6. KAPITEL
Ruhelos lief Jim auf und ab – von der Eingangstür zur Glasschiebetür, die auf den winzigen Balkon führte. Zurück zu dem kleinen Esstisch, wo er einen Moment stehen blieb, dann weiter zur Eingangstür. Und wieder zur Glasschiebetür …
Emily löste ihren Blick von ihm und konzentrierte sich erneut auf den schlanken Hispano, der ihr gegenüber auf der Couch saß.
„Ich werde im selben Raum sein“, sagte Detective Salazar. Sein hispanischer Akzent klang weich und melodiös. „Oder doch zumindest irgendwo im Country-Club, solange Sie und Mr Delmore dort sind.“
Emily nickte.
„Wenn du ein Problem bekommst, Emily …“, warf Jim ein – es waren seine ersten Worte nach beinah zwanzigminütigem Schweigen. Emily und Salazar schauten ihn fragend an. „Ganz egal, was für ein Problem, wende dich an Phil. Er bringt dich dann in Sicherheit.“
„Was für ein Problem sollte ich schon bekommen?“, fragte Emily, schlug die Beine übereinander und musterte Jim kühl. „Das ist ein Abendessen in großer Gesellschaft. Ich wage ernstlich zu bezweifeln, dass Alex vorhat, vor den Augen sämtlicher Klatschreporter der Lokalpresse irgendetwas Illegales zu tun.“
Jim schob die Hände in die Hosentaschen und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Endlich stand er mal für einen Augenblick still. „Du hast recht. Das wird er wahrscheinlich nicht tun“, gab er zu. „Aber du verdächtigst diesen Mann, ein Krimineller zu sein. Und jetzt musst du ein paar Stunden mit ihm verbringen und dabei so tun, als hättest du keine Ahnung, womit er wirklich sein Geld verdient. Das ist nicht immer einfach. Wenn du feststellst, dass du das nicht schaffst, wenn dir das alles zu viel wird, wenn du es mit der Angst zu tun bekommst …“
„Ich habe keine Angst!“ Emily reckte trotzig ihr Kinn vor. Aber wogegen richtete sich ihr Trotz? Gegen seine Worte oder gegen die ihnen zugrunde liegende Freundlichkeit? Oder vielleicht auch gegen die ruhige Sanftheit seiner Stimme …
„Das ist prima“, meinte Salazar und lächelte sie an. „Also, Sie legen es heute Abend nicht darauf an, Informationen aus Mr Delmore herauszuholen. Die Jagd nach Informationen überlassen Sie unserem Freund Diego, verstehen Sie?“
Diego. Jim. Jim. Emilys Blick zuckte kurz zu Jim hinüber, der immer noch an der Wand lehnte. Er beobachtete sie, und sie schaute wieder hastig zurück zu Detective Salazar. „Verstehe“, sagte sie.
„Sie legen es heute Abend darauf an, für sich und Ihren ‚Bruder‘“, – Salazar nickte kurz zu Jim hinüber – „eine Einladung zu einer der Wochenendpartys auf Delmores Yacht zu bekommen. Das sollte Ihnen nicht weiter schwerfallen. Es wäre auch nicht schlecht, wenn Sie beide in Mr Delmores Haus eingeladen würden. Nach unseren Ermittlungen erledigt Alexander Delmore die meisten seiner Geschäfte zu Hause oder von seiner Yacht aus …“ Er runzelte besorgt die Brauen. „Stimmt irgendwas nicht? Sie sehen nicht gerade glücklich aus.“
Emily fühlte sich auch alles andere als glücklich. „Meine Beziehung zu Alex ist ein wenig … seltsam. Er hat mir mehr als einmal gesagt, dass er unter anderem deshalb so gern mit mir ausgeht, weil ich ihn nie unter Druck setze. Ich habe ihn nie gefragt, wann wir uns wiedersehen. Ich habe ihn nie um irgendetwas gebeten. Er hat mir gesagt, ich sei diesbezüglich ganz anders als die Frauen, mit denen er vorher gegangen ist.“
Jim starrte auf die Spitzen seiner Cowboystiefel und hörte zu, was Emily über ihre Beziehung zu Delmore erzählte. Sie hätte mit denselben Worten ihre Beziehung zu ihm selbst vor sieben Jahren beschreiben können, denn sie hatte auch ihn nie unter Druck gesetzt. Ja, sie hatte nicht einmal um seine Aufmerksamkeit gerungen. Genau davon hatte er sich von Anfang an so angezogen gefühlt – abgesehen von der körperlichen Anziehung natürlich. Sie war so unaufdringlich, zurückhaltend, gelassen und ruhig gewesen. Wenn sie ihn bewusst gereizt hätte, ihm lange bedeutungsvolle Blicke zugeworfen und ihn mit körperlichen Reizen geködert wie die meisten ihrer Mitstudentinnen, dann hätte er keinen zweiten Blick an sie verschwendet. Na ja, vielleicht schon einen zweiten Blick, aber sie hätte ihn nie derart in ihren Bann geschlagen.
Selbst als sie schon Monate miteinander gingen, hatte Emily nie etwas als selbstverständlich betrachtet. Sie hatte nie Forderungen an ihn gestellt. Oder doch? Er hatte sie noch vor Augen, wie sie an jenem Samstagmorgen mit dem Bus bis zu seiner Wohnung gefahren war, weil er nicht auf ihre Telefonanrufe reagiert hatte. Er war erst ein paar Wochen zuvor aus dem Krankenhaus entlassen worden, und sie machte sich Sorgen um ihn. Aber selbst damals hatte sie nichts von ihm verlangt – sie hatte nur wissen wollen, ob es ihm gut ging.
„Tun Sie einfach, was Sie können“, unterbrach Felipe seine Gedanken. „Sagen und tun Sie nichts, was Sie normalerweise nicht sagen oder tun würden. Wir wollen ihn nicht misstrauisch machen.“
„Ich könnte Delmore fragen, ob er uns auf einen Segeltörn mitnimmt“, warf Jim ein. „Wenn er dich heute Abend abholt. Nachdem du uns einander vorgestellt hast. Einverstanden?“
Emily nickte. Sie sah ihn dabei nur kurz an.
Gott, jedes Mal wenn sie ihn anschaute, war das Misstrauen in ihrem Blick nicht zu übersehen. Es war so dumm von ihm gewesen, sie unten am Strand so in die Arme zu nehmen. Wie hatte er sich nur so idiotisch verhalten können? Hatte er denn wirklich geglaubt, Emily wolle von ihm getröstet werden? Das war mit Sicherheit so ziemlich das Letzte, was sie wollte.
In Wirklichkeit hatte er lediglich einen Vorwand gebraucht, um sie zu berühren. Um mit den Fingern durch ihr Haar zu streichen, ihren Körper an seinem zu spüren. Er hatte sie küssen wollen. Großer Gott, er wollte es immer noch, und jetzt wusste sie das.
Das hast du ja toll hingekriegt, Keegan, dachte er. Einfach toll. Sie stand ohnehin schon unter immensem Druck, und er machte alles nur noch schlimmer.
Es klingelte, und Jim warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war erst Viertel vor vier. Delmore wurde erst in knapp drei Stunden erwartet.
„Wer kann das sein?“, fragte er.
„Keine Ahnung“, antwortete Emily, stand auf und musterte verunsichert die Tür. „Es könnte Alex sein. Er ist gestern auch einfach vorbeigekommen, ohne vorher anzurufen.“
Als es erneut klingelte, erhob sich auch Salazar.
„Phil, mach dich unsichtbar“, forderte Jim seinen Partner auf. „Versteck dich in Emilys Schlafzimmer, durch den Flur ganz nach hinten. Wenn es wirklich Delmore ist, darf er dich nicht sehen.“
Salazar nickte und verschwand in den Flur. Wieder ging die Türglocke, diesmal gleich zweimal kurz hintereinander.
„Soll ich öffnen?“, fragte Jim.
Emily schüttelte den Kopf und ging zur Tür. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie aufmachte.
„Gott sei Dank: Du bist zu Hause!“
Jim spähte über Emilys Schulter. In der Tür stand eine erschreckend magere junge Frau mit langen roten Haaren und sehr blasser Haut, die Floridas Sonne vermutlich überhaupt nicht vertrug. Außerdem zierte ein prachtvolles Veilchen ihr rechtes Auge. An eine Hand klammerte sich ein schmutziger kleiner Junge von etwa drei Jahren mit ebenso roten Haaren und großen ernst dreinblickenden Augen.
Als die Frau Jim entdeckte, verschwand die Erleichterung aus ihrem Gesicht, und ihr Ausdruck wurde misstrauisch und verschlossen. Sie trug eine braune Papiertüte mit Kleidung und Kinderspielsachen bei sich, aus der eine schmuddelige Bibo-Puppe hervorlugte.
„Entschuldigung“, murmelte sie. „Du hast Besuch?“
„Jewel“, sagte Emily. „Was ist passiert? Wer hat dich geschlagen? Komm doch rein.“
Jim trat beiseite. Emily nahm die junge Frau am Ellbogen und zog sie mit sanftem Nachdruck in die Wohnung. Die Rothaarige war noch jünger, als Jim zunächst gedacht hatte, im Grunde noch fast ein Kind. Sie war hübsch, auf altmodische Weise. Beziehungsweise wäre sie es gewesen, wenn sie sich mal gewaschen hätte oder gelegentlich gelächelt. Ihre Züge wirkten aristokratisch: eine lange, elegant geschnittene Nase, feine Lippen, ein graziöser, aber schmutziger Hals. Sie musterte Jim misstrauisch, und er lächelte sie an, aber sie verzog keine Miene.
„Jewel, das ist … mein Bruder Dan.“ Emily warf ihm einen kurzen nervösen Blick zu. „Dan, das ist Jewel Hays, eine ehemalige Schülerin von mir.“ Sie fuhr dem kleinen Jungen, der sich immer noch an Jewels Hand klammerte, kurz durch die Haare. „Und das ist ihr Sohn Billy.“ Damit wandte sie sich wieder dem Mädchen zu. „Alles in Ordnung mit dir?“
Jewel schüttelte den Kopf. „Ich stecke bis zum Hals in Schwierigkeiten“, sagte sie mit einem raschen Seitenblick auf Jim. „Können wir reden? Unter vier Augen?“
Emily nickte. „Komm mit ins Bad. Dann kannst du dich auch gleich ein bisschen frisch machen.“ Sie wandte sich an Jim. „Kümmerst du dich so lange um Billy?“
„Er hat Hunger“, sagte Jewel und schaute auf ihren Jungen hinab. „Er hat seit vorgestern Abend nichts mehr zu essen bekommen.“
„Ich mache ihm was zu essen“, versprach Jim.
„Danke“, meinte Emily. „Ich weiß nicht, ob ich was dahabe, was er mag …“
„Mir fällt schon was ein“, erklärte Jim. „Das kriegen wir hin.“
Während sie Jewel ins Bad führte, schaute Emily sich noch einmal um. Sie sah, wie der kleine Junge den Kopf in den Nacken legte, um Jim ins Gesicht schauen zu können.
Als Emily ins Wohnzimmer zurückkehrte, saß Billy auf einem Stapel Telefonbücher an ihrem Esstisch und vernichtete gerade die Reste eines Sandwiches: Erdnussbutter und Marmelade auf Fladenbrot. Anderes Brot hatte sie nicht im Haus. Jim saß dem Kind gegenüber, und Felipe lehnte in der Küche an der Arbeitsplatte.
„He, Jungs, wie sieht’s aus?“, fragte Emily und strahlte das Kind fröhlich an.
„Das ist sein zweites Sandwich“, erklärte Jim. Er lächelte ebenfalls, aber in seinen Augen standen deutliche Fragezeichen. Was war hier los? Warum zum Teufel hatte der Kleine so lange nichts zu essen bekommen?
„Ich brauche eure Hilfe“, sagte Emily und ließ den Blick zwischen Jim und Felipe hin und her wandern.
Jim stand auf. „Okay, gehen wir raus auf den Balkon und reden.“ Er wandte sich an Salazar. „Bleibst du bitte bei dem Jungen?“
„Nein!“ Billy schaute Jim mit großen Augen an. „Geh nicht weg!“
Zu Emilys Überraschung kauerte Jim sich neben Billys Stuhl nieder, sodass er auf Augenhöhe mit ihm war. „Pass mal auf, Bill“, sagte er. „Ich gehe nur kurz auf den Balkon raus. Du kannst mich durchs Fenster sehen. In Ordnung?“
Der Kleine blieb skeptisch.
„Und deine Mom ist unter der Dusche“, fuhr Jim fort. „Sie wird gleich fertig sein, und vielleicht kannst du dann baden. Inzwischen schlage ich vor, dass ihr beide, du und mein Freund Felipe, euch vor den Fernseher setzt und schaut, ob irgendwo ein guter Zeichentrickfilm läuft.“
Billy schaute Salazar an. „Das ist dein Freund?“, fragte er.
„Mein bester Freund“, bekräftigte Jim. „Sei also bitte nett zu ihm, okay?“
Billy nickte.
„Fein“, sagte Jim. „Wenn du mich brauchst, Bill: Ich bin da draußen auf dem Balkon.“
Er öffnete die Glasschiebetür, und Emily folgte ihm nach draußen. Sie hatte nicht erwartet, dass er mit Kindern umgehen konnte, aber er schien genau zu wissen, wie er mit dem Jungen reden musste. Er nahm ihn ernst, behandelte ihn wie einen ebenbürtigen Gesprächspartner und ganz und gar nicht wie ein kleines Kind.
„Hast du oft mit kleinen Kindern zu tun?“, fragte sie und schloss die Tür hinter sich, damit Billy ihr Gespräch nicht mit anhören konnte.
Jim stützte die Ellbogen auf die Holzbrüstung und blickte auf den Hof hinunter. „Aktuell nicht allzu häufig, nein.“
„Du hast das toll gemacht“, meinte Emily. „Weißt du, ich habe Billy noch nie sprechen hören. Ich wusste gar nicht, dass er das kann.“
„Er hat mir erzählt, ein gewisser Onkel Hank habe seine Mutter geschlagen“, sagte Jim und wandte sich Emily zu.
Sie fluchte leise.
„Was ist los?“, fragte Jim.
„Ich weiß nicht, was ich tun soll“, gab sie zu. „Ich bin damit völlig überfordert.“
„Erzähl mir, was los ist.“
Emily atmete tief durch. „Okay. Als Jewel schwanger wurde, schickten ihre Eltern sie hierher. Sie leben auf einer Farm in Alabama. Das Mädchen sollte hier bei ihrer Tante wohnen bis zur Entbindung und das Baby dann zur Adoption freigeben. Als das Kind auf die Welt kam, weigerte Jewel sich. Ihre Eltern waren nicht bereit, sie wieder bei sich aufzunehmen, also blieben sie und das Baby – Billy – bei ihrer Tante, die alles andere als eine Stütze der Gesellschaft ist. Jewel hat einige üble Angewohnheiten von ihr übernommen. Sie ist cracksüchtig geworden und schafft an, um ihre Sucht zu finanzieren. Offenbar – und das war mir bisher nicht bekannt – spielt ihr guter alter Onkel Hank den Zuhälter für sie.“
„Verdammt …“
„Du sagst es.“ Emilys Augen wurden dunkel vor Zorn. „Jewel hat in den letzten zwei Jahren drei Entziehungskuren hinter sich gebracht. Sie ist gerade erst vor ein paar Tagen wieder entlassen worden. Jetzt rate mal, was Onkel Hank ihr als Willkommensgeschenk gegeben hat?“
„Du meinst, außer dem blauen Auge?“
„Ja, außer dem blauen Auge.“ Sie griff in ihre Hosentasche und zog drei kleine Glasampullen hervor. Crack. Es war Crack.
Jim stieß einen kräftigen Fluch aus. „Dieser Hurensohn!“
„Er wollte sie wieder auf den Strich schicken“, erklärte Emily. „Ich schätze, er hielt es für das Einfachste, dafür zu sorgen, dass sie abhängig bleibt.“ Ihre Finger schlossen sich fest um die Ampullen. „Hast du eine Vorstellung davon, wie schwer es für einen Süchtigen ist, clean zu bleiben? Zumal wenn er gerade erst aus der Entziehungskur kommt? Jewel konnte sich einfach nicht dazu durchringen, den Mist wegzuwerfen. Sie konnte es nicht. Sie wollte das Zeug, aber sie war stark genug, hierherzukommen und um Hilfe zu bitten.“
Emily sank in sich zusammen und ließ sich auf einen der Liegestühle fallen. „Ich bemühe mich seit Jahren darum, dem Mädchen zu helfen“, fuhr sie fort. „Ich wusste, dass sie zu Hause nicht gut aufgehoben ist, aber das … das ist furchtbar. Sie muss da raus. Für immer. Aber sie sagt, sie wisse nicht, wohin. Sie weigert sich, ihren Onkel anzuzeigen. Weil sie Angst hat, Billy zu verlieren, wenn die Polizei und das Jugendamt aktiv werden. Ich weiß ehrlich nicht, was ich tun soll.“ Sie starrte auf die Ampullen in ihrer Hand. „Ich weiß nicht mal, wie ich das Zeug hier loswerden soll. In der Toilette runterspülen? Oder verseuche ich damit das Wasser? Was soll ich nur tun?“
Jim streckte die Hand aus. „Gib’s mir, ich kümmere mich darum.“
Erleichtert gab Emily ihm die Drogen. „Danke.“
Jim setzte sich neben sie auf den Liegestuhl. „Em, du kannst sie nicht bei dir behalten. Du kannst diese Verantwortung nicht übernehmen.“
Ihre Augen blitzten auf. „Ich kann sie aber erst recht nicht nach Hause schicken!“
„Ich sage ja gar nicht, dass du das tun sollst. Vielleicht gibt es ein Frauenhaus oder …“
„Das hat sie schon versucht. Aber an keinem dieser Plätze kann sie Billy bei sich behalten. Sie müsste ihn in eine Pflegefamilie geben, und das kommt für sie nicht infrage.“
Jim nickte und ließ den Blick über das kristallklare Blau des Swimmingpools im Hof schweifen. „Er ist ein süßer Junge“, sagte er.
„Was soll ich nur tun, Jim?“
Jim. Sie hatte ihn Jim genannt. Nicht Detective, sondern Jim. Er atmete tief ein und ließ die Luft langsam wieder aus seinen Lungen entweichen. „Lass mich mit Phil sprechen, ja? Vielleicht fällt ihm etwas ein. Er ist in dieser Stadt aufgewachsen und hat eine Menge Verbindungen. Wir werden etwas finden, wo sie unterkommen kann, Emily.“
Sie sah ihn an, musterte ihn nachdenklich und mit einem sehr seltsamen Gesichtsausdruck.
„Was ist?“, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf und stand auf. „Eigentlich solltest du nicht so nett sein“, erklärte sie, öffnete die Schiebetür und ging in die Wohnung zurück.
Eigentlich sollte er nicht … Was zum Teufel sollte das denn heißen?
Als Emily das Wohnzimmer betrat, saßen Jewel und Felipe auf der Couch, Billy zwischen sich.
Jewels Haare waren noch nass von der Dusche, und sie trug Emilys Ersatzbademantel – in dem weißen Frotteestoff wirkte sie völlig verloren, weil er ihr viel zu weit und zu lang war.
Felipe lächelte, und Jewels Wangen waren leicht gerötet. Sie lächelte schüchtern zurück und beantwortete seine freundlichen Fragen. Der Anblick dieses in vieler Hinsicht mit allen Wassern gewaschenen Mädchens, das in dieser Situation so unsicher und schüchtern wirkte, war herzzerreißend.
„Phil, kommst du mal?“, rief Jim von der Balkontür aus.
Felipe lächelte Jewel noch einmal an und bat sie leise darum, ihn zu entschuldigen. Dann trat er auf den Balkon hinaus, wo Jim wartete.
Jewel schaute lächelnd zu Emily auf.
„Geht es dir jetzt ein bisschen besser?“, fragte Emily und setzte sich in den Schaukelstuhl.
Jewel nickte. „Ja, danke.“
Das Lächeln schwand. „Nein. Ich hatte nur die Zeit, ein paar von Billys Sachen einzupacken, bevor wir abgehauen sind.“
„Ich leih dir was von mir“, meinte Emily. „Ich glaube, ich habe sogar ein paar Sachen, die im Trockner eingelaufen sind. Ein paar T-Shirts, Sporthosen, so was. Sie sind mir zu klein geworden. Du kannst sie haben.“
„Danke.“ Jewel schaute zu der großen Glastür hinüber, die auf den Balkon hinausführte. Dort draußen standen die beiden Männer und redeten sehr ernsthaft miteinander. „Felipe sagt, er sei ein Freund von dir?“, fragte sie.
Emily lächelte. Die Polizei, dein Freund und Helfer. „Richtig“, sagte sie, „so könnte man ihn nennen.“
Jewel warf erneut einen Blick zu den beiden Männern nach draußen. „Er ist irgendwie süß“, sagte sie.
Emily schaute hinüber zu Felipe Salazar. Oh ja, er sah gut aus mit seinem unbefangenen Lächeln, seinen hohen Wangenknochen und den dunklen braunen Augen. Er war auch heute tadellos gekleidet: dunkler Anzug, passendes Hemd und Krawatte. Damit sah er wirklich klasse aus.
„Er hat gesagt, Billy sei ein netter Junge und ich müsse eine wirklich gute Mutter sein“, meinte Jewel und errötete.
Lächelnd wurde Emily klar, dass Felipe es geschafft hatte, Jewel Hays den Kopf zu verdrehen. Ja, er hatte Charisma und sah großartig aus. Seine Freundlichkeit wirkte ehrlich. Emily hätte ihn durchaus selbst sehr anziehend gefunden, wenn nicht …
Wenn nicht was? Wenn sie nicht bereits einen Freund gehabt hätte? Sie hatte keinen Freund. Alex fiel für sie nicht mehr in diese Kategorie, seitdem sie unabsichtlich seine Unterhaltung mit Vincent Marino belauscht hatte.
Also warum fand sie Felipe Salazar nicht attraktiv? Ihr Blick wanderte beinah unfreiwillig von Felipe zu Jim. Sie konnte immer noch spüren, wie es sich angefühlt hatte, als er sie am Strand in den Armen hielt. Sie konnte immer noch den Ausdruck in seinen Augen sehen, als er sich vorgebeugt hatte, um sie zu küssen …
Jim schaute auf und durch die Glastür direkt in Emilys Augen.
Der Funke sprang sofort über, und zwar so stark, dass Emily beinah nach Luft geschnappt hätte. Stattdessen wandte sie hastig den Blick ab.
Aber ihre Frage war damit beantwortet. Warum fand sie Felipe Salazar nicht attraktiv? Oder irgendeinen anderen Mann? Weil sie immer noch an der Vergangenheit festhielt. An Jim Keegan, um genau zu sein.
Er war ein unsensibler, egoistischer, gleichgültiger Mensch … und hatte einen ganz speziellen Draht zu kleinen Kindern. Er war ein Herzensbrecher … der manchmal ein Herz aus Gold zu haben schien.
Emily hatte ihm ihre Wohnung geöffnet – in der Hoffnung, so ein klares Bild von dem grässlichen Menschen zu bekommen, der er wirklich war. Und richtig, sie konnte sich auf ein paar Unvollkommenheiten konzentrieren, die er gezeigt hatte. Aber zugleich hatte er ihr auch gezeigt, dass er erschreckend liebenswürdig sein konnte, was in das von ihr erhoffte Bild eines Mistkerls einfach nicht hineinpasste.
Die Balkontür wurde geöffnet, und die beiden Männer kamen wieder herein.
Jim setzte sich neben Jewel auf die Couch. „Emily hat mir erzählt, in welchen Schwierigkeiten du steckst“, kam er direkt auf den Punkt. „Sie sagt, du brauchst einen Platz, an dem du bleiben kannst.“
Jewel nickte schweigend.
Felipe trat näher. „Ich kenne da eine Einrichtung in meiner Nachbarschaft, eine Art Frauenhaus, in dem du vielleicht mit Billy unterkommen kannst“, sagte er. „Ich könnte euch jetzt dorthin bringen, wenn du möchtest.“
Jewels Blick wurde wieder misstrauisch. „Was, wenn es nicht klappt? Mit der Unterkunft für uns, meine ich.“
Felipe lächelte freundlich. „Dann finde ich etwas anderes für euch.“ Er warf Jim einen Blick zu. „Ich habe einen Freund, dessen Wohnung gerade leer steht. Das wäre natürlich nur der letzte Ausweg.“
„Komm mit, Jewel“, sagte Emily und ging voraus zu ihrem Schlafzimmer. „Ich suche dir etwas zum Anziehen heraus.“
Aber Jewel rührte sich nicht. „Warum helfen Sie mir?“, fragte sie die beiden Männer. „Was wollen Sie von mir? Ich weiß, dass es nichts umsonst gibt.“
„Jewel …“ Emily wollte protestieren, aber Jim fiel ihr ins Wort.
„Nein, lass, sie hat recht“, sagte er. „Nichts ist umsonst.“ Er wandte sich an Jewel. „Du musst clean bleiben. Keine Drogen. Kein Alkohol. Und das ist der einfache Teil der Abmachung. Wenn du in dieses Frauenhaus gehst, sitzt du dort nicht einfach herum, hängst vor der Glotze und lässt dich vom Staat aushalten. Du nimmst entweder an einem Programm teil, um die allgemeine Hochschulreife zu erwerben, oder du besuchst die Berufsschule und machst eine Ausbildung.“
„Das meinte ich nicht“, erwiderte Jewel. „Was wollen Sie von mir? Sie beide.“
„Jewel, ich bin Police Detective“, erklärte Felipe. „Mir reicht es aus, zu wissen, dass ich dich nicht eines Tages verhaften muss.“
Die Augen des Mädchens weiteten sich: „Sie sind Polizist?“
Felipe nickte. „Richtig.“
„Komm schon, Jewel“, meinte Emily sanft. „Du brauchst was zum Anziehen, und Billy gehört in die Badewanne.“
Um sechs kam Emily mit dem Kleid, das sie sich für die heutige Verabredung mit Alex geborgt hatte, aus Carlys Wohnung. Es war blau, mit Pailletten besetzt, viel zu eng und viel zu kurz. Aber es hatte den Vorteil, nicht dasselbe Kleid zu sein, das sie zur letzten Veranstaltung im Country-Club getragen hatte, zu der sie mit Alex gegangen war. Auf dem Kleiderbügel sah es eher aus wie ein blauer Schlauch aus zerknittertem Stoff mit Spaghettiträgern als wie ein Kleid.
„Leiht ihr beiden euch oft gegenseitig eure Kleider?“, fragte Jim.
Er saß auf der Couch, die nackten Füße auf dem Couchtisch, und las die Zeitung. Jetzt trug er wieder Shorts. Für ihre Begriffe fühlte er sich viel zu wohl, viel zu sehr zu Hause.
„Ich habe nur zwei elegante Kleider“, erklärte Emily. „Beide habe ich letzte Woche getragen, und ich kann es mir nicht leisten, noch eines zu kaufen. Mein Etat ist mehr als ausgereizt.“ Sie verzog das Gesicht, als sie das Kleid betrachtete, das sie sich von Carly geborgt hatte. „Leider hat Carly nicht gerade einen konservativen Geschmack, und außerdem ist sie kleiner als ich.“
Jim nahm die Füße vom Tisch, faltete die Zeitung zusammen und legte sie beiseite. „Kauft Delmore dir keine Kleider? Er hat doch Geld wie Heu.“
Emily verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich bin nicht seine Geliebte, Detective.“
Jim schaute zu ihr hoch. „Ich weiß“, sagte er. „Nach meinen Informationen warst du kurz davor, Mrs Delmore zu werden. Die ganze Stadt erwartet eine Hochzeit zu Weihnachten.“
Emily lachte. „Dann wird die ganze Stadt eine bittere Enttäuschung erleben, nicht wahr?“
Sie wandte sich um, um ins Schlafzimmer zu gehen, aber seine nächsten Worte stoppten sie.
„Du hättest einfach wegschauen können, und die Hälfte von seinem ganzen Besitz wäre dein gewesen“, sagte Jim. „Du hättest dir nie wieder ein Kleid ausleihen müssen.“
Er meinte es ernst. Er saß einfach nur da und schaute sie intensiv an, ohne einen Funken Humor oder Belustigung im Blick.
Emily lachte auf, ein kurzes humorloses Lachen. „Du kennst mich wirklich nicht besonders gut, nicht wahr?“
Die Frage war rhetorisch gemeint, aber er antwortete trotzdem: „Ich habe geglaubt, dich zu kennen, aber ich schätze, ich wusste nicht, wie stur du sein kannst.“
Jim hatte sie immer für zart und zerbrechlich gehalten, für eine Frau, die vor den Härten und Unbilden des Lebens beschützt werden musste. Aber da stand sie und trat für das ein, woran sie glaubte. Für Emily gab es keine Grauzone, nur Schwarz und Weiß, wenn es um Drogenhandel ging. Sie glaubte fest daran, dass Drogenhandel falsch war und ihm ein Ende gesetzt werden musste. Schluss, aus, vorbei. Der Umstand, dass der Hauptverdächtige in diesem Fall ihr Beinah-Verlobter war, änderte nichts am Gesamtbild.
„Ich hasse Drogen“, sagte sie, und die Emotionslosigkeit ihrer Stimme verlieh ihren Worten besonderen Nachdruck. „Ich hasse Crack. Es bringt meine Kinder um. Oder, schlimmer noch, es macht sie zu wilden Bestien.“
„Deine Kinder?“
„Meine Schüler. Für jeden von ihnen, der wie Jewel eine Entziehungskur macht, gibt es Dutzende anderer, die das nicht tun. Sie landen auf der Straße. Stehlen und betrügen, um ihre Sucht zu finanzieren. Wenn sie nicht ins Gefängnis wandern, sind sie am Ende tot.“ Ihre Stimme zitterte leicht, und sie hielt inne, um Atem zu schöpfen. Als sie weitersprach, klang sie vollkommen gefasst. „Du bist Polizist. Du weißt das alles selbst.“
„Wenn Alex Delmore Drogen ins Land schmuggelt“, fuhr sie fort, „dann macht er ein Vermögen mit dem Elend anderer Menschen.“ Sie verschwand in den Flur. „Und ich werde verdammt noch mal dafür sorgen, dass er hinter Gittern landet.“