4. Kapitel

Sie waren den Fluss Seine entlang nach Norden geritten und seinem Lauf auch dann noch gefolgt, als er einen weiten Bogen machte und schließlich in südliche Richtung dahinfloss. Rouen hatten sie längst aus den Augen verloren. Johannes war aufgefallen, dass Jacques größere Orte offenbar mied. Aber auch das konnte durchaus Teil der Kunst des Kriegers sein, und so hatte er ihn nicht danach gefragt.

Am frühen Abend verließen sie den Fluss, durchquerten in westlicher Richtung dichten Wald, bis sich überraschend eine Lichtung auftat und zwei gigantische Türme vor ihnen in den Himmel ragten. Johannes hätte hier mitten im Wald mit vielem gerechnet, nicht aber mit solch atemberaubenden Bauten. Diese Türme waren offensichtlich Teil der Fassade einer Kirche, die alles, was Johannes bislang gesehen hatte, an Höhe übertraf.

Mehr konnte er zunächst nicht wahrnehmen, denn schon hatten sie eine hohe Mauer erreicht. Ein Mönch am Tor gewährte Einlass, nachdem er Jacques erkannt hatte. Die beiden Reiter stiegen ab, durchquerten die Pforte, übergaben dem Mönch das Pferd, nicht ohne zuvor die Dinge, die sie in den letzten Tagen mit sich geführt hatten, vom Sattel zu nehmen.

Jetzt erst hatte Johannes die Möglichkeit, sich umzuschauen. Auf eine Entfernung von wenigen Schritten wirkte die Westfassade der Abteikirche noch beeindruckender. Sie mochte wohl doppelt so hoch sein wie die des Doms zu Minden. Der Eingang maß etwa die Höhe dreier erwachsener Männer und war so breit, dass jedes Pferdefuhrwerk ohne Schwierigkeiten hätte hindurchfahren können. Etwa zehn Schritt über der Pforte erblickte Johannes eine Reihe von schmalen Rundbogenfenstern, die sich fünf Schritte höher wiederholte, bevor die Westfassade nach oben spitz zulief. Die beiden viereckigen Türme rechts und links bestanden wie die Fassade aus schlichtem, unverziertem Sandstein. Erst im oberen Drittel erkannte der Junge Arkaden aus schmalen Rundbogenfenstern. Auf den letzten Metern war der Baumeister vom quadratischen zum achteckigen Grundriss übergegangen, was den aufstrebenden Charakter der Türme noch verstärkte.

Zur Rechten grenzte an die Kirche ein langgestreckter Gebäudekomplex. Johannes ahnte, was sich dahinter verbarg. Die beiden Männer betraten das Gebäude durch eine kleine Pforte, durchquerten es und gelangten auf der anderen Seite in den Kreuzgang. Johannes blickte auf eine streng geometrisch geordnete Rasenfläche, die die quadratische Anlage des Kreuzgangs noch deutlicher werden ließ und in der Diagonale wohl 50 Schritte maß. Lediglich ein Brunnenhaus an der Nordwestseite schien das Ebenmaß zu stören, doch bei genauem Hinsehen war auch dies in die Geometrie integriert.

Von dort kam ein Mönch in weißer Kutte langsam auf sie zu. Er ging gebeugt und benutzte einen Gehstock. Jacques begrüßte ihn, nannte ihn bei seinem Namen und sprach in freundlichen Worten, die Johannes nicht verstand, die aber vokalreich und wohlwollend klangen. Dann kam der Mönch auf Johannes zu, umarmte ihn ebenfalls und begrüßte ihn in fließendem Latein.

«Willkommen, junger Freund aus dem fernen Land der Sachsen. Mein Name ist Columbanus. Ich bin der Abt dieses Klosters. Ihr habt eine lange Reise hinter Euch. Fühlt Euch bei uns heimisch. Hier sollt Ihr eine Zeitlang bleiben und die Gastfreundschaft der Brüder von Jumièges genießen. Seid willkommen.»

Johannes kniete nieder und küsste den Ring des Abtes. «Erhebt Euch und folgt mir.»
Gemeinsam gingen die drei Männer zunächst durch den

westlichen Kreuzgang. Der Abt zeigte seinen beiden Gästen die Sakristei, dann den Kapitelsaal und schließlich den Eingang zu einer Kapelle, die dem heiligen Petrus geweiht war. Nach links ging es in den südlichen Kreuzgang. Hier betraten sie einen großen Saal. Johannes erblickte etwa dreißig Mönche, die Bücher studierten oder abschrieben. An den Wänden des Raumes bemerkte Johannes Regale, in denen Buchbände und gerollte Manuskripte sorgfältig abgelegt waren. Der Abt wandte sich erneut Johannes zu.

«Jacques sagte mir, dass Ihr ein Freund der Bücher seid. Unsere Bibliothek wird Euch sicher interessieren. Es ist die weitaus größte in der Normandie.»

Er winkte einen der Mönche heran, einen schlanken, hochgewachsenen Mann mit fast weißem Haar, der, als er herüberkam, das rechte Bein etwas nachzog.

«Das ist Thomas. Er beaufsichtigt die Bibliothek und kann Euch einen Überblick verschaffen.»
Johannes verbeugte sich vor dem Magister. Der tat es ihm nach und sprach ihn in jener fremden, aber melodischen Sprache an, die schon der Abt verwendet hatte. Als er bemerkte, dass der Junge nicht reagierte, wechselte er ins Lateinische.
«Ihr kennt unsere Sprache nicht. Aber das soll Euch nicht verunsichern. Ihr werdet die Bedeutungen schnell heraushören. Und bis dahin hilft Euch das Lateinische. Es ist die Sprache der Gebete und der Bücher.»
«So ist es», antwortete Johannes ebenfalls in fließendem Latein. «Es würde mich sehr freuen, wenn Ihr mir einen Einblick in Eure Schriften gewährt.»
«Es wird sicher noch viel Zeit sein, deine Studien zu vertiefen», unterbrach Jacques. «Lasst uns weitergehen.»
Sie verließen die Bibliothek. Der Abt führte seine Gäste den Kreuzgang entlang zum Refectorium, zur Wärmestube und in die Schlafräume im Obergeschoss, wo er Johannes ein Bett zuwies.
«Ihr werdet einige Wochen unser Gast sein, Johannes. In dieser Zeit solltet Ihr wie alle Mönche an den Stundengebeten und den Essenszeiten teilnehmen. Es sei denn, Euer Meister hat anderes mit Euch vor.»
Er blickte lächelnd zu Jacques.
«Sicherlich werden wir manchmal nicht zugegen sein», sagte der. «Aber wann immer es möglich ist, wird es uns eine Ehre sein, mit Euch zu beten, ehrwürdiger Columbanus. Einige Tage muss ich in Rouen verbringen, und so freut es mich umso mehr, wenn Ihr Johannes Zugang zu der in aller Welt gelobten Bibliothek von Jumièges gewährt.»
«Wir freuen uns immer, wenn ein wahrhafter Freund der Bücher unsere Schätze zu würdigen weiß», entgegnete der Abt. «Lasst uns nun zur Stille finden. Euer Ritt wird anstrengend gewesen sein.»
Die beiden Männer ließen Johannes allein. Er legte die wenigen Dinge, die er bei sich trug, hinter dem Kopfende des Bettes ab und gönnte sich etwas Ruhe. Es war ihm noch immer unklar, warum Jacques ausgerechnet diesen entlegenen Ort gewählt hatte. Und er konnte sich ebensowenig vorstellen, was in den nächsten Wochen geschehen würde. Doch zugleich verspürte er in diesem Kloster ein Stück Heimat. Vieles kam ihm sofort vertraut vor. Und er war zufrieden bei dem Gedanken, dass er nach den Strapazen der Reise nun einige Tage in den ruhigen, überschaubaren Bahnen eines Klosters leben durfte.
Als Johannes die Glocke hörte, begab er sich in den Kreuzgang. Er blickte zum Dach der Klosterkirche hinauf und bemerkte erst jetzt, dass sich über der Vierung ein weiterer Turm erhob, der denen der Westfassade an Höhe in nichts nachstand. Von dort oben rief eine tiefe, mächtige Glocke die Mönche zum Gebet.
Johannes betrat die Kirche. Von den Emporen des Langhauses drang aus schwindelerregender Höhe das letzte Licht des Tages in den Raum. Er bemerkte an der Decke ein Blendgewölbe aus Holz. Dann wandte er den Blick zur Rechten und zur Linken. Quadratische Pfeiler und runde Säulen wurden durch Rundbögen zu einer Reihe verbunden und trennten das Mittelschiff von den beiden Seitenschiffen. Johannes betrat den Chor, in dem sich die Mönche zum Gebet versammelt hatten. Dieser Chorraum besaß einen Umgang und war im Gegensatz zu allem, was er in diesem Kloster gesehen hatte, im neuen Stil errichtet. Der Gesang setzte ein. An der Form des Ingressus erkannte Johannes, dass nun die Stunde der Vesper gekommen war. Psalmgesänge, Antiphone, Responsorien und Hymnus unterschieden sich kaum von dem, was ihm seit vielen Jahren vertraut war. Und so hörte er auch das Magnificat, das im Chorraum leise nachhallte: Großes hat mir der Mächtige getan und heilig ist sein Name und seine Barmherzigkeit währet von Geschlecht zu Geschlecht.

Der erste Tag in der Abtei Jumièges verlief für Johannes erholsam. Während der Stundengebete und Mahlzeiten begegnete er Jacques, doch der sprach nur wenig mit ihm. So blieb viel Zeit, um Schlaf nachzuholen. Während der Mußestunden erinnerte sich Johannes der verschiedenen Etappen seiner Reise, der Begegnungen mit Menschen, die ihm wohlgesinnt gewesen waren: der Bischof von Minden, Martin, der Gehilfe des Kaufmanns, der Kapitän der Kogge, der ihn nach Brügge gebracht und die Passage nach Westen vorbereitet hatte. All diesen Menschen war er zunächst mit Vorsicht und Bedenken begegnet, um dann die Erfahrung zu machen, dass er ihnen vertrauen konnte. Doch Jacques? Hier war es anders. In den letzten Tagen hatte Johannes mehrfach erlebt, dass ihn sein neuer Meister äußerster Gefahr aussetzte. Trotz des gemeinsamen Ritts hatte Jacques Distanz zu seinem Schüler bewahrt und war in seinen Erklärungen eher wortkarg geblieben. Noch immer wusste Johannes nicht, was er von diesem Mann halten sollte.

Am darauffolgenden Tag forderte Jacques seinen Schüler auf, nach der Stunde der Prim in den Klostergarten zu kommen und das Schwert mitzubringen. Der Garten befand sich hinter den Gebäuden des östlichen Kreuzgangs. Johannes war dort zunächst allein und betrachtete aufmerksam die Beete, in denen Heilkräuter gezogen wurden. Obgleich er auf dem Hof der Eltern viele Pflanzen kennen gelernt hatte, waren ihm die meisten der hier wachsenden Kräuter unbekannt. Er nahm sich vor, sie näher zu studieren, wenn es die Zeit zulassen würde. Dann bemerkte er neben sich seinen Meister, der sich lautlos genähert hatte.

Zunächst verbrachten sie wie an den vergangenen Tagen einige Zeit damit, grundlegende Bewegungen des Schwertkampfes einzuüben. Doch schließlich schien Jacques unzufrieden zu sein. Er brach den Unterricht ab, nahm das Schwert seines Schülers in die Hand, ließ es in der Sonne aufblinken, bewegte es mehrmals mit kunstvoll elegantem Schwung, um es schließlich wieder beiseite zu legen. Dann beschloss er, dass sie sich am Nachmittag nach der Non wiedertreffen sollten, ohne Schwert.

Das Verhalten des Meisters konnte Johannes nicht so recht deuten, gelang es ihm doch mittlerweile, das Schwert kraftvoll zu führen und schnell auf den gegnerischen Angriff zu reagieren.

Am Nachmittag hatte Jacques zur Überraschung seines Schülers einen Bogen mitgebracht.

«Ich glaube, der Bogen wird dir den Weg leichter machen», sagte er ohne Umschweife. «Es geht nicht darum, allein die Technik zu erlernen. Auch nicht allein darum, das Schwert zu schwingen, um den Gegner zu besiegen. Vielleicht wird aus dir nie ein großer Schwertkämpfer. Aber das ist auch nicht nötig. So versuche denn, ein Meister des Bogens zu werden.»

Jacques zeigte Johannes zunächst den Bogen, der aus einem Stück gearbeitet war und eine solche Länge besaß, dass er, am Boden aufgestellt, den Schützen an Höhe fast erreichte.

Jacques nahm einen Pfeil aus seinem Köcher, legte ihn auf, spannte die Sehne des Bogens so weit, dass Johannes für einen Moment befürchtete, das Holz könne aufgrund der Zugkraft brechen, und ließ dann die Sehne aus der Hand gleiten. All dies geschah scheinbar ohne jede Mühe in einer einzigen kontinuierlichen Bewegung. Johannes sah, wie der Pfeil etwa sechzig Schritte entfernt einen Strohballen traf.

Darauf zeigte Jacques seinem Schüler in verlangsamter Form den Bewegungsablauf des Spannens und forderte ihn auf, es ihm nachzutun. Schon beim ersten Versuch musste Johannes bemerken, dass eine erhebliche Körperkraft dazu nötig war. Zunächst wollte es gar nicht gelingen. Nach einer Stunde des Übens war Johannes zwar in der Lage, den Bogen mit äußerster Mühe zu spannen, doch der Kraftaufwand war so groß, dass ihm schon nach Sekunden die Hände zitterten. Hin und wieder korrigierte Jacques die Haltung seines Schülers, doch schließlich brach er die Übungen ab, und Johannes befürchtete, dass es ihm mit dem Bogen ebenso ergehen würde wie mit dem Schwert. Offenbar schien er nicht sonderlich begabt zu sein. Zu seiner Überraschung meinte Jacques, dass es fürs Erste gut sei und sie am Abend weiterüben würden.

Im Anschluss an das Stundengebet zur Non trafen sich die beiden Männer erneut im Klostergarten. Johannes hatte sich etwas erholt und war zuversichtlich, mit neuer Kraft erfolgreicher zu sein als beim ersten Mal. Doch es erging ihm wie schon am Nachmittag. Kaum war der Bogen auch nur annähernd gespannt, zitterten die Hände. Jacques beobachtete genau die Haltung seines Schülers, verbesserte sie mehrmals, doch nach zwei Stunden härtester Arbeit war das Ergebnis erbärmlich, und Johannes konnte nicht verheimlichen, dass er schon jetzt die Geduld verloren hatte.

«Du bist zu sehr in deinen Gedanken», sagte Jacques schließlich. «Du bist nicht unmittelbar bei dem, was du tust. Stattdessen denkst du nach, was du tun wirst, was geschehen wird. Wenn du den Bogen spannen willst, denkst du über das Spannen des Bogens nach, statt den Bogen zu spannen. Erinnere dich an unsere Begegnung mit den Wölfen. Jene Gegenwärtigkeit, die du damals im Augenblick der Gefahr gezeigt hast, benötigst du jetzt, um die Kunst des Bogenschießens zu erlernen.»

Johannes sah seinen Meister erst ratlos an und äußerte dann seine Vermutung, dass es wohl irgendeine Technik oder ein einfaches Rezept geben müsse, um die Kraft zu entwickeln, den Bogen zu spannen.

Doch Jacques schüttelte den Kopf. Er nahm den Bogen und forderte seinen Schüler auf, ihm während des nun folgenden Schusses mit der Hand den Oberarm zu umfassen. Während Jacques in eleganten Bewegungsabläufen den Bogen spannte und den Pfeil davonschnellen ließ, bemerkte Johannes, dass die Muskulatur des Meisters bei all dieser Bewegung so spannungsarm war, als würde ihm all das nicht die geringste Mühe bereiten.

Am frühen Morgen des folgenden Tages setzten sie die Übungen mit dem Bogen fort. Auch heute endeten die ersten Versuche kläglich. Johannes war verzweifelt. Wie sollte er die Kunst des Bogenschießens erlernen, wenn es ihm nicht einmal gelang, den Bogen zu spannen? Wäre es nicht besser gewesen, beim Schwert zu bleiben?

Jacques war der Unmut seines Schülers nicht verborgen geblieben.
«Hab Geduld», sagte er. «Du musst einfach den Gedanken fallen lassen, dass man das Bogenschießen in wenigen Tagen erlernen kann. Es wird lange dauern, bis du dich einen Meister nennen kannst. Das ist so. Sei also unbesorgt.»
Der Meister nahm den Bogen wieder zur Hand.
«Ich glaube, du tust dich deshalb so schwer, weil du falsch atmest. Für das Bogenschießen ist es wichtig, dass du langsam und gleichmäßig ein- und ausatmest. Verbinde deine Atmung mit den Bewegungen des Bogenschießens.»
Jacques nahm einen Pfeil auf, legte ihn auf, hob den Bogen an, spannte ihn und verweilte, um schließlich den Pfeil zu lösen. Nun, da ihm dies bewusst war, sah Johannes, dass der Meister jeden dieser Bewegungsabschnitte durch Einatmen einleitete, durch das Anhalten des Atems kurzzeitig in der Schwebe hielt und mit dem Ausatmen abschloss.
Den gesamten Tag verbrachte Johannes damit, Atem und Bewegung in ein Gleichmaß zu bringen. Die Gebetsstunden waren ihm nun eine angenehme Pause. Am Nachmittag machte er während der Gebete zur Non die Beobachtung, dass sich die Schulung des Atems unwillkürlich auch auf seinen Gesang während des Gottesdienstes auswirkte. Schlagartig wurde ihm bewusst, wie aus dem Atem Gesang entstand, jener Gesang, der den Menschen mit Gott verbindet. Hatte Gott dem ersten Menschen nicht den Atem eingehaucht und ihn damit zum Leben erweckt? Der Gedanke, dass der Atem ihn auf den Ursprung seines Daseins zurückführte, stimmte ihn froh. Und er ahnte, dass sein Meister ihm mehr beibrachte als die Kunst des Bogenschießens.
Am folgenden Tag setzte Johannes seine Bogenübungen gut gelaunt fort, war sehr geduldig und guten Willens. Doch auch der beste Wille vermochte nichts auszurichten gegen Verspannungen der Schultern und Versteifung der Muskulatur in den Oberschenkeln. Jacques korrigierte mehrfach die Haltung seines Schülers. So vergingen Tage. Johannes hatte bald jedes Zeitgefühl verloren. Lediglich die Stundengebete gaben dem Leben eine Struktur.
Dann geschah es. Am späten Nachmittag hatte Johannes wie hunderte Male zuvor den Bogen gespannt und den Schuss gelöst. Doch das Spannen der Sehne war ihm diesmal mit einer Leichtigkeit geglückt, die ihm selbst unerklärlich blieb. Er hatte während dieser Bewegung eine tiefe Selbstgelöstheit gespürt. Dem Meister war all das sofort aufgefallen. Er kam auf Johannes zu und beglückwünschte ihn.
«Du hast es geschafft. Für einen Moment warst du ganz Bogen, ganz Sehne.»
Johannes war überglücklich, so dass er kein Wort von sich geben konnte. Jacques brach die Übung ab und bat seinen Schüler, die Atemübungen fortzusetzen.
In den folgenden Tagen gelang es Johannes zunächst nur selten, den Bogen in dieser Weise zu spannen, aber er wurde darin immer gelöster, und die gelungenen Versuche mehrten sich. Ganz offensichtlich war der Atem die Brücke dieser Einheit von Schütze und Bogen.
Als das Spannen des Bogens immer besser gelang, begann Jacques die Aufmerksamkeit seines Schülers auf das Lösen des Schusses zu lenken. Johannes hatte die Sehne bislang immer dann gelöst, wenn der Druck unerträglich geworden war. Gegen die Schmerzen in den Fingern hatte er von seinem Meister einen Lederhandschuh erhalten. Aber auch das änderte nichts daran, dass er letztlich der Spannung der Sehne und damit seiner eigenen Kraftlosigkeit nachgab.
Nun machte ihm der Meister klar, dass er bislang nur auf die Spannung geachtet, die Loslösung der Sehne aus den Fingern bislang aber völlig vernachlässigt hatte. Jacques nahm den Bogen und forderte seinen Schüler auf, bewusst auf den Vorgang des Lösens zu achten.
Johannes beobachtete, wie er den Bogen spannte und schoss. Es entging ihm nicht, dass Jacques die rechte Hand öffnete, dass diese Hand, plötzlich vom Zug befreit, zurückschnellte, doch er bemerkte ebenso, dass der Körper des Schützen dabei nicht im geringsten erschüttert wurde. Stattdessen führte Jacques den Schussarm langsam zur Seite und streckte ihn aus. Hätte man den Pfeil nicht fliegen und mit dumpfem Schlag auf dem Strohballen auftreffen gesehen, hätte man die Bewegungen des Schützen für eine Art Tanz halten können.
Von nun an versuchte Johannes, die kunstvollen Bewegungsabläufe des Meisters nachzuahmen. Doch die Aufgabe schien unmöglich. Während der nächsten Tage kam es Johannes oft so vor, als schieße er dilettantischer als zu Beginn seiner Ausbildung. Auch das innerlich gelöste Spannen des Bogens wollte nicht mehr gelingen. Schließlich nahm Jacques ihn zur Seite und sprach ihm Mut zu.
«Überlege nicht, was du zu tun hast. Und denke keinesfalls daran, dass du etwas erreichen willst. Dein Wille hindert dich. Sei ohne jede Absicht. Öffne dich und spüre. Dann wird es wie von selbst geschehen, dass sich die Sehne löst, fast so, als würde sie einfach durch deine Finger hindurchgehen. Wenn ein kleines Kind nach deiner Hand greift, hält es diese so fest geschlossen, dass du dich über seine Kraft wunderst. Aber wenn es sich wieder abwendet und die Hand loslässt, geschieht dies fast unmerklich. So ist es auch mit dem Bogenschießen.»
Nach und nach gewann Johannes die innere Ruhe zurück. Dass es ihm bald wieder gelang, den Bogen kunstvoll zu spannen, lag auch daran, dass er die täglichen Übungen gelassener nahm. Der Meister lobte ihn oft und machte ihm zugleich deutlich, dass die misslungenen Versuche ebenso wichtig seien wie die gelungenen.
Nachdem sie etwa zwei Wochen geübt hatten, sagte Jacques, dass er für einige Tage nach Rouen reisen müsse. Johannes solle die Atemübungen fortsetzen und die Zeit nutzen, um die Bibliothek kennenzulernen. Eine Unterbrechung der Schulung im Bogenschießen sei durchaus sinnvoll, weil man danach gelöst und erholt einen neuen Anlauf nehmen könne.

«Zur Kunst des Bogenschießens gehört auch das rechte Warten.»

Mit diesen Worten hatte sich Jacques von seinem Schüler verabschiedet. Johannes war im Zweifel. Vielleicht würde er in dieser Zeit manches verlernen. Immerhin hatte er nun Gelegenheit, die Bibliothek aufzusuchen. Nachdem der Meister morgens nach Rouen aufgebrochen war, nahm Johannes zunächst wie gewohnt am Gebet zur Terz teil. Dann durchschritt er den Kreuzgang und betrat den Lesesaal.

Es war beeindruckend, wie viele Mönche hier tätig waren. An den Pulten mochten wohl an die dreißig mit dem Lesen oder Kopieren von Schriften beschäftigt sein. Ein erster flüchtiger Blick bestätigte Johannes die Kunstfertigkeit der Schreiber. Weit mehr als die Zisterziensermönche versahen sie ihre Bücher mit kunstvollen Ornamenten und Abbildungen. Die Anwesenheit des fremden Mönchs schien niemanden zu verwundern. Manch einer blickte auf, nickte Johannes grüßend zu, doch die meisten blieben konzentriert bei ihrer Arbeit. Thomas, der Magister, hatte den Gast bemerkt, kam auf ihn zu und begrüßte ihn freundlich.

«Johannes, habt Ihr doch den Weg in unsere Bibliothek gefunden? Das freut mich.»
«Auch ich bin froh, einmal die Gelegenheit zu haben», antwortete Johannes. «Die Ausbildung hat mir bislang keine Zeit gelassen.»
«Ich hörte davon. Ihr Templer tut seltsame Dinge. – Aber offensichtlich wollt Ihr die Bücher nicht vernachlässigen. Und dabei helfe ich Euch gern. Welche Schriften konntet Ihr in Eurem Kloster studieren?»
«Das waren Evangeliare, Predigtsammlungen, Traktate der Kirchenväter, die Carta Caritatis der Zisterzienser.»
«Habt Ihr auch Neueres lesen können?»
«Wie meint Ihr?»
«Es gibt Magister, die die heiligen Schriften und die Werke der Kirchenväter nicht nur studiert haben, sondern auch deuten. Sie versuchen, aus all diesen Schriften eine Art Grundlage des rechten Glaubens und Wissens zu schaffen, freilich mit recht unterschiedlichen Ergebnissen.»
Johannes überlegte einen Moment, bis ihm klar wurde, was Thomas meinte.
«Ist das nicht etwas, das jeder Gläubige und jeder Mönch für sich tun muss?»
«Sicherlich. Aber es gibt Magister, die dies in besonders vorbildlicher Weise getan und aufgeschrieben haben, so dass sie unser eigenes Denken, unseren eigenen Glauben bereichern und auf den rechten Weg bringen können.»
«Aber letztlich bleibt das doch alles Menschenwerk.»
Thomas blickte erstaunt auf.
«Ihr mögt recht haben. Doch müsst Ihr diese Gelehrten zunächst zu Euch sprechen lassen, bevor Ihr sie tadelt.»
Johannes nickte.
Der Magister ging mit Johannes zu einem großen Regal und zog zwei Bände heraus.
«An diesem Ort», sagte er, «findet Ihr die Schriften der großen Gelehrten, die der nahen Vergangenheit und die der fernen Zeit, da unser Heiland noch nicht auf Erden weilte. Ich habe Euch Schriften des heiligen Bernhard ausgewählt. Er ist der Gründer des Ordens der Zisterzienser und der Templer. Er wird Euch vielleicht besonders interessieren.»
Thomas führte seinen Gast zu einem freien Pult.
«Dieses Pult steht Euch von nun an zur Verfügung. Fragt mich, wann immer Ihr etwas benötigt. Je tiefer Ihr in die Schriften eintaucht, desto mehr ist es mir eine Freude, Euch hilfreich zu sein.»
Johannes dankte dem Magister, der ihn nun am Pult allein ließ. Er betrachtete die beiden Schriften, die vor ihm lagen, und blätterte beide auf, um sich eine Übersicht zu verschaffen. Der erste Band, «De contempto mundi», schien das Problem des Wissens zu behandeln, der zweite, «De gradibus humilitatis», die Wege der Auffahrt der Seele zu Gott. Johannes begann mit der ersten Schrift. Anfangs fiel es ihm etwas schwer, sich in das Lateinische einzulesen, aber die Schwierigkeiten waren bald überwunden.
So erfuhr er, dass Bernhard vom bloßen Wissen nicht viel hielt. Im Gegenteil. Ein religiöses Gemüt brauche Leidenschaft. Glühen sei mehr als Wissen. Der Weg zu Gott führe über die Intuition, nicht über logische Spielereien oder rhetorische Spitzfindigkeiten. Auf die innere Einstellung komme es an. Gott werde nur insoweit innerlich erkannt, als er geliebt würde. Bernhard bezeichnete das Wissen um des Wissens willen als heidnisch. Stattdessen seien innere Versenkung und Meditation notwendig, um die höchste Stufe der Liebe zu erreichen, die wahre Gottesliebe, in der der Mensch auch sich selbst nur noch um Gottes willen liebt.
Beim Lesen der Schriften Bernhards verspürte Johannes bald ein gewisses Misstrauen. Zwar konnte er Bernhards Appell an die Intuition nachvollziehen. Schließlich war es ja die Intuition, genauer das Loslasssen allen Denkens und Wissens, das man auf dem Weg zur Kunst des Bogenschießens einübte. Auch war es genau dies, was ihm in den gefährlichen Situationen seiner Reise allein weitergeholfen hatte. Aber sollte man deshalb das Denken und das Wissen in Frage stellen? Hatte Gott dem Menschen nicht auch den Verstand gegeben? Doch wohl nicht nur, um, wie Bernhard meinte, den Menschen in Versuchung zu führen!
Bald bemerkte Johannes, dass es dunkel wurde. Er gab Thomas die beiden Bände zurück und teilte ihm seine Gedanken mit. Thomas war verwundert. Von einem Mitglied des Ordens des heiligen Bernhard hatte er dies nicht erwartet. Er versprach Johannes für den folgenden Tag weitere anregende Lektüre.
In der Nacht, zwischen den Stunden der Komplet und der Vigil, konnte Johannes nicht schlafen. Im Dormitorium herrschte Stille. Vereinzelt drangen Geräusche von außen in den Raum. Wind war aufgekommen. Regen schlug an die Außenwände.
Seine Gedanken wanderten zurück zum elterlichen Hof, zum Kloster in Loccum. Für einen Augenblick waren seine Erinnerungen völlig klar: Er meinte den Wind zu spüren, der über den heimischen Feldern wehte, das Knirschen unter seinen Füßen wahrzunehmen, wenn er bei eisiger Kälte über die Steinplatten des Kreuzgangs schritt, den Regen an die Holzwand der elterlichen Scheune schlagen zu hören. Wie lange war er schon fort? Er hatte versäumt, die Tage zu zählen, und nun konnte er sich nur noch an den Jahreszeiten orientieren. Bei dem Gedanken an die Menschen, die er zurückgelassen hatte, wurde ihm eng ums Herz. Würde er seine Eltern wiedersehen? Würde er überhaupt zurückkehren? Und als wer würde er zurückkehren? Würde man ihn noch als den Johannes erkennen, der damals gegangen war? Würde alles noch so sein, wie er es verlassen hatte?
Die Glocke zur Vigil unterbrach seine Gedanken.

Am nächsten Morgen fand er sich wieder in der Bibliothek ein. Thomas hatte ihm zwei Werke des Anselmus, eines ehemaligen Abtes von Canterbury, ausgewählt, «De veritate» und «Monologion». Im ersten Buch entdeckte Johannes ein ihm bislang unbekanntes Thema. Es wurde die Frage aufgeworfen, ob die Gattungsbegriffe, die Universalia, also etwa der Tisch oder das Rind, nur in den Gedanken des Menschen vorhanden seien oder ob sie unabhängig vom Bewusstsein des Menschen existierten. Platon habe gelehrt, dass angesichts der Vergänglichkeit der Dinge die Allgemeinbegriffe dauerhafter und wirklicher seien als die realen. Das Schöne an sich sei also dauerhafter und wirklicher als ein realer schöner Mensch.

Johannes fand diese Fragestellung allein deshalb interessant, weil ihn der Gedankengang Platons verblüffte. So hatte er die Dinge noch nie gesehen. Er las weiter: Anselmus versuchte Platons Vorstellung aufzunehmen und mit dem Glauben zu verbinden. Alles Leben sei nur dadurch wahr, dass es in der höchsten Wahrheit gründe, in Gott. Gott, die Wahrheit des Seins, sei die Bedingung der Wahrheit der Erkenntnis. Glaube müsse also der Erkenntnis vorausgehen.

Als er das Buch geschlossen hatte, war sich Johannes nicht sicher, was er von dieser Argumentation halten sollte. Sie war in sich stimmig. Aber traf sie auch auf die Wirklichkeit zu? In seinen täglichen Übungen hatte er gelernt, den Bogen absichtslos zu spannen. Doch war es der Bogen an sich, den er spannte? Oder jener ganz konkrete Bogen, der hier und jetzt darauf wartete, gespannt zu werden? Die Erfahrung der letzten Tage lehrten ihn, dass Anselmus von Canterbury Unrecht hatte. Den konkreten Bogen galt es zu spannen. Johannes war sicher, dass jeder andere Bogen auf jeweils ganz eigene Weise reagieren würde.

Johannes schlug das Buch zu. Dieser Anselmus war offensichtlich beseelt vom Vertrauen in die Vernunft, die solche Schlussfolgerungen ziehen konnte. Er verstand nun den Unwillen des heiligen Bernhard gegenüber manchen Spitzfindigkeiten der Vernunft etwas besser. Zwar dachte Anselmus in sich schlüssig, fraglich blieb nur, ob das Instrument, das er anwandte, die Vernunft, in der Lage war, die Wirklichkeit adäquat in sich abzubilden.

Er verließ die Bibliothek mit dem Vorsatz, den Rest des Tages kein Buch mehr aufzuschlagen und sich ganz den Stundengebeten und der bewussten Atmung zu widmen.

Am folgenden Tag ertappte sich Johannes kurz bei dem Gedanken, ohne Jacques das Bogenschießen zu üben. Doch dann gab er diese Überlegung wieder auf, wurde ihm doch klar, wie wichtig die Hilfestellungen und die Anleitung des Meisters waren. So verbrachte er die Zeit zwischen den Stundengebeten erneut in der Bibliothek. Er hatte Thomas seine Leseerfahrungen des letzten Tages geschildert. Dieser meinte, es gäbe wohl schwerlich einen Magister, der zwischen den Gedanken des heiligen Bernhard und des Anselmus vermitteln könne. Zu deutlich seien die grundlegenden Unterschiede. So wählte er für seinen Gast Bücher des Pierre Abaelard aus, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass Abaelard und Bernhard zu Lebzeiten Feinde gewesen seien. Dieser Abaelard sei ein großer Rhetoriker gewesen und habe als Lehrer in verschiedenen Kathedralschulen viele Anhänger gefunden. Außerdem sei er damals eine Liebesaffäre mit einer Schülerin eingegangen, die viel Aufsehen erregt hätte. Bernhard habe gegen ihn ein Inquisitionsverfahren eingeleitet, weil seine Deutungen des christlichen Glaubens der Lehre der heiligen Kirche widersprachen.

All diese Informationen machten Johannes neugierig auf Abaelard. In einem Buch mit dem Titel «Dialog» konfrontierte der Autor den Leser nicht nur mit der Forderung, dass alles Nachdenken über Gott einer sprachlichen und methodischen Kritik unterzogen werden solle, sondern dass die Kirche für den Suchenden allenfalls eine vorläufige Autorität sein könne. Nicht Bibelsprüche und Wunder sollten den Gläubigen leiten, sondern seine Vernunft.

Johannes war schlagartig klar, warum die Kirche auf Abaelard reagieren musste. Aber auch unabhängig davon erschien ihm die Betonung der Vernunft als einzig möglicher Weg zu Gott einseitig. Hier zeigte sich offenbar der Stolz eines Mannes, der sich seiner eigenen Fähigkeiten bewusst war.

Etwas skeptisch nahm sich Johannes den zweiten Band, den Thomas ihm auf das Pult gelegt hatte. «Ethica» hieß diese Schrift. Abaelard schrieb darin, das Gute liege nicht in den Handlungen der Menschen, sondern in ihren Absichten. Die Vorstellung einer Erbsünde, wie sie die Kirche vertrete, lehnte er ab. Auch war er der Meinung, dass die Lehre Christi schon von Sokrates und Platon vorweggenommen sei. Überhaupt hätten alle Religionen eine gemeinsame Grundlage und mündeten in gleichen ethischen Vorstellungen, etwa in der Aufforderung, seinen Nächsten zu lieben. Am Ende des Buches machte Abaelard eine Wendung, die Johannes ihm nicht zugetraut hätte. Offen gestand er ein, dass alle Wahrheit bei Gott liege, nicht mit der menschlichen Vernunft zu erfassen sei und dass es deshalb der Offenbarung bedürfe.

Am Ende der Lektüre war die Position Abaelards für Johannes gar nicht mehr so abwegig. Wenn man davon ausging, dass der gläubige Mensch die Wahrheit Gottes letztlich durch Offenbarung erhalte, dann bestünde die Bedeutung der Kirche lediglich darin, ihn dorthin zu leiten. Sie selbst wäre aber nicht die Autorität, die im Besitz der alleinigen Wahrheit sein könne.

Plötzlich kam Johannes der Gedanke, Jacques auf diese Dinge anzusprechen. Zwar war der bislang ein sehr wortkarger Lehrer gewesen, doch müsste er eine Meinung zu all dem haben. Und auch die Templer als christlicher Orden würden sich in irgendeiner Weise dazu verhalten. Johannes brachte die beiden Bände an ihren Platz zurück und verließ den Lesesaal.

Am Abend war Jacques zurückgekehrt. Er teilte seinem Schüler mit, dass sie noch morgen weiterreiten würden. Johannes nahm diese Nachricht mit gemischten Gefühlen auf. Das Kloster war ihm in den letzten Wochen ein Ort der Sammlung gewesen, der ihm nach den Aufregungen der Reise wohlgetan hatte. Was nun auf ihn zukam, blieb völlig offen. Gleichzeitig war Johannes klar, dass es keinen Stillstand geben konnte. Seine Reise hatte noch kein Ende gefunden, vielleicht gerade erst begonnen. Immerhin blieb Zeit, sich von Thomas zu verabschieden. Er dankte dem Magister für die Möglichkeit, den eigenen Geist reisen zu lassen, in Regionen, die ihm bislang völlig fremd gewesen waren. Obwohl die Lektüre der vergangenen Tage mehr Fragen als Klarheit hervorgebracht hatte, sah Johannes deutlich, dass es hier noch viel zu entdecken gab.

Die letzten gemeinsamen Stundengebete mit den Mönchen bekamen eine besondere Bedeutung, boten sie doch noch einmal die Möglichkeit, die Geborgenheit des Klosters zu spüren.

In der Nacht träumte Johannes von dieser Geborgenheit, wobei die Menschen und die Gebäude von Jumièges und Loccum ineinander überzugehen schienen. Thomas der Magister verwandelte sich in Jordanus den Bibliothekar, der Abt Columbanus in den Loccumer Abt Lefhart. Die Bibliothek von Jumièges schien mit der Loccums zu verschmelzen, und alle Traumräume besaßen die gleiche vertraute Atmosphäre.

Nach einem letzten Mahl im Refectorium verließen Jacques und Johannes am Morgen das Kloster, nicht ohne dem Abt für seine Gastfreundschaft gedankt zu haben. Sie erhielten Proviant für mehrere Tage und zwei frische Pferde. Nach einem kurzen Ritt erreichten sie den Fluss und bald darauf eine Fähre, mit der sie auf die andere Seite gelangen konnten. Dann ging es durch dichten Wald in südliche Richtung. Da beide Reiter nun ein eigenes Pferd besaßen, kamen sie schnell voran, zumal der Weg, den sie gewählt hatten, zwar schmal, aber frei von Hindernissen war. Gegen Mittag gelangten sie erneut an einen Fluss und machten Halt. Nachdem sie sich gestärkt hatten, nahm Jacques den Bogen, der am Sattel befestigt war, und forderte seinen Schüler auf, einige Schüsse zu versuchen.

Johannes hielt den Bogen zunächst etwas unsicher, so als würde er ihn zum ersten Mal in der Hand halten. Er begann seinen Atem zu kontrollieren. Er legte den Pfeil auf und spannte den Bogen ohne große Anstrengung. Dann hielt er die gewonnene Spannung, ließ den Atem die folgenden Bewegungen unterstützen, doch schließlich löste sich der Schuss zu früh, und der Pfeil sauste ungezielt durch die Luft.

Jacques zeigte sich trotzdem sehr zufrieden. Er lobte die körperliche Gelassenheit, die mit dem Spannen des Bogens einhergegangen war, und machte seinem Schüler Mut, nicht daran zu verzagen, den rechten Moment des Loslassens zu finden. Während der nachfolgenden Schüsse bemerkte Johannes, wie sehr die Konzentration auf den Atem die äußeren Reize zurückdrängte. Das Rauschen des Flusses und der leichte Wind, der durch die Bäume fuhr, verblassten so weit, dass er sie kaum mehr wahrnahm. Bald empfand er die Atmung als eine Hülle, die ihn vor allem Ablenkenden schützte. Jacques versicherte ihm, dass sich diese Erfahrung mit zunehmender Übung immer schneller einstellen würde. Er verglich es mit jener Praxis, die Johannes bereits aus der Kontemplation kannte. Die Konzentration auf den Atem half, Gefühle, Stimmungen, Wünsche, Sorgen, selbst hartnäckige Gedankenzüge loszulassen.

Johannes dachte über dieses Bild nach.
«Aber der Schütze hat doch eine Absicht», entgegnete er. «Als Krieger muss er in bestimmten Situationen reagieren.

Und nicht nur das. Er handelt bewusst. Aber es wird dennoch eine Handlung der Absichtslosigkeit sein.»
«Ist das nicht ein Widerspruch?», fragte Johannes.
Jacques lächelte.
«Für dein Denken und deine Sprache ist es ein Widerspruch», antwortete er kurz. «Alles andere lässt sich nur erspüren.»
«Dann ist es so, wie Abaelard sagt? Dass wir die Wahrheit nur als Offenbarung erfahren?»
Jacques blickte erstaunt auf.
«Nun, wenn du ihn gelesen hast, weißt du auch, dass er sehr viel von unserem Verstand hielt, nicht aber von der Mystik.»
«Und er war ein Feind Bernhards.»
«Richtig. Aber das ist lange her. Seitdem ist vieles anders geworden.»
«Wie meint Ihr das?»
«Die Krieger des Ordens der Templer haben seitdem die gesamte bekannte Welt bereist. Das blieb nicht ohne Folgen. So wie auch deine Reise nicht ohne Folgen bleiben kann. Vieles hat sich geändert.»
«Ihr sprecht in Rätseln.»
«Ja, es wird Zeit, dass ich dir endlich etwas über die Templer erzähle. Aber lass uns erst weiterreiten. Wir haben unser Ziel bald erreicht.»
Bevor sie ihre Pferde bestiegen, tauschte Jacques die Kutte des Mönchs gegen den weißen Mantel der Templer. Dann setzten sie ihren Ritt fort.

Entlang des Flusses kamen sie nun durch kleinere Ortschaften. Die Menschen, denen sie begegneten, zeigten ihren Respekt, indem sie auf dem Boden knieten und sich verbeugten. Johannes waren diese Ehrbezeugungen unangenehm, und er war froh, wenn sie das jeweilige Dorf wieder verlassen hatten. Auf dem Wasser konnte man immer wieder Boote beobachten, die flussabwärts unterwegs waren oder gegen den Strom segelten. Vieles erinnerte an die Weser. Selbst die Pflanzen- und Tierwelt ließ ihn an die Heimat denken. Er beobachtete Hasen und Kaninchen, sah Schafe und Rinder auf der Weide, erkannte Greifvögel, die hoch oben in der Luft ihre Kreise zogen, und auch die weitläufigen Weizen- und Roggenfelder waren ihm vertraut. Bislang hatten sie sich in westlicher, dann in südlicher Richtung bewegt. Nun machte der Fluss einen deutlichen Bogen, der nach Nordosten führte. Am Nachmittag bemerkte Johannes in der Ferne einen Gebirgszug, auf dem sich offenbar eine mächtige Verteidigungsanlage erhob. Das war ein ungewöhnlicher Anblick, denn er hatte weder auf der Reise vom Meer nach Jumièges noch am heutigen Tag nennenswerte Anhöhen bemerkt. Auch solch gewaltige Burgmauern waren ihm unbekannt.

«Das ist unser Ziel», sagte Jacques. «Château Gaillard.» «Was haben wir dort zu tun?», fragte Johannes.
«Wir werden dort das Bogenschießen üben …»
Jacques blickte seinen Schüler an und musste lachen. «… aber du wirst natürlich fragen, warum wir das gerade

dort tun wollen. Viele hochrangige Templer kommen in diesen Tagen nach Château Gaillard zu einem Konvent. Wundere dich also nicht, wenn du von nun an von weißen Mänteln und roten Tatzenkreuzen umgeben bist. Aber wir werden auch genug Zeit haben, das Bogenschießen zu üben.»

«Um was geht es auf diesem Konvent?»
«Es ist mir nicht erlaubt, einem Uneingeweihten alles zu erzählen. Nur so viel: Der Orden ist in den letzten Jahren in Konflikt mit dem französischen König geraten. Es geht um Macht und um Reichtum. Die Templer haben Philipp große Summen geliehen. Nun weigert er sich, seine Schulden zu begleichen. Im Gegenteil. Er geht gegen den Orden vor. Streut Gerüchte aus und interveniert beim Heiligen Vater in Rom.»
«Und deshalb treffen sich die Templer auf einer Burg?»
Wieder musste Jacques lachen.
«Nun, eine Burg wie diese kann vor bösen Überraschungen schützen. Château Gaillard ist vor etwa hundert Jahren von Richard Löwenherz erbaut worden, um die Normandie gegen den französischen König Philipp II. zu verteidigen, mit dem er immerhin gemeinsam einen Kreuzzug angeführt hatte. Doch aus Freunden wurden erbitterte Feinde. Und Richard verlor diesen Krieg. Château Gaillard fiel in die Hände der Eroberer. Das ist lange her. Heute ist es ein Stützpunkt der Templer. Und wie es das Schicksal will, haben auch wir Ärger mit dem französischen König. Es gibt wohl keinen Ort, der die augenblickliche Situation besser symbolisiert als dieser. Und auch der gegenwärtige König von Frankreich heißt Philipp.»
«Das hört sich an, als würde es Krieg geben.»
«Noch ist es nicht so weit. Die Templer haben im Heiligen Land und entlang des Mittelmeers viele Kriege führen müssen. Und sie haben vielerorts Frieden geschaffen. Auch hier heißt es, den rechten Atem zu haben und die Kunst des Kriegers zu beherrschen.»
Plötzlich lag eine kleine Stadt vor ihnen. Sie bestand einzig aus kleinen, einfachen Lehmhäusern. Eine Schutzmauer oder Wehrtürme suchte man vergebens. In ihrer Mitte erhob sich eine Kirche, die wohl noch nicht ganz fertiggestellt war, denn an ihrer Nordseite erkannte Johannes ein Holzgerüst. Ihr Weg führte sie, dem Ufer folgend, an der kleinen Stadt vorbei. Château Gaillard lag nun vor ihnen, etwa hundert Schritt hoch über dem Fluss. Johannes erblickte eine massive Mauer, die von mehreren Türmen gesichert wurde. Vom Fluss aus ritten sie zunächst unterhalb der Nordostflanke der Burg entlang, um auf der dem Gebirge zugewandten Längsseite einen steilen Weg zu finden, der zur Befestigungsanlage hinaufführte. Wachen ließen sie passieren. Als sie ein riesiges, massives Tor durchquert hatten, erblickte Johannes weitere Befestigungsmauern. Im Inneren der großflächig angelegten Vorburg befand sich eine weitere Ringmauer, die von einem Wassergraben umgeben war und nur über eine Zugbrücke erreicht werden konnte. Innerhalb dieses Festungskerns erhob sich ein gewaltiger Turm. Sie ritten weiter in die Vorburg hinein, wo Johannes eine Vielzahl von Gebäuden entdeckte, deren Funktion er nicht erahnen konnte.
Zwei Wachen nahmen den beiden Neuankömmlingen die Pferde ab, führten sie zu einem der Wohngebäude und wiesen jedem von ihnen einen Raum zu, der mit Tisch, Stuhl und Bett ausgestattet war. Johannes legte dort all das ab, was er auf dem Pferd mitgeführt hatte, und begab sich wieder nach draußen, wo er wenig später auch Jacques traf. Der führte seinen Schüler durch die verschiedenen Gebäude der Vorburg. Ähnlich wie in einem Kloster gab es hier Wirtschaftsräume, eine Schmiede, einen Speiseraum und sogar eine kleine Kapelle. Nur leisteten hier nicht Laienmönche die Arbeiten, sondern Knechte oder Leibeigene. Von den vielen Männern im weißen Templermantel, die Jacques erwähnt hatte, war nichts zu sehen.
Nachdem sie ihr Quartier bezogen hatten, holte Jacques Bogen und Pfeile und führte seinen Schüler hinaus auf einen offenen Platz außerhalb der Befestigungsanlage. Von hier konnten sie weit über das Land blicken. Johannes sah den Weg, der am Fluss entlang Richtung Norden verlief, und entdeckte die Wälder, die sie am Morgen durchquert hatten. Zum Süden hin schlängelte sich der Fluss in weiten Bögen an Feldern und kleinen Wäldchen entlang, bis er sich am Horizont aufzulösen schien.
Jacques lenkte die Aufmerksamkeit seines Schülers auf einige Strohballen, die wenige Schritte von der äußeren Burgmauer entfernt am Boden lagen, und forderte ihn auf, sie sich zum Ziel zu machen.
«Deine Körperhaltung ist fehlerlos», sagte er, als Johannes nach einem Dutzend Versuchen den Bogen senkte. «Wie du bemerkt hast, habe ich nichts korrigiert. Es ist einzig eine Sache der Gelöstheit. Du verweilst in der höchsten Spannung, bis der Schuss fällt. Er muss von dir abfallen wie ein Tautropfen von einem Blatt. Noch ehe du es gedacht hast.»
Als sie vom Bogenschießen zurückgekehrt waren, erblickte Johannes in der Vorburg etwa vierzig Ritter im weißen Mantel und wohl ebenso viele Knappen. Pferdegewieher hallte über den Platz, und die Burgknechte hatten alle Hände voll zu tun, die Tiere unterzubringen und die gerade Eingetroffenen auf die Quartiere zu verteilen.
Jacques nahm seinen Schüler beiseite und führte ihn zum Eingang des Südostturms. Solange es noch hell war, wolle er ihm die Festungsanlagen zeigen.
Über eine Wendeltreppe erreichten sie die oberste Plattform des Turms. Von hier oben sah man nicht nur den Verlauf des Flusses, sondern auch Wälder, die sich bis weit in die Ferne nach Osten erstreckten. Zugleich konnte man die Festung sehr gut überblicken. Unmittelbar in südöstlicher Richtung erkannte Johannes eine vorgelagerte, dreieckige Bastion. Von fünf Rundtürmen flankiert, richtete sie ihre Spitze gegen einen möglichen Feind aus dem Landesinneren. Riesige Gräben umzogen diese Anlage, auch nordwestlich, so dass sie von der eigentlichen Burganlage getrennt war. Château Gaillard bestand also genau genommen aus zwei Verteidigungsanlagen. Johannes wandte sich nach Norden und blickte auf jene Burg, deren Inneres er bereits kennengelernt hatte. Die äußere Mauer bildete annähernd ein Fünfeck, das im Nordwesten spitz zulief. Auch sie war von tiefen Gräben umgeben oder grenzte direkt an den steilen Abhang. Die innere Mauer der Kernburg wurde durch einen Wassergraben geschützt. Jacques wies seinen Schüler darauf hin, dass sie ebenso wie der mächtige Burgfried elliptische Form besaß, um Angreifern keinen Schutz im toten Winkel zu gewähren. Bei genauerem Hinsehen könne man erkennen, dass diese innere Mauer keine glatte Fläche bot, sondern wie aus aneinandergereihten Türmen gebaut zu sein schien. Den möglichen Angreifer erwartete eine gewellte Mauer, die den Einsatz von Leitern oder fahrbaren hölzernen Belagerungstürmen nahezu unmöglich machte. Auch wies Jacques auf Schießscharten und Pechnasen hin, die sich an der inneren Mauer und am Burgfried befanden.
Johannes wollte wissen, wie es möglich war, solch eine Festung zu ersinnen. Jacques erläuterte ihm, dass Richard auf seinem Kreuzzug umfangreiche Kenntnisse in Verteidigungsarchitektur, Geometrie und Ballistik erworben habe.
Am Abend verließ Jacques seinen Schüler und begab sich in die Kernburg, die offenbar nur den Rittern selbst zugänglich war. Johannes nahm gemeinsam mit den Knappen am Abendessen teil. Im Speisesaal herrschte ein großes Sprachgewirr. Viele der Knappen schienen einander zu kennen, und so hatte dieses gemeinsame Essen nichts von der gelassenen Ruhe, die er aus den Refektorien der Klöster gewöhnt war. In diesem Durcheinander der Worte hörte er weder seine Heimatsprache noch das Lateinische, wohl aber jene Sprache, die auch in Jumièges gesprochen worden war, die Johannes aber noch nicht ausreichend beherrschte. So begab er sich recht bald in sein Zimmer und legte sich schlafen.
Am folgenden Morgen wiederholte sich die Erfahrung vom Abend nun beim Frühstück. Einige der Knappen versuchten, mit Johannes zu sprechen, doch da der ihre Sprache nicht beherrschte, sie wiederum nicht das Lateinische, blieb es bei freundlichen und zugleich neugierigen Blicken, denn die Knappen sahen wohl, dass ein Mönch in ihren Reihen etwas Ungewöhnliches darstellte.
Bald traf Johannes auch auf seinen Meister. Der ging mit keinem Wort auf den Konvent des vorangegangenen Abends ein und bat ihn stattdessen, mit dem Bogen zu folgen.
Außerhalb der Mauern fand Johannes bald zu innerer Gelassenheit. Das Spannen des Bogens gelang ihm mühelos, unmittelbar vor dem Lösen jedoch drangen Gedanken und Gefühle aus der Tiefe, ohne aufgehalten werden zu können. Oft war es sogar die plötzlich aufwallende innere Angst davor, die störenden Gedanken auch diesmal nicht besiegen zu können.
Johannes hatte schon einige Schüsse getan, als sich die Sehne seltsam plötzlich und unerwartet löste und der Pfeil mit einem kurzen Zischen davonflog. Jacques trat an ihn heran und umarmte ihn.
«Das ist es», sagte er freudestrahlend.
Johannes blickte seinen Lehrer fassungslos an. Und als er endlich verstand, was Jacques meinte, konnte er die jäh aufbrechende Freude und die Tränen nicht unterdrücken.

Nur einmal noch gelang ihm an diesem Tag ein solcher Schuss. Es war am Nachmittag. Johannes spürte sofort, dass er in vorbildlicher Weise geschossen hatte. Es gab eindeutige Zeichen. Er selbst hatte ja bei seinem Meister sehen können, wie die Hand unmittelbar nach dem Loslassen der Sehne wie durch einen Zauber abgefangen wurde und keinerlei Erschütterung des Körpers hervorrief. Nun erlebte er es selbst, dass die Hand nach dem Schuss in mühelosem Gleiten entlassen wurde. Der Atem war ohne Hast, das Herz schlug gleichmäßig fort, und die ungestörte Konzentration erlaubte einen fließenden Übergang zum nächsten Schuss. Johannes selbst fühlte sich danach, als habe der Tag erst jetzt begonnen.

Jacques bestätigte, dass es ihm in solchen Momenten ebenso gehe, gab seinem Schüler aber den Rat, diesen Zustand des Glücks so anzunehmen, als besäße er ihn gar nicht.

Am Abend fragte Johannes, ob er nun die wesentlichen Fertigkeiten des Bogenschießens beherrsche. Jacques lächelte. Es sei wie bei einem Läufer, meinte er, der eine große Strecke zu bewältigen habe. Die letzte Etappe komme ihm am längsten vor. Und das, was Johannes nun zu erlernen habe, den Schuss auf das Ziel, erfordere die Fähigkeit zur völligen Auflösung des Selbst.

Gegen Nachmittag waren die Ritter in der Kernburg erneut zusammengekommen. Am Abend sah Johannes seinen Meister wieder. Auch diesmal ließ der nichts von dem verlauten, was hinter den Mauern besprochen worden war. Doch intuitiv meinte Johannes zu erspüren, dass es um ungewöhnlich ernste Dinge ging.

Jacques führte seinen Schüler aus der Burg hinaus zu einem Vorsprung, von dem aus man freie Sicht auf den Fluss hatte. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne legten sich wie ein goldener Schimmer über das Wasser. Einige Bäume säumten das linke Ufer. Dahinter erstreckten sich Getreidefelder, die ebenfalls das Gold der Sonne aufsogen. Am gegenüberliegenden Ufer erkannte Johannes den schmalen Weg, auf dem sie von Norden kommend Château Gaillard erreicht hatten. Hier erhoben sich mächtige Steilfelsen, die, von Bäumen umgeben, den Flussbogen begleiteten und zugleich eine unüberwindbare Barriere bildeten. Inmitten des Flusses bemerkte Johannes drei Inseln, von denen eine besiedelt war. Unmittelbar zur Rechten lag tief unter ihnen die kleine Stadt.

Jacques forderte seinen Schüler auf, neben ihm Platz zu nehmen.
«Du hast mich zu Recht des Öfteren nach den Templern gefragt», begann er. «Bislang weißt du nur, dass wir ähnliche Rituale und Gepflogenheiten haben wie die Zisterzienser. Doch über unsere Geschichte, über die Organisation und das Streben unseres Ordens hat man dir bislang nichts mitgeteilt. Das muss sich nun ändern, denn du bist inzwischen auf dem Weg, jene Einweihungen zu erhalten, die dich selbst zum Templer machen werden.»
Jacques schwieg einen Moment, blickte ihn an, überzeugte sich von der ungeteilten Aufmerksamkeit seines Schülers, wandte seinen Blick dann erneut zum Tal und schien für einen Augenblick dem Lauf des Flusses zu folgen. Dann begann er zu erzählen.
«Unser Orden wurde vor etwa 200 Jahren gegründet. Man weiß nicht genau, wann das geschah, aber die meisten sprechen davon, dass im Jahre des Herren 1118 Hugo de Payens, ein Ritter aus der Champagne, Männer um sich sammelte, die wie er am Kreuzzug teilgenommen hatten und seither im Heiligen Land lebten. Gemeinsam legten sie vor Garimond, dem Patriarchen von Jerusalem, einen Schwur ab, von nun an nur noch Gott dienen und die Pilger vor Feinden schützen zu wollen. Balduin II., König von Jerusalem, war vom Ernst ihres Anliegens überzeugt, nahm ihre Dienste dankbar an und überließ ihnen in unmittelbarer Nähe des Tempels von Jerusalem ein Ordenshaus. Dieser Tempel befindet sich genau an jenem Ort, an dem der Tempel Salomos einst gestanden hat. Und so gab sich der Orden den Namen Pauperes commilitones Christi templique Salomonici Hierosalemitani.
Der neue Orden sollte eine klare Aufgabe haben: den Schutz der Pilger. Und er sollte Männer vereinen, die einzig von der Liebe zu Gott getragen wurden. Sie sollten Ritter und zugleich Mönche sein. Mönchsritter – das hatte es bis dahin nicht gegeben.
Papst Honorius sandte seinen Legaten, Kardinal Matthias von Albano, nach Troyes, wo ein Konzil ausgerichtet wurde, an dem viele einflussreiche weltliche und geistliche Würdenträger teilnahmen, so auch Stefan Harding, Abt von Cîteaux, Bernhard, Abt von Clairvaux, und Hugo von Mâcon, Abt von Pontigny – also die führenden Männer des jüngst gegründeten Ordens der Zisterzienser. In Troyes erhielten die Templer ihre Ordensregeln und wurden von Matthias von Albano kraft der ihm verliehenen Vollmachten anerkannt. Dieser Status bedeutete auch die Freiheit von Steuern und kirchlicher Vormundschaft. Hugo de Payens reiste daraufhin durch das Land der Franken und überquerte auch das Meer und besuchte England und Schottland. Viele Männer schlossen sich ihm an.» Jacques hielt inne und versicherte sich, dass sein Schüler aufmerksam zugehört hatte.
«Diese Geschichte hört sich an wie eine Sage», meinte Johannes. «In Jumièges fand ich ein Buch, das von einem König erzählt, der Ritter um sich sammelte, um eine heilige Burg zu verteidigen.»
Jacques blickte erstaunt auf.
«Es gibt viele Rittersagen», fuhr er fort. «Doch diese Geschichte hat wirklich stattgefunden. Ich werde dir die lateinischen Templerregeln bringen lassen. Du musst sie studieren, musst sie genau kennen, wenn du dem Orden beitreten wirst. In der Vorrede findest du all jene Namen wieder, die ich genannt habe, und noch viele andere. Die Regeln geben unserem Orden nicht nur eine Grundlage, sie verdeutlichen auch, was Hugo de Payens und seine Mitstreiter dazu bewog, das Leben eines Mönchsritters zu führen. Ich lasse dir auch die ‹Retrais› und das ‹Livre d’Egards› bringen. Sie sind später entstanden und enthalten Kommentare und Auslegungen zur Templerregel.»
«Hat Hugo de Payens sein Ziel erreicht?», wollte Johannes wissen.
«Was meinst du?»
«Die Sicherheit der Pilger.»
«Nie für lange. Immer mussten die christlichen Ritter auf der Hut sein. Und die Templer waren es, die Wege zu Land und zu Wasser sicherten, Feldzüge mit ihrem Wissen unterstützten und die Versorgung christlicher Heere organisierten.»
Jacques sah ihn an.
«Lies zunächst die Regeln. Vieles wird dir dadurch klarer werden. Aber wir dürfen das Bogenschießen nicht vergessen. Morgen früh machen wir weiter.»
Jacques blickte nach Westen. Von dort hatte sich ein rötlicher Schimmer über das Tal gelegt. Das Abendlicht verlieh allen Dingen noch einmal so deutliche Umrisse, wie man sie tagsüber nicht beobachten konnte. Bald würde es völlig dunkel sein.

Nach dem gemeinsamen Abendessen mit den Knechten begab sich Johannes in die kleine Abtei der Burg. Dort war er ganz allein. Die Ritter hatten sich erneut zur Beratung in die Kernburg zurückgezogen, und ihre Knechte waren offensichtlich nicht an die Stundengebete gebunden. So hatte Johannes keine Möglichkeit, an einer Hora teilzunehmen.

In der kleinen Kapelle erwartete ihn absolute Stille. Der einfache, im alten Stil erbaute Raum war völlig schmucklos. Einige Bänke standen rechts und links an der Wand, ein Altar fehlte, aber im Chorraum hing ein schlichtes hölzernes Kreuz von der Decke herab. Da er allein die Gesänge zur Vesper nicht anstimmen konnte, kniete Johannes nieder, schloss die Augen und betete ein stilles Kyrie. Er verband die Worte mit dem Ein und Aus seines Atems und begann die Gedanken loszulassen, aufzulösen. Wenn die Eindrücke eines Tages vielfältig waren, tat er sich damit nicht leicht, aber heute gelang es ihm, ganz in die Stille einzutauchen, innerlich ganz leer zu werden.

Der Klang der Glocke holte ihn in die Außenwelt zurück. Er verließ die Kapelle, trat hinaus in den Burghof, hörte nur noch vereinzelt Geräusche, die ihm anzeigten, dass die meisten Knechte zu Bett gegangen waren, und begab sich zum Quartier. Er fand seinen Raum von Kerzen erleuchtet, die jemand auf den Tisch gestellt und angezündet hatte. Auch lagen dort mehrere Bände, die nun seine volle Aufmerksamkeit fanden.

Zunächst verschaffte er sich einen Überblick. In zwei Büchern war die Templerregel niedergeschrieben, in Latein und in fränkischer Übersetzung. Die Kommentare fand er ebenfalls in dieser ihm unzugänglichen Sprache vor, aber es gab darüber hinaus noch einen lateinischen Band, der eine Art Zusammenfassung der Kommentare enthielt. Johannes nahm sich die lateinischen Templerregeln und begann zu lesen.

Die Vorrede war offensichtlich von Hugo de Payens verfasst. Er forderte den Leser auf, denen zu folgen, welche Gott aus der Masse der Verdammten gewählt und durch seine Gnade zur Verteidigung der heiligen Kirche berufen hatte, denn viele seien berufen, aber nur wenige auserwählt. Dann folgten 72 Artikel, in denen das Zusammenleben des neuen Ordens geregelt wurde. Gleich zu Beginn erinnerten die Aufforderung ‹ora et labora› und das Gelübde, sich Armut, Gehorsam und Keuschheit zu verpflichten, an die Grundsätze der Benediktiner und vieler anderer Mönchsorden. Die Templer sollten, solange sie nicht kämpfen mussten, die Stundengebete einhalten. Die Kleidung wurde festgelegt: weiß für die Ritter, schwarz für die Sergeanten. Die Haare seien kurz zu scheren, Bärte aber erlaubt. Der Orden war streng hierarchisch in drei Stände gegliedert: Kämpfer, Betende und Arbeiter. Adlige Ritter durften drei Pferde haben. Jedem Ritter unterstanden bis zu zehn Knappen, die nicht adliger Herkunft waren. Bewaffnung, Kriegspflichten und das Verfahren bei Verletzung und Tod waren genauestens beschrieben. Andere Vorschriften, die nicht den Kampf, sondern den Gottesdienst, die Mahlzeiten, die Kleidung und die Disziplin betrafen, waren Johannes aus der Zisterzienserregel bekannt.

Es war Mitternacht geworden, als Johannes seine Lektüre beendet hatte und das Licht löschte.
In der Nacht fand er sich wieder in einem Traum … Er erhob sich von seinem Lager und griff sich den Mantel, da es sehr kalt war. Um sich erblickte er die schlafenden Brüder, die sich wie er nach der Komplet zur Ruhe gelegt hatten. Etwas trieb ihn voran, ließ ihn die Stufen hinabgehen, leitete ihn in den Kreuzgang. Der Klosterhof war in Mondlicht getaucht. Johannes vernahm kein Geräusch, mit Ausnahme des Knirschens unter seinen Sohlen. Trotz der klirrenden Kälte durchfuhr ihn ein Gefühl tiefen Gelöstseins und großer Dankbarkeit. Er betrat den Kapitelsaal, in dem eine einzelne Kerze brannte. Johannes kniete zu Boden und betete, der Kälte zum Trotz, eine Zeitlang das Kyrie. Dann stand er auf, bekreuzigte sich und verließ den Raum, erreichte kurz darauf die Klosterkirche, die durch einige Kerzen im Chorraum erhellt war, um die Vierung zu durchqueren und auf der gegenüberliegenden Seite durch jenes kleine Tor das Kloster zu verlassen, durch das die Toten zum Friedhof getragen werden. Er schritt ins Freie und empfand auch hier die klirrende Kälte als erfrischend und befreiend, spürte, wie der kalte Atem in ihn eindrang und ihn ganz erfüllte. Dann sah er, wie ein Rabe vor ihm niederging und sich auf eines der Holzkreuze setzte. Der Rabe neigte seinen Kopf zur Seite, als warte er auf etwas, das nur von Johannes ausgehen konnte. Und tatsächlich, als Johannes seinen Arm hob, wie es die Falkner tun, schwang sich der Rabe mit wenigen Schlägen herüber, krallte sich gewichtslos in den braunen Ärmel und blickte Johannes für einen Moment an. Wieder legte er seinen Kopf zur Seite, verharrte einen kurzen Augenblick und erhob sich dann in die Lüfte, um über die hohen Bäume des Friedhofs ins Nichts zu verschwinden. Etwas zog Johannes’ Blick zur Klostermauer hin. In der geöffneten Pforte stand sein Vater und winkte ihm zu. Johannes bemerkte für einen Moment die eigene Bewegungsunfähigkeit. Beim zweiten Blick zur Mauer war die Pforte geschlossen, niemand mehr zu sehen. Etwas ließ ihn weitergehen, den Friedhof entlang zu den Stallungen und Wirtschaftsgebäuden. Eis knirschte unter seinen Sohlen. Der vom Vollmond erleuchtete Raureif in den Bäumen schimmerte und geleitete ihn als schwache, unwirkliche Beleuchtung, als würde er sich auf den Weg machen in ein unbekanntes feingewebtes Feenreich. Er betrat eine Schmiede, in der das Feuer noch brannte. Wärme erfüllte den Raum. Johannes zog ein rotglühendes Schwert aus den Flammen und gab ihm auf dem Amboss mit schweren Schlägen eine grobe Struktur. Dann wurden die Schläge schwächer, gezielter. Noch einmal hielt er das Schwert ins Feuer, um es danach mit ungeteilter Sorgfalt in seine endgültige Form zu bringen. Als er sein Werk in die Höhe hielt, um es im Schein des Feuers zu betrachten, spürte er, dass jemand in den Raum gekommen war. Nur langsam konnte er sich umwenden. Er sah dort eine junge Frau stehen, die ihn – so war er sicher – schon eine Weile beobachtet hatte. Das Feuer hüllte ihr langes weißes Gewand und ihre ebenmäßigen Gesichtszüge in rotgoldenen Schein. Für einen Moment hielt sie seinem Blick stand, dann wandte sie sich ab und lief eilig davon. Johannes sah nur mehr ihr schulterlanges schwarzes Haar dahinwehen. Schnell folgte er ihr, doch draußen vor der Schmiede sah er nichts als eine hellschimmernde Allee. Auf einem der Bäume bemerkte er den Raben, der sich bei seinem Anblick in die Luft erhob.

Johannes erwachte, als Jacques ihn wachrüttelte. Es dauerte eine Weile, bis ihm klar geworden war, dass er sich nicht in Loccum befand, sondern auf Château Gaillard. Er nahm die Wärme wahr, die von außen in das kleine Zimmer drang, blickte auf und sah, dass Jacques über die Bücher auf dem kleinen Tisch gebeugt war.

«Hast du in der Nacht gelesen?», fragte er.
Johannes richtete sich auf und setzte sich auf die Bettkante. «Die Regeln habe ich gelesen, aber zu den Kommentaren bin

ich nicht mehr gekommen.»
«Das ist vielleicht auch gar nicht nötig. Ich kann dir alles
Wichtige auch unterwegs erläutern.»
«Unterwegs?», fragte Johannes ungläubig.
«Ja. Wir reisen heute ab», sagte Jacques geradezu beiläufig. «In den Kommentaren steht Genaueres zum Aufbau des Ordens, zur Verwaltung des Vermögens, zu den Komtureien und Templerwegen. Also Wissen, das nur für Templer bestimmt ist.
Ich werde es dir unterwegs mitteilen.»
Jacques blickte ihn an.
«Aber es ist noch etwas Zeit. Wir sollten sie nutzen.» Nachdem sie sich mit Haferbrei und klarem, kühlem Wasser
gestärkt hatten, gingen sie zu ihrem Schießplatz. Dort stand
nun in etwa dreißig Schritten Abstand eine runde, aus Stroh
geflochtene Scheibe, die wohl einen Durchmesser von drei
Armlängen hatte. Johannes sah, dass die Mitte der Scheibe
schwarz gefärbt worden war.
Jacques nahm zwei Pfeile, vollzog in vollendeter Weise das
Spannen und Loslassen und traf zweimal direkt ins schwarze
Feld der Scheibe. Dann forderte er Johannes auf, es ihm nachzutun, sich ganz wie gewohnt zu bewegen und sich nicht auf
die Scheibe zu konzentrieren.
Obwohl er anfangs mit etwas Zweifel an die Sache ging,
gelangen ihm doch einige in jeder Hinsicht gelungene Schüsse. Er spannte den Bogen ohne jede Anstrengung und ließ die
Sehne los, als würde sie sich von selbst aus seinen Fingern lö
sen. Auch traf er oft die Scheibe, ein wirklicher Treffer gelang ihm jedoch nicht. Dabei hatte er durchaus sein Ziel genau
anvisiert und versucht, sich innerlich mit ihm zu verbinden.
Jacques hatte dies bemerkt und forderte seinen Schüler auf,
ihn noch einmal genau zu beobachten, vor allem in der Phase
des Loslösens.
Er nahm den Bogen auf, und Johannes konnte verfolgen, wie
er den Schuss mit nahezu geschlossenen Augen löste. Fast war
es, als habe er die Scheibe gar nicht anvisiert.
Johannes übte weiter, nun bewusst ohne Blick auf das Ziel,
doch Treffer gelangen ihm nicht. Da die Schüsse selbst sehr gelungen waren, betrübte Johannes das nicht, aber er hatte doch mehr und mehr Zweifel daran, ob es möglich sei, das Ziel zu
treffen, ohne es ins Auge zu fassen.
«Ein Schuss kann auch meisterlich sein, wenn er nicht trifft»,
beruhigte Jacques seinen Schüler. «Der Treffer auf die Scheibe
ist nur eine äußere Bestätigung. Es ist eine weitere Kunst, die
du noch lernen wirst. Es besteht kein Grund zum Zweifel.» «Aber was nützt der beste Schuss, wenn er nicht trifft?»,
fragte Johannes zögernd.
«Das Treffen ist nicht schwierig», erwiderte Jacques. «Wahrscheinlich würde dir das sehr viel schneller gelingen, wenn
du das Bogenschießen auf herkömmliche Weise erlerntest. Es
geht eben nicht darum, dass du triffst, sondern dass du selbstvergessen handelst. Erst wenn dir dies glückt, bist du ein vortrefflicher Krieger, der nahezu unverletzlich und unangreifbar
geworden ist.»
«Dann müsstest du das Ziel mit verbundenen Augen treffen
können», folgerte Johannes, und zugleich tat es ihm leid, diesen
Satz gesagt zu haben, war er doch eine ungehörige Provokation, die er gar nicht beabsichtigt hatte.
Jacques blieb einen Moment still, doch er zeigte sich nicht
verärgert.
«Der selbstvergessene Krieger trifft das Ziel mit verbundenen Augen. Weil er keine Augen nötig hat», antwortete er
dann. «Für einen Menschen, der so viel Ungewöhnliches erlebt
hat, bist du noch immer sehr ungläubig.»

Am Vormittag hatten sich die Templer noch einmal zur Beratung versammelt. Johannes nutzte die Zeit und begab sich zu jenem Vorsprung, von dem aus man auf den Flussbogen und das mächtige Gebirge blicken konnte. Die Sonnenstrahlen wurden vom Wasser reflektiert und blendeten die Augen. In hellem Weiß erhoben sich die Felsen gen Himmel, umgeben vom Grün der Bäume und Sträucher, ganz so, als wollten sie einem möglichen Angreifer deutlich machen, was ihn auf der anderen Seite des Flusses erwartete, als würden sie gemeinsam mit der gewaltigen Burganlage einen unüberwindbaren Wall bilden.

Inmitten des Flusses erblickte Johannes erneut die drei kleinen Inseln, die, umgeben von Felsen und Burg, zart und zerbrechlich wirkten.

Kurze Zeit später schritt Johannes den Weg hinab, auf dem sie vor einigen Tagen die Burg erreicht hatten. So gelangte er nach kurzer Zeit in die kleine Stadt, die von keiner Mauer umgeben war, aber sonst durchaus jenen Städten ähnelte, die er auf seiner Reise kennengelernt hatte. Er kam auf den Markt, wo er nun am Vormittag geschäftiges Treiben beobachten konnte, und bemerkte an einigen Ständen unbekannte Obst- und Gemüsesorten, die offenbar auf den Höfen der Umgebung angebaut wurden. Einer der Stände fand seine besondere Aufmerksamkeit. Hier wurde mit Gewürzen und Kräutern gehandelt. Johannes hielt sich lange dort auf, betrachtete aufmerksam jede Pflanze, nahm die ihm teilweise gänzlich unvertrauten Düfte wahr und wurde bald vom Gewürzhändler angesprochen, doch das Gespräch in fränkischer Sprache konnte nicht über das hinausgehen, was man auch mit Händen und Füßen hätte mitteilen können. Da Johannes kein Geld besaß und auch sonst nichts eintauschen konnte, musste er schließlich davongehen, ohne einige dieser fremden Kräuter mitnehmen zu können.

Unweit des Marktes gelangte er zur Kirche, die bei weitem nicht die Ausmaße von Jumièges besaß, aber offensichtlich ganz im neuen Stil errichtet worden war. Von außen wirkte dieses Gebäude wie eine einzige, Stein gewordene Bewegung in den Himmel, denn alle tragenden Elemente, alle Ornamente und Verzierungen schienen sich in dieser Ausrichtung zu vereinen. Nachdem Johannes die Kirche betreten hatte, bemerkte er, dass die Innenräume nicht von ungewöhnlicher Höhe waren, wohl aber aufstrebend wirkten, da der Umfang der tragenden Säulen auf ein Weniges beschränkt worden war und – wo immer nur möglich – in den Fassaden der Innen- und Seitenschiffe vielfarbige Glasfenster das Sonnenlicht hereinließen. All dies ließ Johannes glauben, dass das Deckengewölbe nahezu über den Säulen schwebte, sie geradezu emporzog. Gleichzeitig brach sich das Sonnenlicht des Mittags in vielfältiger Farbigkeit in den Fenstern, so dass das Innere der Kirche geheimnisvoll erstrahlte. Johannes hatte die Vierung erreicht und blickte zur Decke empor, wo sich die tragenden Rippen des Gewölbes auf eine strengen Gesetzmäßigkeiten folgende Weise kreuzten und in genau berechnetem Schwunge das Gewicht des Daches auf die schmalen Säulen und die Mauern der Seitenschiffe verlagerten. Doch die Wirkung war dem entgegengesetzt, so als würden die Säulen der Decke Schwerelosigkeit gewähren und die Kraft geradezu aufsteigen lassen. Die Naturgesetze schienen aufgehoben. Wie in jenem Traum, dachte Johannes, der ihn in der Nacht überwältigt hatte. Wie in der meisterlich ausgeführten Kunst des Bogenschießens.

Auf dem Rückweg zur Burg dachte Johannes vergeblich über den Sinn seines letzten Traumes nach. Doch er war sich sicher, dass gute Mächte ihn hatten träumen lassen, denn er hatte Loccum wiedergesehen, so klar, als wäre es mit der Hand zu greifen. Und auch jetzt, in der Zeit des höchsten Sonnenstandes und der mittäglichen Hitze, meinte er die Kälte des Winters in Loccum aus der Vergangenheit heraus erspüren zu können. Diese Kälte hatte nichts Feindliches in sich gehabt, sondern im Gegenteil den Charakter einer heimatlichen Erinnerung – und diese Empfindung war verbunden mit einer Sehnsucht, die ihn an die Menschen denken ließ, die er so liebte.

Gegen Mittag verließen sie Château Gaillard mit frischen Pferden und ausreichend Proviant für mehrere Tage. Sie folgten nicht mehr dem Fluss, sondern wandten sich nach Westen und legten auf einem guten, etwa sechs Schritt breiten Weg mitten durch dichten Wald bis zum Abend eine große Strecke zurück. Mehrmals kamen sie an kleinere Flüsse, die aber allesamt nur geringe Strömung hatten, so dass man Furten nutzen konnte. Am Abend tauchte ganz plötzlich vor ihnen zur Rechten des Weges eine Lichtung auf. Johannes erkannte mehrere Häuser, die von einer rechteckigen Steinmauer umgeben waren. An den vier Ecken dieser Mauer erhoben sich kleine Türme, die aber wohl nicht zu Verteidigungszwecken errichtet worden waren, denn sie hatten keine Zinnen und bestanden wie die Mauer aus kleinen Bruchsteinen und Lehm. Fast sah es so aus, als sollten sie das Mauerwerk stützen. Dies war keine Verteidigungsanlage, ging es Johannes durch den Kopf, eher ein großer Bauernhof. Andererseits war die Mauer von einem Wassergraben umgeben, der in einen unmittelbar angrenzenden Weiher mündete. Der Blick auf die Gebäude selbst verwirrte ebenso: Auffällig war ein großes zweistöckiges Steinhaus, das den Mittelpunkt der Anlage zu bilden schien. Kleinere, ebenerdige Gebäude aus Stein und Lehm gruppierten sich entlang der Mauerinnenseiten. Johannes erkannte eine Scheune. Der Eingang zu dieser Anlage befand sich neben einem der Türme. Ein Mann am Tor hatte ihr Kommen beobachtet, öffnete die Pforte, grüßte Jacques, den er zu kennen schien, und ließ sie ins Innere vor. Nun konnte Johannes die Gebäude genauer betrachten, und mit jedem neuen Eindruck gelangte er zu der Überzeugung, dass es sich hier um eine, wenn auch sehr kleine, Klosteranlage handelte. Neben dem ebenerdigen Steinhaus, auf das sie nun zuritten und das wohl das Gästehaus oder Spital sein musste, erkannte er die Schmiede, das Backhaus, einen Speicher und einfache Wohnhäuser aus Lehm für die Handwerker. Etwa die Hälfte der gesamten Fläche war noch einmal durch eine Mauer abgegrenzt.

Vor dem Gästehaus stiegen sie vom Pferd, gaben die Tiere in die Obhut zweier Bauern, die sofort herbeigeeilt waren, und betraten das Gebäude. Im Inneren des Steinhauses war es angenehm kühl. Jacques wies seinem Schüler ein Zimmer zu und verschwand, um seine eigenen Habseligkeiten abzulegen. Gemeinsam gingen sie kurze Zeit später zur inneren Mauer, durchquerten eine weitere Pforte und betraten jenen Bereich der Anlage, in dem sich das große Haus, die Brunnenanlage und ein nur durch Grünflächen angedeuteter Kreuzgang befanden. Die Glocke am Giebel des Hauses ertönte, aber nicht, um die Neuankömmlinge zu begrüßen, sondern um zum Stundengebet zu rufen, denn einige Ritter, die sich am Brunnen aufgehalten hatten, kamen nun zum Haus zurück, begrüßten Jacques und seinen Schüler herzlich und begleiteten sie ins Innere des Gebäudes, in dem sich eine kleine Kapelle befand, die von einem einzelnen Fenster spärlich erleuchtet wurde. Nacheinander traten die Ritter herein, sammelten sich zunächst in einem stillen Gebet, um dann gemeinsam die Gesänge der Non anzustimmen, die Johannes gut bekannt waren. Hymnus, Antiphon, Responsorium – sie ließen ihn in ihrem ununterbrochenen rhythmischen und melodischen Wechsel einmal mehr die Zeitlosigkeit erfahren. Zum Ende der Hora baten die Mönche um die Aussendung des Lichts und der Kraft für die nun folgenden Stunden der Dunkelheit. Dann gingen sie hinaus, um zu schweigen, jene innere Musik zu hören, die niemals vergeht, die Musik der Stille. Sie gingen hinaus, um allein zu sein und sich inmitten der Vergänglichkeit dem Einen zu öffnen. Wieder im Freien, schloss Johannes die Augen und horchte.

Eine Stunde später stand er mit Jacques auf der Lichtung außerhalb der Mauern. Die Sonne war bereits untergegangen, warf ein letztes, bald vergangenes Licht auf das Grün, so dass man die Dinge nur mehr in vagen Umrissen erkennen konnte. Jacques bat seinen Schüler, auf einen Baum am Waldrand zu achten, dessen Rinde zum Teil abgeschabt worden war. Johannes konnte einen solchen Baum nicht erkennen und musste bis zum Ende der Lichtung gehen, um sich davon zu überzeugen, dass es diesen Baum tatsächlich gab. Jacques forderte ihn nun auf, ihm mit einem Tuch die Augen zu verbinden und die folgende Übung genau zu beobachten. Johannes stellte sicher, dass sein Meister nichts mehr sehen konnte, und folgte dann gebannt seinen Bewegungen, was aufgrund der anwachsenden Dunkelheit nur bedingt möglich war. Dennoch bemerkte er sofort, mit welcher Kunstfertigkeit Jacques den Bogen spannte und die Sehne löste. Das Geräusch des einschlagenden Pfeils war eindeutig; er hatte sich ins Holz gebohrt. Dann nahm er die Binde ab und forderte seinen Schüler auf, den Pfeil zurückzuholen. Johannes ging zum Waldrand und entdeckte ihn in jenem Baum, den er zuvor schon näher betrachtet hatte. Der Pfeil hatte auf Schulterhöhe die Mitte des Stammes getroffen. Es war Johannes nicht möglich, ihn herauszuziehen, ohne ihn abzubrechen.

Der Pfeil hatte auch ihn getroffen. Als sie am nächsten Morgen weitergeritten waren und gegen Mittag eine Rast einlegten, bat Johannes darum, die Übungen wieder aufnehmen zu dürfen. Dabei gelang es ihm fast ebenso kunstvoll wie seinem Meister, den Bogen zu spannen und die Sehne selbstlos aus den Fingern gleiten zu lassen, doch nach wie vor wollte sich keine Treffsicherheit einstellen. Dennoch verzichtete Johannes von nun an darauf, irgendwelche Gedanken auf das Ziel zu verwenden, denn sein Meister hatte ihm eindrucksvoll demonstriert, dass bewusstes Sehen hier keine Rolle spielte. Mehr und mehr sagte ihm aber seine Intuition, wie wichtig es war, dass er mit dem Bogen seines Meisters schoss, denn er meinte, die führende Kraft dieses Bogens zu spüren, so als ob sich alle Kunstfertigkeit, die Jacques in diesen Bogen gelegt hatte, nun Stück für Stück auf ihn übertragen würde. Dies war eigentlich eine ganz ungewöhnliche Vorstellung, doch Johannes hatte in den letzten Wochen oft genug erlebt, dass es klug war, der eigenen Intuition zu folgen.

Auch an diesem Tag gelang ihm nicht der meisterliche Schuss. Doch das beunruhigte ihn nun nicht mehr. Stattdessen bat er seinen Meister, ihm all das über die Templer zu berichten, was er auf Château Gaillard nicht mehr in den Kommentaren hatte lesen können.

«Ich muss dir wohl zunächst etwas über den Ort sagen, an dem wir uns gestern aufgehalten haben», begann Jacques.
«Die Templer besitzen überall entlang der nördlichen Mittelmeerküste, also auch in Frankreich und selbst in Schottland Ordenshäuser, die mal groß und wehrhaft sind, so wie Château Gaillard, die aber auch ganz klein sein können, etwa wie der Hof, auf dem wir Rast machten, als wir von der Küste in Richtung Rouen ritten. Gestern haben wir eine Komturei besucht, wie du sie auf unserem Weg häufig finden wirst. Sie ist der Mittelpunkt für eine Ansammlung von Ländereien, die den Templern irgendwann einmal übereignet wurden.»
«Gestern hatte ich oft den Eindruck, als wäre alles so wie in Loccum, nur kleiner und einfacher», warf Johannes ein.
«Du hast völlig recht. Die Klöster der Zisterzienser und die Komtureien der Templer haben große Ähnlichkeit. Das ist kein Zufall. Aber die Templer sind ein Ritterorden, und sie sichern überall rund um das Mittelmeer und im Reich der Franken die Wege der Pilger. Diese Wege sorgen auch dafür, dass die Komtureien in enger Verbindung zueinander stehen.»
Jacques hielt kurz inne.
«Lass uns die Reise fortsetzen! Hier sind wir auf sicherem Boden. Auch dies ist ein Templerweg.»
Augenblicke später waren sie wieder auf ihren Pferden und ritten durch dichten Wald. Johannes nutzte die langen Stunden im Sattel, um auch hier jene gelöste Aufmerksamkeit zu üben, die er beim Bogenschießen gelernt hatte. Und tatsächlich bemerkte er nach einiger Zeit, dass auch beim Reiten eine bewusste Anspannung unnötig war. Sein Pferd folgte dem Weg ganz intuitiv, schreckte nicht, wenn andere Tiere den Weg kreuzten, sondern verlangsamte seinen Lauf so, wie es der plötzlichen Veränderung angemessen war, um anschließend in den gewohnten Tritt zurückzufinden. Ebenso nahm es jegliche Unebenheit des Weges als gegeben an, ohne den Weg aus dem Sinn zu verlieren. Johannes spürte bald, dass ihn seine eigene Gelöstheit ganz ähnlich reagieren ließ, wie es das Tier tat, so dass sich geradezu eine vertraute Einheit einstellte und er nicht hätte sagen können, von wem die Impulse der Bewegungen ausgingen.

An den folgenden Tagen ritten sie ohne große Unterbrechungen. Jacques hatte die Route so gewählt, dass sie jeweils am Abend eine Komturei der Templer erreichten, wo sie die Nacht verbringen konnten. Diese Anwesen waren von unterschiedlicher Größe, doch immer war sichergestellt, dass es neben dem allgemeinen Bereich ein Haus und eine Kapelle für die Ritter gab, die dort dem Rhythmus der Stundengebete folgten. Einmal geschah es, dass sie auf einem einfachen Hof in der Scheune übernachteten, auch dies ein Anwesen des Ordens. Da es keine Gelegenheit zum gemeinsamen Stundengebet gab, nutzte Johannes die Stunde der Dämmerung für eine stille Andacht. Am dritten Tag erblickten sie in der Ferne eine größere Stadt, die von Mauern umgeben war und offenbar zwei größere Kirchen besaß, von denen eine im neuen Stil erbaut worden war. Doch Jacques wählte einen Weg südlich davon. Er sagte, er wolle keine Zeit verlieren. So ritten sie weiter in östlicher Richtung, von Komturei zu Komturei, unterbrachen tagsüber ihre Reise nur, um eine kurze Pause einzulegen, etwas zu essen und um mit dem Bogen zu üben.

Am fünften Tag brannte die Sonne mittags besonders stark, so dass Jacques entschied, eine längere Rast zu machen, die er auch nutzte, um Johannes den Aufbau des Ordens genauer zu erläutern. Am Abend erreichten sie eine der größeren Komtureien. Jacques ließ seinem Schüler Papier und Schreibmaterial bringen und forderte ihn auf, das Gehörte aufzuzeichnen, indem er die wesentlichen Begriffe auf ein Blatt schrieb und zuordnete.

Johannes war diese Art der Aufzeichnung völlig unbekannt. Er rief sich die wesentlichen Zusammenhänge, die ihm Jacques am Mittag geschildert hatte, noch einmal in Erinnerung: An der Spitze des Gesamtordens stand der Großmeister, der auf Lebenszeit gewählt wurde und den Orden führte, in der Hierarchie unter ihm der Marschall, dem die Verantwortung für die Disziplin der Ritter, die Aufteilung der Pflichten sowie für den Zustand von Rüstung und Pferden zufiel. Außerdem führte er im Kampf den Angriff, obwohl grundsätzlich der Großmeister den Oberbefehl behielt. Der Commandeur du Royaume, der Schatzmeister, war auch für die Einweisung der neu aus dem Westen eintreffenden Ritter zuständig. Das in den europäischen Komtureien nicht benötigte Geld musste dem Commandeur du Royaume zur Verfügung gestellt werden, um den im Orient stationierten Teil des Ordens zu unterstützen. Den Oberbefehl über die Flotte teilten sich der Commandeur de la Voute d’Acre und der Commandeur de la Terre de Jérusalem. Europa und der Orient waren in verschiedene Provinzen eingeteilt. In jeder Provinz gab es einen eigenen Meister, der zusammen mit dem Kapitel weitestgehend selbständig handeln durfte. Jede Provinz war wiederum in Unterprovinzen eingeteilt. Die Art der Verwaltung gestaltete sich in den einzelnen Ländern unterschiedlich. Alles, was die Komtureien zum täglichen Leben benötigen, wurde von ihnen selbst hergestellt oder von den Bauern, die unter ihrem Schutz standen, geliefert.

Johannes hatte sich schwer getan, aber schließlich war es ihm doch gelungen, das komplizierte Geflecht der Begriffe auf zwei Blättern niederzulegen und einzelne Begriffe nach ihrem Zusammenhang mit Linien zu verbinden oder hierarchisch zuzuordnen. Kurz vor Beginn der Vesper kam Jacques in den Raum und betrachtete die Aufzeichnungen.

«Das ist ganz ausgezeichnet geworden», sagte er, nachdem er die Blätter genau studiert hatte. Schließlich gab er sie an Johannes zurück. «Und nun verbrenne sie!»

Am zehnten Tag hatten sie einmal mehr zur Mittagszeit Rast gemacht. Im Anschluss an die Mahlzeit wählte Jacques einen Baum als Ziel für die Bogenübungen aus. Seit einiger Zeit hatten sich Meister und Schüler im Schießen abgewechselt, und auch wenn Johannes noch immer das Ziel verfehlte, meinte er doch zu erspüren, dass sich die Gelassenheit und Sicherheit, die vom Meister in den Bogen überging, auch auf ihn übertrug. Nach dem dritten Schuss kam Jacques mit leuchtenden Augen auf ihn zu und umarmte ihn.

«Es ist da», sagte er nur, und Johannes wusste nicht, wie ihm geschah, denn der Pfeil hatte den Baum lediglich am Rand getroffen. Das war noch immer weit entfernt von der Präzision, die er von Jacques gewohnt war. Der schien die Gedanken seines Schülers zu erahnen.

«Dies war ein rechter Schuss. Egal, wie genau du ihn platziert hast. So muss es anfangen.»
«Anfangen?», fragte Johannes verwundert.
«Genug für heute», antwortete Jacques. «Sonst gibst du dir beim nächsten Schuss besondere Mühe und verdirbst ihn.»
Er nahm den Bogen an sich.
«Du hast gelernt, dich über schlechte Schüsse nicht zu ärgern. Nun musst du lernen, dich über gute Schüsse nicht zu freuen. Verstehst du jetzt, was es heißt, selbstvergessen zu schießen?»
Johannes sah ihn verwirrt an.
«Ehrlich gesagt», begann er, «verwirrt mich das alles. Manchmal könnte ich nicht sagen, ob ich es bin, der den Bogen spannt, oder ob es der Bogen ist, der mich in die Spannung zieht. Geschieht das durch meine Hand, meinen Arm, durch die Kraft meiner Schulter? Ist es mein Auge, das den Weg des Pfeils bestimmt? Der Bogen, der Pfeil, das Ziel, ich selbst: Alles ist so verschlungen. Doch wenn ich den Bogen ergreife und schieße, scheint es möglich zu sein, alles abfallen zu lassen.»
Jacques lachte.
«Soeben ist der Bogen mitten durch dich hindurchgegangen.»

Am Abend erreichten sie eine Komturei, von der aus man in der Ferne die Kirchtürme einer großen Stadt erblicken konnte. Doch auch diesmal kündigte Jacques an, dass sie am nächsten Morgen südlich davon weiterreiten würden. Nach dem Stundengebet der Vesper auf dem Weg zum Gästehaus sprach Johannes seinen Meister darauf an, doch der wollte sich nicht äußern.

«Aber es wäre doch sehr interessant, die Stadt zu besuchen», beharrte Johannes.
«Sicherlich», meinte Jacques. «Aber das würde uns zu viel Zeit kosten. Nur Geduld. In drei Tagen werden wir eine Stadt erreichen. Dort gibt es eine Komturei, und du wirst dort viel Zeit haben, dich umzuschauen.»
«Aber warum diese Eile?»
«Ich werde von dort aufbrechen müssen, um einige Dinge des Ordens zu regeln, die keinerlei Aufschub zulassen.»
«Hat es mit den Gesprächen auf Château Gaillard zu tun?»
Jacques blickte erstaunt auf.
«Ja. Das hat es. In den letzten Jahren sind viele Gebiete des Orients verlorengegangen. Der Orden versucht, Verbündete zu finden, um sie zurückzuerobern. Aber die Verhandlungen erweisen sich als schwierig. Bislang hatte der Orden seine Aufgaben im Orient zu erfüllen. Nun scheint sich alles zu ändern. Vieles muss neu überdacht werden.»
«Ich habe damals auf Château Gaillard die Templerregeln aufmerksam studiert», sagte Johannes. «Darin ist vieles sehr genau geregelt. Aber eines fehlt völlig: Nirgends findet man ein Wort über die Aufgabe des Ordens.»
«Er schützt die Pilger.»
«Aber davon steht in den Regeln kein Wort…»
Jacques blickte Johannes an und lächelte.
«Gut beobachtet», sagte er kurz.

Zwei Tage später erreichten sie am späten Abend eine Lichtung, auf der sich ein einzelner Hof befand.

«Unsere letzte Station», sagte Jacques, als sie vom Pferd stiegen. «Diesmal keine Komturei. Wir werden in der Scheune schlafen.»

Ein Bauer kam aus dem Haus, begrüßte die beiden Reiter und nahm ihre Pferde entgegen. Jacques unterhielt sich kurz mit dem Mann, doch die Sprache war Johannes noch immer zu fremd, als dass er den Inhalt des Gespräches hätte verstehen können. Der Bauer ging davon und kam nach kurzer Zeit mit Wasser, Brot und Käse zurück.

Als es dunkel geworden war, forderte Jacques seinen Schüler auf, den Bogen zu ergreifen, die Mitte der Lichtung aufzusuchen und dort auf ihn zu warten.

Johannes nahm diese Aufgabe sehr ernst und setzte sich erst zu Boden, als er meinte, wirklich die Mitte gefunden zu haben, obwohl man das in der Dunkelheit eigentlich nicht recht beurteilen konnte. An der gewählten Stelle befand sich ein breiter Baumstumpf, wie geschaffen, um sich darauf niederzulassen. Johannes legte den Bogen und die drei Pfeile ins Gras und wartete.

Der Gedanke daran, dass dies die letzte Rast war und sie morgen ihr Ziel erreichen würden, stimmte ihn froh, obwohl er nicht recht wusste, was er dort erwarten konnte. In den letzten Tagen hatten sie die Pferde nicht geschont und eine Strecke zurückgelegt, die etwa dreimal so lang gewesen sein musste wie die von der Küste nach Rouen. Mehr und mehr kam ihm das alles wie eine Flucht vor.

Johannes blickte hinauf zum Himmel. In der Bibliothek des Klosters von Jumièges hatte er Karten gesehen, mit deren Hilfe man in der Nacht am Firmament bestimmte Sternkonstellationen auffinden konnte. Thomas hatte davon gesprochen, dass man sich mit Hilfe solcher Karten und einiger anderer Hilfsmittel auf der Reise orientieren könne, auch wenn es in der Umgebung keine weiteren Anhaltspunkte gäbe. Er sprach davon, dass die Schiffsführer solche Karten auf hoher See bei sich hätten, und nun kam Johannes der Gedanke, dass dies auch in dichtem Wald von großem Nutzen sein könnte. Erneut blickte er hinauf in die sternerleuchtete Finsternis und fühlte sich hilflos und ohnmächtig angesichts der gewaltigen Räume, die sich dort über ihm auftaten, Räume, deren Ausmaße er nie würde absehen können, deren Bedeutung er nie würde verstehen können.

Plötzlich hörte er rechts vor sich ein Rascheln. Etwas schien aus den Büschen hervorgesprungen zu sein und preschte mit unfassbar leichtfüßiger Schnelligkeit auf ihn zu. Johannes erstarrte für den Bruchteil eines Augenblicks, griff Pfeil und Bogen, richtete sich auf, blickte in die völlige Dunkelheit, dorthin, wo er dieses Etwas heranrasen hörte.

Dann schien alles stillzustehen. Ohne jegliche Empfindung bemerkte er, wie seine Hand den Pfeil auflegte. Sehne und Zugfinger nahmen Spannung auf. Bogen und Körper verharrten für den Bruchteil eines Augenblicks wie in völliger Zeitlosigkeit, bis der Pfeil sich löste und mit kaum wahrnehmbarem Zischen den Bogen verließ.

Johannes warf sich zu Boden, und er hörte, wie dieses Etwas zähnefletschend sprang und gleichzeitig entsetzlich aufschrie, wie es über ihn hinwegflog und etwa zehn Fuß entfernt zu Boden stürzte.

Dann war es still.

Sext

Gegen Mittag sitzen die Mönche gemeinsam im Refectorium und nehmen schweigend ihre Mahlzeit ein. Zuvor haben sie sich im Brunnenhaus gewaschen, in der Klosterkirche das Benedictus, das Gloria, das Kyrie gesungen, das Pater Noster gebetet, sind, den 51. Psalm intonierend, durch den Kreuzgang gezogen, um schließlich im Speisesaal ein Dankgebet anzustimmen. Auch die Sext gehört zu den kleinen Horen. Dennoch ist sie von besonderer Bedeutung. Sie leitet das gemeinsame Mahl der Mönche ein. Während sie Haferbrei, Gemüse und Brot essen und Wein mit Wasser dazu trinken, hören die Mönche dem Vorleser zu. Auch jetzt soll die Gegenwart Gottes bewusst sein. Johannes sitzt mitten unter ihnen. Auch wenn er der Abt ist, bleibt er doch ein einfacher Mönch, der zusammen mit seinen Brüdern die Communio bildet, zugleich die Gemeinschaft mit allen Kreaturen, die gelebt haben und gestorben sind, die Gemeinschaft aller, die auf und von dieser Erde leben. Die Communio ist die symbolische Teilnahme am Hochzeitsmahl der Schöpfung, ein Hochzeitsmahl der Ewigkeit. So speisen die Mönche in großer Demut und Wachsamkeit.

All dies geht Johannes während des Essens durch den Kopf. Doch ihm ist auch bewusst, dass die Sext, die Mittagsstunde, den Moment der Herausforderung symbolisiert. Mitte des Tages. Mitte des Lebens. Es ist die Zeit, innezuhalten und über das eigene Tun nachzudenken. Die Sonne hat den Zenit erreicht. Selbst die Vögel schweigen. An diesem Wendepunkt der Zeit entscheiden wir über das Schicksal unseres Tages. Auch das Leben kennt diesen Wendepunkt. Die Mitte des Lebens birgt noch einmal alle Möglichkeiten. War der bisherige Weg der richtige? Gibt es etwas zu bereuen, besser zu machen, wiedergutzumachen? Kann es wirklich so weitergehen? Ist nicht doch ein ganz anderer Weg der richtige? Eröffnet das Leben nicht auch bislang ganz ungenutzte, vielleicht immer schon erwünschte Facetten? Johannes denkt zurück an die Mitte seines Lebens. Damals hatten sich ihm diese Fragen gestellt, und plötzlich waren alle Gewissheiten dahin. Nun galt es, ehrlich zu sein. Ehrlich gegenüber sich selbst und menschlich gegenüber denen, die ihm viel bedeuteten. Jede Krise ist ein Trennen, ein Aussieben. Was tot ist, muss zurückgelassen werden. Eine Läuterung muss stattfinden. Es muss etwas abgeworfen werden, wenn das Leben weitergehen soll. Doch wer kann Rat geben? Wer kann hier ein guter Führer sein?

Johannes erinnert sich an den klösterlichen Gehorsam, das Hören, das Gegenwärtig-Sein. Doch die Wachsamkeit allein ist nicht genug. Geduld muss hinzukommen, Bereitschaft, die Dinge in der Schwebe zu halten, sich im Wendepunkt zu sammeln, Vertrauen zu haben. Manchmal ist es ein Zufall, ein überraschendes Erlebnis, die Begegnung mit einem Menschen – und plötzlich ist alles neu.

Die Mönche haben das Mahl beendet. Johannes erhebt sich und erteilt ihnen den Segen, der ihnen Mut machen soll, von neuem aufzubrechen.