Christoph Andreas Marx
Das Vermächtnis des Templers
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© Verlag Josef Knecht in der
Verlag Karl Alber GmbH 2007 Herstellung: fgb · freiburger
graphische betriebe 2007 www.fgb.de
Gesamtgestaltung und Konzeption:
Weiß – Grafik & Buchgestaltung, Freiburg
Coverbild: © AKG Images / British Library
Vorsatz / Nachsatz: Illustrationen von Bernadette Trost
Für meine Mutter, die historische Romane liebt
Gottfried Graf von Waldeck, Bischof zu Minden an Johannes von Nienburg, Abt zu Lucca
Minden, im Jahre der Menschwerdung des
Herrn 1323, am Tag des heiligen
Ephraim
Mein lieber Freund!
Bald ein Jahr ist vergangen, seit Ihr mir, wie schon so oft, Eure Gastfreundschaft geschenkt habt. Unsere letzte Begegnung steht mir deutlich vor Augen. Es war ein sonnendurchfluteter freundlicher Tag, so wie heute, da ich Euch diese Zeilen schreibe.
Bruder Gorgonius berichtete mir vor einigen Tagen, dass Ihr im Winter schwer erkrankt wart. Nun hoffe ich, dass Euch der Segen unseres Herrn nicht verlassen hat und Ihr Euch wieder bester Gesundheit erfreuen könnt und noch immer voll Liebe und Güte seid, wie ich es an Euch schätzen und lieben gelernt habe.
In den letzten Wochen hatte ich viel Ungemach mit einem Ansinnen des Ordens der Johanniter, denen ich letztlich doch nachgeben musste, wie Ihr sicher inzwischen vernommen habt. Die Zukunft wird zeigen, ob sich all dies in einen Segen verwandelt.
Heute nun wende ich mich an Euch mit der Bitte um Eure Einschätzung in einer Sache, die weit in die Vergangenheit reicht. Ich hörte jüngst von einer Begebenheit, die zu ungewöhnlich ist, als dass ich sie für wahr halten könnte. Sie soll sich im Sommer des Jahres 1307 zugetragen haben. Doch hört selbst:
Zu Köln seien drei Angehörige der Ritterschaft Christi vom Salomonischen Tempel zu Jerusalem in üblen Verruf geraten und der Häresie überführt worden. Es wird berichtet, dass sie auf dem großen Marktplatz verbrannt werden sollten. Aber offensichtlich ist es nicht dazu gekommen. Als der Henker die drei Männer zum Scheiterhaufen führte, hätte es plötzlich auf wundersame Weise Pfeile vom Himmel geregnet. Eines der Geschosse habe den Henker am rechten Arm getroffen, so dass er nicht mehr in der Lage gewesen sei, sein Amt auszuführen. Ein weiterer Pfeil soll dem Diener des Heiligen Stuhls, der das Verfahren gegen die Templer geleitet hatte, so in den Rumpf gefahren sein, dass er für viele Wochen dem Tode nahe gewesen sei. Ein Geschoss habe seine Eminenz, den Erzbischof getroffen, jedoch nur mit geringem Schaden. Lediglich die Kopfbedeckung sei ihm durchbohrt worden. Die Menschen auf dem Marktplatz seien mit viel Geschrei auseinandergelaufen, und die drei Templer hätten fliehen können. Doch damit nicht genug. Einige Zeugen wollen sogar gesehen haben, dass ein Mann in einer Kutte zuvor die Mauer eines nahegelegenen Kirchturms erklommen habe, was, wie wir wissen, ganz und gar unmöglich ist. Diese Geschichte erzählt man in Köln bis auf den heutigen Tag. Und niemand zweifelt an ihrer Wahrheit.
Mein lieber Freund, all dies würde ich Euch nicht berichten, wüsste ich nicht, dass Ihr selbst im besagten Sommer einige Tage in Köln verbracht habt. Vielleicht seid Ihr Zeuge des Geschehens gewesen oder habt schon damals davon gehört. Immerhin ist die Geschichte so wundersam, dass ich Euch bitten möchte, mir Eure Einschätzung nicht vorzuenthalten.
Möge der Segen unseres Herrn Euch allzeit begleiten.
Es grüßt Euch herzlich Euer Freund
Gottfried, Bischof zu Minden
Johannes von Nienburg, Abt zu Lucca,
an Gottfried Graf von Waldeck, Bischof zu Minden
Lucca, im Jahre der Menschwerdung des Herrn
1323, am Tag der heiligen Adelheid
Mein lieber Freund!
In diesen Stunden sind meine Gedanken bei Euch. Seid Ihr doch fast zwei Jahrzehnte meinem Lebensweg aufs engste verbunden gewesen. Die Erinnerung geht zurück bis in das Jahr 1307. Ihr wisst, welch grundlegende Veränderung mein Leben damals erfahren hat. Es war zugleich das Jahr Eurer Wahl in ein Amt, das Ihr nun schon lange innehabt und, so Gott will, noch lange bekleiden werdet.
Euer Brief hat mich vor einem halben Jahr erreicht. Verzeiht, dass ich Euch erst jetzt Antwort gebe. Seid versichert, dass es nicht böser Wille war, der mich bislang daran hinderte.
Bezüglich der Gründung einer Johanniterkomturei zu Wietersheim habt Ihr sicherlich klug gehandelt. Man kann es nur als ein Beispiel Eures Wohlwollens und Eurer Güte werten. Aber die Johanniter werden sich in diesen undankbaren Ländereien nicht lange halten. Aus gleichem Grund schloss vor zwanzig Jahren das Dominikanerinnenkloster in Lahde. Dessen Güter fielen an den Abt von Lucca. Aber ich sage das nicht, um Euch an alte Fehden zu erinnern, die uns beide ohnehin nicht trennen, auch wenn ich heute, womit damals niemand hätte rechnen können, Abt eben dieses Konvents bin.
Das Wetter in Lucca ist schwer erträglich: regnerisch, stürmisch und kalt. Drei Brüder sind bereits erkrankt. Mich selbst plagt erneut die Lungenschwäche. Das hohe Fieber ist zurückgegangen, doch ich leide noch immer an Husten, Atemnot und unregelmäßig auftretenden Kopfschmerzen. Diese Anzeichen sind mir nur allzu gut bekannt.
Es wird Euch sicherlich wundern, dass Ihr zusammen mit diesem Schreiben ein Buch erhaltet. Und es wird Euch noch mehr überraschen, wenn Ihr es öffnet und zu lesen beginnt.
Es ist die Geschichte meines Lebens. Seit April habe ich daran geschrieben, wohl wissend, dass der Herr mich bald zu sich nehmen wird. Als Ihr mir in den Tagen des Monats Juno Euren Brief habt zukommen lassen, in dem Ihr um eine Einschätzung der wundersamen Vorgänge zu Köln batet, konntet Ihr nicht ahnen, dass sich meine Gedanken ohnehin längst in dieser Zeit bewegten.
Es war mein Wunsch, dieses Leben noch einmal zu durchlaufen, um mir selbst Rechenschaft abzulegen. Werde ich die Gnade unseres Herrn finden? Wie armselig sind wir Menschen. Wie kurz ist unsere Zeit, und wie leicht sind die Wege der Versuchung.
Während ich diese Zeilen schreibe, warte ich
auf die Glocke der Mitternacht, bereit für die Vigil.
An diesem Tag werde ich keine weiteren Verpflichtungen haben, so
dass ich in der Zeit zwischen den Stundengebeten ein letztes Mal
meine Geschichte lesen kann, bevor ich sie an Euch sende, mein
hochgeschätzter Freund …
Vigil
Mit Beginn des Läutens zur Vigil legt Abt Johannes die Feder beiseite. Er erhebt sich, geht die knarrende Treppe hinab, öffnet die Tür des Abtshauses und begibt sich ins Freie. Er hat noch etwas Zeit bis zum Stundengebet. Der Himmel ist heute sternenklar. Kurz nach Mitternacht ist die Kälte besonders intensiv, aber Johannes bleibt vor dem Eingang des gegenüberliegenden Gebäudes stehen, schaut hinauf zu den Gestirnen, erblickt am Südhimmel den Orion, dann den Mars, verliert sich im Anblick der unbegreiflichen Unendlichkeit, des großen Mysteriums, und lässt die Gedanken aufkommen, wie es ihnen gefällt.
Vigil, das ist die Nachtwache, das erste Stundengebet des neuen Tages. Es ist die Zeit des Nachthimmels und der Dunkelheit. Die Nacht ist ein unergründliches göttliches Rätsel, in das wir alle eingebunden sind.
Die Dunkelheit hüllt uns ein. Dämonen lauern uns auf. Dürfen wir hoffen? Bleibt mehr von uns als das Nichts? Wird der neue Tag geheiligt sein?
Der Nachtwind ist der Klang der Vigil. Gemeinsam mit der Dezemberkälte treibt er den Schlaf aus den Gliedern. Er fordert auf, neu anzufangen. Die Vigil ist das Symbol des Erwachens. Aus der Welt des Schlafes, des Traums führt sie in eine neue Wirklichkeit. Es gibt noch einen Neuanfang, einen neuen Tag, ein neues Leben zu beginnen.
Und zugleich ist die Vigil Zeitlosigkeit. Weil
so viel Verwirrung und Ruhelosigkeit in uns ist, mahnt sie uns zum
Zuhören. Der Nachtwind ist Musik, der Klang der Welt. Die Vigil
macht alles neu. Die Mönche werden heute hören, was kein Mensch
zuvor gehört hat. «Siehe, ich mache alles neu.» So sagt Johannes in
der Offenbarung.
Johannes hört in sich den eigenen Namen. Das lässt ihn aufmerken.
Sein Blick wendet sich ab vom unendlichen Universum. Er betritt das
Gebäude, das ganz den Laienmönchen bestimmt ist, durchquert es mit
stillen Schritten und gelangt in den Innenhof. Vom Lesegang kommend
betritt er die Südpforte der Klosterkirche und findet im Chor die
Mönche zum Stundengebet bereit. Dann erfüllt der Gesang die Stille
der Kirche. Das Invitatorium erklingt: Ein großer Gott ist unser
Herr, ein großer König über alle Götter. In seiner Hand sind die
Tiefen der Erde, sein auch die Gipfel der Berge. Sein ist das Meer
– er hat es gemacht, sein auch das Festland – seine Hand hat es
gebildet. Ziehet ein! Denn er ist unser Gott, und wir sind das Volk
seiner Weide und die Schafe in seiner Hand.
Psalmgesang und Lesung folgen aufeinander. Johannes kann nicht sagen, wie oft er die Vigil gefeiert hat, Tag für Tag. Jahr um Jahr. Wie viel Vertrauen in diesem Stundengebet ist! Kann man einem Neuanfang so sehr vertrauen? Gehört zum Neuanfang nicht immer auch der Schmerz? Die Angst? Der Zweifel? Aber was bleibt uns, wenn nicht das Hoffen?
Johannes wartet, bis die Mönche das Benedicamus
beendet haben, erhebt sich und erteilt ihnen den Segen.
Einige Augenblicke später ist der Chor verlassen. Johannes sitzt
allein im nun wieder vollkommen stillen Kirchenraum. Seine Gedanken
gehen zurück in das Jahr 1302. Auch damals war es ein Erwachen, ein
Neuanfang, ein Sprung in eine andere Wirklichkeit gewesen. Aber man
hatte ihm keine Wahl gelassen …
STAT CRUX, DUM VOLVITUR ORBIS
Das Kreuz besteht, solange die Welt sich wandelt.
Inschrift an der Decke des Kapitelsaals im Kloster Loccum