11. Kapitel

Mit dem Aufzug fuhren sie zwei Etagen tiefer. Wie die meisten Stockwerke im oberen Bereich von Titus’ Bürogebäude konnte auch dieses nur mit einer Schlüsselkarte betreten werden und war außerdem mit einem hochmodernen Sicherheitssystem versehen. Aber im Unterschied zu den nüchternen, geschäftsmäßigen Stockwerken des Gebäudes stank dieses hier förmlich nach Magie … nach alter Magie. Die unauffällige Etage war das am schwersten bewachte Stockwerk des gesamten Gebäudes, einschließlich Titus’ eigener Höhle. Boden, Wände und Decke waren von Schutzzaubern überzogen, die beinahe so alt waren wie die Zivilisation. Selbst Titus konnte nur einen Bruchteil seiner Magie heraufbeschwören, solange er sich in diesem Stockwerk aufhielt; fast alles andere wurde neutralisiert. Man hatte wirklich größte Sorgfalt walten lassen, um dieses Stockwerk zu sichern, aber es ging nicht darum, jemanden davon abzuhalten, hereinzukommen, sondern darum, jemanden am Hinauskommen zu hindern.

Zwei Frauen in militärischen Uniformen hielten Wache vor einer gegossenen Bronzetür. Sie trugen großkalibrige Sturmgewehre, aber wenn die Schutzzauber den Bewohner dieses Stockwerks nicht aufhielten, dann waren diese Waffen erst recht nutzlos. Im Raum standen zwei weitere Wachen, ebenfalls Frauen. Titus hatte miterlebt, welche Spielchen sein Gast mit dem Verstand und den Herzen von Männern spielen konnte, selbst ohne Magie, und er würde kein Risiko eingehen. Der einzige Mann, dem es erlaubt war, diese Etage ohne Begleitung zu betreten, war er selbst.

Das Innere des Stockwerks wirkte in diesem modernen Bürogebäude vollkommen deplatziert. Die Ost- und Westwände bestanden aus Bildschirmen, die Ansichten von Downtown Ontario zeigten, die sich je nach Tages- oder Jahreszeit veränderten. Weder das Licht der Sonne noch das des Mondes durften in den Raum fallen. In den zahlreichen Regalen standen Bücher aller Art, ausgenommen solche, in denen es um Magie ging. Nicht einmal Märchenbücher waren zu finden. Auf dem Kissen eines großen Himmelbettes, das in der Mitte des Raumes stand, thronte Titus’ Gast und der Grund für Flags Furcht: Leah.

Sie saß auf dem Bett, hatte ihnen den Rücken zugekehrt und die Knie an die Brust gezogen. Sie sahen nur ihr volles, hellrosafarbenes Haar. Die Schultern waren selbst angesichts ihrer Körperhaltung stolz gestrafft. Sie neigte den Kopf, so dass die beiden Männer ihre gerade Nase und ihr spitzes Kinn sehen konnten, und deutete damit an, dass sie zwar ihr Auftauchen registriert hatte, aber nicht gewillt war, ihren Besuchern ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken. Selbst in Gefangenschaft verhielt sich Leah wie eine Königin. »Titus.« Sie ließ absichtlich seinen Titel weg, um ihm zu zeigen, dass sie ihn nicht respektierte, aber so leicht war Titus nicht zu provozieren.

»Guten Abend, Leah«, erwiderte Titus beinahe liebenswürdig. »Ich nehme an, es geht dir gut?«

»So gut, wie die Umstände es erlauben.« Sie hob die Hand und deutete auf die Schutzzauber, die in die Pfosten ihres Bettes eingelassen waren. Dabei schob sich die weiche Seide ihres Nachtgewands an ihrem Ellbogen zusammen. Ihre blasse Haut schien selbst in dem gedämpften Licht zu schimmern. »Bist du gekommen, um mir meine Freiheit zu schenken oder um mich weiter zu verspotten?«, fragte sie.

Titus lächelte. »Also wirklich, Leah. Ist dein Aufenthalt hier denn wirklich so schrecklich? War ich nicht ein zuvorkommender und liebevoller Gastgeber?«

»Liebevoll?« Die Luft in dem Raum bewegte sich, und Leahs Haar wehte wie in einer leichten Brise. »Was ist liebevoll daran, mich wie ein Tier in einen Käfig zu sperren? Oder mir meine Flügel zu stutzen?« Sie drehte sich um und sah die beiden zum ersten Mal an. Die Züge ihres puppenähnlichen Gesichts waren hart, und in ihren Augen, die wie geschmolzenes Gold aussahen, loderte Feuer. »Das ist keine Liebe, Titus, Verräter deines Bruders … Du hast mich zur Hölle verdammt!« Unter der Wucht ihrer Stimme loderten die Schutzzauber auf und tauchten den Raum in ein dumpfes Glühen. Flag trat unwillkürlich einen Schritt zurück, Titus dagegen blieb standhaft.

Leahs Stimme klang wie die einer Erwachsenen, ihre Erscheinung dagegen war alles andere als das. Sie war sehr zierlich, und unter dem seidenen Gewand erhoben sich zart knospende Brüste. Noch war ihre Schönheit nicht ganz erblüht, und dennoch war sie hinreißend. Es war ein wenig so, als sähe man zum ersten Mal einen Sonnenaufgang. Auf dem Gipfel ihres Ruhms hätte man Leah in vielen Kulturen als Göttin verehrt, doch dank Belthons Magie war sie jetzt eine Frau, die im Körper eines Mädchens gefangen war.

»Liebe Leah, Hölle ist ein so relativer Begriff.« Titus näherte sich dem Bett, blieb aber vorsorglich außerhalb ihrer Reichweite. Obwohl ihre Magie in den Körper eines Kindes gepresst worden war, konnte sie immer noch körperliche Schmerzen bereiten. »Und außerdem würden die meisten Frauen für die Chance, ewig jung zu bleiben, einen Mord begehen.«

»Ich war ewig jung.« Sie zog ihre schlanken Beine unter sich. Obwohl sie jetzt ruhiger schien, glühten ihre Augen immer noch mörderisch. »Ich war eine Frau, die für alle Zeit zwanzig Jahre alt war. Ich war eine Göttin, doch das hast du mir genommen.«

»Ich habe dir gar nichts genommen, liebes Kind, sondern nur den Reifeprozess deiner Macht ein wenig verzögert«, erwiderte Titus, als wäre es das Einfachste auf der Welt.

»Indem du mich ermordetest?« Ihre Stimme klang beinahe flehentlich. »Wäre ich ich selbst, würde ich dir die wahre Hölle zeigen, Verräter«, zischte sie.

»Dessen bin ich sicher, Leah. Und das ist auch der Grund, warum du niemals zu einer Frau werden wirst«, verspottete sie Titus.

Wie die meisten Feen war auch Leah von Sterblichen fasziniert. Eine ihrer bevorzugten Beschäftigungen war es gewesen, sich maskiert unter ihnen herumzutreiben. Leah tauschte die Seele mit einem sterblichen Mädchen und nahm sich für ein oder zwei Nächte einen Liebhaber. Um den Körper der Sterblichen sorgte sie sich nie, weil der betreffende Mensch entweder verrückt wurde oder verbrannte, wenn der Geist der Fee, die den Körper von der darin verbliebenen Magie trennte, nicht mehr in ihm wohnte. Während eines dieser kleinen Spielchen war sie Belthon in die Hände gefallen.

Der sterbliche Liebhaber, den sie sich ausgesucht hatte, war ein Anhänger der Dunklen Mächte. Sie tranken Wein und schliefen die ganze Nacht miteinander, bis in den frühen Morgen. Als Leah in ihrem geborgten Körper schlief, konnten die Lakaien von Belthon sie überwältigen. Auch der Dämonenlord kannte die Legenden über die Feen, weshalb er sie mit einem finsteren Bann belegte: Jeder Wirtskörper, den sie jemals bewohnt hatte, wurde ermordet, bevor er sein zwanzigstes Lebensjahr erreichte, und durch ein anderes junges Mädchen ersetzt. Leah würde zwar alt genug dafür sein, dass der Dunkle Orden ihre Macht nutzen konnte, aber niemals so alt, dass sie wieder zur Göttin werden konnte.

»Genug der Erinnerungen. Ich brauche Antworten, die nur du mir geben kannst«, erklärte Titus.

Leah lächelte ihn an. »Lord Titus, du bist ein Narr, wenn du glaubst, dass ich dir freiwillig helfen werde. Töte meinen Körper, wenn du musst, aber ich werde weder dir noch deinem Herrn dienen.« Leah lehnte sich zurück und verschränkte die Arme, als wäre das ihr letztes Wort.

»Oh, ich glaube schon, dass du mir helfen wirst.« Titus’ Hand schoss vor, und er packte die weibliche Wächterin an der Gurgel. Sie wehrte sich, war jedoch machtlos gegen seine übernatürlichen Kräfte. Titus fuhr mit der Hand über ihre nackte Haut und hinterließ rote Striemen darauf. Zunächst passierte nichts weiter, doch dann lief Blut aus der Wunde über seine Hand.

»Eine Opfergabe.« Titus grinste, als er seine blutige Hand ausstreckte. Das Blut tropfte von seinen Fingerspitzen auf die lavendelfarbene Bettwäsche und hätte beinahe Leahs nackten Fuß getroffen.

»Nein!« Die Fee wich in die Mitte des Bettes zurück, als könnte das Blut sie verbrühen. »Ich werde dir nicht dienen!«

Titus zerrte die Wache zum Bett, auf dem Leah kauerte. »Du hast keine Wahl«, erklärte Titus und steckte seine Finger in die Wunde. Blut spritzte in einem Bogen in die Luft und benetzte den Schleier aus Spitze, der das Himmelbett umhüllte. »Ich bringe dir ein Opfer, Fee. Blut und Knochen, das ist der Tribut.« Er spritzte mit den Fingern Blutstropfen auf Leah.

Als das Blut ihre Haut berührte, schrie sie auf, als wäre sie verbrüht worden. Die Tropfen zischten, bevor sie in ihre Poren eindrangen. Der Leichnam der Wächterin zuckte heftig, als der Rest ihres Blutes aus ihr herausspritzte und wie durch Magie in die Haut der Fee gesaugt wurde. Schon bald war weder vom Blut noch vom Leichnam der Wächterin noch etwas zu sehen. Leahs schimmernder Körper schwebte leicht über der Matratze.

»Der Tribut ist akzeptiert.« Ihre Stimme vibrierte von der Macht das Blutopfers. »Frage, wonach du willst, auf eigene Gefahr, und erhalte als Antwort die Wahrheit der Göttin.«

»Ich suche den Nimrod, Göttin«, sagte Titus.

»Wie ihn alle Kräfte von Licht und Dunkel suchen. Der Nimrod wurde ausgegraben, und der Bischof schlummert nicht mehr. Vor dreihundert Jahren antwortete der Nimrod auf den Ruf des Jägers, so wie er es diese Nacht tat.« Ihre goldenen Augen schienen noch heller zu strahlen. »Selbst in diesem Moment verführt ihn die Magie mit dem Flüstern ihrer dunklen Geheimnisse. Hüte dich vor dem Dunklen Sturm, Halbling.«

Flag stand mittlerweile neben der Tür und versuchte, die Panikattacke abzuwehren, die er in sich aufsteigen fühlte. Leahs Macht zu stärken, um ihre Visionen zu beschwören, hatte ihm noch nie behagt, weil er wusste, wie gefährlich sie sein konnte. Titus dagegen glaubte zuversichtlich, dass er das Mädchen kontrollieren konnte. So hatte Flag das bis jetzt auch gesehen, doch nun spürte er, wie die pure Energie aus dem Mädchen sickerte und gegen die Schutzzauber drängte. Es schien fast, als würde das Erwachen des Dreizacks sogar die älteste Magie der Welt in Mitleidenschaft ziehen. Flag nahm sich vor, Titus vorzuschlagen, Leahs Wirtskörper früher als geplant zu töten, sobald sein Meister mit seinen Fragen am Ende war.

»Ich fürchte nur den Fürsten der Finsternis selbst.« Titus klang zuversichtlich. Er spürte, wie Leahs Macht wie geisterhafte Finger über seine Haut glitt. »Ich werde den Nimrod beherrschen.«

Leahs Lachen ließ die Buchregale vibrieren. »Niemand kann etwas beherrschen, das keinen Herrn mehr hat. Es war Gott, der ihn schuf, und es ist Rachsucht, die ihn antreibt. Eine solche Magie kann weder kontrolliert noch beherrscht werden, sondern man kann sich nur mit ihr verschwören, oder hast du vergessen, was aus deinem Bruder geworden ist? Gib deine Suche nach dem Nimrod auf, Halbling, denn ich sehe, wie sein unbarmherziger Schlag unheiliges Blut vergießt. Beherzige meine Warnung, Titus, du Verräter deines Bruders.«

Sie schwebte näher an Titus heran, so dass er sehen konnte, wie sich die Szene in ihren Augen abspielte. Da war der Moment, in dem der Nimrod in seine Brust gestoßen wurde, aber es war nicht ganz richtig. Diesmal befanden sie sich nicht auf einem offenen Feld vor Neapel, sondern in einer modernen Straße. Obwohl derjenige, der in der Vision den Nimrod führte, etwas jünger war als der Jäger, an den Titus sich erinnerte, waren ihre Gesichter beinahe identisch.

»Gaukelei«, zischte Titus und schlug mit seiner Willenskraft zu, versuchte, Leah gegen die Wand zu schleudern. Seine Macht peitschte um ihren Körper wie ein starker Windstoß und wiegte sie hin und her, aber sie schwebte weiter an derselben Stelle, die Beine unter sich gekreuzt und den Rücken gerade aufgerichtet. Titus beschwor so viel von seiner Magie, wie er es in dem mit Schutzzaubern belegten Raum wagte, und holte zu einem Schlag aus. »Genug mit den Spielchen, Fee. Der Preis wurde bezahlt, und du hast mir noch immer nicht gesagt, was ich wissen muss.«

»Die Göttin kennt nur die Wahrheit, Titus, und die musst du wissen; doch wonach du fragst, ist die Vorlage für eine Katastrophe. Nun, so sei es.« Ihr Körper sank langsam auf das Bett herunter. »Der Bischof hat sein Gefäß erwählt, und nur der Tod vermag dieses Band zu brechen. Doch ausgestattet mit der Macht des Nimrod wird der Jäger nicht leicht zu töten sein. Nichts Lebendes kann die beiden trennen, solange die zwei Herzen wie ein einziges schlagen.«

»Dann ist der einzige Weg, ihm den Dreizack zu entreißen, ihn zu töten?« Titus sprach mehr zu sich selbst, aber Leah beschloss, ihm zu antworten.

»Ja, aber das ist nicht so einfach, wie es klingt. Der Nimrod wurde geschmiedet, um von einem Gott geführt zu werden; deshalb wird das Gefäß immer gottähnlicher, je länger die beiden miteinander verbunden sind. Sogar ahnungslos hat er dein Fußvolk abgeschlachtet wie Vieh, und jedes Mal, wenn er die Waffe benutzt, wird sie stärker. Ich fürchte, dass er bereits den Punkt überschritten hat, wo irgendetwas von dieser Welt sie trennen könnte.«

»Aber sie können getrennt werden?«, setzte Titus nach.

»Selbst das Meer konnte geteilt werden.«

Titus dachte über dieses Rätsel nach. »Ich werde deine Worte erwägen, Göttin. Und jetzt sag mir, wo ich den Jäger finden kann.«

»Wenn du darauf bestehst, in deinen Untergang zu gehen, werde ich dir den Weg gerne leuchten. Der Nachkomme der Jäger streift durch die Stadt der gläsernen Türme und ist eher auf der Jagd nach ungelösten Mysterien als auf der Jagd nach Häuten. Doch der Bischof lenkt jetzt seine Schritte, also wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis er dich findet.« Während ihrer letzten Worte erlosch das Strahlen von Leahs Haut, und sie war wieder sie selbst. Sie sah Titus mit verschlafenen blauen Augen an, als wäre sie gerade aus einem Traum erwacht, bevor sie sich unter der Decke zusammenrollte und einschlief, als wäre nichts geschehen.

»Ich finde die Ausflüge zu Leah immer unerfreulicher«, sagte Flag, als sie zu Titus’ Büro zurückgingen.

»Ich wusste gar nicht, dass die Magier Probleme mit Feen haben«, erwiderte Titus grinsend.

»Nicht mit den Feen als Spezies, sondern nur mit Leah. Selbst in ihrem Wirtskörper scheint mir ihre Macht stärker, als sie sein sollte, vor allem, wenn Ihr sie dazu zwingt, die Visionen zu beschwören. An Eurer Stelle würde ich ernsthaft in Erwägung ziehen, ihren Wirt diesmal früher zu ermorden«, schlug Flag vor.

»Wie gut, dass du nicht an meiner Stelle bist«, erwiderte Titus. »Es ist nicht so einfach, einen angemessenen Wirtskörper für jemanden zu finden, der so mächtig ist wie Leah, Magus. Wir sind nicht mehr im Mittelalter, als regelmäßig junge Mädchen spurlos verschwanden und niemand Verdacht schöpfte. Nein, Leah wird diesen Körper noch eine Weile behalten. Außerdem haben wir andere Probleme. Wir müssen uns den Nimrod holen.«

»Das wird keine einfache Aufgabe sein. Wie Leah sagte, sind der Junge und der Nimrod vielleicht schon über den Punkt hinaus, wo man sie trennen kann«, erinnerte Flag seinen Meister.

»Sie sagte, dass sie vielleicht nichts von dieser Welt mehr trennen kann, also werde ich Hilfe außerhalb dieser Welt suchen müssen. Ich will, dass der Nachtfalke aufgetankt und zum Abflug bereit ist, sobald du gepackt hast. Bereite dich darauf vor, so lange unterwegs zu sein, wie ich es für notwendig erachte.«

»Wohin fliege ich?«, erkundigte sich Flag.

»Nach New York. Riel ist ein loyaler Diener, aber es gibt Dinge, die mehr Feingefühl erfordern, und dafür brauche ich dich. Ich fürchte, das Wiedererwachen des Artefakts in einer Stadt, die so mächtig ist wie New York, wird einiges an Aufmerksamkeit erregen, und zwar sowohl bei den Heerscharen des Lichts als auch bei der Armee der Finsternis. Wir müssen bereit sein, wenn unsere Feinde ihre blutenden Kreuze zeigen. Geh zu den Eisernen Bergen und teile Prinz Orden mit, dass wir ihn und die Seinen benötigen.«