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Sharon stand an der Tür des Hauses, in dem Ashley mit ihrer Mutter wohnte. Manchmal fragte sie sich, ob Delicia ganz alleine lebte und wenn ja, woher sie das Geld für ein eigenes Haus hatte. Aber sie war keine Finanzprüferin und woher sie das Geld hatte, ging sie nichts an, solange sie keinen Grund gehabt hätte, dem nachzugehen.

Sie rechnete schon damit, dass Ashleys Mutter ihr wieder verschlafen und angetrunken öffnen würde, als Ashley plötzlich selbst vor ihr stand und die Agentin mit großen, verwirrten Augen anstarrte.

„Hallo, Ashley. Ich möchte dir ganz kurz ein paar Fragen stellen. Es dauert auch nicht lange.“

Immer noch ein durchdringendes, verwirrtes Starren und Sharon war sich nicht sicher, ob sie überhaupt hörte, was sie sagte: „Darf ich rein kommen?“

Ashley nickte leicht und ging zur Seite, damit Sharon eintreten konnte. Sie setzten sich in das Wohnzimmer, das verwahrlost wirkte. Es schien hier schon länger niemand mehr sauber gemacht oder aufgeräumt zu haben. Sharon konnte es sich nicht verkneifen, zu fragen, wo Ashleys Mutter war. Sie erhielt eine tonlose Antwort: „Die ist in irgendeiner Kneipe.“

In diesem Moment wünschte sich Sharon, sie hätte besser nicht gefragt. Ashley wirkte wie ein Haufen Elend und die Agentin hatte großes Mitleid mit ihr. Sie schien mit ihrer alkoholabhängigen Mutter ein sehr schweres Leben zu haben. Der Tod ihrer Freundin hatte sie anscheinend noch mehr niedergedrückt und in ein tiefes, schwarzes Loch aus Depressionen gestürzt. Normalerweise stellte sie solche Fragen nie, doch dieses Mal konnte sie nicht anders und fragte vorsichtig, ob sie ihr irgendwie helfen könnte.

Ashley schüttelte den Kopf: „Nein, danke. Delicia kommt gleich vorbei.“

Sharon nickte verständnisvoll: „In Ordnung. Dann möchte ich nicht lange stören und werde jetzt schnell meine Fragen stellen. Es geht darum, dass mir zu Ohren gekommen ist, dass ein Junge namens Dawson etwas von Lenane wollte und ihr möglicherweise diese Kette geschenkt hat, über die wir schon gesprochen haben. Kannst du etwas dazu sagen?“

Ohne sie anzublicken, mit einem starren, unlebendigen Blick, antwortete Ashley: „Ich weiß es nicht. Was ich sicher weiß, ist, dass er etwas von ihr wollte. Aber über Geschenke, die er ihr gemacht hat, weiß ich nichts. Lenane wollte mir über die Herkunft der Kette nichts sagen. Ich halte es eher für unwahrscheinlich, dass sie eine Kette getragen hätte, die sie von Dawson bekommen hat. Ich glaube eher nicht, dass die Kette von ihm war.“

Sharon fluchte leise innerlich. Warum konnte Ashley nicht einfach Delicias Vermutung bestätigen oder Zeugin von etwas Entscheidendem sein, das Dawson mit dieser Kette in Verbindung brachte. Sie war sich so sicher gewesen, den Täter jetzt zu haben, und kaum, dass sie die ersten festen Anhaltspunkte hatte, verschwamm alles sofort wieder in Zweifeln. Frustriert stellte sie ihre letzte Frage: „Dawson selbst hat mir gesagt, dass Lenane und Delicia zeitweise Unstimmigkeiten gehabt hätten. Weißt du etwas darüber?“

Jetzt blickte Ashley die Agentin kurz an und in ihren Augen spiegelte sich Empörung: „Niemals, das ist eine Lüge! Lenane und Delicia waren sehr gute Freundinnen! Delicia hat viel für Lenane getan, so wie sie für alle viel tut! Zwischen den beiden gab es niemals Streit! Es hätte auch keinen Grund dazu gegeben.“

Als Sharon davon berichtete, dass Dawson Delicia als eingebildete Person beschrieben hatte, über dessen Zickigkeit sich Lenane manchmal aufgeregt hätte, wurde Ashley fast wieder lebendig: „Das ist eine Unverschämtheit! Delicia und eingebildet, dass ich nicht lache! Sie ist ein Engel! Sie ist die Güte in Person - Zickigkeit ist nun wirklich überhaupt nicht ihre Art! Und ich kenne Delicia selber sehr gut, wie Sie wissen! Was sich dieser Dawson herausnimmt, ist wirklich das Letzte! Und ich kann mir auch gut vorstellen, warum er solche Lügen erzählt, er wollte nämlich auch mal was von Delicia!“

Überrascht zog Sharon kurz ihre Stirn in Falten. Da kamen ja immer weitere neue und interessante Dinge ans Tageslicht! Und mit fast jedem Wort wuchs die Belastung auf Dawson. Als sie Genaueres dazu wissen wollte, berichtete Ashley kurz darüber, dass er, nachdem er es nicht geschafft hatte, bei Lenane zu landen, es eine Zeit lang bei Delicia versucht hätte, die ihm aber ebenfalls einen Korb gegeben hätte.

Sofort fing Sharons Kopf an, zu arbeiten. Dawson hatte etwas von Lenane gewollt, doch die hatte ihn abblitzen lassen. Danach hatte er es bei Delicia versucht, doch die hatte ihn ebenfalls abgewimmelt. Aus Rache und Wut hatte er deshalb Lügen über Delicia erzählt und versucht, sie zu belasten. Damit hätte er zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen - er hätte sich aus der Rolle des Verdächtigen befreien können und mit seiner Tat vielleicht frei davon kommen, wenn er es geschafft hätte, Delicia als Täterin glaubhaft zu beschuldigen, und außerdem hätte er Delicia damit eins auswischen können. Dieser selbst ernannte Frauenheld schien einigen Frauen nachzusteigen. Das aller erste Opfer war vermutlich auch Opfer seiner Begierde geworden und hatte deshalb sterben müssen. Falls dies alles der Fall war, war Delicia vermutlich in Gefahr, denn das würde bedeuten, dass sie das nächste Opfer für ihn darstellen könnte. Jeder weitere Schritt, den Sharon jetzt unternehmen würde, musste gut durchdacht sein.