05. Kapitel
Das Schloss lag auf einer Anhöhe eines Hügels und strahlte weiß im letzten Sonnenlicht des Tages. Immer wieder hatte ich wiederholt, was ich dem Herzog erzählen sollte und wie ich um Aufnahme und Schutz bitten würde. Doch als es soweit war, versagte mir beinahe die Stimme.
Der Saal in den ich vorgelassen wurde, war vollgestopft mit Leuten, die so ganz anders gekleidet waren als die Menschen im Wald oder als ich. Bodenlange, aufgebauschte Roben, Anzüge aus feinstem Schillerstoff. Es wirkte alles ein wenig kitschig und verschnörkelt, aber dennoch beeindruckend schön. Schon am Schlosstor hatte ich die Skepsis und die Abneigung der Wachbeamten bemerkt und das hier war schließlich auch alles andere als eine Privataudienz. Es kam mehr einem Anprangern in aller Öffentlichkeit gleich. Der Herzog forderte nun einmal eine öffentliche Rechtfertigung ... von einer Frau, die so offensichtlich zur anderen Seite und somit zu den Feinden gehörte. Unverhohlene Missgunst und spöttisches Getuschel schlugen mir aus der Masse entgegen. Lediglich der Herzog und seine Gattin wirkten reserviert und machten einen seriösen und anständigen Eindruck. Ich wusste natürlich nicht, wie ich mich richtig verhalten sollte, schritt nervös einen langen Gang entlang und machte eine Andeutung von einem Knicks. Die Umgebung hier wirkte so mittelalterlich, dass mir der Knicks noch am passendsten erschien.
Der Herzog trug sehr feines Gewand aus einem glänzenden Stoff, der in allen möglichen Farben schillerte. Seine Frau war eine blonde Schönheit, die ganz in Rot gekleidet war und deren Stoff mindestens genauso schillerte, wie der Anzug ihres Mannes. Beide hatten sie braune Augen und einen überraschend freundlichen Blick für mich. Eine gewisse Strenge konnte man zwar durchaus erkennen, aber die war vermutlich auf ihr hohes Amt und ihre Macht zurückzuführen. Nach meinem wackligen Knicks, richtete der Herzog in meiner Sprache das Wort an mich.
„Wie ist Euer Name?“
„Werter Herzog! Durch ein furchtbares Missgeschick, bei dem ich zu Sturz gekommen bin, habe ich leider mein Gedächtnis verloren und weiß meinen Namen nicht.“ Ein Raunen ging durch die Menge und der Herzog wechselte einen seltsamen Blick mit seiner Frau. „Ich weiß, dass Ihr mich vermutlich für eine Feindin von jenseits des Flusses haltet – das wurde mir zumindest von einem Fremden gesagt – doch ich versichere Euch, dass es nicht stimmt, weil ich auch davon nichts weiß. Der Fremde...“ Ich wollte Darrrer’s Namen nicht nennen „... hat mir empfohlen hierher zu kommen und um Aufnahme zu bitten, weil ihr als gerechter und liberaler Herr geltet. Leider wüsste ich auch gar keine andere Möglichkeit!“ Bei den letzten Worten kämpfte ich sichtlich mit den Tränen. Der Gedächtnisverlust und die Unwissenheit über dieses Land machte mir ja schon seit Tagen zu schaffen. Der Herzog erhob sich und trat auf mich zu. Sein Blick war interessiert, seine Augenbrauen nach oben gezogen. Er war keine außerordentlich attraktive Erscheinung mit seinem überdimensionalen Oberlippenbart, aber das machte ihn nicht unbedingt unsympathisch.
„Es ist mir nicht entgangen, dass Ihr eine Ruamrin seid. Doch aus irgendeinem Grund bin ich geneigt zu glauben, dass Ihr von alldem nichts wisst und auch keine bösen Absichten hegt. Sagt mir nur, meine Liebe – wo seid Ihr denn gestürzt?“ Er wirkte ehrlich interessiert und es verblüffte mich, dass er meine Geschichte so schnell akzeptiert hatte. Eigentlich war ich davon ausgegangen, mich gegen eine Menge Fragen und spitze Bemerkungen wappnen zu müssen.
„So genau weiß ich das leider nicht, aber ich bin vor vier Tagen in einer kleinen Lichtung erwacht, habe irgendwann dieses Bächlein gefunden und bin ihm bis zu Eurem Schloss gefolgt.“ Ein weiteres Raunen ging durch die Menge und der Herzog kam noch einen Schritt näher.
„Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr alleine drei Nächte in diesem Wald überlebt habt?“ Seine Augen waren schmal geworden, sein Bart zitterte nervös. Da ich aber Darrrer und seinen Bruder nicht erwähnen wollte, nickte ich ihm zu und erzählte von meinen diversen Nachtlagern, unter einem Haufen Laub oder auf den Bäumen eben. Das schien den Herzog dann doch ein wenig zu überraschen und auch sein Misstrauen zu mildern.
„Was für eine gute Idee“, sagte er schließlich, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass er etwas verbarg oder mir nicht so ganz glaubte.
„Also gut“, meinte er schließlich. „Bleibt unser Gast und wir werden sehen, wo Ihr Euch nützlich machen könnt. Meine liebe Frau wird sicherlich eine gute Aufgabe für Euch finden“, damit zwinkerte er seiner Gattin liebevoll zu und die schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Geschafft, dachte ich glücklich. Wenn Darrrer davon überzeugt war, dass ich hier am besten aufgehoben war, dann konnte ich darauf vertrauen. Dankbar machte ich einen Knicks und auf ein Zeichen der Herzogin kam ein junges Mädchen auf mich zu und führte mich aus dem Saal.
Das Mädchen hieß Rrrruri und sie hatte wirklich Mühe, sich auf Deutsch verständlich zu machen. Trotzdem waren wir uns auf Anhieb sympathisch. Dieses Schloss und seine Bewohner schienen wirklich etwas Besonderes zu sein. Nirgendwo sonst wäre ich wohl so vorbehaltlos als Ruamrin aufgenommen worden.
Das Mädchen zeigte mir einen kleinen Bereich für Bedienstete, wo ein Strohlager errichtet werden konnte. Außerdem brachte sie mir ein Kleid, wie es üblicherweise von Mägden getragen wurde. Das Kleid war schlicht und doch sehr Figur betonend. Es passte recht gut, auch wenn mein Busen darin ungewöhnlich üppig erschien. Das Kleid war bodenlang und die Farbe eine Mischung aus Rot und Braun. Alles in allem fühlte ich mich darin wohl und hatte genug Bewegungsfreiraum. Die Frauen hier – oder besser die Mägde – trugen weiße Häubchen, sodass ihre Haare nicht zu sehen waren, doch an ihren Blicken bemerkte ich, dass an meinem Schopf sowieso etwas Grundlegendes nicht stimmte. Rrrruri stellte schließlich vorsichtig die Frage, die offenbar alle bewegte.
„Wer hat Euch das nur angetan?“, meinte sie holprig und ich verstand nicht gleich. „Ich meine, welcher Unhold hat Eure Haare so kurz geschnitten und warum?“ Ihre Miene drückte größtes Bedauern und Mitgefühl aus, doch ich fühlte mich nicht einmal im Ansatz beleidigt. Ich schluckte auch brav die Antwort herunter, dass mein Friseur Francesco sie für diese Frage vermutlich gelyncht hätte. Ich freute mich sogar über den Erinnerungsschub, weil ich den Namen meines Friseurs wieder wusste, erkannte aber natürlich, dass Frauenhaare hier lang zu sein hatten. Alles was kürzer war als bis zum Po war offenbar ein Affront. Super, ein Reim! In Gedanken herrschte ich die fremde Stimme um Ruhe an. Dann konzentrierte ich mich wieder auf Rrrruri
„Ich kann mich leider nicht erinnern. Aber ich schätze ich wurde entführt und unter Drogen gestellt. Vermutlich wollten sie Lösegeld fordern und haben dafür meine Haare an meine Eltern geschickt. Anders kann ich es mir nicht erklären.“ Gut, das war ziemlich an den Haaren herbeigezogen, aber was Besseres viel mir einfach nicht ein. Dazu blickte ich recht unschuldig drein, weil ich ja wohl unmöglich zugeben konnte, selbst dieser Unhold gewesen zu sein, der den Auftrag für diesen Haarschnitt gegeben hatte. „Aber unter einem Häubchen wird man hoffentlich nichts davon sehen!“
„Ja, da habt Ihr Recht, aber die tragen wir nur im Dienst“, kurz schien sie zu überlegen, denn ihre junge Stirn legte sich in ein paar konzentrierte Falten. „Aber ich werde Lorrrne mal zu Euch schicken, die weiß sicher Rat!“
Während meiner darauffolgenden Vorstellrunde im Kreise der Mägde wurde ich auch der alten Lorrrne vorgestellt. Die sprach jedoch kein Wort Deutsch. Auch von den Mägden konnte ich keine Einzige verstehen. So wie Berrrnd schon gesagt hatte, war es offenbar sehr unüblich, dass Frauen diese Sprache lernten.
Die alte Lorrrne fixierte mich mit hellgrauen, blitzenden Augen und rollte ihr R’s in besonders beeindruckender Länge und Bedächtigkeit. Ihr Gesicht war zerfurcht und ich schätzte sie auf mindestens hundert Jahre. Ihr Haar war schlohweiß und ihr geflochtener Zopf reichte beinahe bis zum Boden. Sie war offensichtlich keine Magd und wenn doch, dann nicht im Dienst. Als sie mir die Hand reichte, konnte ich ihre pulsierenden Venen unter der dünnen Haut spüren. Ihr Griff war überraschend fest und duldete auch kein schnelles Entkommen. Ich passte dennoch auf, denn normalerweise hatte ich mein „Händereichen“ nicht ganz unter Kontrolle und brachte schon mal Finger zum Knacken. Oh, dachte ich erfreut, schon wieder eine Erinnerung. Doch hier brauchte ich mir keine Gedanken darüber zu machen. Diese Frau wusste was sie tat und wie sie es tat. Sie hielt meine Hand lange fest und beobachtete genau wie ich mich dabei verhielt. Aber da ich ihren Händedruck als nicht unangenehm empfand, hielt ich ihm lange genug stand und blickte ihr dabei geradewegs in die Augen.
Zufrieden nickte sie mir zu und gab mich mit einem leisen Lächeln frei. Rrrruri schien darüber sehr erfreut zu sein und flüsterte der alten Lorrrne in ihrer Sprache etwas zu, das der Betonung nach nur eine Frage sein konnte. Die Alte machte daraufhin eine fortwischende Handbewegung und brummte etwas in tiefen R’s, das Rrrruri sofort zum Strahlen brachte. Ein kurzes gegenseitiges Kopfnicken beendete dann dieses leise, rollende Gespräch und Rrrruri wandte sich mir wieder zu.
„Sie hat Elixier für Haare von Euch. Lorrrne wirklich unglaublich. Gute Kräuter, viel Wissen!“ Ihr Blick fiel wieder auf meine Haare. „So könnt Ihr nicht unter Leute.“ Da ich selbst eigentlich gar nicht das Bedürfnis nach bodenlangem Haar hatte, lächelte ich ihr nur milde zu und nickte pflichtbewusst. Wenn sich das Mädchen für mich so ins Zeug legte, konnte ich ja wohl schlecht Nein sagen.
„Na gut“, meinte ich dann noch halbherzig und zuckte mit den Schultern, was die alte Lorrrne amüsierte, Rrrruri aber schockierte.
„Wie kann so egal sein?“, fragte sie aufgebracht und erstickte dabei fast an ihren mühsam heruntergeschluckten R’s, obwohl der deutsche Halbsatz ja sowieso keine enthielt. Trotzdem lächelte ich ihr zu, weil ich diesen Haarstress echt nicht verstand. Eine Frau konnte doch nicht nur an der Länge ihrer Haare gemessen werden! So etwas war doch lächerlich und reine Geschmackssache! In meiner Welt – wo auch immer die sein mochte – waren meine Haare und mein Gewand vermutlich sehr okay, aber hier war ich eine Fremde mit fremdartigem Aussehen und falscher Sprache. Es war also eindeutig ein unpassender Ort für mich und ich nur so lange gewillt zu bleiben, bis ich wusste, wo ich wirklich hingehörte.
Lorrrne winkte mich zu sich und lenkte mich von meinen Gedanken ab. Ihre runzelige Hand griff nach meiner und zog mich hinter ihr her. Nachdem die Vorstellrunde bereits vorbei war, folgte ich ihr und zwinkerte Rrrruri zum Abschied zu. Die sah immer noch verstört aus und schüttelte den Kopf über meine Gleichgültigkeit wegen der Haare.
Die Alte war schneller als erwartet und ich musste ordentlich ausschreiten, um ihr folgen zu können. Draußen war es schon finster und mit einer Fackel leuchtete sie den holprigen Weg. Ihr Wohnbereich lag allem Anschein nach in der Nähe des Schlossgartens. Wir entfernten uns also immer mehr vom Hauptgebäude, gingen vorbei an Wachen und Nebengebäuden und blieben schließlich vor einer kleinen, unscheinbaren Hütte mit entzückendem Strohdach stehen. Ich wunderte mich, dass ich als Fremde und mögliche Spionin so frei und ungehindert im Dunkeln spazieren durfte, doch das lag vermutlich an meiner Begleitung.
Lorrrne öffnete die dicke Holztür und rollte dabei einen leise gemurmelten Satz über ihre schmalen, faltigen Lippen. Als hätte sie ihr Heim mit einem Zauber geschützt und nun entsichert. Vielleicht aber hatte sie nur in ihrer Sprache etwas wie ‚Home sweet home‘ gemurmelt. Am liebsten hätte ich Rrrruri als Dolmetscherin bei mir gehabt, doch das schelmische Augenzwinkern der Alten zeigte mir, dass sie mich mochte und wir keine gröberen Verständigungsprobleme haben würden.
In der Hütte roch es ein wenig modrig und feucht, vor allem aber nach Kräutern und Stroh. Es gab nur einen Raum mit Tisch, offener Feuerstelle mit Abzug, wo sie die Fackel hineinwarf und ein Bett. Weiter hinten entdeckte ich noch zwei Truhen, aber viel mehr hatte in der Behausung keinen Platz. Es war ihr kleines, abgeschirmtes Reich und ich konnte sehen, wie sie diese Hütte liebte. Flink wuselte sie von einem Ende zum anderen und strich dabei fast zärtlich über die Wände.
„Guter Schutz das Sandelholz“, erklärte sie fast akzentfrei und lächelte mir mit ganzen drei Zähnen offen zu. Ich war vollkommen überrascht, dass sie doch Deutsch sprechen konnte und wollte sie gerade danach fragen, als sie – wie zur Antwort – ihren Finger über den Mund legte und mir zu verstehen gab, dass ich darüber schweigen sollte. Scheinbar durfte niemand wissen, dass sie dieser Sprache mächtig war. Warum sie mir aber vertraute, wusste ich nicht.
Sie kramte etwas in einer der Truhen und holte ein winziges Fläschchen mit blauer Flüssigkeit hervor.
„Ahhh, das ist es“, zischte sie und hob es in den Schein ihrer Fackel. „Sieh her mein Kind!“ Dabei schwenkte sie das Fläschchen vorsichtig. Die Flüssigkeit darin veränderte ihre Farbe und ich bemerkte, wie dünne rote Fäden durch das Blau schlängelten und simultan mit der Bewegung der Alten ihre Form veränderten. Der Anblick hatte eine magische Faszination, denn die Flüssigkeit wirkte lebendig. So als würde sie die Bewegungen Lorrrnes gutheißen und genießen. Je langsamer sie es dann drehte, desto genüsslicher schienen auch die roten Fäden auseinander zu strömen und sich wieder ineinander zu verschlingen. Wie Würmer aus Farbe.
„Das mein Kind ist für dich“, sagte sie und ihre Augen blitzten mir stolz und voller Vorfreude entgegen.
„Was ...“, fragte ich und blinzelte immer noch fasziniert in das Glas „... ist das?“ Doch Lorrrne grinste nur und steckte das Fläschchen in einen kleinen Beutel.
„Was es ist tut nichts zur Sache. Dass es ist, zählt.“ Dabei blickte sie listig zu mir und reichte mir den kleinen Beutel.
„Ja, aber ...“, sagte ich und griff automatisch zu dem gereichten Sack.
„Ja, aber, ja, aber! Schluss damit“, fuhr sie mich an und ich hielt tatsächlich meinen Mund. „Das nimmst du morgens! Zwei Tropfen in die Milch und mehr nicht! Hast du verstanden?“ Doch ich verstand natürlich nicht so ganz und Lorrrne wurde ein wenig ungeduldig. Entschlossen nahm sie mich bei der Hand.
„Du magst nicht viel von langen Haaren halten mein Kind, aber glaube mir: Du wirst sie hier ganz gut gebrauchen können! Für die Menschen hier ist es wie eine Huldigung an das Urweibliche.“ Damit grinste sie mich so witzig an, dass ich einfach auch lachen musste und mich wie eine Verschwörerin fühlte.
„Also gut! Hoffentlich bedeutet es nicht gleich meinen Tod, wenn ich das tue“, meinte ich eigentlich nur zum Spaß, doch die Alte wurde ernst.
„Nein. Deswegen wirst du nicht sterben, mein Kind. Deswegen nicht!“ Ihre Worte schnitten mir schmerzhaft ins Herz. Was meinte sie nur damit? Sollte ich etwa schon bald an etwas anderem sterben? Konnte es gar sein, dass sie in die Zukunft sehen konnte? Alte, weise Frauen mit Tinkturen und Kräutern waren doch zumeist als Hexen verschrien. Erinnerungsschub oder reine Angst? Schon wieder die nervige Stimme! Aber es stimmte wohl, ich hatte Angst und Lorrrne bemerkte es.
„Nein, nein! Nicht allzu bald, mein Kind. Nicht allzu bald“, erklärte sie und bugsierte mich zeitgleich aus der Hütte. Womit sie mich so überraschte, dass ich mich gerade noch bedanken konnte. Mulmiges Gefühl hin oder her, die Dame schien mich zu mögen. Also warum sollte sie mich vergiften? Im nächsten Moment schlug mir eben diese Dame die Tür vor der Nase zu und ich stand im Finsteren.
Na toll, dachte ich betreten, denn nun konnte ich ganz alleine zurück zu meinem Quartier marschieren und hatte nicht einmal mehr eine Fackel. Dabei war die Hand mittlerweile kaum vor Augen zu sehen! Vorsichtig tastete ich mich von Lorrrnes Hauswand weiter vor bis zur Schlossmauer und fluchte leise über meine Dummheit, keine eigene Lichtquelle mitgenommen zu haben. Und Lorrrne hatte mich ja offenkundig rasch loswerden wollen. Doch wie auf Knopfdruck schob sich mit einem Mal der strahlende Halbmond durch die Wolkendecke und leuchtete mir den Weg und ich hatte glatt das Gefühl, als ob Lorrrne ihn als Außenbeleuchtung für mich aktiviert hätte.
Die Wachen musterten mich streng und deuteten mit einer Kopfbewegung, dass ich schleunigst zum Dienstboteneingang gehen sollte. Dort wartete Rrrruri schon ungeduldig auf mich.
„Wo warst du nur so lange? Wir Mägde nicht sicher vor Wachen“, stellte sie besorgt fest, doch ich winkte ab und deutete auf meine Haare.
„Schon vergessen? Hässlich“, scherzte ich, doch das schien sie nicht zu verstehen. „Für die Männer bin ich doch sowieso ein Alien“, erklärte ich weiter und sie schüttelte vehement den Kopf.
„Egal was Alien ist ... du haben Brüste und Yoni. Nichts anderes wichtig für Männer in Dunkelheit“, meinte sie böse und ich bekam große Augen, weil sie es gar so auf den Punkt brachte. „Wachen frei von Strafe, verstehen?“
„Bitte?“, sagte ich protestierend, während Rrrruri mich an der Hand packte und ins Gebäude zog. Sofort begann sie die Tür mit den drei Balken zu verriegeln.
„Die Wachen können im Prinzip machen was sie wollen?“, fragte ich sofort nach, aber Rrrruri tat so, als ob das Absperren der Tür ihre ganze Aufmerksamkeit benötigte. In Wahrheit suchte sie nur nach den richtigen Worten.
„Nun ja. Es ist nicht ganz so. Wir Mägde sind ...“, sie räusperte sich „... wir sind hier nicht so wichtig.“ Sie sah mir dabei nicht in die Augen, weil ihr das, was sie sagte, selbst nicht gefiel.
„Und Yoni? Was heißt Yoni?“
„Das kennst du nicht? Hat doch jede Frau.“ Sie kicherte. „Yoni ist das heilige Gefäß unserer Weiblichkeit.“ Aha. Ich hatte es zwar geahnt, aber nicht erwartet, mich über solch eine respektvolle Huldigung meines Geschlechts zu freuen.
„Aber das mit den Wachen ...“, fragte ich noch einmal und wurde von Rrrruri gestoppt. Sie musste sich offenbar sammeln und konzentrieren, doch dafür lieferte sie plötzlich eine völlig akzentfreie Erklärung. So, als hätte sie die Worte schon öfter gesagt oder zumindest überlegt.
„Die hohen Herrschaften halten nicht viel von uns und unserer Moral. Sie meinen wir würden den Männern nur den Kopf verdrehen und von einem Bett ins andere wandern. In ihren Augen ist es nur Recht und billig, wenn die Wachen sich an uns abreagieren. Das macht sie zufriedener und stärker. Deshalb der Freibrief. Die meisten von uns hüten sich also ab einer gewissen Stunde das Quartier zu verlassen. Lediglich die paar, die es wirklich darauf abgesehen haben, treiben sich dann noch herum. Manchmal schickt auch einer der hohen Herren gezielt nach einer von uns ... als Zeitvertreib. Dann ist es offenbar ganz in Ordnung, wenn wir ein wenig unmoralisch werden.“ Verächtlich verzog sie den Mund. „Sie lieben uns nicht, aber sie brauchen uns. Und zwar nicht ausschließlich für Arbeit.“ Ich schluckte, denn bisher war mein Eindruck hier nur der beste gewesen. Gut, ein paar der Saalgäste hatten gleich zu Beginn ihren Unmut über mein Erscheinen geäußert, doch die vorbehaltlose Aufnahme hier hatte ich als wahrlich ritterlich empfunden. Dafür klang der Umgang mit den Mägden hier nicht ganz so astrein.
„Es ist leider wahr. Unser Stand hier ist ein sehr niederer und das hat nicht immer Vorteile. Doch du wirst davon nicht viel bemerken. Soweit ich weiß, sollst du in der Küche anfangen und danach irgendwann Zofe der Herzogin werden. Das ist eine Aufgabe, die dich automatisch höher reihen wird.“ Ihre feuchten Augen blieben mir nicht verborgen. Sie war kein neidischer Mensch, das konnte ich spüren, aber es war verständlich, dass sie nicht immer glücklich über ihren Stand war. Gerührt nahm ich ihre Hand.
„Wann immer ich dir helfen kann und es in meiner Macht steht, Rrrruri, ... auf mich kannst du zählen!“ Das meinte ich absolut ernst, auch wenn ich hier natürlich gar nichts zu melden hatte und Rrrruri das wusste. Aber sie lächelte mir dankbar zu.
Wir gingen zu unseren Quartieren und es sollte meine erste Nacht sein, in der ich nicht wirklich schlafen konnte. Zehn Frauen schliefen auf engstem Raum nebeneinander und machten natürlich ganz normale Geräusche. Manche plapperten, andere furzten im Schlaf und etliche schnarchten, dass sich die Balken bogen. Gott, was sehnte ich den Waldboden herbei oder das bequem Strohlager von Darrrer.
Darrrer! Dieser Mann ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Er kannte mich nicht, fand mich mit meinen kurzen Haaren nicht sonderlich attraktiv und hatte mich dennoch beschützt. Und nicht nur das! Er hatte mich auch geküsst und das auf eine Art, die unvergesslich war! Alleine die Erinnerung daran brachte sengende Hitze zurück und dieses verrückte Prickeln, das so süchtig machen konnte. Ich atmete schwer, schwelgte in dem Gefühl und schüttelte doch den Kopf, weil mir rote Haare noch nie gefallen hatten. Nicht? Oh! Da war sie ja wieder meine fremde Stimme. Die hatte ich ja fast schon vermisst.
Die ersten Tage waren beschwerlicher als erwartet. Ich verbrachte Stunde um Stunde in der Küche, schälte wahre Unmengen an Kartoffeln, schnipselte hier, kochte dort. Mittags und abends verqualmte dann die offene Feuerstelle noch so derart die Küche, dass die Arbeit um ein Vielfaches beschwerlicher wurde.
Die Herzogin ließ sich überhaupt nicht blicken und ich war abends körperlich so geschafft, dass ich nicht einmal mehr Rrrruri aufsuchen konnte, um mit ihr zu plaudern. So verbrachte ich die meiste Zeit schweigend und hörte nur aufmerksam dem rollenden Geschnatter der anderen Küchengehilfinnen zu. Der Koch selbst sprach kein Wort mit mir und auch sonst war keiner wirklich bemüht mir Aufmerksamkeit zu schenken. Das, was ich zu tun hatte wurde mir gezeigt und außer knappen, rollenden R’s hatten sie nichts zu sagen.
Zu den Schlafenszeiten ertappte ich mich dabei, dass ich bereits mit meinem Schicksal haderte. Niemand hier interessierte sich für mich und die Arbeit vereinnahmte mich so derart, dass ich keine Zeit hatte zu überlegen, wie es weitergehen sollte. Erinnerungsschübe hatte ich keine mehr und selbst meine verrückte, fremde Stimme war verstummt. Kurzum: Die Zeit verflog zwar wie im Flug, doch ich kam in meiner Angelegenheit kein bisschen weiter, war einsam und frustriert. Lediglich das Wachsen meiner Haare war für alle Beteiligten von Interesse und DAS musste ich der alten Frau schon lassen: Diese Tinktur schmeckte nicht nur gut und würzig, sie hatte mein Haar tatsächlich innerhalb von nur drei Wochen mehr als dreimal so lang werden lassen. Mittlerweile reichte es mir schon bis zur Mitte des Rückens. Es war also eindeutig Hexerei im Spiel und, auch ohne Erinnerung an meine eigentliche Wirklichkeit, seltsam befremdend. Mein Haar war voller, glänzender und vermutlich länger, als ich es jemals getragen hatte. Spiegel hatte ich keinen und bei den hohen Herrschaften war nie die Zeit, um einmal in einen zu gucken. Ich wusste also nicht einmal, ob mir lange Haare überhaupt standen.
Nach den ersten drei Wochen hatte ich schließlich einen freien Tag. Wie immer war ich in voller Montur um 5.30 Uhr zum Dienst angetreten und hatte nicht damit gerechnet, frei zu bekommen. Anfangs war ich sprachlos und wusste gar nicht was ich tun sollte, dann aber riss ich mir die verhasste Haube vom Kopf und stürmte ins Freie.
Inzwischen war es sicher Sommer geworden, denn es war schon zu früher Stunde hell und warm. Da die Küche in einem Kellergewölbe lag hatte ich seit meiner Ankunft nicht mehr wirklich Gelegenheit gehabt etwas von außerhalb mitzubekommen. Umso mehr genoss ich jetzt die Morgensonne und den Spaziergang. Mein langes Haar war noch etwas ungewohnt, aber ich mochte es. Irgendwann sollte ich mich wohl bei der alten Dame bedanken und ihr den Rest auch wieder zurückgeben, sonst würde mein Haar ja noch ins bodenlose wachsen.
Im Garten entdeckte ich dann die Herzogin, was mich zu solch früher Stunde verwunderte. Insgeheim hatte ich angenommen, dass adelige Herrschaften lange und ausgiebig schlafen würden und nur die arbeitende Schicht früh auf die Beine musste. Die Herzogin saß auf einer Bank und wirkte vollkommen in Gedanken versunken. Vorsichtig machte ich einen Bogen um sie, als mich ihre Stimme stoppte.
„Rumarin“, hörte ich ihre Stimme und fuhr zusammen, weil ich nicht gedacht hätte, dass sie mich bemerkt hatte. Natürlich konnte ich jetzt nicht einfach weitergehen.
„Ja, Herzogin?“
„Ach, bitte! Kommt doch zu mir“, sagte sie und ihre freundliche Stimme ließ mich hoffen, endlich ein klärendes Gespräch mit ihr führen zu können. Sie klopfte mit ihrer Hand auf den Platz neben sich und lächelte mir melancholisch zu. „Es ist so ein herrlicher Morgen, findet Ihr nicht?“
„Nun es ist seit drei Wochen mein erster Morgen im Freien“, sagte ich und war gar nicht bemüht meinen leisen Vorwurf darin zu verbergen. Sie lächelte erneut.
„Euer Haar ist schon bedeutend länger“, strahlte sie und konnte es nicht lassen, eine Haarsträhne von mir zwischen ihre Finger zu nehmen. „Ihr hattet wohl die Ehre Lorrrne’s Zaubertinktur zu trinken, nicht wahr?“ Als ich nickte, spielte sie immer noch mit meinem Haar.
„Und was ist es doch schön! Die Mädchen in der Küche werden Euch um die Festigkeit und die Farbe beneiden. Ist es nicht so?“ Die Herzogin war eine sehr schöne Frau und ihr blondes Haar bei weitem erwähnenswerter als mein schwarzes. „Und dann Eure Augen! Dieses intensive Grün mit dem Hauch von Gold. Wunderschön.“ Allmählich wurde mir ihre übertriebene Aufmerksamkeit ein wenig unangenehm. Außerdem verstand ich nicht worauf sie eigentlich hinaus wollte.
„Dann noch Eure vollen, roten Lippen!“ Sie lachte. „So weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie Ebenholz.“ Hä? Hat die Frau etwa einen Vogel? Ihr Blick hatte etwas Verträumtes und ihre Bewunderung schien aufrichtig zu sein. Dabei konnte ich nicht verstehen, wie jemand, der so aussah wie sie, überhaupt das Aussehen einer anderen Frau beachten konnte. Und dann vergleicht sie dich noch mit Schneewittchen, ätzte meine fremde Stimme, die jetzt fast drei Wochen lang geschwiegen hatte und irgendwie heiser und eingerostet klang. Ich staunte, dass Kopfstimmen heiser werden konnten und lächelte zugleich über den neuen Erinnerungsschub. Immerhin konnte ich mich jetzt an das Märchen von Schneewittchen erinnern.
„Danke – ähm – das ist sehr nett von Euch. Doch bitte ...“ Schließlich hatte ich so viele Fragen und Wünsche, so viel Bedarf an Erklärungen und Hoffnungen. Was interessierte mich da schon mein Aussehen oder ein Märchen aus Kindertagen? Doch sie legte nur ihre Finger auf meine Lippen und wisperte:
„Pssst! Mach den Moment nicht kaputt!“ Ihr Blick war dabei eigenartig und löste ein komisches Bauchgefühl aus. Verlegen fragte ich mich, was die feine Dame eigentlich von mir wollte. Die ist ganz klar vom anderen Ufer, ätzte die fremde Stimme. Nur eben nicht vom Grenzfluss, haha. Gut, das war geschmacklos, aber ein wenig schmunzeln musste ich schon.
„Sieh mich nicht so erstaunt an. Ich liebe einfach die schönen Dinge des Lebens. Gutes Essen, guten Wein, leidenschaftliche Musik, schöne Männer und schöne Frauen ... und das ist auch schon alles.“ Mein leicht mulmiges Gefühl war noch nicht ganz verschwunden, aber sie schien die Wahrheit zu sprechen, denn – wie, um mich zu beruhigen – begann sie mir etwas über das Land und seine Leute zu erzählen. Das Land hieß Ertian und erstreckte sich von einem Fluss zum nächsten. Alle Länder wurden von Flüssen getrennt und die meisten davon lebten in friedlicher Eintracht. Nur mit den Rumaren gab es seit geraumer Zeit Streit und auch wenn der Krieg fast vorüber war, so herrschte doch weiterhin Angst und Zwietracht.
„Die Rumaren sind ein sehr außergewöhnliches Volk. Sie sind so anders in ihrer Art sich zu Kleiden und zu präsentieren und sie haben einen technischen Fortschritt, der sie selbst aufzufressen scheint.“ Die Herzogin schüttelte den Kopf, als wären diese Rumaren – und das bezog mich mit ein – nicht das außergewöhnlichste, sondern das dümmste Volk, das sie sich vorstellen konnte. „Allen Grenzländern sind sie suspekt und werden seit jeher gemieden. Daher ist der Grenzfluss bei ihnen auch speziell breit und wild. Es gibt also wirklich nur wenige, die es wagen ihn zu überqueren. Doch seit einem Jahr ist vieles anders. Die Rumaren ersticken fast in ihrem Müll und haben es irgendwie geschafft eine Fähre zu bauen. Die benutzen sie aber nicht etwa, um von ihren Nachbarländern zu lernen oder sich einfach auf Urlaub zu begeben, sondern um einen Teil ihres Mülls in unser schönes Land zu laden.“
„Oh! Das klingt nicht gut“, flüsterte ich und versuchte in mich hinein zuhören, ob ich von dieser ehrlosen Sache wusste. Doch wie immer fand ich NICHTS. Nicht das kleinste Fünkchen Erinnerung.
„Du sprichst wahr. Es klingt nicht gut und es bringt das Gleichgewicht durcheinander. Die Fähre an sich ist schon ein Frevel, aber die Nachbarländer zu verschmutzen führte zum Krieg. Wir können nicht zulassen, dass ein Land mit seinem angeblichen Fortschritt so ausufert wie eine Krankheit.“
„Wie meint Ihr das? Wie wird es verhindert?“
„Das darf ich dir nicht sagen, Rumarin. Aber so viel ist gewiss: Viele Menschen bei Euch sind unglücklich oder einsam. Sie sind getrieben und doch willenlos. Es ist wohl die viele Technik, die Strahlung oder was auch immer, das ihr Hirn und ihr Herz benebelt.“ Mir kam ihre Beschreibung zu meinem angeblichen Volk nicht wirklich bekannt vor, obwohl ich automatisch Francescos Friseursalon vor mir sah, wo Trockenhaube, Stereoanlage, Flat-TV und all das Zeug zu finden war, das sie offenbar als Technologie bezeichnete. Ups, eine Erinnerung.
„Der Krieg ist also fast vorbei?“, fragte ich und hatte die Hoffnung, mit dieser Nachricht endlich unbehelligt nach Hause marschieren zu können. Der Müll und der fiese Umgang damit, klangen zwar nicht gut, aber der Rest schreckte mich jetzt nicht sonderlich ab. Besser eine Trockenhaube auf dem Kopf, als auf einem Strohlager schlafen oder einen ganzen Tag im finsteren Küchenloch zu verbringen. Die Herzogin ergriff meine Hand.
„Ja, der Krieg ist fast vorbei. Das heißt aber nicht, dass Ihr jetzt so einfach gehen könnt.“ Ihre Augen blickten mich freundlich an, dabei hatte sie mir gerade verboten nach Hause zu gehen. Mit einem Ruck entzog ich ihr meine Hand.
„Also bin ich Eure Gefangene!“
„Aber nein, Kind. Ihr steht unter unserem Schutz. Der Krieg ist zwar so gut wie vorbei, doch bis die wichtigsten Papiere unterzeichnet sind, herrscht noch das reinste Chaos. Niemand ist außerhalb dieser Mauern sicher. Dass ihr ein paar Tage als Rumarin im Wald überlebt habt, grenzt an ein Wunder.“ Vermutlich hatte sie Recht, aber die Vorstellung hier noch länger als billige Küchenmagd arbeiten zu müssen, war nicht gerade berauschend. Gut, ich bekam erträgliche Kost und Logis, aber dafür schuftete ich auch hart.
„Jetzt macht nicht solch ein trauriges Gesicht! Das schadet nur Eurer Schönheit.“
„Aber ich möchte nach Hause. Ich möchte wissen wer ich bin, wer meine Eltern sind, ob ich verheiratet bin oder einen Freund habe und meinen Namen endlich kennen.“ Meine Schultern bebten verdächtig, denn viel länger konnte ich meine Tränen nun nicht mehr zurückhalten. Die Herzogin fasste sich ein Herz und legte ihren Arm tröstend um meine Schultern.
„Dann gebe ich dir eben hiermit einen neuen Namen. Von der heutigen Stunde an wird man dich ... Rrrramona nennen!“ Sie lächelte völlig entzückt von ihrem Vorschlag und drückte sanft meine Schulter, als wäre dieser bescheuerte Name die reinste Offenbarung. Natürlich versuchte ich ein Lächeln, obwohl es mir piep egal war, ob sie nun Rumarin oder Rrrramona zu mir sagten. In dieser Sprache klang sowieso alles gleich.
„Gefällt er dir etwa nicht?“, fragte sie enttäuscht, weil ich ganz offensichtlich nicht die begeisterte Reaktion zeigte, die sie erwartet hatte.
„Doch“, log ich. „Er ist schon okay. Ich wünschte nur ich könnte mich endlich erinnern. An meinen richtigen Namen.“ Gedankenverloren ließ ich meine Beine baumeln.
„Ach, Rrrramona! Das wird schon wieder und wer weiß ... vielleicht verpasst du ja nicht einmal allzu viel.“ Es war eine nüchterne Feststellung und fast schon eine Frechheit, aber vermutlich hatten alle meine Landsleute in ihren Augen einen Dachschaden, dazu einen hässlichen Namen und sowieso kein schönes Leben.
„Aber da fällt mir ein ... wenn Lorrrne dir schon so rasch mit deiner Frisur helfen konnte, warum sollte sie nicht auch etwas gegen Gedächtnisverlust haben?“ Oh! Mental schlug ich mir mit der flachen Hand auf die Stirn, weil ich keine Sekunde daran gedacht hatte. Wie auch bei der täglichen Schinderei in der Küche? Mit einem Brummen verbannte ich die Stimme aus meinem Kopf und wandte mich der Herzogin zu.
„Natürlich! Dass ich nicht selbst daran gedacht habe“, erwiderte ich aufgeregt. Lorrrne war eine weise alte Frau und die Wirksamkeit ihrer Tinktur hatte mich schon nach den ersten Tagen überzeugt. Zauberei war also vielleicht wirklich eine Möglichkeit.
„Nächste Woche wirst du dann in meinen Dienst treten! Schließlich habe ich noch viel mit dir vor und die erste Hürde hättest du ja bereits gemeistert.“ Womit sie offenbar die schwere Arbeit in der Küche und mein stilles Hinnehmen meinte. Vielleicht war es ihre Art zu prüfen, ob ich aufbegehren oder die Arbeit nicht schaffen würde. Seit meinem Sturz im Wald kam ich mir aber sowieso viel zu gedämpft vor. Ich konnte mich zwar nicht erinnern, wie ich früher gewesen war, empfand mich aber als eine Spur zu zurückhaltend, fast schon unterwürfig. Irgendwie passte das nicht so ganz.
Am nächsten Tag war ich froh arbeiten zu können. Der „freie Tag“ hatte mir nur noch deutlicher gemacht, dass ich hier nicht hergehörte. Ich hatte zwar ein Lager, bekam zu essen und zu trinken, aber diese Isolation war die reinste Qual für mich. Einfach nur zu überleben war ja dann offenbar doch zu wenig. Bevor ich also Wochen und Monate weiter dahinvegetieren würde, musste ich mir überlegen, ob ich nicht vielleicht sogar ein Leben im Wald vorziehen sollte. Immerhin gab es dort doch auch einen roten Anziehungspunkt, den ich nicht leugnen konnte und wenn ich es bis zu ihm schaffen würde, wäre ich vermutlich auch halbwegs sicher.
Gerade als meine Stimmung immer schlechter wurde, erhielt ich von Rrrruri die Anweisung zur Herzogin zu kommen. Hektisch riss sie mir die Haube vom Kopf und wies mich an, die Schürze abzulegen, damit ich niemanden mit meinem Aussehen vor den Kopf stoßen konnte. Dann wischte sie mir noch den Schmutz aus dem Gesicht und zupfte meine Haare in Ordnung. Für mich war das der reinste Affenzirkus, aber ich machte ihn mit, um endlich zur Herzogin zu kommen. Vielleicht würde sich ja doch noch etwas ändern.
Die Herzogin freute sich mich zu sehen und machte mir gleich wieder ein Kompliment. Dieses Mal bewunderte sie meine schönen, rosigen Wangen und ich trat verlegen von einem Bein aufs andere. Irgendwie wusste ich nicht, wie ich mich verhalten sollte, wenn ich solche Komplimente bekam. Sonst zeigten die Leute ja eher Distanz und Abneigung gegenüber einer Rumarin wie mir.
Die Herzogin nahm beherzt meine Hand. Wenn die feine Dame gewusst hätte, dass ich damit gerade noch einer gerupften Gans in den Hintern gefahren war, hätte sie sich das vielleicht noch einmal überlegt. So aber lächelte sie, zog mich ins Zimmer und verschloss die Tür vor Rrrruris Nase.
„Rrrramona, ab heute wirst du das Zimmer neben mir beziehen und ausschließlich mir dienen. Zu dem Zweck wirst du auch unsere Sprache lernen“, meinte sie und überraschte mich damit gehörig. Die Schufterei in der Küche war zu Ende und ich durfte gar noch etwas lernen! Juhuuu! Das war ja wohl doch ein ziemlicher Aufstieg.
„Hattest du vielleicht inzwischen schon eine Erinnerung?“
„Nein, leider nicht. Ich hatte einfach noch keine Zeit zu Lorrrne zu gehen.“ Und das stimmte! Das Leben als Küchengehilfin war hart, anstrengend und dauerte von früh morgens bis spät abends. Nach meinem Dienst war ich meist so erledigt gewesen, dass ich es gerade noch auf meinen Strohhaufen geschafft hatte und sofort eingeschlafen war. Wie die Küchengehilfinnen ein Leben lang diesen Job aushielten, war mir ein Rätsel.
„So, so“, sagte sie nur, schien aber genau zu wissen, wie viel Arbeit sie mir aufgebrummt und wie sehr sie mich dadurch vom Nachdenken abgehalten hatte. Vermutlich war es ihre Art mich mürbe zu machen oder ihre Möglichkeit, mich besser einzuschätzen. Nachdem ich mir also in diesen harten Wochen nichts zu Schulden kommen hatte lassen, war ich doch noch zur Zofe aufgestiegen.