01. Kapitel
Es waren sicher Stunden vergangen, bis ich endlich aufstehen konnte. Das Moos und die niedere Büsche waren nicht nur sehr hilfreich beim Aufstehen, sie waren auch ganz gut geeignet, meine Hände immer wieder zu reinigen. In meiner Jeans fand ich sogar noch ein Taschentuch und konnte damit ebenfalls nachhelfen – auch wenn das Ergebnis ohne Wasser natürlich unbefriedigend war. Zum Glück aber musste ich mich kein zweites Mal übergeben. Mittlerweile war die Sonne schon so schwach, dass mir das Sehen keine Probleme mehr machte. Ich musste nicht einmal mehr blinzeln. Wackelig stand ich auf den Beinen und stützte mich immer wieder auf den dicken Stämmen der Hainbuchen ab. Dennoch wurde die Panik zunehmend größer. Rundherum befand sich nichts als dichter Wald und es war auch nichts anderes zu hören als mein keuchender Atem und die Geräusche des Waldes. Von einem Weg hinter der nächsten Baumgruppe konnte also nicht die Rede sein. Das hier war die pure Wildnis. Wenn ich also nicht bald einen Weg durch das Dickicht fand, musste ich hier wohl oder übel sogar eine Nacht verbringen. Tasche hatte ich keine dabei und außer dem Gewand auf meinem Leib auch sonst nichts bei mir.
Also ging ich einfach los, ohne Ziel und ohne Plan ... und im absoluten Schneckentempo, denn meine Beine trugen mich nur mit größter Mühe. Außerdem versuchte ich beim Gehen möglichst rund abzufedern, um meinem Kopf gröbere Erschütterungen zu ersparen. Aber ich musste mich bewegen, weiterkommen.
„Bis auf die Knochen kahlgefressen“, ätzte ich leise vor mich hin und pustete beleidigt eine Stirnfranse aus meinem Gesicht. Liegenbleiben war schon alleine wegen der verrückten Stimme in meinem Kopf keine Option. Na, wenigstens hatte ich Tennisschuhe an! Und immerhin ging ich der Sonne entgegen. Westen war schon immer meine Lieblingshimmelsrichtung gewesen. War sie das wirklich? Wieder diese dämliche Stimme und ein seltsam bedrückendes Gefühl, als hätte ich sowieso alles vergessen, was zählte. Oder, als wär ich gerade erst geboren worden und wüsste nichts vom Leben. Ein Beginn auf einer kleinen Lichtung mitten im Wald und ein mögliches, rasches Ende, wenn ich mich weiter dumm anstellte und nicht bald hier herausfinden würde. Schnell lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf meine vorsichtigen Schritte. Step by step, sagte ich mir vor und schürte meine Hoffnung, irgendwann einen Weg oder eine Straße zu finden.
Doch dem war nicht so. Gut, ich kam nicht gerade schnell voran, ächzte und schnaubte wie ein altes Walross, aber dass es hier so gar keine Anzeichen von Zivilisation gab, verwunderte mich doch sehr. Allmählich wurde es dämmrig und meine Angst immer größer. Ich hatte nichts dabei – absolut gar nichts. Mein Durst war inzwischen unerträglich und mein Magen meldete sich auch bereits rebellisch. Außerdem war ich hundemüde und hatte immer noch einen ziemlichen Brummschädel von meinem Sturz. Am Kopf hatte ich eine ordentliche Beule ertastet, aber sonst konnte ich keine groben Verletzungen an mir feststellen. Vermutlich war ich mit einer leichten Gehirnerschütterung davongekommen, denn sonst hätte ich die Strecke bis hierher wohl kaum geschafft.
Mit einem Mal drang leises Plätschern durch eine dichte Wand aus Unterholzgestrüpp und stoppte zuerst meine Gedanken, dann meine Schritte. Keuchend lehnte ich mich an einem Baumstamm und lauschte angestrengt, ob ich mich auch nicht getäuscht hatte. Das Rauschen in meinen Ohren oder schlicht der Wind in den Blättern konnte einem schon mal einen Streich spielen. Doch nein – der Wind war zu schwach und meine Ohren frei. Das Plätschern aber blieb und es klang allerliebst und eindeutig nach Wasser. WASSER! Meine Gedanken überschlugen sich förmlich, mein Mund öffnete sich und ich schluckte wie blöd im Trockenen, weil ich mir das kühle Nass schon so bildlich vorstellen konnte. Die Wasserquelle musste genau vor mir liegen.
Ich fasste neuen Mut, denn auch wenn ich heute nicht mehr aus diesem Wald herauskommen sollte, so würde ich wenigstens nicht verdursten. Mit etwas mehr Energie kämpfte ich mich weiter durch das Unterholz. Stellenweise war es wie eine Dornenhecke, doch ich war nicht länger zu bremsen, riss und zerrte, hieb und trat, bis ich mir einen Weg durch diesen vermaledeiten Dschungel gebahnt hatte. Ich zerrte gerade noch an einem Ast und putze Reste einer Pflanze von meinem Shirt, als ich den Bach entdeckte. Er war sogar recht groß und hatte das klarste Wasser, das ich je gesehen hatte. Idyllisch schlängelte er sich durch den grünen Wald, plätscherte und gluckste. Meine Situation war alles andere als zum Lachen, aber bei dem herrlichen Anblick und dem Wissen, endlich einen ersten Schluck trinken zu können, musste ich genau das tun. Ich lachte und fiel auf die Knie, stöhnte kurz auf, weil mein Kopf leicht explodierte und robbte schließlich auf allen Vieren bis zum Ufer heran.
Zuerst wusch ich meine Hände und Arme, danach mein Gesicht. Ich war natürlich stolz auf meine Selbstbeherrschung, denn ich spülte zuerst auch noch meinen Mund, ehe ich endlich meine Handflächen eintauchte und daraus trank. Und Gott, war das herrlich! In dem Moment gab es für mich nichts Schöneres als dieses Wasser. Wild spritzte ich es mir ins Gesicht und kicherte dabei glücklich. Doch meine düstere Situation holte mich danach wieder ein. Es wurde dunkel und zwar rasch und es war mir mittlerweile klar, dass ich hier übernachten musste. Ich war zwar keine überängstliche Person. Weißt du das wirklich?
„Schhhh“, zischte ich in den dunklen Wald und musste gleich wieder ein wenig kichern. Vermutlich war ich wirklich auf dem besten Weg irre zu werden. Aber ohne Schutz und Decke einfach so im Wald – inmitten von größeren und kleineren Tieren – das war schon ein sehr seltsames Gefühl. Dank des kühlenden Wassers hatten wenigstens meine Kopfschmerzen deutlich nachgelassen und als ich schließlich ein Plätzchen fand, wo ich mich zusammenrollen und mit eine paar Blättern zudecken konnte, waren mir die kleinen und großen Tiere auch schon egal. Ich war hundemüde, entdeckte noch während dem Einschlafen ein paar kleine, fluffige Lichter, die immer wieder vom Waldboden aufstiegen und an Glühwürmchen erinnerten, obwohl sie die Farben wechseln konnten. Sie bewegten sich wie fliegende Federn und schwirrten friedlich und sanft durch die Gegend. Sicherlich waren es einfach zu erklärende Phänomene, aber ich war zu müde, um sie lange zu beobachten oder gar zu ergründen. Ihre Bewegungen waren einlullend und so schlief ich schon nach wenigen Minuten mit einem friedlichen Lächeln auf den Lippen ein.
Am nächsten Morgen konnte ich mich diffus an einen unbequemen Untergrund und an seltsame Geräusche und Bewegungen erinnern, aber im Großen und Ganzen hatte ich tief geschlafen. Mein Körper hatte die Notbremse gezogen und sich ganz von alleine das Quäntchen Erholung geholt, das er gebraucht hatte. Angeknabbert war ich weder von großen noch von kleinen Tieren worden und so konnte ich diese Nacht als vollen Erfolg verbuchen. Zumindest versuchte ich mich so selbst zu motivieren, denn an meiner unklaren Lage hatte sich ja kaum etwas verändert, nur weil ich gerade mal die erste Nacht überstanden hatte.
Langsam rappelte ich mich in die Höhe und spürte, dass es mir deutlich besser ging. Die Kopfschmerzen waren nicht ganz verschwunden, aber so stark zurückgegangen, dass die körperliche Bewegung nicht mehr in Quälerei mit beständiger Gefahr des Erbrechens ausarten würde.
Die morgendliche Erfrischung im Bach war dann zwar für meinen Geschmack ein wenig zu kalt, doch absolut notwendig, um endlich ganz munter zu werden. Dazu trank ich mich derart voll, dass mein Bauch nur so gluckerte. Ich wusste ja nicht, wann ich wieder auf Wasser stoßen würde und Behälter hatte ich nicht mit. Es war also nur nachvollziehbar, dass ich mich volllaufen ließ. Aber dann kam mir die Idee, dass ich ja dem Bachlauf folgen konnte und schlug mir mit der flachen Hand auf die Stirn. Was bei leichter Gehirnerschütterung – gelinde gesagt – ziemlich bescheuert war. Wo ein Bach – da auch Menschen. Na super! Offenbar hatte ich mit dem leichten Klaps nicht nur meine Gehirnerschütterung geweckt, sondern auch noch die fremde Stimme.
„Bravo“, zischte ich leise und kam wieder in die Höhe, um mich auf den Weg zu machen. Mit leichtem Schädelbrummen ging ich voran, doch es war gar nicht so einfach dem Bächlein zu folgen. Teilweise schlängelte es sich mit geradezu durchtriebener Freude dorthin, wo es besonders unwegsam wurde. Zu guter Letzt fiel es gar steil ab und forderte damit eine waghalsige Kletterpartie heraus. Wäre der Anblick nicht so fantastisch schön gewesen, hätte ich wohl nur geheult. Aber so war es eine wunderbare Mischung aus lebendigem Grün, brauner Erde und Baumstämmen und bewegtem Blau. Dennoch stand ich ratlos an dem abschüssigen Hang und überlegte was nun zu tun wäre. Im Normalfall wäre der Steilhang wohl keine allzu große Sache gewesen, doch ich war nicht ganz fit und ein einmaliges Straucheln hätte einen Fall von mehreren Metern heraufbeschworen. Stirnrunzelnd nahm ich auf dem Boden Platz und rastete mich erst einmal aus. Den Weg hier hinunter musste ich mir wahrlich gut überlegen, aber dass ich dem Bach weiter folgen musste, war klar. Mit ihm würde ich sicher irgendwann zurück zur Zivilisation kommen.
So saß ich also ein paar Minuten einfach nur herum, spielte mit den Blättern und streichelte das Moos, das sich extrem weich anfühlte und manchmal den Eindruck machte, als würde es sich extra an meine Handfläche schmiegen. Selbst der Farn vor mir schien sich mehr und mehr in meine Richtung zu wiegen und der Untergrund meinem Popo anzupassen. Wie ein natürliches Sitzkissen. Als ich gerade ein kleines extrem grünes Blatt durch meine Finger gleiten ließ, hörte ich plötzlich ein untypisches Geräusch. Nicht, dass ich in der kurzen Zeit schon ein Waldprofi geworden wäre, aber zur üblichen Waldmusik gehörte es nicht und es entpuppte sich ja auch recht rasch als leises Stimmengewirr. Ich horchte auf und duckte mich zugleich mehr ins Gebüsch. Keine Ahnung warum ich nicht gleich laut wurde und um Hilfe rief. Eigentlich verhielt ich mich total falsch ... oder eben instinktiv richtig, denn ich hatte ein komisches Gefühl. Ein sehr komisches, beklemmendes Gefühl. Die Menschen waren offenbar mit Pferden unterwegs, denn ich hörte immer wieder eines der Tiere schnauben. Als die Stimmen lauter wurden, bemerkte ich nur, dass die Sprache unverständlich blieb. Es waren raue, grollende Töne, die für mich nicht zuordenbar waren. Dazu wurde mein Gefühl unangenehmer, je näher die Stimmen kamen. Instinktiv veränderte ich meine Position, krabbelte ein paar Meter vom Wasser fort und versteckte mich hinter einem Felsen. Der Hang war auch hier abfallend und so konnte ich recht unauffällig auf den Weg unter mir sehen.
Es waren drei große Männer auf drei klobigen Pferden. Sie trugen ungewöhnliches Gewand, wirkten seltsam fremd in diesem Wald und sahen verdammt gefährlich aus. Zwei davon hatten Bärte, die bis zum Bauch langten. Der dritte und jüngste von ihnen hatte gerade mal einen Flaum im Gesicht, aber das machte sein Gesicht nicht schöner. Ihr Gewand sah zerlumpt aus und wie aus einem Film früherer Zeiten. Dazu hatten sie bedrohlich große Doppeläxte auf ihrem Rücken, die gut dreißig Zentimeter über ihre Schultern hinausragten. Wie Attrappen sahen sie auf die Entfernung nicht aus. Hätten die Männer auch noch Helme mit Hörnern getragen, wäre ich davon ausgegangen, dass hier ein Wickingerfilm gedreht wurde. So aber hatte ich keine Ahnung was hier gespielt wurde. Kameras konnte ich auch keine sehen. Dazu war die Sprache immer noch unverständlich, derb und rollend. Alleine die Stimmlage und die Art wie sie die Worte wechselten, ließ sie extrem furchteinflößend wirken.
Filmcrew hin oder her, die drei waren mir nicht geheuer. Einen Teufel wirst du tun und hier um Hilfe bitten, murmelte mein bescheuertes zweites Ich und einen kurzen Moment war ich versucht es dieser Stimme heimzuzahlen und mich extra auffällig auf die Leute da unten zu stürzen und um Hilfe zu bitten. Aber ich hatte Angst, so kindisch das in dem Moment auch sein mochte, es war nun einmal das Gefühl das mich gerade lenkte. Dabei ... was sollte es denn sonst sein, als ein schlechter Film, selbst wenn keine Kameras zu sehen waren? Ein paar Abenteuerurlauber vielleicht, die statt dem üblichen Paintball nun die Doppelaxt aus Gummi gewählt hatten? Was wusste ich schon, was sich Leute ausdachten, um sich wieder lebendig zu fühlen. Kriegsspiele mit Kostümen und Gummiknüppel für Erwachsene. Solche Spielchen hatte ich schon immer belächeln müssen. Hast du das? Schon wieder die fremde Stimme. In Gedanken zischte ich ein „shut up“ in meinen Kopf hinein, denn genau jetzt hatte unter meinem Felsen ein Streit begonnen und den wollte ich nicht verpassen. Aus irgendeinem Grund waren sich diese finsteren Männer uneinig.
Laut schrie einer der Bärtigen den anderen an und brachte sein Pferd und das des anderen mit einem heftigen Ruck zum Stehen. Ohne weiter Zeit zu verlieren stürzten sie sich noch auf den Pferden sitzend aufeinander und landeten schließlich mit wildem Geschrei und Getöse auf dem Boden. Die Pferde tänzelten zur Seite, aber verletzt wurde scheinbar niemand.
Der Stunt war gut, schoss es mir durch den Kopf und ich erkannte endlich meine eigene Gedankenstimme. Ich war also nicht ausschließlich besessen, sondern konnte auch eigene Gedanken formulieren. Für Bescheuerte nicht anders erklärbar. Verdammt, schon wieder der andere! Zornig biss ich mir auf die Lippen und verbot mir auch nur einen weiteren gedanklichen Kommentar. Das „shut up“ hatte ja auch nichts gebracht. Dazu schien die fremde Stimme im Moment nicht so unrecht zu haben, denn die Szene wirkte nicht gestellt und die Gefahr, die von den beiden Männern ausging wurde irgendwie ... spürbar. Die beiden Männer schenkten sich aber auch wahrlich nichts. Nur zu den Waffen griffen sie nicht. Trotzdem waren sie schon nach kurzer Zeit blutverschmiert, weil die Fäuste gar so wild flogen und mit einer Wucht im jeweils anderen Körper landeten, dass es mich wunderte, wie lange sie das aushielten.
Schließlich blieb einer kampfunfähig liegen und musste sich wüste Schimpftiraden vom anderen anhören. Der spuckte auf ihn herab und setzte sich dann wieder auf sein Pferd. Ein letztes Grollen, dann ritt er gemeinsam mit dem Jüngeren davon und kümmerte sich kein bisschen um den Verletzten.
Ich hatte inzwischen zwei Fingernägel bis zum Totalschaden malträtiert. Das Geschehen hatte mich so derart gefesselt und die ungewohnte Brutalität erschreckt, dass ich nicht länger glauben konnte, dass sie nur gestellt war. Kameras gab es auch noch immer keine, obwohl ich doch jeden Moment damit rechnete, dass ein unglaublich gut getarnter Mensch aus dem Gebüsch springen würde und „CUT!“ rief. Das Dumme war nur, dass ich allmählich begriff, dass das nie der Fall sein würde und alles echt war. Du hast ja keine Ahnung wo du bist, Trantüte! Na super! Seit meinem „shut up“ wurde das fremde Wesen in meinem Kopf auch noch beleidigend.
Der verwundete Mann unter mir ächzte vor Schmerzen, aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, ihm Hilfe zu leisten. Dafür hatte ich immer noch zu viel Angst. Viel lieber verharrte ich ganz still und wartete ab. Irgendwann würde der Mann schon verschwinden und dann könnte ich ja entlang dieses Weges, aber vielleicht nicht unbedingt auf dem Weg selbst, in die entgegengesetzte Richtung gehen. Diesen finsteren Gesellen war schließlich alles zuzutrauen, vor allem Mord und Totschlag.
Es dauerte für meine Begriffe eine wahre Ewigkeit, bis sich der verletzte Mann in die Höhe gerappelt hatte und sich unter ständigem Fluchen aufs Pferd zog. Glücklicherweise schaffte er es sitzen zu bleiben und ritt dann in etwas langsamerem Tempo seinen beiden Kumpanen hinterher.
Verwirrt blieb ich noch ein Weilchen in meinem Farnhaufen sitzen und streichelte das grüne Gemüse. Wenn diese Männer nicht gerade ein Abenteuerspiel mit verschärften Regeln durchgezogen hatten, dann war die Prügelattacke echt. Und hätte ich nicht von einem neuen brutalen Kriegsspiel gehört? Hättest du das? Herrgott, dieser ständige Nachhall in meinem Kopf begann mich fürchterlich zu nerven. Hätte ich? Wusste ich? Täte ich? Es war zum Verzweifeln, denn hier auf dem Waldboden wurde mir mit plötzlicher Deutlichkeit bewusst, dass ich nicht das Geringste wusste. Nichts über mich und auch nichts über diesen Wald oder das Land. Alles vor meinem Sturz war wie ausgelöscht, barg nur undurchdringliche Finsternis. Bis jetzt hatte ich alle Fragen zu mir und meinem Leben verdrängt, doch jetzt – durch diese nervende, fremde Stimme und das seltsame Geschehen mit den drei Männern – brachen diese Fragen mit aller Kraft aus mir heraus und überschwemmten mich mit einer Last, die mich noch mehr zu Boden zwang. Schwer atmend musste ich mich zwischen Laub und Moos hinlegen und zur Besinnung kommen. Am liebsten hätte ich laut geschrien ... um Hilfe oder wenigstens um eine Erinnerung. Denn ich wusste NICHTS. Nicht wer ich war, wo ich herkam oder wohin ich sollte. Lediglich mein Selbst spürte sich vertraut an, meine Jeans kamen mir bekannt vor, das T-Shirt ebenfalls. Ja, selbst die Tennisschuhe. Aber ich hatte nichts bei mir. Keinen Führerschein, kein Mobiltelefon, kein GPS-System. Verdammt noch einmal, wenigstens wusste ich, dass es solche Sachen gab! Trotzdem half mir das gerade nicht weiter. Nicht einmal eine Uhr hatte ich oder eben irgendeinen Hinweis, der mir etwas über meine Identität sagen konnte.
Ich begann zu schluchzen. Meine Lage war ja auch wirklich zum Verzweifeln und allmählich empfand ich sie als lebensbedrohlich. Wie, um Himmels Willen, sollte ich je wieder nach Hause finden, wenn ich nicht einmal meinen Namen wusste? Sofern ich überhaupt ein Zuhause hatte! Hier schien es ja nur weit und breit Wald zu geben und einen Weg, den ich nicht zu gehen wagte. Außer vielleicht in die entgegengesetzte Richtung. Die Männer hatten ausgesehen wie Klingonen, nur ohne Hirnhöcker und ohne Raumschiff. Oh! Ich kenne Star Trek, wie toll. Verärgert biss ich die Zähne zusammen, weil mir zwar eine überdrehte Fernsehserie einfiel, aber mein eigener Name nicht. Und der Wald, den ich nun schon zwei Tage lang durchstreifte, schien überhaupt kein Ende mehr zu nehmen, wirkte ursprünglich und wild, war von intensivstem Grün und von einer Lebendigkeit, die verwirrend war. Die Blätter schienen immer Kontakt zu suchen, die Waldgeräusche waren wie ein Teil von mir und die kleinen, bunten Lichter gestern vor dem Einschlafen hatten mich friedlich in den Schlaf gelullt. Es war ein ungewöhnlicher Wald, aber was nutzte mir das? Gesunde, reichhaltige Natur war ja schön, aber ich brauchte Zivilisation. Und der Rest kam mir vielleicht nur so übertrieben lebendig vor, weil ich noch immer verwirrt war ... über mein Erwachen, meinen Gedächtnisverlust und über meine permanente Orientierungslosigkeit. Ja, es war zum Verzweifeln und ... Mamma Mia, was hatte ich nicht bereits Hunger!
Da ich keine Uhr bei mir hatte, konnte ich die Dauer nicht abschätzen, die ich mit Heulen und Selbstmitleid verbrachte. Irgendwann einmal waren die Tränen versiegt und etwas in mir begann zu rebellieren, wollte sich nicht unterkriegen lassen. Gut, die Situation war trotzdem eine Katastrophe, aber ich wollte noch lange nicht aufgeben. Ich hatte Wasser in der Nähe und auch wenn ich nichts Essbares finden konnte, so würde ich trotzdem noch tagelang durchhalten. Genau aus dem Grund wollte ich den Weg nun lieber doch nicht nehmen, sondern mich weiter entlang des Baches durch den Wald arbeiten. So würde ich vermutlich auch keine Begegnungen mit irgendwelchen Rabauken oder Mördern riskieren. Außerdem, wer wusste schon, wohin der Weg hinführte und wann er mich wirklich zu Menschen bringen würde?
Also folgte ich dem Bach und stieg dieses Mal ohne lange zu zögern den steilen Hang hinunter. Lieber in den Abgrund fliegen, als unter die Hufe dieser bärtigen Monster geraten! Die fremde Stimme kicherte über meine Gedanken und ich biss mir vor Ärger erneut auf die Lippen. Ich würde schon noch dahinterkommen, was mit meinem Kopf nicht in Ordnung war und wenn es das Letzte war, was ich in meinem Leben noch ergründen würde. Die Erde war rutschig und dankbar fasste ich immer wieder einen Ast, der sich hilfreich als Rettungsseil darbot. In der Mitte des Abstiegs jedoch machte ich einen folgenschweren Fehltritt, landete prompt auf meinem Hosenboden und rutschte satte zwei bis drei Meter in die Tiefe. Ich quietschte, als würde ich auf einen Spieß aufgespießt werden und vergaß für einen Moment jede Vorsicht. Als ich schließlich mit den Füßen voran bei einem Felsvorsprung hängen blieb, spürte ich den Druck des Aufpralls wie eine große Welle bis in meinen Schädel hinauf, rief ein lautes „Scheiße!“ und blieb wimmernd liegen. Himmel, das tat vielleicht weh.
Stöhnend und jammernd verfluchte ich mich dafür, diesen glitschigen Abhang überhaupt hinabgestiegen zu sein. Eh nur bis zur Hälfte, lachte es dumm in meinem Kopf und ich fluchte gleich noch einmal, aber dieses Mal nur so laut, dass ausschließlich ich und diese verdammte Stimme es hören konnten. Schließlich war das hier kein Pappenstiel! Ich hatte mir zwar nichts gebrochen, aber einen ordentlichen Schlag abbekommen. Mein Herz hämmerte wild in meiner Brust und meine Jeans war am Hintern ein wenig eingerissen. Außerdem war ich mit Erde und Blättern beschmiert.
„Was bitte soll jetzt eigentlich noch passieren?“, rief ich laut und schaute dabei kopfschüttelnd zum Himmel hinauf. „Ich glaub du bist echt nicht ganz dicht“, murmelte ich und rechnete bei dieser Blasphemie fast schon mit einem Schüttregen, nur weil DAS auch noch dazu gepasst hätte. Aber der Regen blieb aus.
Wenigstens hatte ich mich nicht gröber verletzt, lediglich ein paar Kratzer am Unterarm eingefangen und die Hose am Allerwertesten ein bisschen aufgerissen. Langsam rappelte ich mich wieder in die Höhe und befreite mich so gut es ging vom Rest des Schmutzes. Die Tennisschuhe waren klarerweise nicht mehr weiß, meine Jeanshose stand immer noch vor Dreck und der Riss genau unterhalb meiner Pobacke hätte vermutlich delikat ausgesehen, wenn man ihn unter all dem Dreck überhaupt gesehen hätte. Eine recht große Spinne hatte ich auch abgefangen. Schwarz und haarig hockte sie am äußeren Rand meines Unterschenkels und starrte genau in meine Richtung. Ehe ich sie mit zwei Fingern und einem leisen Iiiihhh auf den Lippen wegkickte, sah sie mich eindeutig vorwurfsvoll an.
Kopfschüttelnd stand ich da und wunderte mich über meine seltsame Lage. Meine Einbildungskraft spielte mir Streiche und mein Pech hier war scheinbar legendär. Aber ich wollte nicht jammern, straffte meine Schultern und ging den Abhang weiter hinunter. Nur eben noch langsamer und vorsichtiger als zuvor. Als ich ohne weitere Zwischenfälle unten ankam hätte ich am liebsten laut gejodelt oder zumindest ein herzhaftes Heureka gebrüllt, weil das wenigstens zu den drei Männer gepasst hätte. Doch ich wollte nichts riskieren. Die Quietscherei beim Sturz war ja schon laut gewesen, also warum noch die restlichen Wildschweine aufscheuchen? Wildschweine oder Wildmänner? Genervt verdrehte ich die Augen, weil ich davon ausging, dass die fremde Stimme Augenrollen nicht so leicht mitbekam wie Gedanken. Und sie gab tatsächlich Ruhe.
Eigentlich war es seltsam, dass ich niemanden auf mich aufmerksam machen wollte, wo ich doch ganz klar Hilfe brauchte. Mittlerweile kam mir mein Verhalten richtig unlogisch und irrational vor. In einer verrückten Situation wie meiner sollte ich doch eigentlich alles daran legen gefunden zu werden. Und was tat ich? Ich schlich und purzelte durch den Wald, versteckte mich und stellte mich insgeheim auf einen längeren Aufenthalt im Grünen ein. So etwas wirkte nicht ganz normal, obwohl mein Instinkt mir mit Vehemenz die Richtigkeit meiner Entscheidung eintrichtern wollte. Die drei Rabauken hatten eben schweren Eindruck bei mir hinterlassen und auch wenn es rational nicht zu erklären war: Ich musste auf der Hut sein.
Als ich gerade hinter einem Strauch mein Geschäft verrichtete und meinen Blick streifen ließ, bemerkte ich in etwa 20 Metern Entfernung eine Bewegung in den Büschen. Ein roter Schopf bewegte sich im Gestrüpp und der Größe nach musste es sich dabei um einen Mann handeln. Automatisch ging ich noch etwas mehr in die Knie.
Und tatsächlich! Nicht unweit von mir taucht schließlich auch sein Oberkörper auf, so als ob ein riesenhafter Marionettenspieler ihn am Kopf in die Höhe gezogen hätte. Sein rotes, kurzes Haar leuchtete in der Sonne und sein Gesicht hatte durch sein kantiges Kinn eine gewisse Strenge, die jedoch kein Vergleich war zu der brutalen Ausstrahlung der drei Kerle vorhin. Außerdem war er glattrasiert und ungewöhnlich braungebrannt für einen rothaarigen Mann. Er wirkte zwar nicht übermäßig freundlich, aber von ihm schien nicht solch eine Bedrohung auszugehen wie von den Kerlen davor ... und das, obwohl er eigentlich genau auf mich zukam und ich meinen Hintern im Freien hatte.
Er hatte mich noch nicht gesehen, doch genau das würde sich ändern, wenn er seinen Kurs beibehielt. Sein Gang war federnd leicht und viel zu leise für einen Mann seiner Größe und Statur. Bei genauerem Hinsehen bewegte er sich wie ein Tier, geschmeidig wie eine Raubkatze. Vermutlich wäre er mir nicht einmal aufgefallen, wenn ich hier nicht – ähm – pausiert hätte.
Plötzlich blieb er stehen und starrte genau in meine Richtung, obwohl ich mich nicht bewegt hatte und er mich in dem Gebüsch unmöglich sehen konnte. Aber ich hielt den Atem an. Nur zur Sicherheit. Schließlich befand ich mich nicht gerade in der glücklichsten aller Positionen, so mit heruntergelassener Hose. Ich spürte Schweiß auf meiner Stirn und nestelte am Rand meiner Hose herum, um sie irgendwie unauffällig weiter hinaufzuziehen. Doch ohne Aufstehen war das ein Ding der Unmöglichkeit und Aufstehen hätte meine Position mit Sicherheit verraten.
Der Kerl verlor das Interesse an meinem Gebüsch und ging weiter. Aufs Erste sah er zwar nicht wie ein Räuber, sondern eher wie ein Jäger aus, aber mit Sicherheit musste ich auch vor ihm auf der Hut sein. Mit seinem seltsam grünen Gewand erinnerte er an Robin Hood nur ohne Hütchen. Also entweder war er auf einen Faschingsumzug oder einfach nur bekloppt. Mit Sicherheit aber gehörte er nicht zu meinem üblichen Umfeld, wo es eben Jeans und T-Shirt gab. Bei dem Mann hatte ich zwar nicht so ein beklemmendes Gefühl wie bei den drei Männern davor, aber ich wollte trotzdem nichts riskieren. Und ich konnte ja wohl kaum mit blankem Hintern darauf warten, dass er in mich hineinlief. Also begann ich einen vorsichtigen Rückzug, blieb mit dem Kopf eher unten, schob aber den Hintern etwas in die Höhe, um die Hose überzuziehen. Gleichzeitig versuchte ich langsam und möglichst leise einen Schritt nach hinten zu machen, woraufhin er abrupt seinen Schritt stoppte. Automatisch hielt auch ich inne und glaubte schon, mich verraten zu haben, als der Mann sich zur Seite drehte, mir den Rücken zuwandte und sich zum Bach kniete. Offenbar hatte er das Interesse an meiner Richtung verloren und wollte etwas trinken. Was natürlich die Gelegenheit war, mein Versteck gegen ein besseres zu tauschen. Schnell verschloss ich noch meine Hose, stieg vorsichtig aus meinem Gebüsch und verschanzte mich hinter einem dicken Baum, der von der Position des Mannes besser abschirmte. Das ganze Manöver benötigte nur ein paar Sekunden und gelang fast lautlos. Nachdem ich mich also in Sicherheit wähnte, blickte ich verstohlen hervor, um ihn zu beobachten. Er trank nicht nur, sondern wusch auch sein Gesicht mit einer wahren Spritzorgie. Danach fuhr er sich durch seine Haare und kämmte sie mit seinen Fingern nach hinten. Durch das Wasser wurden sie viel dunkler und plötzlich dämmerte mir, dass er versuchte sich zu tarnen. Seiner Haare waren es schließlich gewesen, die mir seine Position rechtzeitig verraten hatten, denn alleine mit seinem Tarngewand und den lautlosen Bewegung hätte ich ihn nie rechtzeitig gesehen. Kein Wunder also, dass er den verräterischen Glanz seines Haares mit Wasser zu dämmen versuchte. Das war allerdings eine recht unangenehme Überlegung, denn somit war klar, dass er jemanden in der Nähe vermutete. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich presste mich an die raue Rinde des Baumes. Nicht einmal mehr hinsehen getraute ich mich und hoffte nur noch, keine weiter Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Vermutlich war er so etwas wie ein Jäger oder einfach ein Mensch des Waldes und deswegen mehr als andere mit guten Sinnen gesegnet. Ich musste also ganz besonders vorsichtig sein.
Als ich schließlich die Anspannung nicht mehr aushielt und doch wieder vorsichtig zu der Stelle lugte, wo er sich eben noch gewaschen hatte, war er bereits verschwunden. So lautlos und schnell, dass ich nichts davon bemerkt hatte. Mir wurde heiß und kalt zugleich. Wohin ist er nur verschwunden? Die Antwort bekam ich leider schneller präsentiert als mir lieb war, denn von der anderen Seite des Baumstammes schnellte plötzlich eine Hand hervor, die mich am Oberarm packte und mit ungeheurer Wucht aus meinem Versteck riss. Vor Schreck schrie ich laut auf, doch schon kurz darauf wimmerte ich nur noch und ging beinahe in die Knie, weil die Wucht der Bewegung auch meinen lädierten Kopf erfasst hatte. Doch ich fiel nicht hin, wurde eisern festgehalten und blickte dabei in wütende, eisblau blitzende Augen. Mit einer gehörigen Portion Schreck hing ich in seinen Armen und starrte wie gelähmt auf seinen Mund, aus dem ein absolut unverständlicher Redeschwall rollte. Laut, ruppig, wütend – das beschrieb sein Benehmen wohl am besten. Dazu bellte er in einer Sprache die außer rollenden R’s überhaupt nichts zu bieten hatte und die Härte seines Griffs nur noch verbal unterstrich.
„Aua“, war schließlich das Einzige, was ich dazu sagen konnte, wobei ich versuchte mich aus seinem Griff zu befreien und ihm nebenbei auf die Zehen zu treten. Was schlicht ein lächerliches Unterfangen war und nur zur Folge hatte, dass er noch fester zupackte. Mein Kopf schmerzte und übel war mir auch, also schrie ich ihn einfach an. Was sonst hätte ich noch tun können?
„Ich verstehe Sie nicht, Sie Tölpel! Aua ... und lassen Sie mich gefälligst los!“ Damit versuchte ich wieder zu entkommen, diesmal mit windenden Bewegungen. Doch auch der Versuch scheiterte an der Brutalität seines Griffs und meinen rasenden Kopfschmerzen. Dafür wurde er natürlich noch wütender und ungeduldiger. Um jede weitere Gegenwehr zu verhindern, begann er mich heftig an den Schultern zu rütteln, was bei jemandem mit Gehirnerschütterung nicht ganz so clever war. Die darauffolgende Steigerung meiner Übelkeit konnte ich also nicht mehr wirklich im Zaum halten. Unmöglich!
Gerade noch rechtzeitig brachte er sich in Sicherheit, sobald er mein Würgen bemerkte. Dann musste ich mich auch schon übergeben, fiel vor Schwäche und Schwindel auf die Knie und hörte ihn hinter mir nur laut fluchen. Wenigstens verstand ich die Worte nicht, aber seine Stimme und der Tonfall waren schon Beleidigung genug. Ich würgte und würgte ... und glaubte gar nicht mehr aufhören zu können. Immer wieder kam Galle hoch, denn gegessen hatte ich ja schon lange nichts mehr. Als der Anfall dann doch endlich verebbte, überzeugt er sich, dass nichts mehr nachkam, packte mich von hinten fest am oberen Rand meines T-Shirts und schleifte mich ausgesprochen unsanft zum Bach. Dort warf er mich dann gleich als Ganzes hinein. Was schlicht der Gipfel der Frechheit war, aber vor allem meinem Körper absolut zu viel wurde.
Ich wollte nicht sterben, schon gar nicht in einem Bach, doch durch den Schock des kalten Wassers und durch das rücksichtslose Verhalten des Mannes verlor ich das Bewusstsein. Einen kurzen Moment spürte ich noch das Wasser über meinem Kopf zusammenschlagen, dann wurde alles unwichtig.
Hätte er mich nicht wieder herausgezogen, wäre ich vermutlich ertrunken. Spuckend und keuchend erwachte ich am Rücken liegend gleich neben der Stelle, wo er mich zuvor noch hineingestoßen hatte. Er kniete neben mir und hielt mit seiner riesigen Hand mein Gesicht wie in einem Schraubstock. Allerdings nicht um mich festzuhalten, sondern damit ich besser Luft holen konnte.
„Sie ... sie ... verfluchter ...“, kreischte ich und wollte mich erneut aus seinem Griff befreien, was ihm jedoch nur ein unverschämtes Grinsen entlockte.
„Ihr also tatsächlich sprecht Deutsch?“, fragte er mit einem stark kantigen Akzent und einer angehobenen Augenbraue, die wohl Interesse bekunden sollte. Mein Kopf dröhnte und die Übelkeit war noch nicht ganz vorbei, aber ein Nicken brachte ich zustande. Dann schloss ich wieder meine Augen und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen. Ich war übermüdet, verwirrt und wäre gerade eben fast ertrunken. Die Situation war ein Horror, aber der Mensch sprach wenigstens meine Sprache. Rüpelhaft und grammatikalisch verdreht, aber immerhin! Dennoch gab es für Hoffnung keinen Grund, denn sein Blick wurde noch eine Spur schmaler und mit seinem starken Akzent und ruppig wie zuvor fragte er weiter.
„Was ihr macht auf dieser Seite? Wer genau seid ihr? Wer schicken euch und was vorhaben?“ Es war eine ganze Flut furchtbarer Satzstellungen, die mich überforderte. Herrgott kann der Kerl nicht sehen, dass es mir nicht gut geht? Kurz überlegte ich eine Ohnmacht vorzutäuschen, um den herrischen Fragen auszuweichen, oder um einfach nicht mehr in seine kalten, beißenden Augen zu sehen. Doch so wie ich den Rüpel einschätzte, hätte er mich nur noch einmal in den Bach geworfen und so lange unter Wasser gedrückt, bis er die gewünschten Antworten erhalten hätte. Seine Augen waren wie blaues Eis und keine Freundlichkeit stand in seinem Gesicht – nur intensives Interesse und der absolute Wille, die ganze Wahrheit aus mir herauszuholen. Doch meine Augen tränten. Ich hatte keine Kraft mehr und schon gar nichts von dieser charakterlichen Härte, die er so locker aus dem Ärmel zauberte. Ich war müde, ausgehungert und einfach nur noch schwach. Meine Erschöpfung zollte ihren Tribut und mit der Hand, die er nicht gerade festhielt, schirmte ich meine Augen ab, um meine Tränen zu verbergen. Er stellte seine Fragen nicht noch einmal, gab mir auch keine Ohrfeige oder bedrohte mich, aber er sagte ein Wort, das mir augenblicklich Gänsehaut bescherte.
„Mitkooooommen“, zischte er und zog es dabei so verzerrt in die Länge, dass ich beinahe das Bedürfnis hatte zu lachen ... über seinen seltsamen Akzent, die irrwitzige Situation und meinen so unpassenden Auftritt in einer Welt, die mir so fremd vorkam, dass sie einfach nicht die meine sein konnte.
Ehe ich mich versah wurde ich auch schon in die Höhe gehoben. Mein Kopf erhielt einen neuen, unsanften Ruck und ich stöhnte leise auf. Dann fiel er wie von selbst nach vorne und landete beinahe sanft auf seiner Schulter. Wie auf Befehl fielen mir auch meine Augen zu und obwohl der Kerl nicht gerade mit Freundlichkeit gesegnet war, war ich doch froh, nicht auch noch laufen zu müssen. Er trug mich auf seinen Armen und ich fragte mich, was er eigentlich vorhatte und wie lange er mit meinem Gewicht auf den Armen durchhalten würde.
Ich schlief nicht wirklich, dämmerte nur so vor mich hin. Wahrscheinlich hätte ich mich gegen sein herrisches „Mitkoooommen“ wehren sollen, doch so ungehobelt der Kerl auch war ... vielleicht war er auch meine Rettung. Immerhin verstand er meine Sprache und nachdem er mich kein zweites Mal versucht hatte zu ertränken und mich nun beinahe fürsorglich vor sich hertrug, hatte ich guten Grund zur Hoffnung. Zumindest redete ich mir das ein. Ich war wirklich erschöpft – trotzdem simulierte ich ein wenig mehr Erschöpfung, als notwendig. Reden wollte ich nicht, gehen noch weniger und ins Gesicht sehen wollte ich ihm auch nicht. Also verhielt ich mich möglichst ruhig und stellte mich ein bisschen tot. Meine Lage war gar nicht so unangenehm. Er wärmte mich automatisch mit seinem Körper und roch dazu noch gut nach Wald, Beeren und Mann. In meinem dämmrigen Zustand hatte diese Mischung eine geradezu himmlische Note.
Ich träumte und bemerkte erst, dass dem so war als mich eine neuerliche, heftige Bewegung mit Schmerz erfüllte und hochschrecken ließ. Ein Pferd – offenbar hatte er es ganz in der Nähe geparkt und nach mir Ausschau gehalten. Vielleicht hatte ihn ja sogar mein peinlicher Abgang über den Steilhang angelockt. Laut genug gequiekt hatte ich ja bei meiner Rutschpartie.
Nicht so ruppig wie erwartet hievte er mich aufs Pferd und nahm dann hinter mir Platz. Das Pferd hatte keinen Sattel, nur ein Halfter – doch mit einer Hand hielt er mich fest und ich tat mein Bestes, um mich am Haar des Pferdes anzuhalten. Ich funktionierte automatisch, ohne nachzudenken und das hatte offenbar einen kurzen Geistesblitz zur Folge. Ich erinnerte mich. An etwas Nebensächliches wie mein Gewicht. Wahrscheinlich tat mir das Pferd leid, weil es zwei erwachsene Menschen tragen musste oder vielleicht hatte mich die Frage beschäftigt, wie lange er mich ohnmächtig vor sich hertragen könnte. 62 Kilo! schoss es mir wie selbstverständlich durch den Kopf, und natürlich hätte der Kerl das nicht lange durchgehalten! Schließlich konnte ich ihn nicht leiden. Egal wie interessant er roch. Trotzdem war es so, als ob ich mit diesem kleinen Geistesblitz eine kleine Lawine von Erinnerungen losgetreten hätte. Automatisch stellten sich ein paar Bilder vor meinem geistigen Auge ein: Ich hatte mittellanges, schwarzes Haar, grüne Augen mit einem goldbraunen Ring um die Pupille, volle Lippen bei etwas zu großem Mund, leichte X-Beine bei mittlerer Gesamtgröße und normaler Gewichtsqualität. Allem Anschein nach war ich nicht gerade Miss Wonderland, aber auch nicht wirklich hässlich.
Dieser kurze, aber intensive Erinnerungsschub stimmte mich zuversichtlich, dass ich mich mit der Zeit wieder vollständig an alles erinnern zu könnte. Ich wusste zwar immer noch nicht meinen Namen oder etwas über meine Vergangenheit, aber ich wusste zumindest schon wie ich aussah.
Ein kleines Holpern entfachte neuerlichen Schmerz in meinem Kopf und ließ mich aufstöhnen. Der rote Kerl hinter mir drückte mich fester an sich und brummte etwas Unfreundliches in seiner Sprache. Ja schon gut, dachte ich mir und zog eine Grimasse. Ich werde versuchen leise zu leiden. Doch so richtig gelang mir das nicht. Jede stärkere Bewegung des Pferdes erzeugte einen kleinen Trommelwirbel in meinem Kopf. Der Rotschopf ließ den dunkelbraunen Hengst langsam traben, aber das konnte auch nicht verhindern, dass immer wieder Hindernisse im Weg lagen oder das Pferd einfach ungleich auftrat. Während ich also leise wimmerte und er immer ungeduldiger wurde und furchtbar fluchte, gewöhnte ich mich an seinen festen Griff und wehrte mich nicht länger dagegen. Wobei „wehren“ in dem Fall mehr einer inneren Haltung entsprach, als einer wirklich körperlichen Aktion. Ich wurde also ein wenig lockerer und benutzte ihn langsam aber sicher als Lehne, was mir den Ritt erheblich erleichterte. Sein kräftiger Körper gab keinen Zentimeter nach, obwohl ich mir vorstellen konnte, dass es gar nicht so leicht war ein schlappes Bündel wie mich zu halten und selbst Gleichgewicht dabei zu wahren. Ach ja! Und das Pferd zu dirigieren, natürlich. Multitasking auf Robin-Hood-Art. Männer in Strumpfhosen, kicherte die fremde Stimme blöd und ich musste zum ersten Mal über den Irren in meinem Kopf grinsen.
Die Arme des anderen Irren im realen Leben waren kräftig und haarlos. Für einen rothaarigen Mann hätte er eigentlich überall Sommersprossen haben müssen, doch zuvor hatte ich in seinem Gesicht keine Andeutung davon gesehen und auch seine Arme waren gleichmäßig braun gebrannt, wie es sonst nur bei dunkelhaarigen Menschen der Fall war. Vermutlich hatte er irgendeinen Gen- oder Hautdefekt, wenn auch zu seinem Vorteil, wie ich grimmig feststellen musste. Um seine Handgelenke trug er zwei handbreite Lederbänder, die entweder Schmuck, Schutz- oder ordinäre Schweißbänder waren. Schöne Arme, dämlicher Kerl. Etwas an ihm wirkte immer noch unpassend – von seinem Verhalten einmal ganz abgesehen.
Letztendlich konnte ich jedoch nicht viele von diesen Gedanken wälzen, denn nach der ersten kurzen Ruhephase war ich einfach zu sehr damit beschäftigt nicht zu viel Angriffsfläche mit meinem Körper zu bieten. Trotzdem fungierte er als Lehne, wärmte mich und machte sich selber nass. Also nicht im Sinne von ... eh schon wissen, sondern weil mein Gewand ja noch nass war. Vermutlich dampften wir beide schon richtig, weil er gar solch eine Hitze absonderte. Mehr noch als das Pferd unter mir. Der Ritt erforderte also durchaus meine Aufmerksamkeit, um zu beobachten, zu spüren und natürlich, um mich zu distanzieren.
Er sprach kein Wort mehr mit mir und ich getraute mich aufgrund seiner grimmigen Präsenz auch nichts zu sagen. Sobald ich nämlich eine dumme Bewegung machte oder zu viel wimmerte, spürte ich schon seinen Unmut. Mit undefinierbaren Lauten gab er mir dann immer zu verstehen, wie sehr ihn meine Anwesenheit immer mehr zu nerven begann. Gerade mal für sein Pferd hatte er immer wieder etwas freundlichere, aber vor allem beruhigende Worte. Dabei gab er leise, schnelle Schnalzlaute von sich, die in den Ohren des Pferdes wohl wie eine Liebkosung klangen. Zumindest reagierte es immer mit freundlichem Schnauben und leichten Kopfbewegungen. Auf mich wirkte das, als hätte ihm jemand für diese kurzen Momente die Stimmbänder entfernt und durch neue, weichere ersetzt. Wenn er sein Pferd „Rrroorri...“ oder so ähnlich nannte, war keine Spur Groll und Donner zu hören, nur Zuneigung und vielleicht auch so etwas wie Mitleid. Schließlich musste der schöne Hengst noch eine weitere Last tragen. Das Gefühl das ich dabei empfand, war ganz klar Eifersucht und beschämte mich. Aber ich war schließlich auch nur ein Mensch und in meinem angeschlagenen Zustand hätten mir freundliche Worte oder Laute auch ganz gut getan. Egal, ob ich sie verstanden hätte oder nicht. Selbst von solch einem grobschlächtigen Kerl wäre ein bisschen Freundlichkeit ein Segen gewesen. Mistkerl, verfluchter. Meine Gedanken, nicht die fremde Stimme. Für den Rotschopf in Strumpfhosen war ich scheinbar ein Feind oder zumindest ein Störfaktor. Wobei das mit den Strumpfhosen natürlich nicht stimmte. Es war sicher eine recht normale Hose – In grün? Hallo? – die halt etwas enger geschnitten war. So ein bisschen schwul eben. Fremde Stimme, nicht meine Gedanken. Aber ich kicherte leise los. Was ein seltsames Brummen hinter mir auslöste und mich sofort wieder verstummen ließ. Sicher meinte der Kerl längst, dass ich verrückt war. Was mir auch schon egal war. Er sprach sowieso kein Wort und ich hätte mir lieber die Zunge abgebissen, als den ersten Schritt in Richtung Völkerverständigung zu tun.
Der Ritt war trotz des langsamen Tempos anstrengend und erforderte immer mehr meine Konzentration. Schweiß stand mir auf der Stirn und mein Schädel brüllte bereits wie kurz nach meinem Erwachen auf der kleinen Lichtung. Das rüpelhafte Benehmen und die Bekanntschaft mit dem Bach hatten meinen Zustand sicher auch noch mehr verschlechtert. Mir war jedenfalls gar nicht gut und es kostete mich alle Mühe, aufrecht zu bleiben oder nicht um eine Pause zu bitten.
„Geht noch?“, fragte er überraschend passend hinter mir und hielt das Pferd an, während er sich seitlich vorbeugte, um nach mir zu sehen. Die plötzliche Nähe seines Gesichtes erschreckte mich, weil seine Augen so verschmitzt funkelten und seine Backenknochen so hoch waren, dass sie koboldartig wirkten. Etwas an seinem Gesicht war befremdend anders, irgendwie fantastisch. Also nicht im Sinne von „fantastisch schön“, sondern im Sinne von „der Fantasie entspringend“. Wobei attraktiv war er schon auf seine Art. Der Mistkerl.
Meine Lider flatterten etwas, doch durch das Anhalten gelang es mir auch wieder meinen Magen zu beruhigen und besser Luft zu holen. Seinem seltsam fragenden Blick begegnete ich mit einem vorsichtigen Nicken. Je eher wir dort ankamen, wo er mich hinbringen wollte, desto eher könnte ich mich ausrasten und endlich schlafen.
Etwas wischte mir feucht übers Gesicht und ich prustete erschrocken los, was ihn offenbar amüsierte. Die rollenden Gluckslaute, die er von sich gab, konnten meiner Meinung nach nur Spott und Hohn bedeuten. Ich war ein wenig sauer über diese unvorhergesehene Attacke, musste aber zugeben, dass es ganz erfrischend war, mit einem feuchten Stofftuch abgewischt zu werden. Nachdem er noch einmal wischte und ich nicht mehr so empört reagierte, packte er den Fetzen weg, hielt mich gleich wieder wie gewohnt fest und flötete seinem geliebten Pferd wieder ein sanftes „Rrrorri rooor“ ins Ohr. Der Hengst reagierte sofort und setzte seinen Weg mit erfreutem Ohrgewackel fort.
Der weitere Ritt dauerte dann für meine Begriffe endlos lange, aber schließlich erreichten wir eine kleine, sehr massiv aussehende Holzhütte auf einer unscheinbaren Lichtung. Kein Dorf, keine Menschen. Nur eine (vermutlich seine) bescheuerte Holzhütte. Mein Bächlein ... dachte ich benommen, weil ich es irgendwo plätschern hörte und wusste, dass mich sein Verlauf wohl sowieso früher oder später genau hierher geführt hätte. Nur Tage später, halb verhungert und auf allen Vieren.
Ein zweiter, etwas jüngerer Mann erschien im Hütteneingang und gab einen überraschten, unverständlichen Laut von sich. Der Rote sagte etwas in seiner Sprache, dann reichte er mich dem anderen Mann hinunter. Der Zweite stand ihm in Kraft und Größe um nichts nach, war aber dunkelhaarig. Kurz wechselten die beiden Männer noch ein paar Worte, während ich wackelig auf den Beinen stand und versuchte nicht einfach umzufallen. Der Rotschopf wendete sein Pferd und verschwand dann hinter einer Baumgruppe, vermutlich um das Tier zu versorgen.
Der zweite Mann hatte zwar keine roten Haare, aber ebenso blaue, stechende Augen. Und er war um einiges attraktiver als der rote Rüpel. Ich nannte ihn halt so, weil ich seinen Namen ja nicht wusste. Die Bezeichnung gefiel mir aber recht gut, ebenso die schlichte Abkürzung RR. Das klang so ein bisschen nach rote Rüben oder Rübenrunzel. Ich grinste blöd und völlig unangebracht. Aber ich nahm mir vor, ihn in Gedanken vielleicht nur noch RR zu nennen.
Neugierig blickte mir der Dunkelhaarige zuerst ins Gesicht und begutachtete dann mit seltsamem Blick den nassen und lädierten Zustand meines Gewandes. Ich wiederum tat es ihm gleich und inspizierte sein Gesicht und Gewand. Hohe Backenknochen, aber nicht so dominant. Schöne Augen, volle Lippen. Auch er trug das gleiche grüne Gewand wie RR und auch an ihm kam es mir fremd und unpassend vor. Zumindest im Gegensatz zu Jeans und Tennisschuhen. Seine Schuhe waren ein wenig spitz zulaufend und ebenso grün wie seine Hosen und sein Oberteil. Als mein Blick weiter nach oben wanderte blickte ich in seine Augen, die nicht ganz so unfreundlich blitzten wie die seines Kollegen. Aber auch der Dunkelhaarige hatte einen arroganten und herrischen Zug um die Nasenspitze. In die Hütte bat er mich jedenfalls nicht.
Ich wankte etwas, doch er hielt mich am Oberarm fest und sagte etwas, das eindeutig wie eine Frage klang. Doch die konnte ich natürlich nicht verstehen. Also schüttelte ich langsam den Kopf, was ohne Schmerzen nicht möglich war. Ich stöhnte leise und hielt meinen Schädel fest. Dann versuchte ich es mit reden.
„Ich verstehe dich nicht, Mann in Strumpfhosen!“ Selbst wenn er, wie sein Kollege, ein wenig Deutsch sprach, konnte er das mit den Strumpfhosen sicher nicht begreifen und für mich war es einfach witzig. Außerdem hatte ich keine Lust auf übertriebene Freundlichkeit. Ich hatte Hunger, mir war kalt, mein Gewand war versaut und ich brauchte mindestens hundert Stunden Schlaf. Warum also standen wir hier noch rum?
„Oh! Das hat er mir gar nicht gesagt, dass Sie nur Deutsch sprechen!“ Seine Verwunderung war echt und sein Deutsch beinahe akzentfrei. „Das mit den Strumpfhosen ist vermutlich ein Scherz. Hat wohl mit Ihrer Kopfverletzung zu tun, wie?“ Er schaute mir frech in die Augen, aber ich gab ihm keine Antwort. Wie sollte ich ihm das auch mit Robin Hood und dem Klamaukfilm dazu erklären. „Na, da haben Sie ja einen weiten Weg hinter sich“, ergriff er neuerlich das Wort, weil ich offensichtlich nicht antworten wollte. „Jetzt bin ich aber auf Ihre Erklärung gespannt! Sehr sogar!“ Beim letzten Satz waren seine Augen schmaler geworden und auch bei ihm hatte ich plötzlich das Gefühl wie eine Spionin betrachtet zu werden. Zumindest schien sich das bisschen Freundlichkeit, das ich zuvor noch gewittert hatte, in Luft aufgelöst zu haben.
„Bitte!“ Ich verdrehte die Augen, weil mich das alles furchtbar anstrengte und nervte. „Kann ich etwas zu essen und zu trinken haben und dann ...“ Er machte große Augen, als wäre ich gerade die unverschämteste Person aller Zeiten. „... dann würde ich gerne schlafen.“ Sein darauf folgendes Prusten klang so empört und sein Blick war so erheitert, dass ich mich wirklich zu ärgern begann. Gott, sind die hier alle bescheuert? Es war doch wohl das Natürlichste der Welt einem verletzten Menschen erst einmal zu helfen. Künstlich, nicht natürlich. Die fremde Stimme in meinem Kopf laberte Unsinn, nervte mich nur noch mehr. Vermutlich hatte ich gerade Schaum vorm Mund, denn der Kerl sah mich immer noch an, als wäre ich von einem anderen Stern. Ich!
Eine laute Stimme unterbrach die seltsame Konversation zwischen mir und dem Dunkelhaarigen. RR kam zwischen den Bäumen hervor und blieb vor uns beiden stehen. Zuerst warf er einen Blick auf mich, dann drehte er sich zu dem anderen, der jetzt, wo sie so nebeneinander standen, doch etwas schmäler wirkte. Sie unterhielten sich lange, während ich mich mühte, auf den Beinen zu bleiben. Kurz überlegte ich sie mit einem lauten „Blablabla“ auszuspotten, weil ich es unhöflich fand, hier stehen zu müssen, während sie sich in einer Sprache unterhielten, die ich nicht verstehen konnte. Doch für Spott war ich zu feige. Die beiden waren auch so vertieft in ihr heftiges Gespräch mit den vielen rollenden R’s und langgezogenen Lauten, dass ich erst auf mich aufmerksam machte, indem ich mich langsam aber beständig bei dem Dunkelhaarigen anzulehnen begann. Wenn er mich schon festhielt, sollte er mir wenigstens das Stehen erleichtern ... dachte ich zumindest.
Wieder vernahm ich sein empörtes Prusten, reagierte darauf aber überhaupt nicht. Schließlich wurde ich unsanft gepackt und wieder hochgehoben. Erstaunt öffnete ich die Augen und blickte wieder in die von RR. Er trug mich in die Hütte, während der Dunkelhaarige noch ein paar tolle R’s hinterher rief. Was für eine dämliche Sprache, brummte es in meinem Kopf und dieses Mal konnte ich nicht unterscheiden ob es meine Stimme war oder die des Dämons in meinem Hinterkopf.
Ich wurde auf ein Strohlager gelegt. Nichts wirklich Komfortables, aber geradezu herrlich geeignet zum Schlafen. Die Augen fielen mir augenblicklich zu. Vermutlich seufzte ich auch.
„Ausziehen!“, dröhnte eine unangenehme Stimme direkt neben meinem Ohr und ich zuckte erschrocken zusammen.
„Wie bitte?“, flüsterte ich heiser und blickte dem riesigen Gesicht von RR ängstlich entgegen. Doch ehe ich weiter fragen konnte oder eine Antwort bekam, flog mir etwas Weiches mitten ins Gesicht. Der rote Rübenkopf hatte mir doch tatsächlich trockene Sachen hingeschleudert.
„Los! Machen schon!“, wiederholte er deutlich ungeduldiger und mit noch viel stärkerem Akzent „Sonst versauen Lager mit nassem Gewand!“ Gott, sein Deutsch war so elend schlecht ... und ich nicht gewillt, mich hier nackig zu machen. Empört sah ich ihn an, doch sein Blick war kalt wie Stahl, seine Größe beeindruckend. Der Mann reichte fast bis zur Decke. Warum er und sein Kumpel sich so derart kleine Hütten bauten, war mir ein Rätsel. Hier hatten ja noch nicht mal zwei von denen Platz, geschweige denn jemand Dritter.
Er schnalzte ungeduldig mit der Zunge und verzog seinen Mund grimmig. Also setzte ich mich langsam – sehr langsam – auf und blickte erst einmal in den düsteren, kleinen Raum in dem ich mich befand. Außer einer Truhe, einem Tisch mit zwei Hockern und dem notdürftig wirkenden Bettlager befand sich nichts hier drinnen. Es hätte auch kein noch so kleines Möbelstück zusätzlich Platz gehabt. Schon gar nicht, solange der Riese auch noch darin stand. Schneewittchen und die zwei Riesen! Ha, mal was Neues!
Ein zischender Ton meines Gegenübers trieb mich dazu an, etwas zu tun. Ich fing mit meinen Tennisschuhen an. Auch die waren noch nass, ebenso wie die Socken. RR stand weiterhin da und wirkte zunehmend ungeduldig. Aber ich hatte keine Lust mich hier vollkommen zu blamieren.
„Sie müssen sich umdrehen“, wisperte ich, während ich ganz geschäftig meine Socken von den Füßen rollte. Als keine Reaktion von ihm zu bemerken war blickte ich auf. Er stand vor meinem Lager und hatte beide Hände in die Seite gestemmt. Sein Blick streifte den meinen mit blanker Verachtung. Dabei kapierte ich immer noch nicht, was ich ihm eigentlich getan hatte. Als ich daraufhin jedoch meine Bewegungen stoppte und ihn penetrant ansah, wechselte sein arrogantes Verhalten in leichte Resignation. Mit zusammengebissenen Zähnen und Augen, die er gen Himmel rollte, drehte er sich schließlich um. Widerwillig und brummend, aber doch so lange, dass ich mühelos in das trockene Gewand schlüpfen konnte. Es war wie das seine, nur hatte es keine Hosen. Aber es war lange genug, dass es bis zu den Knien reichte. Offenbar gab es bei diesen Herren nichts anderes als grünen Stoff und diese dämlichen, einheitliche Schnitte.
So schnell es eben ging, schlüpfte ich unter die raue Decke und presste ein: „Geht schon!“ hervor. Er drehte sich langsam um und sein Gesicht hatte in der Zwischenzeit deutlich an Farbe gewonnen. Offenbar hatte er seine Wut so derart unterdrückt, dass sie sich nun in jede Pore seiner Haut abzeichnete. Ohne ein weiteres Wort hob er die nassen Sachen vom Boden und stapfte aus dem Zimmer. Vermutlich würde er die Sachen verbrennen oder seinem bescheuerten Pferd verfüttern. Was wusste ich, warum er sich so unfreundlich und brummig benahm. Obwohl ... immerhin hatte er mir seinen Strohhaufen zur Verfügung gestellt.
Kurz darauf kam der andere und stellte mir einen Teller mit – mmmmhh – duftender Suppe auf die Truhe. Vermutlich hatten sie draußen irgendwo eine Feuerstelle und einen Topf, denn an eine Mikrowelle konnte ich hier nicht gerade glauben. Dann ging auch er gleich wieder ohne ein weiteres Wort und versperrt doch tatsächlich die Türe. Na toll, dachte ich mit brummendem Schädel und einer ordentlichen Portion Wut im Bauch. Nun bin ich wohl ihre Gefangene.
Die Suppe schmeckte gewöhnungsbedürftig, doch sie war warm und umspielte nach den ersten Löffeln bereits liebevoll meine klein geschrumpelten Magenwände. Langsam breitete sich die wohlige Wärme von meinem Bauch über meinen ganzen Körper aus. Beim letzten Löffel war ich bereits so gesättigt, dass ich mich richtig wohl fühlte und nur noch nach Schlaf sehnte.