21

Als ich aufwachte, war es dunkel und es dauerte ein, zwei Minuten, bevor ich wusste, wo ich war, welchen Tag wir hatten, wie spät es war … wieso ich im Bett lag, vollständig angezogen, mit schmerzendem Schädel, staubtrockenem Mund und einem vertraut bitteren Geschmack hinten in der Kehle … doch dann erinnerte ich mich.

»Scheiße«, stöhnte ich und schaute auf die Uhr, die neben dem Bett stand.

Die LED-Ziffern zeigten 19.32 Uhr.

»Verdammt.«

Ich stand auf, ging ins Bad und dann in die Küche, um mir ein Glas Wasser und vier Paracetamol zu holen. Ich zündete eine Zigarette an und ging ins Wohnzimmer. Die Lampen waren aus, die Vorhänge geschlossen (hatte ich das gemacht?). Ich fasste nach dem Lichtschalter … und brach die Bewegung plötzlich ab. Langsam erinnerte ich mich jetzt an alles, und als ich durch die Dunkelheit zum Fenster hinüberwankte, hörte ich mich Bridget betrunken etwas vorlallen von wegen Presse und Fernsehleuten – nachdem ihnen Bishop einen Knochen hingeworfen hat, werden sie alle hinter mir her sein wie die Hunde, hatte ich ihr erzählt. Ich kann die Telefone abgeschaltet lassen und mich von meinem Büro fernhalten, aber über kurz oder lang werden sie auch hier aufkreuzen …

Ich stellte mich seitlich ans Fenster, zog die Kante des Vorhangs zurück und warf einen Blick hinaus. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lungerte unter einer Straßenlaterne am Ende der Fabrikmauer eine Gruppe von Reportern rum, auch ein Fernsehteam war dabei. Ich beobachtete sie eine Weile, dann schloss ich den Vorhang wieder und trat vom Fenster zurück.

»Scheiße.«

Ich blieb eine Minute regungslos stehen und verdaute, was ich gesehen hatte, dann öffnete ich noch einmal zentimeterweise den Vorhang und schaute erneut. Ich hatte den Eindruck, dass sie schon eine ganze Weile dort standen, was entweder bedeutete, sie warteten darauf, dass ich herauskam, oder aber sie wussten nicht, dass ich hier war, und warteten auf meine Rückkehr. Da einige immer wieder die Straße entlangschauten, nahm ich Letzteres an. Wahrscheinlich waren sie vor ein paar Stunden gekommen, hatten geklingelt und gegen die Haustür gehämmert, aber ich war zu betrunken gewesen, um es mitzukriegen. Und weil die Vorhänge zu waren und niemand öffnete, hatten sie wohl angenommen, ich sei unterwegs.

Ich überlegte, wo Bridget war …

Und was sie von alldem hielt.

Und von mir.

Was dachte sie über mich?

Und war mir das wichtig?

Ich ging hinaus auf den Flur, stellte mich an den Fuß der Treppe und starrte hinauf in die Dunkelheit. Kein Licht, keine Geräusche …

»Bridget?«, rief ich.

Keine Antwort.

»Bridget?« Diesmal rief ich es etwas lauter.

Immer noch keine Antwort. Und auch kein Bellen. Was bedeutete, dass sie entweder mit Walter unterwegs war oder aber nur so tat, als wäre sie fort. Weder im einen noch im anderen Fall lohnte es sich, nach oben zu gehen.

Ich kehrte wieder zurück in meine Wohnung, zog Schuhe und Mantel an, dann ging ich hinten hinaus in den Garten. Die Nacht war kalt, die Luft feucht und düster unter dem sternenlosen schwarzen Himmel, und als ich den Weg entlang zur hinteren Gartenmauer lief, merkte ich, dass es ziemlich heftig geregnet haben musste, während ich schlief. In der Dunkelheit tropfte es aus den Büschen, der Weg war übersät von den Rückständen eines schweren Wolkenbruchs – ausgewaschene Erde, Schnecken, Würmer, kleine Holzstückchen – und der aufgeweichte Boden war voll von winzigen nassen Wesen, die klickten und ploppten.

Am Ende des Wegs stieg ich auf einen alten Blecheimer, zog mich hoch auf die Mauer und ließ mich von dort in den Garten meines Nachbarn fallen. Über die Jahre war auf dem mit Steinplatten gepflasterten Grundstück etwas entstanden, das an einen Slum erinnerte: ein Wirrwarr baufälliger Gartenschuppen und Gewächshäuser, die aus alten Türen und riesigen Wellplastikflächen zusammengeschustert waren. Die Schuppen waren mit Kisten, rostigem Werkzeug und ausrangiertem, aus Containern gerettetem Bauholz vollgestopft, in den Gewächshäusern stapelten sich turmhoch leere Pflanzkästen und Blumentöpfe.

Niemand war in der Nähe. Es war Eastenders-Zeit – oder vielleicht lief auch Coronation Street oder Emmerdale – und der taube alte Mann, der hier lebte, hockte genau wie alle vor dem Fernseher, vertieft in eine Welt aus unaufrichtiger Liebe und täglichen Katastrophen …

Ich lief an der Rückseite des Hauses entlang zu einem mit Mülleimern vollgestellten Durchgang, der mich auf die Parallelstraße zu meiner führte. Sie sah fast genauso aus – die gleichen Reihenhäuser, die gleichen Vorgärten, die gleichen gebrochenen Gehwegplatten mit zu vielen geparkten Autos am Bordstein … das Einzige, was fehlte, war eine Handvoll Reporter und ein Fernsehteam.

Ich zündete eine Zigarette an und machte mich auf den Weg zum nächsten Taxistand.

 

Leon Mercer lebte zusammen mit seiner Frau Claudia in einem grau gemauerten dreistöckigen Haus in einer abgeschiedenen Straße am Rand der Stadt. Es war eine schöne Gegend mit gepflegten Gärten und breiten, lindenbestandenen Gehwegen, und als ich aus dem Taxi stieg und die mit Steinen gepflasterte Auffahrt zu Leons Haus hochging, erinnerte ich mich an das erste Mal, als ich hier gewesen war. Imogen und ich waren seit ungefähr einem Monat zusammen. Ich war damals siebzehn und total beklommen vor meinem ersten Besuch bei ihr zu Hause. Ich hatte Angst, dass ich etwas falsch machen oder das Falsche sagen könnte oder dass mich ihre Eltern vielleicht nicht mögen würden. Und ich weiß noch, wie eingeschüchtert ich mich von der Größe und Pracht des Hauses fühlte. Ich wusste damals nicht viel über Leon Mercer, nur dass er Polizeibeamter war wie mein Vater, und ich hatte auch im Kopf, dass sie den gleichen Dienstrang besaßen, deshalb verstand ich nicht, wieso wir in einer bescheidenen Doppelhaushälfte in einer absoluten Durchschnittsstraße lebten und Mercer ein frei stehendes dreistöckiges Haus in einem der reichsten Viertel der Stadt hatte. Später fand ich heraus, dass das Haus eigentlich Claudia Mercer gehörte – es war ein Geschenk ihres Vaters gewesen, der einen Haufen Geld mit einer Kette von Sportläden gemacht hatte.

Inzwischen hatte ich die Haustür erreicht – ein wuchtiges Eichenteil in der Tiefe eines gewölbten steinernen Vorbaus. Ich klingelte und wartete. Ein kalter Regen hatte eingesetzt und in dem hellen weißen Licht der Sicherheitslampen, die von den Häusern entlang der Allee herüberstrahlten, beobachtete ich, wie ein Wirbel vergilbter Blätter im Wind tanzte. In der Luft lag ein Hauch von Feuerwerksrauch, und wie ich so dastand an diesem Herbstabend, kehrten die fernen Erinnerungen an die Feuerwerksnächte meiner Kindheit zurück. Der schwarze Horizont, von Raketenlichtern und aufplatzenden Sternenschauern überzogen … Knallfrösche, römische Kerzen, Feuerräder … ein tosendes Feuerwerk, das knallt und schießt und knistert, mit glühenden roten Funken, die in die Nacht steigen …

»John!«, sagte eine überraschte Stimme und brachte mich wieder ins Hier und Jetzt zurück. Ich drehte mich um und sah Imogen in der Tür stehen.

»Hi, Immy«, sagte ich.

Sie umarmte mich begeistert und küsste mich auf beide Wangen, dann führte sie mich hinein und schloss die Tür.

»Großer Gott, John«, sagte sie und fasste mich am Arm. »Ich habe gerade in den Nachrichten die Pressekonferenz wegen Anna Gerrish gesehen … Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du sie gefunden hast?«

Ich zuckte die Schultern. »Hm, ist ein bisschen kompliziert.«

»Ich hab versucht dich anzurufen, aber ich bin nicht durchgekommen.«

»Ja, tut mir leid. Die Presse hat ständig geklingelt, deshalb hab ich sämtliche Telefone abgestellt.«

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie und drückte leicht meinen Arm. »Ich weiß nicht, das muss doch ziemlich hart für dich sein …«

»Geht schon.«

»Großer Gott«, sagte sie kopfschüttelnd. »Dieser verdammte Anton Viner … ich kann das immer noch nicht glauben.« Sie sah mich an. »Hält Bishop dich auf dem Laufenden?«

Ich zuckte von Neuem die Schultern. »Er hat mir gesagt, was ich seiner Meinung nach wissen muss.«

»Ja«, murmelte sie und schüttelte wieder den Kopf. »Ich wette, das hat er, dieses elende Stück Scheiße.«

Und dann schaute ich hoch, weil ich hörte, wie Claudia Mercer die Treppe herunterkam.

»Hallo, John«, sagte sie lächelnd. »Wie geht es dir?«

»Danke, ganz gut, Mrs M.«

»Ich habe Leon gesagt, dass du hier bist. Er ist in seinem Arbeitszimmer.«

»Danke.«

»Möchtest du einen Tee oder Kaffee?«

Ich schüttelte den Kopf.

Sie lächelte wieder. »Na gut, aber sag mir Bescheid, wenn du deine Meinung änderst.« Und damit verschwand sie den Flur entlang.

»So nett ist sie zu mir nie, weißt du das?«, sagte Imogen schmunzelnd.

»Das habe ich gehört«, rief ihre Mutter zurück.

Imogen sah mich an. »Bleib nicht zu lange bei Dad, ja? Er versucht es zu überspielen, aber er wird zurzeit sehr schnell müde.«

Ich nickte. »Ich will nur kurz mit ihm reden.«

»Seh ich dich nachher noch?«

»Du kannst mich nach Hause fahren, wenn du willst.«

»Abgemacht.«

 

Leons Arbeitszimmer war ein kleiner, aber gemütlicher Raum am Ende des Flurs im zweiten Stock, überladen mit zu vielen Möbeln, zu vielen Regalen und allem möglichen Zeug – Ordnern, Unterlagen, Zeitschriften, Zeitungen. Leon hatte ein Schreibpult an der einen Wand, einen Schreibtisch an einer andern; ein vornehmer Ledersessel stand in der einen Ecke, ein Korbstuhl mit Kissen in der andern. Es gab Schränke und Aktenschränke, gerahmte Fotografien und Urkunden an den Wänden, einen kleinen Flachbildfernseher auf einem schwarzen Glastisch mit DVD-Stapeln daneben. Ein halbes Dutzend Karaffen aus Bleikristall war auf dem schmalen Sims über einem offenen Kamin aufgereiht und durch ein kleines quadratisches Fenster auf der gegenüberliegenden Seite drang die Schwärze der Nacht. Leon saß an seinem Schreibtisch, als ich hereinkam, einen Laptop geöffnet vor sich. »John«, sagte er warmherzig, klappte den Laptop zu und stand auf. »Komm rein, setz dich …«

Ich ging hinüber und schüttelte seine Hand, dann setzte ich mich in den Sessel.

Als Leon sich wieder auf seinen Stuhl niederließ und die Lesebrille abnahm, fiel es mir schwer, mir den Schock nicht anmerken zu lassen. Er war so viel gebrechlicher als beim letzten Mal, und das war erst zwei oder drei Monate her. Damals hatte er noch wie der alte Leon ausgesehen, den ich seit jeher kannte – groß, stark, robust, mit leuchtenden Augen. Aber jetzt … Er hatte eine Menge Gewicht verloren, doch nicht im positiven Sinne. Seine gelblich gewordene Haut hing schlaff an ihm herab und ließ sein Gesicht hager und ausgemergelt wirken. Eine Last schien ihn nach unten zu ziehen: Seine Schultern waren nach vorn gebeugt, der Kopf gesenkt. Auch die Augen waren getrübt. Jede Bewegung, die er machte, war steif und langsam, offenbar hatte er Schmerzen.

»Ich weiß«, sagte er und lächelte mich stoisch an. »Ich bin ein schrecklicher Anblick.«

»Gut siehst du jedenfalls nicht aus«, gab ich zu, unfähig, ihn anzulügen. »Was ist es – Krebs?«

Er nickte. »Bauchspeicheldrüsenkrebs.«

»Magst du drüber sprechen?«

»Nein«, sagte er und griff nach einem Kognakglas auf seinem Schreibtisch. Er trank und schluckte den Kognak langsam hinunter. »Schmeckt besser als Morphium«, erklärte er.

Ich nickte.

»Nimm dir«, sagte er und warf einen Blick auf die Karaffe.

»Im Moment nicht, danke«, erklärte ich ihm.

»Sicher?«

Ich nickte wieder.

Er starrte einen Moment in sein Glas und schwenkte behutsam den Kognak, dann beugte er sich vor und stellte das Glas vorsichtig auf den Schreibtisch. »Also«, sagte er und schaute zu mir herüber. »Wie läuft’s so, John?«

Ich lächelte. Es war dieselbe Frage, die er immer stellte, und sie bedeutete immer das Gleiche: Trinkst du, trinkst du nicht, hältst du dich von Drogen fern?

»So weit ganz gut«, antwortete ich.

»Ja?«

»Ein paar Entgleisungen ab und zu.«

Er nickte. »Ich riech es an deinem Atem.«

Ich sah ihn an. »Es geht mir ganz gut.«

Er hielt eine Weile meinen Blick fest, suchte nach der Wahrheit. Und ich konnte nichts tun als zurückschauen, ohne so recht zu wissen, was meine Wahrheit war … Aber wie sie auch immer aussah, ich war gern bereit, sie ihn sehen zu lassen. Und wenn er etwas hätte sagen wollen, wäre das für mich auch völlig in Ordnung gewesen. Aber er sagte nichts, nahm nur noch mal einen kleinen Schluck Kognak, hustete leise und lehnte sich dann langsam auf seinem Stuhl zurück.

»Ich habe Bishop in den Nachrichten gesehen«, sagte er.

»Deshalb bin ich hier.«

»Ich weiß. Erzähl mir alles.«

 

Also erzählte ich ihm die ganze Geschichte – von dem Moment an, als Helen Gerrish in mein Büro kam, bis zu Bishops unerwartetem Besuch vor ein paar Stunden … ich beschrieb Leon alles. Er hörte schweigend zu, den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen, ohne ein Wort, bis ich fertig war. Und selbst dann, als er langsam den Kopf hob und die Augen öffnete, sagte er eine Weile immer noch nichts. Er sah mich nur tief in Gedanken versunken an und verarbeitete alles, was ich erzählt hatte … danach nahm er das Kognakglas, trank einen mäßigen Schluck, leckte sich die Lippen, stellte das Glas wieder ab und schließlich – nachdem er sich vorsichtig geräuspert hatte – stieß er einen tiefen Seufzer aus und begann zu reden.

»Wieso bist du nicht früher damit zu mir gekommen?«, fragte er mich.

Ich zuckte die Schultern. »Ich hatte nichts Konkretes … keinen Beweis.«

»Jetzt hast du auch keinen. Das Einzige, was du hast, ist ein totes Mädchen, Viners DNA und einen Bauch voll mieser Gefühle wegen Bishop.«

»Ich weiß, dass Viner Anna nicht getötet hat«, sagte ich langsam und schaute Leon in die Augen. »Es ist schlicht und ergreifend nicht möglich.«

Einen Moment lang antwortete Leon nicht, sondern erwiderte nur meinen Blick, und wie er so dasaß und mich anschaute, versuchte ich, ihn die unausgesprochene Frage in meinem Kopf sehen zu lassen. Warst du es, Leon? Hast du mir damals, vor langer Zeit, die Nachricht geschickt? Weißt du, was ich mit ihm gemacht habe?

»Was wir dringend herausfinden müssen«, sagte er leise, die unausgesprochene Frage weder beantwortend noch nicht beantwortend, »ist, wieso Bishop dich anlügt. Das ist der Schlüssel zum Ganzen.« Er öffnete seinen Laptop und drückte ein paar Tasten. »Bishop ist bei Weitem nicht so eindimensional, wie er die Menschen gern annehmen lässt. Glaub mir, ich kenne ihn schon sehr lange und es hat Jahre gedauert, bis ich begriff, dass er auf seine verdrehte Weise ein sehr komplizierter Mensch ist.« Leon sah mich über den Bildschirm hinweg an. »Ich fürchte, du wirst mir nicht zustimmen, wenn ich dir sage, er ist ein hochintelligenter Mann?«

»Kommt drauf an, was du unter intelligent verstehst«, antwortete ich. »Ich bezweifle jedenfalls, dass er bei University Challenge weit kommen würde.«

»Stimmt«, sagte Leon lächelnd. »Aber in den letzten dreißig Jahren ist er weit gekommen – sowohl als Polizeibeamter wie auch als höchst effizienter Verbrecher, und da gehört schon was dazu.«

»Du glaubst, er ist kriminell?«

»Ich weiß es.« Leon warf einen Blick auf den Bildschirm, dann schaute er wieder zu mir. »Korruption ist ein Verbrechen, John. Es ist nicht einfach ein Vertrauensbruch oder Machtmissbrauch, ein Beugen der Regeln … es ist ein Verbrechen. Ein korrupter Polizist ist ein Krimineller, so einfach ist das. Und Bishop … na ja, komm her und sieh es dir an, schau einfach selbst.«

Während ich aufstand und zu seinem Schreibtisch hinüberging, richtete Leon den Laptop so aus, dass wir beide den Bildschirm betrachten konnten. Zuerst begriff ich nicht recht, was ich sah, doch als ich genauer hinschaute, wurde mir klar, dass es ein Standbild aus einem Video von sehr schlechter Qualität sein musste. Die Auflösung war katastrophal, alles total unscharf und die Farbe mehr grau in grau als schwarzweiß. Trotzdem konnte ich die vier Gestalten auf dem Bild mit Mühe erkennen: einen Mann, der an einen Stuhl gefesselt war, zwei weitere Männer, die hinter ihm standen und von denen einer einen Baseballschläger in der Hand hielt, und Bishop …

Ich sah Leon an. »Ist es das, wofür ich es halte?«

Er nickte. »Eine Kopie des Überwachungsvideos, das dein Vater DCI Curtis gegeben hat und das zeigt, wie Bishop und die andern den Mann auf dem Stuhl foltern.«

»Scheiße«, sagte ich leise und schaute wieder auf den Bildschirm.

»Du musst es dir nicht ganz anschauen«, sagte Leon. »Und sicher weißt du sowieso, was passiert. Aber ich will dir noch eben zeigen, wozu Bishop fähig ist … Bist du bereit?«

Ich nickte.

Leon drückte eine Taste und das Video startete. Bishop stand vor dem Mann auf dem Stuhl, und als das Video anlief, sah ich, wie er sich hinunterbeugte und dem Mann heftig ins Gesicht brüllte. Es gab keinen Ton, weshalb es ein stummes Brüllen war, aber die Wut in Bishops Stimme war nicht zu übersehen. Der Mann auf dem Stuhl kniff die Augen zusammen und reckte den Kopf nach hinten in dem vergeblichen Versuch, Bishop auszuweichen, doch Bishop brüllte ihn weiter an. Und dann, urplötzlich, hörte er auf. Und ohne das leiseste Zögern zog er den Arm zurück und schlug dem Mann brutal ins Gesicht. Der Schlag war so hart, dass der Mann – der immer noch an den Stuhl gefesselt war – seitlich zu Boden kippte. Die beiden anderen Männer richteten ihn wieder auf, und während sie es taten, sah ich, wie Bishop sich eine Zigarette anzündete. Er nahm ein paar kräftige Züge, sagte etwas zu dem Mann, der jetzt wieder aufrecht auf seinem Stuhl saß, und als er mit schrecklicher Angst in den Augen anfing, den Kopf zu schütteln, trat Bishop ruhig vor und bohrte ihm die brennende Zigarette ins rechte Auge.

»Großer Gott«, flüsterte ich, als Leon das Band anhielt.

»Und das war nur der Anfang«, sagte er und drückte ein paar weitere Tasten.

»Der ist ein verdammter Irrer.«

»Nein«, sagte Leon. »Das ist das Problem. Ich glaube nicht, dass er ein Irrer ist … ich glaube, er tut einfach, was immer er tun muss, um das zu bekommen, was er will … egal was es ist. Aber ich glaube nicht, dass er Spaß daran hat. Er tut es nur einfach.«

»Glaubst du, er ist fähig, jemanden zu töten?«

»Jeder ist fähig, jemanden zu töten«, sagte Leon und für einen flüchtigen Moment glaubte ich in seinen Augen einen wissenden Blick zu erkennen. »Aber wenn du mich fragst, ob Bishop Anna Gerrish getötet haben könnte …« Er unterbrach sich für ein paar Sekunden und dachte darüber nach. »Na ja … ich bin sicher, er wäre dazu imstande. Wenn er einen seiner Meinung nach ausreichenden Grund hätte, sie zu töten, würde er es einfach tun.« Leon schnippte mit den Fingern. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er es nur um des Kicks willen täte … und wenn, dann würde er gründlich dafür sorgen, dass es niemand herausfindet.« Leon richtete seine Aufmerksamkeit einen Moment auf den Laptop-Bildschirm, fummelte mit dem Touchpad herum, dann sah er zu mir hoch. »Die Männer, die dich vor dem Wyvern zusammengeschlagen haben … du hast gesagt, du hättest sie nicht sehen können?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ging alles zu schnell.«

»Aber du hast erwähnt, dass der Mann, der dich zuerst geschlagen hat, Ringe an den Fingern trug.«

»Ja …«, sagte ich und meine Gedanken sprangen zurück zu den Ereignissen jener Nacht – wie ich das Wyvern verließ, in der kalten Nachtluft die Miller’s Row runterging, zu dem fernen Dump-dump, dump-dump aus den Clubs, der Trunkenheit, die in meinem Kopf herumwirbelte … und dann hörte ich wieder die Stimme aus dem Schatten eines Durchgangs nach mir rufen: Hast du mal Feuer, Kumpel?, und wie mir fast im selben Moment die schwer beringte Faust seitlich gegen den Kopf donnerte …

»Ja«, sagte ich zu Leon. »Er trug Ringe an den Fingern. Einer der Ringe hatte einen Schädel vorne drauf.«

Leon schob den Laptop zu mir. »Ist er das?«

Ein herangezoomtes Standbild aus dem Video zeigte eine Gestalt in Nahaufnahme: den Mann mit dem Baseballschläger. Leon hatte das Bild genau in dem Moment angehalten, als der Kerl den Schläger hob, weshalb ich nicht nur das knallharte Gesicht sehen konnte, sondern auch seine Hände. Das Bild war verschwommen und körnig und es fiel schwer, darin irgendwelche Details zu erkennen … doch als ich mich näher heranbeugte und den fetten Silberring am rechten Zeigefinger des Mannes entdeckte, wusste ich, dass ich den Schädel vor Augen hatte.

»Das Gesicht sagt mir gar nichts«, erklärte ich Leon. »Aber ich bin trotzdem ziemlich sicher, dass er es war. Wer ist das?«

»Sein Name ist Les Gillard, er arbeitet seit Jahren für Bishop.« Leon nickte Richtung Bildschirm. »Als das da passiert ist, war er ein einfacher Polizist und erst seit ein paar Jahren dabei.«

»Und jetzt?«

»Schwer zu sagen. Er ist ziemlich schnell aufgestiegen und in den letzten zehn Jahren oder so hat er sich einen Namen bei verschiedenen Spezialeinheiten gemacht – SO12, SO13, 15 … du weißt schon, Einheiten, die gern unter sich bleiben. Aber egal was Gillard jetzt ist, ich weiß, dass Bishop ihn irgendwie immer noch in der Hand hat.« Leon klappte den Laptop zu und sah mich an. »So läuft das bei Bishop. Er sucht sich etwas, das er gegen dich verwenden kann … und sobald er es hat, gehörst du ein Leben lang ihm, ob es dir gefällt oder nicht. Du würdest staunen, wie viele Leute er in der Hand hat – Polizeibeamte, Verbrecher, Politiker, Geschäftsleute … er ist ein sehr mächtiger und sehr gefährlicher Mann.«

Ich nickte. »Und glaubst du, es ist möglich …« Ich unterbrach mich, als Leon plötzlich die Augen schloss, die Zähne zusammenbiss und aufstöhnte. »Was ist los?«, fragte ich und sprang schnell auf, als er sich krümmte und den Unterleib hielt. »Leon? Leon!« Während ich um den Schreibtisch herumkam, richtete er sich unter Schmerzen wieder auf und öffnete die Augen.

»Schon gut«, sagte er schwer atmend. »Ehrlich, alles in Ordnung …«

»So siehst du aber nicht aus.«

»Es war nur …« Er sah mich an. »Bitte, John … setz dich wieder hin. Alles in Ordnung, ehrlich. Es passiert manchmal, das ist alles …« Während er nach dem Kognakglas griff und einen Schluck trank, ging ich zurück um den Schreibtisch. Er sah zu mir hoch. »Setzt du dich bitte wieder, John?«

Ich setzte mich.

»Danke«, sagte er.

»Vielleicht sollte ich lieber gehen«, schlug ich vor.

»Gleich … es gibt noch ein paar Dinge, die ich vorher mit dir besprechen will.«

»Ich kann ja wiederkommen.«

»Dieser Name, den du über das Kennzeichen des Nissans rausgefunden hast … Kemper, nicht wahr?«

»Charles Raymond Kemper.«

»Bist du damit weitergekommen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich treffe Cal morgen wieder, aber bis jetzt hat er noch nichts rausgekriegt.«

»Okay … und du hast auch nichts in Erfahrung gebracht, was Bishop mit dem Nissan oder mit Anna Gerrish in Verbindung bringt?«

»Nein.«

Er sah mich an und seine Gedanken schienen sich für einen Moment zu verlieren. Dann schärfte sich sein Blick wieder und er sagte: »Brauchst du Hilfe bei der Anklage wegen Trunkenheit am Steuer?«

Ich lächelte. »Mein Anwalt hat die Sache letzte Woche abgeschmettert. Wegen Verfahrensfehlern.«

»Gut.«

»Du bist müde, Leon«, sagte ich und stand wieder auf. »Du musst dich ausruhen.«

Er nickte. »Ich weiß, ich weiß … doch bevor du gehst, John …«

»Was?«

»Überlass Bishop fürs Erste mir, ja? Ich habe immer noch eine Menge gute Kontakte bei der Polizei. Ich hör mich mal um, schaue, was ich rausfinden kann, und melde mich so schnell wie möglich bei dir. Aber in der Zwischenzeit … bring ihn nicht noch mehr gegen dich auf.«

»Okay.«

Er lächelte mich an. Es war ein trauriges, müdes Lächeln, das ihn eine Menge Kraft kostete. »Und hör zu«, murmelte er. »Hör zu …«

Seine Augen schlossen sich, noch während er mit mir sprach.

Ich drehte mich leise um und ging. Doch gerade, als ich die Tür erreichte, hörte ich ihn wieder sprechen.

»Siehst du das Bild, John?«, fragte er.

Ich drehte mich um und sah ihn zu einem gerahmten Foto an der Wand hochschauen. Es war ein Bild von Leon und meinem Vater, aufgenommen kurz bevor Dad starb. Sie waren irgendwo zusammen auf einem Grillfest – die Gesichter rot vom Widerschein des Abendlichts, mit Gläsern in den Händen, und beide lachten breit in die Kamera.

»Wann immer du Fragen hast, John«, sagte Leon, »und ich nicht da bin, um sie dir zu beantworten … denk einfach an dieses Foto.«

Ich sah ihn an. »Wie meinst du das?«

Er lächelte. »Du bist doch Detektiv … du wirst es schon rausfinden, wenn es so weit ist.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das versteh ich nicht.«

»Weißt du, John«, sagte er vage. »Es gibt etwas, das ich dich schon lange fragen wollte … etwas, worüber ich nachgedacht habe …«

»Leon«, sagte ich. »Ich glaube wirklich, du solltest dich jetzt ausruhen.«

»Weißt du, was ich nicht verstehe, was ich nie rausfinden konnte …« Er sah mich an, sein Körper war jetzt einigermaßen ruhig. »Als sich dein Vater in seinem Zimmer umgebracht hat … wieso hat er da die Tür abgeschlossen?«

»Was?«

»Das ergibt doch keinen Sinn, oder? Wenn du dich umbringen willst, wieso machst du dir noch die Mühe, vorher die Tür abzuschließen? Wozu soll das gut sein?«

»Keine Ahnung …«, sagte ich verwirrt. »Hab ich noch nie drüber nachgedacht …«

Er lächelte von fern. »Solltest du aber vielleicht.«

»Willst du mir sagen …?«

»Tut mir leid, John«, murmelte er und seine Augen schlossen sich wieder. »Könntest du Claudia bitten, dass sie zu mir raufkommt? Ich glaube … ich glaube, ich bin …« Er seufzte schwer. »Gott verdammt, bin ich müde.«