miss French Ihrem Mann begegnete, hat sie ein neues Testament gemacht, in dem sie, abgesehen von kleineren Vermächtnissen, Ihrem Mann ihr ganzes Vermögen hinterlassen hat.«

»Ja.«

»Das wissen Sie?«, fragte Sir Wilfrid höchst erstaunt.

»Ich habe es in der Abendausgabe gelesen.«

»Ach so. Aber vorher hatten Sie keine Ahnung davon, wie? Ihr Mann doch wohl auch nicht?«

Wiederum schien sie mit der Antwort zu zögern.

»Hat er Ihnen das gesagt, Sir Wilfrid?«

»Ja. Wollen Sie etwa das Gegenteil behaupten?«

»Nein, o nein. Ich will gar nichts behaupten.«

Sir Wilfrid nahm wieder an seinem Schreibtisch Platz. »Mrs Vole, es scheint kein Zweifel zu bestehen, dass Miss French Ihren Mann wie einen Sohn oder einen Lieblingsneffen betrachtete.«

»Meinen Sie das wirklich?« Die Ironie in ihrer Stimme war unverkennbar und brachte Sir Wilfrid in eine gewisse Verlegenheit. Umso heftiger verteidigte er diese Ansicht.

»Ja. Das ist meine Meinung. Ganz entschieden. Das könnte unter den Umständen auch als ganz natürlich und normal gelten.«

»Was für Heuchler sind Sie doch in diesem Lande!«, platzte Mrs Vole heraus.

Mr Mayhew ließ sich vor Entsetzen in den nächsten Sessel fallen, während Sir Wilfrid sich bemühte, der Sache die Spitze abzubiegen:

»Nun, meine liebe Mrs Vole, Sie vertreten natürlich in diesen Dingen einen kontinentalen Standpunkt. Aber glauben Sie mir, es wäre im höchsten Grade unklug, den Eindruck zu erwecken, als habe Miss French für Ihren Mann andere – hm – Gefühle gehabt als die einer – Mutter oder – sagen wir mal – einer Tante.«

»O ja, wenn Ihnen das besser passt, sagen wir ruhig – Tante.«

»Man muss nämlich bei all diesen Dingen immer daran denken, was für eine Wirkung sie auf die Geschworenen haben.«

»Darüber habe ich ziemlich viel nachgedacht.«

»Ganz recht, Mrs Vole. Wir müssen Hand in Hand arbeiten. Nun kommen wir zum Abend des vierzehnten Oktober. Das war vor einer Woche. Können Sie sich noch daran erinnern?«

»O ja, sehr gut.«

»Ihr Mann hat mir erzählt, er sei gegen neun Uhr von Miss French fortgegangen, habe den Weg zu Fuß zurückgelegt und sei um fünf Minuten vor halb zehn zuhause angelangt.«

Sir Wilfrid blickte fragend zu Mrs Vole hinüber. Diese erhob sich und ging langsam zum Kamin. Die beiden Anwälte standen ebenfalls auf.

»Fünf Minuten vor halb zehn«, sagte Mrs Vole tonlos und nachdenklich vor sich hin.

»Um halb zehn«, fuhr Sir Wilfrid fort, »kehrte die Haushälterin zurück, um etwas zu holen, das sie vergessen hatte. Als sie an der Wohnzimmertür vorbeikam, hörte sie, wie sich Miss French mit einem Manne unterhielt. Sie behauptete, dass dieser Mann Leonard Vole gewesen sei, und Inspektor Hearne erklärte, diese Aussage habe zur Verhaftung Ihres Mannes geführt. Mr Vole hat mir jedoch versichert, dass er ein unumstößliches Alibi habe, da er um halb zehn bei Ihnen zuhause war.«

Sir Wilfrid bückte erwartungsvoll zu Mrs Vole hinüber, die schweigend am Kaminsims lehnte. Nach einer beklemmenden Pause drängte Sir Wilfrid: »Das stimmt doch, nicht wahr? Um halb zehn war er bei Ihnen, ja?«

»Hat er Ihnen das gesagt?«, fragte sie schließlich, während beide Anwälte sie gespannt ansahen. »Dass er um halb zehn bei mir war?«

»Stimmt es etwa nicht?«, fragte Sir Wilfrid ein wenig gereizt.

Wieder entstand eine längere Pause. Mrs Vole ging langsam zu ihrem Sessel zurück und ließ sich nieder.

»Aber natürlich«, lautete ihre ruhige Antwort, die bei Sir Wilfrid einen Seufzer der Erleichterung auslöste. Er setzte sich ebenfalls wieder.

»Die Polizei hat Sie wahrscheinlich schon über diesen Punkt vernommen. Was haben Sie da gesagt?«

»Ja, sie war gestern Abend bei mir, und ich habe gesagt: ›Leonard ist an dem Abend um 9.25 Uhr nachhause gekommen und nicht wieder ausgegangen.‹« Den letzten Satz leierte sie herunter, als habe sie ihn auswendig gelernt. Als sie bei Mr Mayhew eine gewisse Nervosität bemerkte, setzte sie hinzu: »Das war doch richtig so, nicht wahr?«

»Was soll das heißen, Mrs Vole?«, fragte Sir Wilfrid.

»Leonard wünscht, dass ich das sage, nicht wahr?«

»Es ist doch die Wahrheit. Das haben Sie vorhin gerade bestätigt.«

»Ich muss dies ganz richtig verstehen. Wenn ich sage, ja, es verhält sich so, Leonard war um halb zehn bei mir – werden sie ihn dann freisprechen? Werden sie ihn aus der Haft entlassen?«

Ihr Verhalten kam den Anwälten ziemlich rätselhaft vor.

Mr Mayhew beantwortete ihre Frage:

»Wenn Sie beide die Wahrheit sprechen, dann werden sie ihn – frei lassen müssen.«

»Aber als ich das der Polizei sagte, hat man es mir nicht geglaubt. Das Gefühl hatte ich wenigstens.«

Sie schien durchaus nicht unglücklich darüber zu sein. Im Gegenteil, sie erweckte den Eindruck, als verursache ihr diese Tatsache eine gewisse Befriedigung. Mit plötzlich hervorbrechender Bosheit fügte sie hinzu: »Vielleicht habe ich es nicht sehr gut gesagt?«

Die beiden Männer sahen sich schweigend an. Dann begegneten Sir Wilfrids Augen dem kühlen, ein wenig frechen Blick von Mrs Vole. Sie saßen sich wie zwei Feinde gegenüber. Sir Wilfrid änderte seine Taktik.

»Wissen Sie, Mrs Vole«, sagte er, »ich verstehe Ihre Haltung in dieser Angelegenheit nicht ganz. Vielleicht machen Sie sich die Lage Ihres Mannes nicht recht klar.«

»Ich habe Ihnen bereits gesagt«, entgegnete sie, »dass ich gern genau wissen möchte, wie schwarz die Sache für – meinen Mann aussieht. Ich sage der Polizei, Leonard war um halb zehn bei mir zuhause – und man glaubt mir nicht. Aber vielleicht hat ihn jemand beobachtet, als er Miss Frenchs Haus verließ, oder beim Heimweg auf der Straße gesehen?«

Sie blickte durchdringend und ein wenig verschlagen von einem zum anderen, und Mr Mayhew gab zögernd zu, dass dies nicht der Fall sei.

»Dann hängt sein Freispruch also nur von seinem Wort – und meinem ab.« Sie wiederholte mit ziemlicher Heftigkeit: »Und meinem. Ich danke Ihnen, meine Herren; das ist alles, was ich wissen wollte.«

Damit erhob sie sich, aber Mr Mayhew bat sie, noch ein wenig zu bleiben. »Es ist so vieles zu besprechen, Mrs Vole.«

»Nicht mit mir.«

»Warum nicht, Mrs Vole?«, fragte Sir Wilfrid.

»Ich werde doch schwören müssen, dass ich die Wahrheit sage, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit, nicht wahr?«

Sie schien belustigt zu sein.

»So lautet die Eidesformel, Mrs Vole.«

»Und wenn ich nun auf Ihre Frage, wann Leonard Vole an jenem Abend nachhause gekommen sei, antworten sollte…«

»Ja, was würden Sie dann sagen?«

»Ach, ich könnte so vieles sagen.«

»Mrs Vole, lieben Sie Ihren Mann eigentlich?«, fragte Sir Wilfrid, der aus ihrem Verhalten nicht mehr klug zu werden schien.

»Leonard behauptet, ja«, entgegnete sie mit einem spöttischen Blick auf Mr Mayhew.

»Mr Vole glaubt es jedenfalls«, warf dieser ein.

»Aber Leonard ist nicht sehr klug.«

»Sie wissen doch wohl«, bemerkte Sir Wilfrid, »dass das Gesetz sie nicht dazu zwingen kann, gegen Ihren Mann auszusagen.«

»Wie außerordentlich bequem!«

»Und Ihr Mann…«

»Leonard Vole ist nicht mein Mann«, fiel sie Sir Wilfrid ins Wort.

»Was sagen Sie da?«

»Wir haben uns zwar in Berlin trauen lassen, aber ich habe ihm nicht gesagt, dass ich zu der Zeit verheiratet war und mein Mann noch lebte. Leonard hat mich aus der russischen Zone geholt und in dieses Land gebracht.«

»Dann müssten Sie ihm im Grunde genommen sehr dankbar sein. Sind Sie das?«, fragte Sir Wilfrid ziemlich scharf.

»Dankbarkeit kann einem auch zu viel werden.«

»Hat Mr Vole Sie eigentlich jemals gekränkt?«

Sie blickte ihn höhnisch an. »Leonard? Mich gekränkt? Er verehrt sogar den Boden, über den ich schreite.«

»Und Sie?«

Wieder fochten sie ein kleines Duell mit den Augen. Dann wandte sie sich lachend ab und sagte: »Sie wollen zu viel wissen, Sir Wilfrid.«

»Wir müssen uns über einen Punkt endlich Klarheit verschaffen«, ließ sich Mr Mayhew hören. »Ihre Aussagen waren einigermaßen zweideutig. Was ist nun wirklich am Abend des 14. Oktober geschehen?«

Mrs Vole wiederholte mit monotoner Stimme: »Leonard kam um 21.25 nachhause und ist nicht wieder fortgegangen. Ich habe ihm ein Alibi gegeben, nicht wahr?«

»Allerdings«, erwiderte Sir Wilfrid und ging auf sie zu. »Mrs Vole…« Er sah den Ausdruck in ihren Augen und brach ab. Nach einer Weile sagte er: »Sie sind eine außergewöhnliche Frau, Mrs Vole.«

»Und Sie sind hoffentlich zufrieden.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und verließ das Zimmer.

 

»Zufrieden? Das ist gut! Die Frau führt etwas im Schilde – aber was? Die Sache ist mir ganz und gar nicht geheuer, John.«

»Eins steht fest«, schmunzelte Mr Mayhew. »Sie hat bestimmt nicht einen hysterischen Anfall nach dem anderen bekommen.«

»Kalt wie eine Hundeschnauze«, gab Sir Wilfrid zu.

»Wenn die als Zeugin auftritt, gibt’s ein Fiasko, besonders wenn Myers als Staatsanwalt fungiert. Wie gedenkst du die Sache zu handhaben?«

»Wie üblich. Dauernd unterbrechen – so viel Einspruch erheben wie möglich.«

»Was ich nicht verstehen kann, ist, dass der junge Vole von ihrer Liebe so überzeugt ist. Er selbst liebt sie wirklich und verlässt sich vollständig auf sie.«

»Dumm genug von ihm. Traue niemals einer Frau!«