15. KAPITEL

Mit einem schnellen linken Haken meldete sich die Realität zurück und katapultierte Jim aus der Wärme der sicheren Fantasiewelt heraus, in die er sich für eine Weile hatte fallen lassen.

„Was ist los?“, fragte Emily leise und kämmte ihm mit den Fingern durchs nasse Haar, während er sie mit einem Handtuch abtrocknete.

„Ich habe kein Kondom benutzt, Em.“ In seiner Wange zuckte nervös ein Muskel.

Da war es wieder in seinen Augen, diese Dunkelheit, diese Trauer, dieser Schmerz oder was immer es war. Aber Emily tat so, als hätte sie nichts bemerkt. „Das fällt dir erst jetzt auf?“, fragte sie neckend. „Und ich dachte schon, es wäre Absicht gewesen. Typisch Mann, besitzergreifender Macho. Ich dachte, es wäre dir das Risiko wert gewesen, weil wir ja sowieso heiraten werden.“

Jim schüttelte den Kopf. „Nein. Ich … wir … es hat mich einfach überwältigt. Ich habe nicht an Verhütung gedacht, aber ich hätte daran denken müssen. Es tut mir leid. Meine Schuld.“

Emily beugte sich vor und küsste ihn. „Ich hätte gern ein Baby von dir“, erklärte sie lächelnd. „Am liebsten erst in ein paar Jahren, aber wenn es jetzt passiert wäre, würde die Welt davon auch nicht untergehen. Vorausgesetzt natürlich, das Baby hat dein Lächeln.“

Aber die gewünschte Reaktion blieb aus: Er lächelte nicht. Stattdessen rückte er von ihr ab. „Nun ja …“ Er räusperte sich. „Ich bin noch nicht bereit für Kinder, weißt du. Ich glaube, es wäre ein großer Fehler, jetzt ein Kind zu zeugen.“

Das war gelogen, und Jim wandte den Blick ab, weil er sich sicher war, dass Emily ihn durchschauen würde, wenn sie ihm in die Augen sah. In Wahrheit hätte er alles dafür gegeben, ein Baby mit ihr zu bekommen. Schon seit der Geburt seiner Nichte, seit dem Augenblick, in dem er gesehen hatte, wie Bob seine kleine Tochter in den Armen hielt, hatte Jim sich ein Stückchen von diesem Glück gewünscht. Und er wünschte sich, dieses Glück mit Emily zu teilen. Bei Gott, das wünschte er sich sehnlicher als alles andere auf der Welt.

„Ich denke, wir sollten warten“, fuhr er fort. „Du weißt schon, erst mal sichergehen, dass wir auch wirklich zueinanderpassen. Dass wir miteinander auskommen. Hörst du, was ich sage?“

Emilys Blick ging zu Boden, und er wusste, dass er sie mit seinen Worten verletzt hatte. Sie hatte auf Liebesbeteuerungen gehofft, auf Versprechen immerwährenden Glücks, nicht auf nüchterne Mahnungen zur Vorsicht. Aber so war das Leben nun mal. So war die Wirklichkeit. Und die Wirklichkeit funktionierte nun einmal nicht nach Wunsch. In der Wirklichkeit gab es Tiefschläge und Fußtritte, bis man am Boden lag und das Bewusstsein verlor. Die Wirklichkeit war voll platter Reifen, geplatzter Träume und gebrochener Versprechen. In der Wirklichkeit wurde man von rachsüchtigen Teens auf der Straße zusammengeschossen.

In der Wirklichkeit war Bob verblutet, einen letzten Liebesgruß an Molly auf den Lippen und ohne eine Chance auf Überleben.

Jim stand auf. Er brauchte plötzlich dringend frische Luft.

Er zog sich Shorts an und ging ins Wohnzimmer, zog die Vorhänge auf und öffnete die Balkontür.

Die Nachtluft war feucht, heiß und schwül. Er zog die Tür hinter sich zu, ließ sich schwer in einen der Liegestühle fallen und strich sich das immer noch nasse Haar aus dem Gesicht. Verdammt, selbst hier draußen bekam er keine Luft.

Die Tür wurde hinter ihm aufgeschoben, und Emily trat auf den Balkon hinaus. Sie trug jetzt ein ärmelloses weißes Baumwollnachthemd, das sie einerseits unglaublich unschuldig, andererseits umwerfend sexy erscheinen ließ. Jim stellte verblüfft fest, dass er sie schon wieder begehrte. Gerade erst hatte er eine sensationelle sexuelle Erfahrung mit ihr gehabt, und dennoch wollte er mehr.

Er biss die Zähne zusammen und wandte den Blick ab, aus Angst, sie könnte ihn durchschauen. Könnte sehen, welche Macht sie über ihn hatte. Trotzdem hörte er ihr Nachthemd rascheln, als sie sich auf den zweiten Liegestuhl setzte, und er spürte ihren Blick auf sich ruhen.

„Möchtest du darüber reden?“, fragte sie sanft.

„Worüber?“, gab er heiser zurück, ohne sie anzusehen.

„Über das, was dich beschäftigt, was es auch immer sein mag.“

Was sollte er dazu sagen? Ich habe Angst? Angst wovor? Er wusste es nicht. Angst davor, glücklich zu sein, stichelte eine innere Stimme. Angst davor, etwas zu haben, das du nicht verdienst, etwas, das du Bob genommen hast.

Jim stand abrupt auf und stützte sich auf die hölzerne Balkonbrüstung. „Ich zerbreche mir den Kopf, wie ich auf Delmores Boot gelange, wenn er am Montagabend raussegelt.“

„Das kann ich für uns beide arrangieren.“

„Für mich“, korrigierte er und wandte sich ihr zu. „Nicht für dich. Du bist raus. Ich lasse dich nicht noch einmal in Delmores Nähe.“

„Jim …“

„Nein.“ Er sage es zu laut, zu scharf, zu heftig. Sie zuckte zusammen – und reckte das Kinn vor.

„Wenn du mich anschreien willst, sollten wir reingehen“, meinte sie.

„Wenn du das für Anschreien hältst, hat man dich noch nie angeschrien.“

„Ich bin nicht aus Zucker“, gab Emily kurz zurück. „Und ich bin durchaus schon angeschrien worden. Vielleicht weißt du es nicht, aber ich bin schon von Schülern mit dem Messer bedroht worden …“

„Großartig. Soll ich mich dadurch jetzt besser fühlen?“

„Jim, ich kann dafür sorgen, dass wir beide an Bord kommen.“ Emily beugte sich vor, als hoffte sie, er würde verstehen, wenn sie ihm nur nahe genug war.

„Und ich erlaube dir das nicht.“

„Warum nicht?“

„Das spielt keine Rolle. Dieses Mal lasse ich mich nicht von dir überreden …“

„Du bist nicht mal bereit, darüber zu reden?“

„Es gibt nichts zu bereden. Ich habe meine Entscheidung getroffen.“

Echter Zorn blitzte in Emilys Augen auf. „Oh, du hast deine Entscheidung getroffen. So ist das also. Und was ist mit mir? Habe ich nichts dazu zu sagen? Muss ich mich einfach deinem Willen beugen?“

„Diesmal ja.“

„Und nächstes Mal?“ Ihre Stimme klang trügerisch ruhig und gelassen, aber ihren Augen war deutlich abzulesen, was sie empfand.

Jim stieß sich von der Balkonbrüstung ab. „Hör zu, wenn du mich heiraten willst, wirst du dich daran gewöhnen müssen, dass ich dich beschütze.“

Damit schob er die Glastür auf und ging zurück ins Wohnzimmer. Emily folgte ihm. Sie versuchte die Wut in ihren Augen nicht länger zu verstecken und schob die Tür ein wenig zu heftig zu. „Wenn ich dich heiraten will? Das wirfst du mir einfach so an den Kopf und gehst?“

„Diese Unterhaltung ist zu Ende. Ich weiß, was du zu erreichen versuchst, und ich werde es nicht zulassen.“

„Im Augenblick versuche ich herauszufinden, was für eine Vorstellung du von unserer Beziehung hast“, erwiderte Emily scharf. „Ich dachte bisher, dass ‚lieben, ehren und gehorchen‘ seit Ewigkeiten aus der Mode gekommen seien. Ich dachte, zu unserer Beziehung gehört Gleichberechtigung. Geben und Nehmen. Und damit meine ich nicht, dass du die Befehle gibst und ich sie entgegennehme.“

„Unter keinen Umständen lasse ich zu, dass du dein Leben riskierst“, gab er zurück, „und wenn dir das nicht gefällt …“

Er wandte sich ab, wagte ihr nicht in die Augen zu sehen.

„Was dann?“, flüsterte sie. Plötzlich hatte sie schreckliche Angst. „Was ist, wenn mir das nicht gefällt?“

Er schaute zu Boden, musterte angelegentlich seine nackten Füße. Er trug nur eine graue Sporthose, die seine Sonnenbräune und seine langen muskulösen Beine betonte. Seine Haare waren inzwischen fast trocken. Sie kringelten sich um seine Schultern, dicht, glänzend, glatt wie Seide. Sie waren schön. Er war schön. Aber als er sie endlich anschaute, wirkten seine Augen trübe, beinah leblos, und Schmerz stand in seinen Zügen.

„Dann wird es nicht funktionieren“, sagte er leise. „Du weißt schon: mit uns beiden.“

Und Emily begriff. Wie ein heller Blitz das Dunkel einer stürmischen Nacht zerriss, stand ihr plötzlich glasklar vor Augen, was wirklich los war. Bei ihrem Streit ging es nicht darum, ob Emily sich in Gefahr begab oder nicht, um Alex dingfest zu machen. Jim war ein Meister der subtilen Manipulation, und es wäre so leicht für ihn gewesen, sie zum Nachgeben zu bringen. Er hätte einfach nur so etwas sagen müssen wie: „Ich liebe dich, und ich will nicht, dass dir etwas passiert. Bitte, es ist mir äußerst wichtig, dass du dich von Alex Delmore fernhältst.“ Und schon hätte sie sich gefügt. Nein, es gab einen anderen Grund, warum er mit ihr diskutierte.

Einen anderen Grund, warum er mit voller Absicht diesen Streit provoziert hatte.

Er wollte sie nicht heiraten. Er hatte Angst.

„Oh Gott“, entfuhr es Emily, als die Erkenntnis sie traf wie ein Fausthieb in den Magen.

„Es tut mir leid“, sagte er. „Em, ich schwöre, ich will dir niemals wehtun, aber ich kann nicht … Ich … ich muss in Ruhe über alles nachdenken.“

Emily kamen die Tränen. Trotzdem folgte sie ihm, als er seine Reisetasche und seinen Rucksack nahm und zur Tür ging. „Was auch immer das Problem ist, wir können damit fertigwerden“, sagte sie voller Überzeugung. „Du liebst mich. Ich weiß, dass du mich liebst. Und ich liebe dich.“

„Das solltest du nicht. Ich verdiene es nicht.“

Er öffnete die Tür.

„Jim, warte. Bitte. Rede mit mir.“

Er blieb stehen. Stand einfach da, draußen vor der Tür, mit gesenktem Kopf. „Ich brauche Zeit, um nachzudenken“, sagte er, ohne sich umzudrehen. Er sprach so leise, dass Emily ihn kaum verstand. „Und ich kann nicht nachdenken, wenn ich mit dir zusammen bin, Em.“

Emily hielt sich am Türrahmen fest, klammerte sich an die Erinnerung an das Glück, das sie vor gerade mal einer Stunde in Jims Augen gesehen hatte, als sie sich geliebt hatten. Da hatte er nicht nachgedacht, sondern nur gefühlt. Erst später hatten ihn die Schatten und der Schmerz wieder eingeholt und ihm den Blick vernebelt. Erst später hatte er wieder versucht zu leugnen, dass die Liebe, die sie füreinander empfanden, ausreichte, um all ihre Probleme zu bewältigen.

Aber bevor sie ihm das sagen konnte, bevor sie ihn bitten konnte, nicht zu gehen, war er fort. Verschwunden in der Dunkelheit vor Sonnenaufgang.

Das Telefon klingelte.

Emily sprang von der Couch auf in der Hoffnung, Jim sei dran. Er war erst eine halbe Stunde weg – eine scheinbar endlos lange halbe Stunde –, aber vielleicht rief er ja an, um ihr zu sagen, dass er sich geirrt hatte. Vielleicht rief er an, um ihr zu sagen, dass er doch den Rest seines Lebens mit ihr verbringen wollte, dass er sie liebte, dass er zurückkam und alles in Ordnung kommen würde.

Wer sonst sollte um halb fünf Uhr morgens anrufen?

„Jim?“

„Nein, tut mir leid, Emily. Hier ist Felipe Salazar“, kam die vertraute Stimme über die Leitung. Irgendwie klang er jedoch anders als sonst. Angespannt, kurz angebunden. „Bist du wach? Lass dir einen Moment Zeit, ganz wach zu werden, okay?“

Emily strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Ich bin wach. Ich war schon auf, bevor du angerufen hast. Ist etwas passiert?“

Angst machte sich in ihr breit. Jim war erst seit einer halben Stunde weg. Ihm konnte in der kurzen Zeit nichts passiert sein. Oder etwa doch?

„Ja“, antwortete Felipe. „Ich bin im Krankenhaus …“

„Nein“, stieß Emily hervor, wie gelähmt vor Angst. „Nicht Jim …“

„Diego geht es gut“, fiel Felipe ihr ins Wort, und die Erleichterung warf sie fast um. Sie ließ sich mit dem Telefon in der Hand auf die Couch fallen. „Es geht um …“ Felipe musste sich räuspern. „Es geht um Jewel. Sie wird gerade operiert. Sie können noch nicht sagen … Es ist nicht sicher, ob sie … überleben wird.“

Schlagartig fiel die Erleichterung von ihr ab, und neuer Schrecken machte sich in ihr breit. „Oh Gott. Felipe, was ist passiert?“

„Sie ist vor ein Auto gelaufen …“ Seine Stimme brach. „Sie war zu Fuß auf der Ausfahrt des Highways unterwegs. Total high. Der Arzt sagt mir, sie hätten in ihrem Blut Spuren von Crack und LSD gefunden.“

„Oh nein. Oh Jewel. Ich dachte, sie hätte es geschafft. Was ist denn bloß passiert?“

„Ich bin passiert“, gab Felipe grob zurück. „Ich habe sie im Stich gelassen. Sie brauchte mich, und ich war verdammt noch mal nicht für sie da.“

Dann schwieg er, aber Emily hörte ihn schwer atmen und wusste, wie aufgeregt er war.

„Felipe, sie ist drogenabhängig“, sagte sie. „Du weißt, dass du nicht die Verantwortung dafür übernehmen kannst.“

„Nein“, unterbrach er sie. „Du verstehst nicht.“

„Wo bist du?“, fragte Emily. „Ich komme.“

Felipe Salazar war sichtlich fix und fertig. Sein Anzug war zerknittert, die Krawatte fehlte, sein normalerweise makelloses weißes Hemd stand halb offen und sah aus, als hätte er darin geschlafen. Sein glänzendes schwarzes Haar, sonst immer perfekt gestylt, kräuselte sich wirr um seinen Kopf.

Er saß in sich zusammengesunken im Wartesaal des Krankenhauses, die Ellbogen auf die Knie gestützt, die Hände im Nacken gefaltet und den Blick zu Boden gerichtet.

Als er Emilys Schritte hörte, hob er den Kopf. Seine Augen waren gerötet, und er sah entsetzlich müde aus, aber er brachte ein Lächeln zustande und stand auf.

„Danke, dass du gekommen bist“, sagte er.

Emily umarmte ihn. „Es tut mir so leid. Kann ich irgendetwas tun, um zu helfen?“

Felipe trat einen Schritt zurück. „Du kannst mit mir beten“, sagte er. „Oh Mann, ich habe nicht mehr so gebetet, seit ich acht Jahre alt war und mein kleiner Bruder eine Blinddarmentzündung hatte.“ Er schüttelte den Kopf. „Es war mitten in der Nacht, wir steckten irgendwo mitten in der Pampa, vierzig Meilen bis zum nächsten Krankenhaus, und dann hat der Wagen meines Vaters gestreikt.“

„Was ist dann passiert?“

„Ich habe Gott um ein Wunder angefleht. Dann ist ein Auto vorbeigekommen und hat angehalten. Collegeschüler. Richtige Hippies mit langen Haaren, Stirnbändern und allem, was so dazugehört. Sie hatten sich verfahren und suchten nach dem Highway. Mann, die waren regelrecht froh, uns ins Krankenhaus fahren zu können. Einer meinte immer wieder, was für ein sensationelles Glück es doch sei, dass sie sich verfahren hätten.“ Er lachte leise. „Aber ich weiß: Mit Glück hatte das nichts zu tun. Es war ein Wunder. Gott hat meine Gebete erhört.“ Er schüttelte den Kopf, und Tränen traten ihm in die Augen. „Das ist schon so viele Jahre her. Glaubst du, dass ich heute wieder eine Chance auf ein Wunder habe?“

Emily nickte, nahm Felipes Hände und drückte sie fest. Sprechen konnte sie nicht.

„Phil! Ich habe mich sofort auf den Weg gemacht, als ich gehört habe, was passiert ist.“

Jim.

Emily drehte sich um. Jim stand hinter ihr. Ihre Blicken trafen sich nur kurz, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder seinem Freund zuwandte. Sie hätte ebenso gut eine Fremde oder flüchtige Bekannte sein können, so wenig Wärme lag in seinem Blick. War das wirklich derselbe Mann, der sie vor Kurzem erst so leidenschaftlich geliebt hatte? Ihr Magen verkrampfte sich, und sie versuchte sich selbst einzureden, dass nur die kritische Situation ihn so kalt erscheinen ließ. Sobald sie Gelegenheit bekam, mit ihm zu reden, würde sie ihm schon klarmachen, dass sie gemeinsam seine Probleme lösen konnten, was immer auch los sein mochte.

„Was ist passiert?“, fragte Jim seinen Freund.

„Jewels Onkel und Tante haben sie aufgespürt. Sie sind in dem Wohnheim aufgekreuzt, haben darauf beharrt, dass Jewel eine Ausreißerin wäre. Sie konnten nachweisen, dass sie noch minderjährig ist. Wusstest du, dass sie erst siebzehn ist?“, wandte Felipe sich an Emily.

Emily nickte. Ihr war nicht klar gewesen, dass Felipe nicht wusste, wie jung Jewel noch war.

„Die beiden haben behauptet, sie seien auch die gesetzlichen Vormünder für Billy“, fuhr Felipe fort. „Sie haben darauf bestanden, dass man ihn und Jewel an sie herausgibt. Und Jewel haben sie gesagt, wenn sie einen Aufstand macht, würde das Jugendamt ihr den Jungen wegnehmen.“

Müde wandte Felipe sich ab und setzte sich wieder auf einen der harten Plastikstühle. „Sie hat mich angerufen, Diego“, sagte er und schaute Jim an. „Verdammt, sie hat mich gestern angerufen. Hat mich gebeten, zum Wohnheim zu kommen, weil sie mich bräuchte. Der Anruf ist auf dem Anrufbeantworter gelandet. Ich habe mitgehört, aber nicht abgenommen. Ich habe ihren Anruf nicht entgegengenommen, weil ich versucht habe, Abstand zu ihr zu halten! Verstehst du? Ich habe mich von ihr ferngehalten, sie nicht wie bisher jeden Tag besucht. Ich dachte, so gerät das Ganze nicht außer Kontrolle. Aber seitdem ruft sie andauernd an. Ich dachte, das wäre wieder nur so ein Anruf wie alle anderen auch. Ich dachte, sie übertreibt ein wenig, bauscht die Geschichte auf, versucht meine Aufmerksamkeit zu erregen. Also habe ich sie ignoriert. Madre de Dios, sie war in Schwierigkeiten, und ich habe sie ignoriert!“

Ohne Zögern setzte Jim sich neben Felipe und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Das konntest du nicht wissen“, sagte er leise. „Phil, mach dir keine Vorwürfe, weil du das getan hast, was du für das Richtige gehalten hast.“

„Sie hat auch mich angerufen“, mischte Emily sich ein und setzte sich auf Felipes andere Seite. „Sie hat auf meinen Anrufbeantworter gesprochen, und auch ich habe nicht rechtzeitig zurückgerufen.“

Felipe setzte sich auf, bemüht, die Fassung wiederzuerlangen. Jim ließ eine Hand auf der Schulter seines Freundes liegen. Es schien ihm nichts auszumachen, ihm in aller Öffentlichkeit ein klein wenig Trost und Wärme zu spenden.

„Wie ist sie an die Drogen gekommen?“, fragte er.

„Ihr Onkel hat sie gezwungen, sie zu nehmen. Er hat gedroht, Billy etwas anzutun, wenn sie nicht … Er wollte sie wieder abhängig machen und unter seine Kontrolle bringen.“ Felipes Miene versteinerte, und in seinen Augen blitzte ein so gewaltiger Hass auf, dass Emily erschrak. Er wandte sich an Jim. „Diego, ich brauche deine Hilfe. Du musst den Schweinehund für mich finden und einlochen, denn wenn ich ihn zwischen die Finger kriege – ich schwöre bei Gott: Ich bringe den Kerl um. Bitte, lass nicht zu, dass es so weit kommt.“

„Ich kümmere mich darum. Hank Abbott sitzt schon so gut wie hinter Gittern. Darauf kannst du dich verlassen.“ Die Bestimmtheit, mit der Jim das sagte, beruhigte Felipe ein wenig. „Wo steckt Billy jetzt?“

„Bei meiner Mutter. Ich konnte mit Jewel reden, bevor sie in den Operationssaal gebracht wurde. Sie war zwar beinah weggetreten, aber trotzdem außer sich vor Sorge um Billy. Sie hat mir erzählt, wo er sich versteckt hielt, und mich gebeten, ihn zu holen und in Sicherheit zu bringen …“ Seine Stimme brach. „Sie hatte innere Blutungen, Mann. Ihre Hüfte ist gebrochen, beide Beine sind zerschmettert, und trotzdem hat sie nur an ihren kleinen Jungen gedacht.“ Er schloss die Augen. „Gott, ich flehe dich an, schenk mir noch einmal ein Wunder. Gib Jewel noch eine Chance … Nein, ich habe sie im Stich gelassen. Gib mir noch eine Chance. Ich weiß, dass ich sie nicht verdiene …“

„Du verdienst sie, Phil“, meinte Jim sanft. „Du verdienst eine weitere Chance, hörst du? Alles wird gut. Alles kommt wieder in Ordnung.“

Emily schaute auf. Mit tränenverschleiertem Blick nahm sie wahr, dass Jim sie ansah. Aber als ihre Blicke sich trafen, wandte er sich hastig ab und stand auf.

„Ich rufe dich vom Revier aus an, sobald ich Onkel Hank erwischt habe“, versprach er Felipe.

Der nickte. „Danke, Diego.“

„Pass auf dich auf, Jim“, sagte Emily.

Ihre Worte schienen ihn zu überraschen. Wieso überraschte es ihn, dass sie ihn bat, auf sich aufzupassen? Er musste doch wissen, wie wichtig ihr seine Sicherheit war?

Rasch stand sie auf und folgte ihm den Gang hinunter. „Jim, warte.“

Er blieb stehen, drehte sich langsam zu ihr um.

„Ich liebe dich“, sagte sie. „Kommst du nachher vorbei, damit wir reden können?“

Er rammte die Hände in seine Hosentaschen und blickte zu Boden. „Es hat sich nichts geändert, Em.“

„Es kann doch nicht wehtun, zu reden“, bat sie verzweifelt.

Jetzt blickte er auf, die Augen dunkel vor Schmerz. „Doch, das kann es. Es tut höllisch weh.“

„Bitte …“

„Tut mir leid.“ Damit drehte er sich um und ging. Emily sah ihm nach, unfähig, sich zu rühren.

Alles wird gut. Du verdienst eine weitere Chance.

Verdienst eine weitere Chance.

Ich liebe dich, hatte Emily gesagt, bevor Jim ihre Wohnung verließ.

Das solltest du nicht. Ich verdiene es nicht, war seine Antwort gewesen.

Er verdiente ihre Liebe nicht. Aber warum nicht?

Bob. Es musste etwas mit Jims Bruder Bob zu tun haben.

Er fühlte sich immer noch verantwortlich für Bobs Tod – so sehr, dass er wild entschlossen war, sich jede Chance auf eigenes Glück zu verwehren. In einem Augenblick der Schwäche waren seine wahren Hoffnungen und Wünsche zutage getreten, und er hatte sie gebeten, ihn zu heiraten. Aber schon lange zuvor hatte er sich selbst ein Gefängnis aus Schuldgefühlen errichtet, und darin saß er fest, und die Flucht wollte ihm nicht gelingen. Er konnte sie nicht heiraten, weil er nicht glaubte, etwas anderes zu verdienen als das elende einsame Leben, in dem er es sich mit voller Absicht eingerichtet hatte.

Gott, endlich verstand sie alles.

Jim glaubte nicht, dass er eine Chance verdiente, glücklich zu werden, und Emily war klar, dass Reden allein nicht helfen würde, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Wenn sie ihn aber nicht überzeugen konnte, dann konnte nicht alles wieder gut werden.

Jedenfalls nicht für sie und Jim.