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Höhe 103, OdessaProvinz Donegal, Lyranische Allianz
16. April 3063
Archer stand dem Bild Oberst Rhonda Snords gegenüber, das über dem tragbaren Holoprojektor in seinem Befehlszelt schwebte. Sie war älter als er und strahlte Stärke aus.
»Oberst Snord. Ich weiß die Tatsache zu schätzen, dass Ihr Wilder Haufen sich an dem Angriff auf meine Truppen nicht beteiligt hat«, sagte er.
Sie verschränkte die Arme. »Hätte mein Wilder Haufen angegriffen, Lieutenant General, wäre von Ihnen niemand mehr auf Odessa. Lassen wir das Geplänkel, in Ordnung?«
Er lächelte ein wenig. Ihre geradlinige Art gefiel ihm. »Ich schlage vor, wir treffen uns zu einem persönlichen Gespräch. Einer formellen Unterredung. Das gibt uns Gelegenheit, die Karten aufzudecken. Um nicht lange herumzureden, ich weiß, Ihr Kontrakt läuft demnächst aus. Prinz Victor bittet mit Respekt um eine Gelegenheit, sich Ihre Dienste zu sichern.«
Snord blinzelte nicht einmal. »Angesichts der jüngsten Ereignisse halte ich eine solche Begegnung für angebracht. Doch ich will ebenso offen sein, Lieutenant General. Ich habe kein Interesse daran, die Einheit in eine Aktion zu verwickeln, die das VerCom gegen sich selbst hetzt. Ihre Ankunft hier auf Odessa hat meine Einheit in eine unangenehme Lage unserem derzeitigen Auftraggeber gegenüber gebracht und ihr Ruf leidet erheblich unter dieser Situation.«
Archer nickte. Für eine Söldnereinheit war der Ruf alles. Die offizielle Einstufung durch die Söldnerprüfungs- und Vertragskommission war die eine Sache, aber die Einschätzung in der Öffentlichkeit zählte ebenso viel. Beide konnten sich auf die Bilanz der Einheit auswirken, darauf, wie viel sie von einem Auftraggeber für ihre Dienste verlangen konnte. Danach, was er gestern Abend in den Nachrichten gesehen hatte, lastete Graf Fisk die Niederlage in der Schlacht Snords Weigerung an, zu kämpfen.
»Ich kann es kaum erwarten, Ihre Ansicht zu den
jüngsten Kämpfen zu hören.«
»Na schön«, sagte sie und lies die Arme sinken. »Ich schlage ein
Treffen heute Abend vor, sagen wir, um 21 Uhr? Zwischen unseren
beiden Lagern gibt es eine Möglichkeit - Moseby's Crossroads. Dort
können wir reden.«
Archer schaute hinüber zu Katya, die bereits die Karte aufrief, und
Sergeant Gramash, der ihr die Stelle zeigte. »Ich werde ein
Mitglied meines Nachrichtenstabs und einen Berater mitbringen«,
sagte Archer, der sich spontan entschloss, Gramash
mitzunehmen.
»Und ich werde einen meiner Bataillonsführer dabei haben«,
antwortete Snord. »Der Ort liegt abseits. Keine Gebäude. Wir
sollten in der Lage sein, unbelauscht zu reden.«
»Gut, ich freue mich.«
Rhonda Snord schlug die Hacken zusammen und verneigte sich kurz.
Archer antwortete, indem er kurz salutierte. Gegenseitige Ehrbezeugung.
Der Holoprojektor schaltete sich ab und das Bild verschwand. Er
starrte kurz auf die leere Stelle des Zimmers, dann stand Katya
Chaffee dort.
»Oberst Snord hat Recht«, stellte sie fest und senkte den
Compblock. »Der Treffpunkt liegt mitten im Nirgendwo.«
»Und?«, fragte er.
»Und falls irgendetwas schief geht, bist du weitab von jeder Hilfe.
Warum nimmst du nicht eine Lanze Mechs als Eskorte mit? Sie könnten
in der Nähe warten. Nur für den Fall eines Falles.« In ihrer Stimme
lag eine Spur von Besorgnis.
»Ich hatte vor, Hopkins als Fahrer mitzunehmen, falls dich das
beruhigt«, antwortete Archer. »Außerdem ist das eine formelle
Verhandlung. Snord würde auf keinen Fall irgendetwas versuchen. Die
SPVK würde den Wilden Haufen in der Luft zerreißen, falls sie gegen
das freie Geleit für Verhandlungen verstieße.«
»Natürlich.« Sie senkte leicht den Blick. »Ich wollte nur
sichergehen, dass du auf alle Eventualitäten vorbereitet
bist.«
Archer lächelte. »Das weiß ich, Katya. Und um ganz auf Nummer
Sicher zu gehen, übergebe ich dir den Befehl über das Regiment, bis
ich zurück bin.«
Rhonda Snord drehte sich zu den Offizieren um, die sich versammelt hatten, um sie zu verabschieden. »Es dürfte nur ein paar Stunden dauern«, erklärte sie. »In meiner Abwesenheit wird Kommandanthauptmann Snord die Einheit leiten. Ich will volle Streifen bis zum Rand der Avengers-Patrouillenkorridore. Sie sollen wissen, dass wir uns weder verkrochen haben noch verstecken, ganz egal, was die Medien erzählen.«
Einer der MechKrieger, ein ehemaliger Jadefalke namens Norris, trat vor. Der Wilde Haufen war wie eine Standardeinheit der Inneren Sphäre organisiert, aber Norris zog trotzdem den Titel Sterncaptain vor, und Rhonda ließ ihm das Vergnügen.
»Oberst Snord«, sagte er. »Sie spielen nicht ernsthaft mit dem Gedanken, die Seite zu wechseln, franeg?«
Sie schüttelte den Kopf. »Norris, du wirst feststellen, dass es während der Verhandlungen über Söldnerkontrakte nicht ungewöhnlich ist, wenn ein Kommandeur sich alle Optionen offen hält. Ich habe noch keine Entscheidung getroffen. Aber ich will hören, was er zu sagen hat.«
Norris' Verwirrung war offenkundig. Die ehemaligen ClanKrieger der Einheit hatten häufig Probleme mit dem Leben als Söldner. Er leistete gute Arbeit auf dem Schlachtfeld, aber die Details der Regimentsverwaltung machten ihm regelmäßig Schwierigkeiten.
»Kommandanthauptmann Sneede wird mich begleiten«, nickte Rhonda dem älteren Mann neben ihr zu. Sam ›Shorty‹ Sneede war ein Veteran aus den Tagen ihres Vaters. Obwohl er inzwischen längst pensionsreif war, hielt er noch immer einen Befehlsrang, auch wenn er auf Kampfeinsätze verzichtete. Für Rhonda war er das Bindeglied zu ihrem Vater, ein Teil der ursprünglichen Kompanie, in der sie als kleines Mädchen aufgewachsen war.
Sie wandte sich erneut zu den anderen um. »Es gilt weiter Alarmstufe Rot«, sagte sie und blickte jedem Einzelnen der Offiziere in die Augen. »Da draußen steht ein volles Regiment potentieller Feinde, also bleibt wachsam, Leute.«
Oberleutnant Shake trat vor. »Wir könnten eine Kompanie zur Sicherung abstellen, Gnä' Frau, als Kordon. Beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten wären wir zur Stelle.«
Rhonda winkte ab. »Ich weiß die Fürsorge zu schätzen, Marcus, aber Shorty und ich werden in BattleMechs sitzen. Was könnte schief gehen?«
* * *Der Rotunda-Scoutwagen fuhr langsam die Straße hinab, während die Sonne hinter einer Wolkenbank versank und die Landschaft in lilaviolettes Licht tauchte.
Archer saß auf dem Beifahrersitz, neben Hopkins, während Anton Gramash sich auf den Rücksitz gezwängt hatte, neben den Lademechanismus der KSRLafette.
»Wir hätten einen größeren Wagen nehmen
sollen«, murrte der junge Agent.
Am Steuer gluckste Hopkins. »Was ist, Jungchen? Nicht genug Platz
für deine Stelzen?«
»Das ist es nicht«, antwortete Gramash und veränderte die Position.
»Ich bin nur nicht begeistert darüber, eine halbe Stunde lang so
eingequetscht zu sitzen.«
»Das erinnert mich an jene Zeit damals auf New Avalon«, stellte
Hopkins mit einem Seitenblick auf Archer fest. »Du und der
strohblonde Kadett in dem Transporter, den ihr befreit hattet. Wie
hieß er noch?«
Archer kaute nachdenklich auf der Unterlippe. »Raymond Grace«,
sagte er schließlich mit einem Grinsen. »Und vergiss Andrea nicht.
Ich dachte, wir würden die MP nie abschütteln.«
Hopkins erinnerte sich daran, wie er mit Archers Schwester zu
dessen Abschlussfeier am NAIW gekommen war. Das waren die guten
Zeiten ihrer Jugend gewesen, wild, ungestüm und frei. Bevor Archer
in einen Krieg nach dem anderen gezogen war, und lange bevor er
sich auch nur hatte träumen lassen, er könnte seine Schwester
einmal an die machtbesessenen Pläne einer Katherine SteinerDavion
verlieren.
»Was ist aus ihm geworden?«
»Er ist zu den Davion Guards gegangen. Danach haben wir uns aus den
Augen verloren.«
Hopkins nickte. »Es waren so viele. Ich habe auch viele aus den
Augen verloren. Dich aber nie.«
Gramash ließ sich aus seinem Schlupfloch im Fonds des Wagens
vernehmen. »Stimmt es, dass Sie Lieutenant General Christifori
ausgebildet haben, Sergeant Major?«
»Das stimmt«, bestätigte Hopkins stolz. »Er hat eine Menge seiner
besten Tricks von mir.«
»Nicht nur die besten Tricks, alter Mann«, warf Archer ein. »Du
hast mir auch eine Menge Gemeinheiten beigebracht.«
Hopkins lachte. »Alles Teil des Soldatenlebens.«
Archer schaute auf die Uhr. »Wir kommen gut voran. Wir scheinen
sogar ein wenig zu früh zu sein.« Als der Rotunda sich einer Baumgruppe näherte, deutete er
zum Straßenrand. »Halt mal kurz an.«
»Siehst du was?«, fragte Hopkins, nahm Fahrt zurück und ließ den
Wagen ausrollen.
»Könnte man so sagen«, antwortete Archer, während er sich
abschnallte. »Ich sehe die Gelegenheit für eine Pinkelpause vor den
Verhandlungen.«
Darius schüttelte den Kopf. »Du wirst alt. Was ist - drückt das
Gewicht der Epauletten auf deine Blase?«
»Sehr komisch, Sergeant Major.« Archer öffnete die Tür und ließ die
kühle Abendluft in den Wagen. Die Sonne war nur noch ein schmaler
Lichtstreif am Horizont, als er ausstieg und zu den Bäumen ging.
Auf Odessa ging die Sonne erst spät unter.
»Lass den Motor laufen«, sagte er über die Schulter.
Er dachte noch immer an jene lange vergangene Nacht zurück, die
Hopkins erwähnt hatte. Archer war noch kaum mehr als ein
Halbwüchsiger gewesen, ein junger Offizier, frisch aus dem NAIW,
berauscht von Bier und Adrenalin. Er grinste und dachte an die
guten alten Zeiten, bevor er seine politische Unschuld verloren
hatte, als er in der Ferne hinter den Bäumen etwas bemerkte. Zuerst
glaubte er sich geirrt zu haben. Er schloss den Hosenschlitz und
kniff die Augen zusammen. Da hinten im Zwielicht bewegte sich
etwas, doch es war schwer zu sagen, was, oder wie weit
entfernt.
»Darius«, rief er, ohne den Blick abzuwenden. »Zeichnest du
irgendwas auf den Sensoren?« Er wartete auf eine Antwort, während
er weiter nach dem Ursprung der Bewegung suchte.
»Eine Menge Rauschen zeichne ich, sonst gar nichts«, antwortete der
Sergeant Major. »Das Kommsystem benimmt sich, als würde es
gestört.«
Gestört? Das ergab keinen Sinn. Archer
spürte, wie sein Puls sich beschleunigte und Adrenalin in seine
Adern floss. Als er sich wieder zum Rotunda umdrehte, fühlte er ein leichtes Vibrieren
des Bodens. Er war Soldat, darauf trainiert, dergleichen zu
registrieren.
Irgendetwas stimmte hier nicht. Irgendetwas stimmte ganz und gar
nicht.