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Sharon saß über ihrem Bericht und las ihn ein letztes Mal durch. Die Obduktion des toten Dawsons hatte den Selbstmord bestätigt - er war an den Folgen des Erhängens gestorben. In seinem Blut hatte sich eine Überdosierung an irgendeinem fast schon tödlichen Drogencocktail befunden, was darauf schließen ließ, dass er sich ordentlich zugedröhnt hatte, bevor er den Entschluss, zu sterben, umgesetzt hatte. Vielleicht hätte er sich gar nicht erhängen müssen - mit dem Giftzeug allein hätte er wahrscheinlich gar nicht überlebt.
Sharon fühlte sich nicht wirklich gut, obwohl der Fall abgeschlossen war. Es war alles ein bisschen zu einfach. Und es beunruhigte sie, dass so viele Dinge niemals aufgeklärt werden würden. Doch die Hauptsache war, dass es vorbei war und der Täter niemandem mehr etwas antun konnte.
Die Agentin atmete einmal tief durch und wollte gerade aufstehen, um ihren Bericht abzugeben und die Genehmigung für ihren lang ersehnten Urlaub zu aktualisieren, als das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte. Mrs. Randle, die Empfangsdame unten in der Eingangshalle, erklärte, dass ein Eric hier wäre, der unbedingt mit Sharon sprechen wollte: „Er sagt, es sei sehr wichtig und von größter Bedeutung. Er will sofort mit Ihnen sprechen.“
„In Ordnung. Ich komme.“
Sharon erinnerte sich an Eric. Er war ein Freund von Dawson gewesen. Was er wohl wollte? Zügig, aber nicht eilig, machte sie sich auf den Weg zu ihm. Er lehnte an der Empfangstheke und wirkte unruhig und angespannt. In seinem Gesicht standen Trauer und Wut. Als er die Agentin entdeckte, stürmte er sofort auf sie zu: „Mrs. Ang! Mrs. Ang, Dawson hat sich nicht umgebracht! Das war kein Selbstmord, verstehen Sie, das war Mord, eiskalter Mord! Und ich kann Ihnen auch sagen, wer’ s getan hat!“
Dieser plötzliche Überfall überraschte und verwirrte Sharon. Sie versuchte, Eric zu beruhigen: „Eric, ich kann ja verstehen, dass dir das sehr nahe geht. Aber Dawson hat sich erhängt und sich vorher auch noch eine Überdosis gegeben, um es sich leichter zu machen. Es tut mir sehr leid.“
Doch Eric konnte sich nicht beruhigen und war außer sich: „Jetzt hören Sie mir doch mal zu! Verdammt, bloß weil ich ein Junkie bin, heißt das nicht, dass man mich nicht ernst nehmen kann und dass ich nicht weiß, wovon ich rede! Ich bin ein Augenzeuge, und es gibt viele andere Augenzeugen, die ebenfalls das, was ich gesehen habe, bestätigen können! Dawson wurde ermordet, weil er zu viel über den wahren Täter wusste! Jemand wollte ihn aus dem Weg schaffen! Der ganze Verdacht lastete auf Dawson und der echte Killer wusste genau, wenn er ihn töten würde und es wie Selbstmord aussehen lassen würde, dann würde der Fall abgeschlossen werden und er würde selbst frei davon kommen. Und weiter morden können!“
Erics Worte überschlugen sich fast, während er versuchte, Sharon klarzumachen, dass sie kurz davor stand, einen großen Fehler zu machen. Diese dachte über Erics Worte nach und zweifelte jetzt nicht mehr daran, dass er es wirklich ernst meinte und ein wichtiger Zeuge sein könnte. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten und ihn wieder weg geschickt. Sie wollte diesen Fall endlich abschließen! Doch sie war Agentin und es war ihre Pflicht, für Gerechtigkeit zu sorgen und die Schuldigen zu benennen. Wenn der wahre Mörder wirklich noch frei herum lief, würde es wahrscheinlich weitere Morde geben, denn in diesem Fall wäre Dawson Clark ebenfalls ein weiteres Opfer gewesen. Sie musste diesem Spuk endlich ein Ende setzen.
„In Ordnung, Eric. Ich stehe dir zur Verfügung und höre mir an, was du zu sagen hast.“
Sharon ging mit Eric in ein Fast Food Restaurant gleich um die Ecke, wo sie dünnflüssigen Kaffee tranken und Sharons Gegenüber sofort begann, zu erzählen: „Dawson hätte sich nie eine Überdosis gespritzt. Der Killer muss ihm das irgendwie verabreicht haben, um ihn so ruhig zu stellen und ihn in Ruhe aufhängen zu können, damit es nach einem Selbstmord aussah. Nur eine Überdosis wäre zu riskant gewesen. Man kann nie hundertprozentig sicher sein, wie das Zeug am Ende wirklich wirkt. Hören Sie, einen Abend, bevor das mit Dawson geschehen ist, da waren wir zusammen und wir haben neue Pläne für unsere Zukunft geschmiedet. Wir wollten beide einen Entzug machen und noch mal von vorne anfangen. Und das war Dawsons Idee! Er hat mich angerufen und gemeint, dass er keinen Bock hat, den Rest seines Lebens so weiter zu machen und dass er sich selbst noch einmal eine Chance geben wollte, und er hat mich gefragt, ob ich mitmache. Also haben wir uns zusammengesetzt und Dawson hat mir Mut gemacht. Wir wollten das gemeinsam durchziehen. Wir wollten einen Entzug machen und wieder studieren und uns ein neues Leben aufbauen. Er war voll begeistert davon und er hat das nicht nur einfach so gesagt, es war ihm wirklich ernst! Eins kann ich Ihnen sagen, nie im Leben hat der sich ein paar Stunden später umgebracht! Das ist gequirlter Schwachsinn, ganz großer Bullshit! Und ich kann Ihnen auch sagen, wer es war! Ich habe sie nämlich gesehen, wie sie zu Dawson gegangen ist, und viele andere Zeugen haben das auch gesehen!“
Eric sprach schnell, aber trotzdem bestimmt und klar. Er erzählte Sharon alles, was er gesehen hatte und sonst noch wusste und konnte sogar andere Augenzeugen namentlich benennen. Als die Agentin ihm zuhörte, senkte sie sanft ihren Kopf. Was sie hörte, bedrückte sie auf eine seltsame Art und Weise. Sie fühlte sich ein wenig schuldig, dass sie die Zusammenhänge nicht früher erkannt hatte. Sie waren die ganze Zeit auf der Hand gelegen, aber irgendwie hatte man es geschafft, sie zu blenden. So etwas war ihr noch nie passiert und sie fragte sich, wie es soweit hatte kommen können, dass man sie derart manipuliert hatte. Erst jetzt, als sie jemanden vor sich hatte, der ihr als Zeuge die Tatsachen noch einmal klar vor Augen führte und sie noch einmal über alles nachdachte, erkannte sie die Widersprüche, die Zusammenhänge, das ganze Ausmaß.
Nachdem Eric all seine Aussagen gemacht hatte, lächelte Sharon sanft: „Danke, Eric. Ohne dich wäre der Fall vermutlich niemals aufgeklärt worden und der wahre Täter würde weiterhin frei herum laufen und diese Spielchen vermutlich auch weiterhin ausüben. Wir brauchen dich als Zeuge vor Gericht. Kann ich mich auf dich verlassen?“
Eric sah Sharon ernst in die Augen: „Ja, auf jeden Fall! Dawson war mein bester Freund!“
Er schluckte schwer und seine Augen wurden feucht, während er versuchte, ein starker Mann zu sein: „Was werden Sie jetzt tun?“
„Ich werde mich gleich auf den Weg machen und eine Verhaftung durchführen.“
Eric nickte zustimmend.
Bevor Sharon ihn verließ und sich auf den Weg machte, sagte sie: „Hör zu, Eric. Gib den Plan, den du mit Dawson gemacht hast, nicht auf. Er hat keine Chance mehr bekommen, sein Leben neu anzufangen, obwohl er es wollte. Aber ich bin mir sicher, er würde wollen, dass du dir diese Chance gibst.“
Eric nickte und lächelte fast: „Danke. Ja. Sie haben recht, er würde das so wollen! Ich mach das für meinen alten Kumpel - das bin ich ihm schuldig!“
Sharon schenkte ihm ein letztes, aufmunterndes Lächeln, bevor sie sich auf den Weg machte, endlich den Täter zu verhaften. So würde es doch noch eine Aufklärung aller Dinge geben, lange Verhöre und eine Gerichtsverhandlung. Ihr Urlaub würde doch noch eine Weile warten müssen. Trotzdem war sie froh darüber, dass sie im letzten Moment die Kurve für die Lösung dieses Falls gekriegt hatte. Es war ein gutes Gefühl, mit Sicherheit zu wissen, dass man den richtigen Täter identifiziert hatte - noch dazu, wenn es jemand war, der ansonsten vielleicht auch weiterhin unerkannt gemordet hätte.