24
Bei Cal angekommen erfuhr ich, dass der Fotograf mit der gebrochenen Nase Anzeige erstattet hatte. Inzwischen wurde wegen Verdacht auf Körperverletzung und Sachbeschädigung polizeilich nach mir gesucht, damit man mich befragen konnte.
»Kam gerade auf Sky News«, erzählte mir Cal. »Und ich hab’s auf dem Polizeiscanner gehört.« Er lächelte mich an. »Wahrscheinlich wollen sie auch mit dir reden, weil du jemanden live im Fernsehen verficktes Arschloch genannt hast.«
»Gibt es ein Gesetz, das das verbietet?«
»Weiß der Himmel. Willst du ’n Kaffee?«
Während Cal Kaffee machte, ging ich hinüber zum Sofa und setzte mich hin, zündete eine Zigarette an und starrte auf den stumm geschalteten Fernseher. Dort wurde gerade ein Bild von mir gezeigt, mit einem durchlaufenden Textband darunter: WUTAUSBRUCH BEI INTERVIEW: EHEMANN VON SERIENMÖRDER-OPFER WEGEN KÖRPERVERLETZUNG ANGEZEIGT. Kurz darauf wurde mein Bild durch ein Foto von Stacy ersetzt und danach erschien ein verschwommenes Polizeifoto von Anton Viner …
Ich nahm die Fernbedienung und stellte den Fernseher aus. »Also, was läuft da, John?«, fragte Cal, setzte sich neben mich und reichte mir eine Tasse Kaffee. »Diese ganze Sache mit Anton Viner … ist da was dran?«
Ich sah ihn an. »Vertraust du mir?«
»Ja, natürlich.«
»Und wenn ich dir sagen würde, ich weiß ohne jeden Zweifel, dass Anton Viner nicht Anna Gerrish getötet hat, kann dir aber nicht erklären, woher und wieso ich es weiß … könntest du das akzeptieren?«
Er zögerte einen Moment, dachte darüber nach, dann nickte er einfach. »Viner hat Anna nicht umgebracht?«
»Nein.«
»Und du weißt das ganz sicher?«
»Ja.«
»Okay«, sagte er. »Das reicht mir.« Er lächelte. »Und heißt das, wir sind wieder dran an dem Fall?«
Ich sah ihn an. »Ich hab das komische Gefühl, du hast ihn sowieso nie beiseitegelegt.«
Obwohl ich Cal vor zwei Wochen gesagt hatte, er solle sich von dem Fall zurückziehen, war mir die ganze Zeit klar gewesen, dass er es nicht tun würde – er war dazu schlicht und ergreifend nicht in der Lage. Ich wusste, dass er einfach weiter wühlen, weiter herumstochern, weiter Steine anheben musste, um zu sehen, was darunter war … und ich hatte natürlich recht, genau das hatte er getan.
»Dieser Charles Raymond Kemper, nach dem wir suchen, existiert nicht«, erklärte er mir. »Ich hab ihn durch mein automatisches Suchprogramm gejagt und bin auch noch selbst jede einzelne Datenbank durchgegangen, die infrage kam. Ich hab jede denkbare Kombination von Namen und Initialen benutzt, aber es war nichts zu finden, das irgendwie Sinn macht. Die Adresse in Leicester existiert nicht. Es gibt keine Geburtsurkunde von irgendjemandem mit dem Namen Kemper, die zu dem Geburtsdatum in den Unterlagen der Kraftfahrzeugzulassungsstelle passt.« Cal sah mich an. »Es gibt einfach nirgends eine Spur von unserem Charlie Kemper.«
»Dann ist der Führerschein also gefälscht?«
»Ja, aber es geht noch weiter. Gefälschte Ausweise sind ja keine Schwierigkeit und gefälschte Führerscheine ein Dreck. Aber sogar bei richtig guten Fälschungen komm ich normalerweise hinter die Falschinfo und finde irgendwelche kleine Spuren, die mich weiterbringen. Aber bei dem hier …« Er zuckte die Schultern. »Da ist einfach nichts da. Überhaupt nichts.«
»Verstehe, dann ist also der Name falsch und die Adresse auch … nur der Typ in dem Nissan, den gibt es wirklich.«
»Ja, schon …«
»Wir haben ihn auf den Überwachungsbildern gesehen.«
Cal sah mich an. »Aber die sind inzwischen weg.«
»Was ist weg?«
»Die gespeicherten Überwachungsfilme, das Zeug, was wir auf dem Rechner der Stadtverwaltung gefunden haben. Alles gelöscht.«
»Seit wann?«
»Seit ungefähr zehn Tagen.«
»Scheiße.«
»Ist kein großes Problem … ich hab noch Kopien, und wenn nicht jemand ganz genau weiß, was er tut, ist es so gut wie unmöglich, etwas vollständig zu löschen.«
»Wer könnte die Filme gelöscht haben?«
Cal zuckte die Schultern. »Jeder, der Zugang zu dem System hat.«
»Bishop?«
»Ich seh keinen Grund, wieso nicht.«
»Okay«, seufzte ich und zündete mir eine Zigarette an. »Was hast du noch?«
Er hatte Graham Gerrish ziemlich gründlich überprüft, erklärte er mir, sich in seinen Laptop gehackt und seine Vorliebe für sehr junge Mädchen bestätigt gefunden, womit immer klarer wurde, dass er Anna wohl tatsächlich missbraucht haben musste. Doch Cal hatte nichts entdeckt, was die Annahme stützte, Gerrish könne der Mann in dem Nissan sein.
»Ich glaube nicht, dass er seine Tochter umgebracht hat«, sagte Cal.
»Nein, er hat sie bloß gefickt.«
Cal sah mich an.
Ich sagte: »Ist es dir gelungen, Tasha zu finden?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie ist weg … ich bin letzte Woche ein paar Mal zur London Road runter, aber es gab nirgends eine Spur von ihr. Eines der anderen Mädchen hat mir erzählt, irgendwann hätte sie einfach ihr Zeug gepackt und wär abgehauen.«
»Hat sie gesagt, wo sie hin ist?«
»Zu ihrer Mutter nach Chelmsford. Offenbar fährt sie da immer hin, wenn sie versucht, clean zu werden. Ich hab in Chelmsford jemanden angerufen, den ich kenne, und ihn gebeten, die Adresse ausfindig zu machen.« Cal sah mich an. »Tasha ist wirklich dort.«
Ich nickte und fragte mich, ob Tasha von sich aus beschlossen hatte, die Stadt zu verlassen, oder ob jemand sie überredet hatte zu gehen.
»Was ist mit Bishop?«, fragte ich Cal. »Hast du ihn mal durchgecheckt?«
»Noch nicht … ich hab ein automatisches Suchprogramm vorbereitet, das ich nur noch starten muss, aber ich wollte nichts unternehmen, bevor ich von dir höre.« Er zündete eine Zigarette an. »Ich bin zwar ziemlich überzeugt, dass meine Software sicher ist, doch Bishop ist nicht dumm, er hat wahrscheinlich alle möglichen Alarmsysteme installiert, und wenn er rausfände, dass jemand in seinem Leben herumwühlt …« Cal sah mich an. »Aber wie gesagt, ich muss das Programm bloß noch starten.«
»Das heißt, du drückst einfach auf einen Knopf oder so?«
»Ja, so ähnlich …« Cal lächelte. »Es ist mein eigenes Software-Programm – du musst nur einen Namen eingeben und alle Daten, die du über die Person hast, den Rest macht die Software. Wenn es etwas zu finden gibt – egal wie unwichtig –, dann findet es das Programm. Und es schafft das tausendmal schneller, als ich es könnte.« Er lächelte wieder. »Wenn es nicht ganz so illegal wäre, könnte ich es vermarkten und ein Vermögen verdienen.«
»Gut«, sagte ich. »Aber ich denke, dass du auch so ein bisschen Geld damit machst, oder?«
»Kann mich nicht beklagen«, antwortete er grinsend.
»Wie lange dauert es, wenn du das Programm gestartet hast?«
Er zuckte die Schultern. »Das hängt davon ab, wie viele Informationen da draußen rumgeistern … es können ein paar Stunden sein, können auch ein paar Tage werden.«
»Dann starte es am besten jetzt.«
»Bist du sicher?«
»Ja … alles in dieser Sache führt auf Bishop zurück. Anna Gerrish, Viner, ich … alles. Ich will wissen, wieso. Ich will alles wissen, was es über ihn gibt. Ich will wissen, was dieses Arschloch verheimlicht.«
Cal stand auf, ging an seinen Arbeitstisch und drückte eine Taste auf einem seiner Laptops. Er beobachtete einen Moment lang den Bildschirm, dann holte er ein iPhone aus seiner Tasche und drückte blitzschnell auf dem Display herum, danach drehte er sich wieder zu mir um. »Okay, das war’s«, sagte er und steckte das iPhone zurück in die Tasche. »Wenn das Programm etwas findet, schickt es das auf mein iPhone. Also … was willst du jetzt machen?«
Ich sah ihn an. »Was hältst du von einer Fahrt zum Eastway?«
Ich hatte zwar nicht gerade Lust, aufs Polizeirevier zu gehen, aber andererseits war es mir auch zu dumm, ständig damit rechnen zu müssen, dass ich wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung aufgegriffen würde. Außerdem war mir klar, dass ich sowieso eine Vorladung bekäme, und je länger ich es hinauszögerte, desto schlimmer würde es wahrscheinlich werden.
Cal war auch nicht scharf auf einen Besuch bei der Polizei, doch nachdem ich ihm beteuert hatte, dass er ja nicht mit reinkommen müsse, sondern mich nur dort rauslassen und später wieder abholen sollte, war er einverstanden.
»Ist nicht so, dass ich mich nicht mit dir sehen lassen will, John«, erklärte er mir, als wir mit einem seiner diversen Ford Mondeos losfuhren. Wie alle andern war auch dieser hier äußerlich völlig unscheinbar – einfach ein stinknormaler schwarzer Mondeo –, aber innen und unter der Motorhaube war er mindestens so gut ausgestattet wie ein Wagen, der das Zwanzigfache kostete. »Ich meine«, fuhr Cal fort, »du weißt, dass ich alles für dich tun würde …«
»Ja, das weiß ich.«
»Es ist nur … na ja, die Polizei und ich …«
»Schon gut, Cal«, sagte ich. »Du musst es mir nicht immer wieder erklären.«
»Ich glaube, ich bin allergisch gegen sie.«
»Du bist allergisch gegen die Polizei?«
»Ja … sobald ich in ihre Nähe komme, fängt mein Herz an zu rasen und ich schwitz wie ein Stier.«
»Liegt wahrscheinlich bloß an den Drogen.«
Er sah mich an. »Wenn ich es hinbekäme, einfach auf dem Parkplatz zu warten, bis du zurück bist, würde ich’s tun. Das weißt du doch, oder?«
»Ja«, sagte ich geduldig. »Das weiß ich.«
»Aber die schauen doch bestimmt immer aus ihren blöden Fenstern runter. Scheiß Bullen … als ob sie nichts Besseres zu tun hätten. Außerdem haben die ja jetzt auch diese verdammte automatische Kennzeichenerfassung. Nicht dass sie über mein Nummerschild irgendwas rauskriegen würden …«
»Cal?«, sagte ich.
»Was?«
»Halt einfach die Klappe und fahr, ja?«
Während er beim Fahren noch ein paar paranoide Flüche in sich hineinmurmelte und ich die Scheibe herunterließ und eine Zigarette anzündete, klingelte mein Handy. Ich hatte es am Morgen wieder angestellt in der Hoffnung, dass die Reporter inzwischen aufgegeben hätten, die Nummer zu probieren, und bis jetzt hatte ich auch noch keine unerwünschten Anrufe erhalten. Trotzdem sah ich ganz genau auf das Display, ehe ich ein Gespräch annahm. Doch als ich diesmal schaute, las ich den Namen LEON.
Ich drückte die Taste. »Hallo, Leon.«
»John«, sagte er. »Kann ich mit dir sprechen?«
»Ja, ich bin mit Cal zusammen.«
»Gut, pass auf, ich habe mich umgehört wegen Bishop und dem Gerrish-Fall. Da läuft tatsächlich irgendwas, aber niemand scheint zu wissen, was. Was immer Bishop vorhat, er lässt sich nicht in die Karten gucken. Doch soweit ich es beurteilen kann … und du musst verstehen, dass vieles davon Spekulation ist, John, ich hab einfach nicht genug Informationen, um irgendwas untermauern zu können… aber es scheint, als ob der einzige Hinweis, der Viner mit Anna Gerrish in Verbindung bringt, eine winzige DNA-Probe ist, und ich würde ihr nicht allzu viel Glauben schenken.«
»Wieso nicht?«
»Der Pathologe, Gerald McKee … hast du schon mal von ihm gehört?«
»Nein.«
»Das ist der Pathologe, den Bishop immer nimmt, wenn er etwas auf seine Weise geregelt haben will.«
»Du meinst, der Pathologe ist korrupt?«
»Nicht wirklich«, seufzte Leon. »Er ist einfach ein trauriger alter Mann, der ein paar persönliche Probleme hat. Probleme, die Bishop auszunutzen versteht. Ich bezweifle sehr, dass McKee bei irgendwas, das er für Bishop tut, tatsächlich lügt, aber er ist durchaus bereit, Dinge der Einfachheit halber mal zu übersehen oder die Wahrheit ein bisschen zu dehnen, wenn es seinen Interessen entgegenkommt.«
»Aber McKee macht doch die DNA-Tests sicher nicht selbst, oder?«
»Nicht direkt, nein. Die Tests werden in einem forensischen Vertragslabor gemacht und ich glaube nicht mal, dass Bishop da seine Finger drinhat. Aber trotzdem … nun ja, ich würde jedenfalls keinem Beweis trauen, der durch die Hände von Bishop und McKee gegangen ist.«
»Und etwas anderes, das Viner mit Anna Gerrish in Verbindung setzt, gibt es nicht?«
»Soweit ich weiß, nein. Es ist mir nicht gelungen, eine Kopie des Autopsieberichts zu bekommen, und keiner, mit dem ich gesprochen habe, hat ihn wirklich gesehen. Aber die vorherrschende Meinung scheint zu sein, dass es nur sehr wenige Ähnlichkeiten zwischen dem Mord an Anna und dem an Stacy gibt.« Leon zögerte einen Moment. »Ist es in Ordnung für dich, dass wir darüber sprechen, John?«
»Ja, red weiter.«
»Nun, die Stichwunden passen schon mal nicht zusammen. Anna wurde mit einer anderen Art von Messer erstochen als Stacy. Außerdem ist Anna nicht erwürgt worden … und sie wurde auch nicht vergewaltigt.«
Ich musste ein Mal tief durchatmen, um mich zu beruhigen. »Das heißt, wenn die DNA nicht wäre, gäbe es keinen Grund, Viner zu verdächtigen?«
»Keinen einzigen.«
Ich schwieg und versuchte, die Teile zusammenzusetzen – Bishop, Viner … Anna, ich … Viner, Stacy … Viner, ich –, doch ich begriff einfach nicht, wie sie zueinanderpassten. Ich konnte nur mit Mühe erkennen, wie sich zur Not alles irgendwie passend machen ließ – so wie man auch ein Puzzle mutwillig mit dem Hammer zusammenkriegen kann.
»Wir sind gleich da, John«, sagte Cal.
Ich nickte, wischte über die beschlagene Autoscheibe und schaute hinaus auf die Samstagmorgen-Shopper, die über den Gehweg huschten, die Köpfe gegen den Wind geneigt, die kalten Hände tief in die Manteltaschen vergraben. Wir waren auf der North Street, genau gegenüber vom Polizeipräsidium am Eastway-Kreisverkehr.
»John«, hörte ich Leon sagen. »Bist du noch da?«
»Ja … tut mir leid, Leon«, sagte ich. »Ich hab nur gerade überlegt …«
»Pass auf, John, ich muss jetzt Schluss machen.«
»Ja, ich auch.«
»Ich sag dir Bescheid, wenn ich noch etwas rausfinde.«
»Danke, Leon.«
»Kein Problem.«
Als ich das Gespräch beendete und das Handy wieder in meine Tasche steckte, sagte Cal: »Ist es okay, wenn ich dich hier rauslasse?«
»Ja, in Ordnung«, antwortete ich.
Er hielt ungefähr fünfzig Meter vor dem Polizeirevier am Straßenrand an. »Ruf mich einfach an, wenn du fertig bist«, sagte er. »Dann komm ich und hol dich ab.«
»Gut.«
»Nimm die Nummer, über die ich dich gerade angerufen habe.«
»Was?«
Er hielt sein iPhone hoch. »Ich hab dich gerade angerufen, also ist die Nummer in deinem Anrufverzeichnis. Es ist eine neue. Wähl einfach die Nummer, lass es zweimal klingeln und dann leg wieder auf. So weiß ich, dass du es bist. Alles klar?«
Ich lächelte ihn an. »Ja …«
»Was ist daran so lustig?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nichts …«
»Findest du mich paranoid?«
Ich zuckte die Schultern. »Ist nichts verkehrt daran, paranoid zu sein.«
»Verdammt wahr«, sagte er.
Als ich aus dem Wagen stieg und Cal hinterherblickte, glaubte ich einen silbergrauen Renault zu sehen, der gerade von der North Street auf den Eastway-Kreisverkehr einbog. Doch nachdem ich mir den Regen vom Gesicht gewischt hatte, gelang es mir nicht mehr, noch einen Blick auf das Nummernschild zu erhaschen, denn der Wagen war bereits nach links abgebogen und fuhr von mir fort Richtung Stadt. Das Einzige, was ich noch durch den Regen hindurch erkannte, war ein verschwommener Schemen, der hinter einem Bus verschwand. Ich war mir nicht einmal sicher, ob es tatsächlich ein Renault gewesen war, ganz zu schweigen von dem Renault.
»Wer ist hier eigentlich paranoid?«, murmelte ich vor mich hin, während ich mich umdrehte und auf das Polizeirevier zuging.
Als ich dem Beamten am Empfang sagte, wer ich sei und warum ich käme, starrte er mich nur ein, zwei Sekunden mit offenem Mund an und ich konnte fast die Rädchen in seinem Kopf surren hören, als er die Nachricht verbuchte, verarbeitete, verdaute und schließlich eine Antwort herausbrachte.
»Einen Moment bitte«, erklärte er mir und griff nach dem Telefon.
Zehn Minuten später saß ich in Bishops Büro und schaute seine kahlen weißen Wände, seinen leeren schwarzen Schreibtisch und seinen kargen beigen Teppich an … es war einer der leersten Räume, die ich je gesehen hatte. Bis auf Bishop selbst, der mir gegenüber an seinem Schreibtisch saß, gab es nichts von ihm in dem Büro. Keine Fotos, keine Erinnerungsgegenstände, keine Urkunden … nichts. Genau genommen war das Einzige, woran man erkennen konnte, dass es tatsächlich Bishops Büro sein musste, das Türschild, auf dem DCI M. Bishop stand.
»Wollen Sie Kaffee oder irgendwas?«, fragte er mich.
»Nein, danke.«
Er schniefte. »Nun ja, es ist alles geklärt. Sie müssen sich keine Sorgen machen.«
»Wie bitte?«
»Die Anzeige wegen Körperverletzung, der Fotograf … ich habe mit ihm gesprochen. Er hat seine Beschwerde zurückgezogen und macht auch sonst keine Ansprüche geltend.«
»Oh … gut, das war’s dann?«
»Das war’s.«
Fast hätte ich Danke gesagt, aber ich brachte es einfach nicht fertig. Ich konnte mich bei diesem Mann nicht bedanken, nicht in tausend Jahren. Außerdem bezweifelte ich sehr, dass er das, was er gemacht hatte – was immer es gewesen sein mochte –, meinetwegen getan hatte.
»Haben Sie die Pressekonferenz gesehen?«, fragte er mich.
»Ja.«
»Was sagen Sie?«
»Wozu?«
»Haben Sie immer noch Zweifel wegen Viner?«
Ich zuckte die Schultern. »Was soll ich dazu sagen?«
»Sie könnten meine Frage beantworten.«
»Warum fragen Sie mich das? Ich weiß ja nun überhaupt nichts. Sie sind doch der, der alle Antworten hat.«
Er lächelte. »Gestern haben Sie das aber anders gesehen.«
»Na ja, ich –«
»Sie haben gesagt, es sei unmöglich, stimmt’s? Als ich Ihnen erzählte, dass Viners DNA an Anna Gerrish gefunden wurde, haben Sie gesagt, das sei unmöglich.«
»Und?«
»Wie kommt es, dass Sie Ihre Meinung geändert haben?«
»Ich hab meine Meinung nicht geändert.«
»Sie glauben noch immer, dass es unmöglich ist?«
»Schauen Sie«, antwortete ich und versuchte ruhig zu bleiben. »Sie tauchen plötzlich aus dem Nichts auf und erklären mir, dass der Mann, der meine Frau vergewaltigt und umgebracht hat, unter Verdacht steht, nicht einfach noch eine andere Frau ermordet zu haben, sondern ausgerechnet die Frau, die ich angeheuert wurde zu finden – die Frau, deren Leiche ich tatsächlich gefunden habe … ich meine, verdammt … was erwarten Sie, wie ich darauf reagiere?«
Bishop betrachtete mich einen Moment, blickte mir fest in die Augen und sagte dann mit einem selbstzufriedenen Kopfnicken: »Okay, dagegen lässt sich nichts einwenden.« Schließlich schenkte er mir ein Lächeln, das wohl sagen sollte: Okay, die Formalitäten wären erledigt, jetzt noch die üblichen Phrasen hinter uns bringen und dann können wir uns verabschieden. Aber es funktionierte nicht bei ihm. Sein Lächeln war immer gleich: kalt, verkniffen, ohne Gefühl oder Bedeutung.
»Und«, sagte er lässig. »Was haben Sie jetzt vor? Wieder zurück an die Arbeit, nehme ich an?«
»Wahrscheinlich nicht. Es ist nicht gerade einfach, privat zu ermitteln, wenn einem die ganze Zeit ein Haufen Reporter hinterherläuft. Die sind irgendwie hinderlich.«
»Klar«, sagte er kopfnickend, als würde es ihn interessieren. »Natürlich … muss ziemlich schwierig sein.«
»Ja, ist es.«
»Wär vielleicht eine gute Gelegenheit, mal zu pausieren. Weg von dem Ganzen, irgendwohin.«
»Finden Sie?«
Er sah mich frostig an. »Scheiße, verdammt, ich versuche nur, Ihnen zu helfen.«
»Ja …«, sagte ich und stand auf. »Gut, ich werd drüber nachdenken. Wollen Sie informiert werden, wenn ich vorhabe, die Stadt zu verlassen?«
»Muss nicht sein.«
Mir fiel nichts weiter ein, was ich noch sagen könnte, deshalb drehte ich mich einfach um und wollte gehen.
»John?«, hörte ich ihn sagen.
Ich blieb stehen. »Was?«
»Haben Sie nicht etwas vergessen?«
Ich drehte mich wieder zurück. »Ich glaube nicht.«
»Sie wollen mich nichts fragen?«
»Was denn?«
»Über Viner vielleicht?«
»Was soll mit ihm sein?«
»Wollen Sie gar nicht wissen, ob wir ihn schon gefunden haben?«
Scheiße, dachte ich.
»Haben Sie?«, fragte ich.
»Nein, noch nicht.« Er starrte mich an. »Aber Sie sind der Erste, der es erfährt … wenn wir ihn finden. Dafür werde ich persönlich sorgen.«
DC Wade wartete vor Bishops Büro auf mich, und während ich ihm den Flur entlang zum Aufzug folgte, überlegte ich, ob Bishop irgendwie Bescheid wusste über das, was ich mit Viner gemacht hatte. Ob er einen Verdacht hatte oder bloß vage herumstocherte … oder ob er mich einfach nur provozieren wollte. Es war ganz klar ein Fehler gewesen, ihn nicht nach Viner zu fragen, aber ich glaubte kaum, dass Bishop allein daraus etwas Bestimmtes schlussfolgern konnte. Es sei denn, er verdächtigte mich sowieso. Aber wenn er auch nur die leiseste Vermutung hatte, ich könnte Viner getötet haben, warum zur Hölle wollte er ihm dann den Mord an Anna Gerrish in die Schuhe schieben? Falls er das überhaupt wirklich tat – das vermutete ich ja bloß.
Während wir uns der Aufzugtür näherten, zog ich mein Handy heraus und wählte Cals neue Nummer. Ich ließ es zweimal klingeln und steckte gerade das Handy wieder in die Tasche, als Cliff Duffy rechts von mir aus einer Tür trat.
»Hallo, John«, sagte er, kam direkt auf mich zu und reichte mir die Hand. »Schön, dich zu sehen. Wie geht’s so?«
Er sah mir direkt in die Augen, während ich seine Hand schüttelte, was ein bisschen ungewöhnlich bei Cliff war, doch dann spürte ich etwas in seiner Hand – vermutlich ein Stück Papier – und begriff, dass er mir eine Nachricht zusteckte.
»Alles okay?«, fragte er, während er weiter meine Hand schüttelte.
»Ja«, sagte ich und nickte mit dem Kopf, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich kapiert hatte.
Er wandte sich an DC Wade und fragte: »Ist der DCI in seinem Büro?«
Und als DC Wade ihm antwortete: »Ja, aber er ist beschäftigt«, nutzte ich die Gelegenheit, Cliffs Hand loszulassen und die Nachricht in meine Tasche gleiten zu lassen.
Ich schaute die Nachricht nicht an, bis ich sicher in Cals Wagen saß und wir vom Eastway wegfuhren, zurück Richtung Stadt.
»Was ist das?«, fragte Cal, als ich den Notizzettel auseinanderfaltete.
»Weiß ich noch nicht«, sagte ich, zündete eine Zigarette an und fing an zu lesen.
John. Hab gehört, wie B heute Morgen um 10 Uhr Privatgespräch mit einem gewissen Ray geführt hat. Dabei fiel dein Name. B wütend auf R wegen irgendwas, konnte aber nicht hören, weswegen. B hat sich mit R für heute 19 Uhr am Turk’s Head an der Roman Road verabredet.
Viel Glück. C.
»Was hast du heute Abend vor?«, fragte ich Cal.
»Wieso?«, fragte er zurück und warf einen Blick auf den Zettel in meiner Hand.
Ich lächelte ihn an. »Charles Raymond Kemper … könnte sein, dass wir ihn gefunden haben.«