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Eleonora huschte in ihr Zimmer unter dem Dach. Hastig schloss sie die Tür hinter sich zu und ließ sich auf ihr Bett fallen. Sie zog den Brief, den sie spontan in den Ärmel ihres Kleides geschoben hatte, hervor und entfaltete ihn. Ohne zu lesen, starrte sie lange Zeit grübelnd auf die geschwungenen Schriftzüge der preußischen Königin. Nie hätte sie geglaubt, jemals einen selbstgeschriebenen Brief von Königin Luise in der Hand zu halten. Fast zärtlich strich sie über den leise knisternden Briefbogen. In der Ferne waren die hellen Stimmen der beiden jungen Komtessen zu vernehmen. Sophie schien sich von ihrem Migräneanfall erholt zu haben, Charlotte musste von ihrem nachmittäglichen Ausritt zurückgekehrt sein. Beide hatten heute den five o’clock tea bei ihrer Großmutter versäumt. Wenn sie aber Eleonora nicht mehr in deren Salon antrafen, würden sie sich umgehend auf die Suche nach ihr machen. Wie Schwestern waren Charlotte, Sophie und Eleonora in den vergangenen Jahren erzogen worden und mittlerweile fest miteinander verwachsen.
»Die drei Unzertrennlichen«, hatte Alexander sie im vergangenen Sommer häufiger aufgezogen. Sehr zum Ärger seiner Mutter, die bei dieser Spöttelei stets unwillig die Augenbrauen runzelte.
Eleonora erhob sich eilig, ging zur Zimmertür und schob den schweren Riegel vor. Sie wollte jetzt nicht gestört werden. Einen Brief der preußischen Königin las man nicht in der Gegenwart aufgeregt plappernder junger Mädchen, die ihr das Schreiben am Ende sogar noch neugierig aus der Hand rissen. Eleonora kannte das Temperament ihrer beiden Freundinnen. Wie alle anderen jungen Mädchen und Frauen des preußischen Königreichs waren auch die beiden Komtessen leidenschaftliche Verehrerinnen der schönen jungen Luise. Da deren Hofdame, die Gräfin von Voss, eine alte Freundin ihrer Großmutter war, waren sie über etliche Details des höfischen Lebens wesentlich genauer informiert als die übrigen Untertanen.
Eleonora erinnerte sich ganz genau, mit welcher Leidenschaft Charlotte schon als kleines Mädchen das Verhalten der damaligen Verlobten des Kronprinzen verteidigt hatte. Es war in den ersten Wochen ihres Aufenthalts im Prewitzschen Haushalt gewesen, als mehr als drei Jahre nach dem denkwürdigen Ereignis in Potsdam nochmals die Rede darauf kam, dass die junge Luise bei ihrem triumphalen Einzug in Berlin ganz spontan ein kleines Mädchen geküsst habe, nachdem es ihr einen Blumenstrauß überreicht hatte.
Noch Jahre später echauffierte sich Gräfin von Voss in einem Brief an ihre Freundin Dorothea ob dieses unmöglichen Verhaltens. Dabei war diese 1793 doch bei dem Einzug selbst dabei gewesen.
»Und ich fand diese Geste ganz reizend. So spontan, so natürlich«, meinte sie. »Es ist doch gerade ihr natürlicher Liebreiz, der Luisen die Herzen der Berliner so zufliegen lässt.«
»Schade, dass ich nicht das kleine Mädchen war, das von ihr geküsst wurde«, hatte daraufhin Charlotte bedauert. »Ich finde das richtig lieb von ihr, dass sie sich mit einem Kuss bedankte.«
Mit ihren damals zwölf Jahren hatte Eleonora nicht so recht verstanden, worum es eigentlich damals ging. In ihrem bisherigen Leben hatte es nicht viel Zärtlichkeit gegeben. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals geküsst worden zu sein. Ehe sie Mitglied des Prewitzschen Haushalts wurde, wusste sie gar nicht, dass man sich auch unabhängig von offiziellen Anlässen einmal küssen konnte.
Was sich einst in der Dunkelheit zwischen den betrunkenen Soldaten und ihrer Mutter in der muffigen Schlafkammer abgespielt hatte, brachte Eleonora nicht damit in Verbindung, hatte sie doch seit Jahren die Erinnerung an dieses abstoßende Geschehen in den verborgenen Tiefen ihres Gedächtnisses versenkt. Der eigene Vater hatte ihr höchstens mal brummend über den Scheitel gestrichen. Vom Bruder war sie als allerhöchstes Zeichen seiner verwandtschaftlichen Zuneigung eigentlich immer nur in die Seite geknufft oder an den Zöpfen gezogen worden.
Wenn sich Eleonora so recht besann, war es eigentlich Gräfin Dorothea gewesen, von der sie zum ersten Mal Zärtlichkeit erfuhr. Geradezu stürmisch hatte sie das zwölfjährige Mädchen nach ihrem herzzerreißenden Solo der Bachschen Kantate in die Arme gerissen und geküsst.
»Du hast mich zum Weinen gebracht, mein Kind«, hatte sie gerufen und sie erneut geküsst. Eleonora wusste gar nicht, wie ihr geschah, spürte nur das Kratzen des gräflichen Spitzenjabots auf ihrer Wange und blickte hilflos zu dem in der Sakristei stehenden Pastor empor. Der nickte ihr lächelnd zu. Hinter ihm entdeckte sie das strahlende Gesicht der jungen Frau Pastor, die gleichfalls lächelte. Beide schienen sehr stolz auf sie zu sein.
»Du hast gesungen wie ein Engel«, behauptete Gräfin Dorothea und tupfte mit ihrem Spitzentaschentuch die Augenlider. »Ich würde am liebsten gleich noch mal vor Rührung weinen.«
»Je vous en prie, belle-mère!«, murmelte die neben ihr stehende etwas dickliche Dame. Zu diesem Zeitpunkt wusste Eleonora noch nicht, dass es die Schwiegertochter Elisabeth war. »Contenance«, setzte sie mahnend hinzu.
»Papperlapapp, was schert mich jetzt die Contenance?«, widersprach Gräfin Dorothea energisch und erhob sich zu ihrer stattlichen Höhe. »Wenn mir nach Weinen ist, dann will ich weinen und werde weinen«, sagte sie entschieden.
Dergleichen war etwas völlig Neues für die kleine Eleonora. In ihrem bisherigen traurigen kleinen Leben war für Gefühle kein Platz. Nur ganz verstohlen hatte sie in ihr hartes Strohkissen im Waisenhaus geweint. Seit Vaters Rückkehr vom Militär hatte sie sich aus lauter Dankbarkeit, dass er sie und ihren Bruder zu sich nach Hause geholt hatte, niemals Tränen erlaubt.
Nun war sie fast siebzehn Jahre alt und tat sich immer noch schwer, ihre Gefühle offen zu zeigen. Umso peinlicher, dass sie vorhin beim Tee im Salon der Gräfin in Tränen ausgebrochen war. Ein sehr verräterisches Verhalten. Aber nachdem die Gräfin sie so offen auf Alexander angesprochen hatte, war sie völlig überrumpelt gewesen. Sie selbst war sich über die Tiefe ihrer Gefühle zu Alexander noch überhaupt nicht klar gewesen. Eigentlich war sie nur verwirrt. Dieser Kuss im Dunkel einer sommerlichen Nacht hatte ein unbeschreibliches Gefühlschaos in ihr ausgelöst, über dessen Konsequenzen nachzudenken ihr widerstrebte. Zu tief schmerzte die Kränkung, dass Alexander schon am nächsten Morgen spurlos verschwunden war. Ohne ein Wort des Abschieds, ohne eine einzige Zeile, ohne Gruß, ohne alles. Vergeblich hatte sie die Wochen darauf auf eine Nachricht des Geliebten gehofft, vergeblich gewartet, gebangt und war darüber immer blasser und dünner geworden. Sogar Charlotte und Sophie, die die Gründe ihres Kummers nicht kannten, war es aufgefallen.
»Deine Taille ist so schmal geworden, dass ein Mann sie mit beiden Händen umfassen könnte«, stellte Charlotte eines Tages fest.
»Niemals würde ich erlauben, dass ein Mann mich so berührt«, entgegnete Eleonora steif. Aber tief innen drin vermeinte sie noch Alexanders Berührung zu spüren, wie er beide Hände auf ihre knabenhaften Hüften legte und sie vorsichtig an sich zog.
»Eleonora wird immer dünner und ich immer dicker«, meinte Sophie. Sie saß vor dem Spiegel ihrer kleinen Schlafzimmerkommode und betrachtete missmutig ihr pausbäckiges Gesicht.
»Dann solltest du nicht immer bis zum Mittag im Bett liegen bleiben und dir mindestens vier Kannen Kakao als petit déjeuner servieren lassen«, sagte Charlotte. »Warum reitest du eigentlich gar nicht mehr aus?«
»Ich hasse Pferde, ich habe Angst vor ihnen«, erwiderte Sophie.
»Papperlapapp, das ist doch nur eine Ausrede«, entgegnete Charlotte im burschikosen Ton ihrer Großmutter. »Du bist doch von Kind auf immer geritten.«
»Ich habe eben keine Lust mehr«, behauptete Sophie und blies ihre Backen auf.
»Die Freude am Gesang hast du auch verloren«, mischte sich Eleonora ein. »Maestro Farini fragt schon gar nicht mehr nach dir.«
»Mir macht der Unterricht auch keinen Spaß mehr. Eleonora, du hast so eine wunderbare Stimme, da komme ich mir immer nur vor wie eine alte krächzende Krähe«, gestand Sophie.
»Papperlapapp«, zitierte nun Eleonora Gräfin Dorothea, und alle drei Mädchen lachten, wie sie früher so oft gemeinsam gelacht hatten.
Was war es doch für eine unbeschwerte Zeit gewesen. Eleonora sehnte sich danach zurück. Wie frei und unbefangen sie doch die vergangenen Jahre gewesen war. Natürlich hatte sie sich dem Zeremoniell bestimmter Rituale und unumstößlicher Regeln eines adeligen Haushalts zu fügen. Aber was war das im Vergleich zu dem unbarmherzigen Drill des Potsdamer Waisenhauses?
Die regelmäßigen Musikstunden bei Maestro Farini waren Eleonora niemals eine lästige Pflicht, sondern stets Freude gewesen.
»Carissima, du bist die beste Schülerin, die ich jemals hatte. Aus dir wird einmal eine Primadonna assoluta!« Wie oft hatte sie diesen Ausruf zu hören bekommen. Bislang war es ihr Selbstverständlichkeit gewesen, die in sie gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Aber in den letzten Wochen hatte ihr die Stimme häufiger versagt, war einfach weggebrochen.
»Carissima, du wirst eine Frau, wir müssen deine Stimme schonen und ganz, ganz vorsichtig mit ihr umgehen«, hatte Farini gesagt. Ja, er hatte sogar eine dreiwöchige Unterbrechung der Gesangstunden anberaumt. »Aber ich erwarte von dir, dass du in dieser Pause die Partitur der Zauberflöte studierst und die Rolle der Pamina auswendig lernst«, verlangte er.
Heute war die erste Stunde danach gewesen.
»Du brauchst noch Schonung, wir machen weiter Pause«, hatte der Maestro jedoch heute die Stunde abgebrochen. Nur deshalb war Eleonora so pünktlich zur Teestunde erschienen.
Die Stimmen von Charlotte und Sophie kamen immer näher. Nun schienen die beiden direkt vor ihrer Tür zu stehen.
»Eleonora, bist du in deinem Zimmer?«, fragte Sophie. Sie sah, wie die Klinke der Tür langsam niedergedrückt wurde. Gut, dass sie den Riegel vorgeschoben hatte.
»Abgeschlossen«, hörte sie Charlotte sagen.
»Das ist so gar nicht ihre Art«, meinte Sophie verwundert.
Sie rüttelten an der Tür.
»Eleonora, bist du da drinnen?«, rief Charlotte. »So mach doch auf, warum öffnest du nicht?«
Mit angehaltenem Atem kauerte Eleonora auf ihrem Bett und schwieg.
»Vielleicht hat sie sich hingelegt, um sich ein bisschen auszuruhen«, mutmaßte Sophie.
»Dann wollen wir sie nicht weiter stören. Lassen wir sie schlafen«, sagte Charlotte. »Sie hat Ruhe und Erholung nötig. Grand-mère hat die letzte Zeit schon häufiger festgestellt, wie angegriffen sie aussieht.«
»Ein Badeaufenthalt würde ihr guttun«, meinte Sophie nun ernsthaft. Die Stimmen der beiden Mädchen entfernten sich.
Aufatmend lehnte sich Eleonora in ihr Kopfkissen zurück. Ein Badeaufenthalt? Was hatten die Komtessen für Vorstellungen?
Nun ja, Prohaska hatte, nachdem er sich schweren Herzens durchgerungen hatte, sein Kind der gräflichen Obhut zu überlassen, auf Zahlung eines Kostgelds bestanden. Es handelte sich dabei mehr um einen symbolischen Betrag. Aber die Gräfin hatte Prohaskas Angebot nach anfänglichem Sträuben akzeptiert. Sie erkannte, dass es das Ehrgefühl eines preußischen Soldaten zutiefst verletzen würde, wenn sie dieses Kostgeld nicht annahm. Von alldem wusste Eleonora nichts, genauso wenig, wie sie ahnte, dass die Gräfin dieses Geld niemals verbraucht, sondern für ihren Schützling gespart hatte.
So Eleonora nun doch eines Tages heiraten sollte, kann ich ihr eine kleine Mitgift geben, hatte sich die Gräfin gedacht.
Aber eigentlich sollte die Tochter des Potsdamer Feldwebels ja eine Primadonna assoluta, ja, eine würdige Nachfolgerin der hochverehrten Madame Mara werden.
»Lieber lasse ich mir von einem Pferd eine Arie vorsingen, als dass eine deutsche Sängerin eine Berliner Bühne betritt«, hatte der Alte Fritz mit seinen grundsätzlichen Vorbehalten gegenüber jeglichen Künstlern und Künstlerinnen deutscher Herkunft verächtlich geschnaubt. Schließlich hatte er, zunächst hinter einer Wand verborgen, heimlich ihrem Gesang gelauscht. La Mara gelang es, ihn von ihrer Kunst zu überzeugen. Friedrich der Große war schließlich so begeistert, dass er sein Inkognito lüftete und die Sängerin fast nötigte, ihm stundenlang vom Blatt vorzusingen. Nur während seiner Flötenstunden mit dem geliebten Lehrer Quantz sei der preußische König jemals so entspannt und gelöst gewesen, wurde fortan bei Hofe kolportiert.
Mit dem ihr eigenen Stimmumfang von drei Oktaven lag bei Eleonora gleichfalls die notwendige Eignung vor. Ihr die erforderliche Schulung und Erziehung zu gewähren, hatte sich Gräfin Dorothea zu einem Herzensanliegen gemacht und den alten italienischen Musiker mit dieser Aufgabe betraut. Andrea Farini war ein Schüler Händels gewesen, hatte sich aber aufgrund seines heftigen Temperaments mit dem Meister überworfen und war aus London zurück auf den Kontinent geflüchtet. Jahrelang war er kreuz und quer durch Europa gereist, ehe er Aufnahme und dauerhaftes Lebensrecht bei den Prewitzens erhielt.
Sein größter Wunsch war es, Eleonora eines Tages am preußischen Königshof vorstellen zu dürfen. Dabei ahnte er nicht, wie nahe er schon an der Erfüllung seines Herzenswunsches war. Genauso wenig, wie bislang Eleonora den Inhalt des Briefs, den sie jetzt zu studieren begann, kannte.
Mit angehaltenem Atem las sie die wenigen Zeilen des königlichen Billetts. Ihr Herz begann zu klopfen, das Blut in ihren Ohren zu rauschen.
Mit wohlgesetzten Worten fragte die junge preußische Königin bei Gräfin Dorothea von Prewitz zu Kirchhagen an, ob »denn Demoiselle Eleonora die Güte habe, einer Einladung nach Schloss Paretz zu folgen«.
»Die Güte!«, ächzte Eleonora erschüttert und fuhr sich verwirrt durch das Gesicht. »Königin Luise fragt, ob ich die Güte hätte …«
Sie konnte es kaum fassen. Atemlos ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Sie lehnte den Kopf in das Kissen zurück und schloss die Augen. Der Brief entglitt ihrer Hand und flatterte zu Boden.
Schloss Paretz. Natürlich wusste sie von der sommerlichen Residenz des königlichen Paars. Noch als Kronprinz hatte Friedrich Wilhelm dem königlichen Baumeister den Auftrag erteilt. »Und möge Er immer dabei bedenken, Er baue für einen armen Gutsherrn«, lautete die Order an David Gilly, der gleichzeitig noch mit der Errichtung der kleinen Dorfkirche betraut wurde.
»Das spricht doch mal wieder für die Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit unseres Königs«, hatte Gräfin Dorothea kommentiert. »So etwas lob ich mir.«
Nicht alle Mitglieder des preußischen Hofstaats wussten die mittlerweile sprichwörtliche Bescheidenheit des jungen Königs zu schätzen. Etliche Angehörige des nicht nur preußischen Adels trauerten der ausschweifenden Hofhaltung von Friedrich Wilhelm II. noch nach. Vor den Augen des alten Schadow hatte aber genau diese überhaupt keine Gnade gefunden.
»Es herrschte größte Liederlichkeit, alles besoff sich in Champagner, fraß die größten Leckereien, frönte allen Lüsten«, hatte der Bildhauer wütend geschimpft. »Ganz Potsdam war ein Bordell. Frauen und Töchter bot man um die Wette an.«
Gräfin Dorothea hatte laut gelacht, als ihr diese deftigen Worte zu Ohren kamen. »Der alte Schadow, das ist mir einer«, amüsierte sie sich.
Umso empfänglicher war der preußische Bildhauer wiederum für den Liebreiz der Luise von Mecklenburg-Strelitz und deren Schwester Friederike gewesen. Aber wer konnte diesen wunderschönen jungen Prinzessinnen überhaupt widerstehen? Der dicke Wilhelm war schon bei der ersten Begegnung in Frankfurt von beiden Mädchen so begeistert gewesen, dass er alles getan hatte, um eine Heirat zwischen ihnen und zwei seiner eigenen Söhne zu forcieren. Sein Plan sollte gelingen. Was in ganz Europa, quer durch alle Bevölkerungsschichten, geradezu mit Rührung beobachtet und wohlwollend konstatiert wurde, war die Tatsache, dass es sich bei der Heirat von Luise mit dem spröden Friedrich Wilhelm um eine Liebesheirat handelte. Ganz im Gegensatz zu der zwischen ihrer Schwester Friederike und dessen Bruder Louis geschlossenen Ehe. Nur zwei Tage nach der Trauung des Kronprinzenpaars waren diese und der preußische Prinz getraut worden. Es wurde eine kurze, unglückliche Ehe.
Der dicke Wilhelm war aber so glücklich, diese schönen jungen Frauen vom Darmstädter Hof ihrer Großmutter nach Preußen geholt und seinem eigenen Hofstaat einverleibt zu haben, dass er beim alten Schadow die Schaffung einer doppelten Skulptur der beiden Prinzessinnen in Auftrag gab. Der Bildhauer wiederum war so begeistert von seinen beiden Modellen, an denen er sogar »nackt, wie Gott sie schuf«, Maß nehmen durfte, dass er darob vollständig vergaß, seinen Auftraggeber derzeit »Sodom und Gomorrha« geziehen zu haben.
Eleonora kannte natürlich die Skulptur der beiden Prinzessinnen, stand sie doch in winziger, aber vollendeter Kopie auf dem Kaminsims von Gräfin Dorothea. Sie wusste auch, dass Friederike mittlerweile in zweiter Ehe mit einem Prinzen zu Solms-Braunfels verheiratet und seit Januar 1799 vom preußischen Hof ins bayerische Ansbach verbannt war.
»Aufgrund ihres angeblich liederlichen Lebenswandels«, hatte Gräfin Dorothea verächtlich geschnaubt. »Ist es ein Wunder, wenn eine schöne junge Frau sich anderweitig die Zuneigung sucht, die ihr eigener Ehemann so missen lässt.«
Tatsächlich pfiffen es die Spatzen von den Berliner und Potsdamer Dächern, dass Prinz Louis seiner Frau nur mit kalter Verachtung begegnete. Auch nach der Heirat hatte er sich niemals von seiner Geliebten getrennt. Gräfin Dorothea betrachtete seinen frühen Tod als eine verdiente Strafe des Schicksals. Seit Jahr und Tag erfreute sie sich jedoch aus der Ferne des ehelichen Glücks, das mit der Heirat von Luise und Friedrich Wilhelm am preußischen Hofe Einzug gehalten hatte.
»Diese kleine Prinzessin hat diesen Tropf erst zu einem richtigen Menschen gemacht«, sagte sie oft, am liebsten laut und unüberhörbar in Gegenwart ihres Sohnes und ihrer Schwiegertochter, die bei diesen resoluten Worten stets schmerzlich zusammenzuckten.
»Mais, belle-mère, je vous en pries!«, lautete stets die geflüsterte Replik von Gräfin Elisabeth, dem unweigerlich das herzhafte »Papperlapapp« von Gräfin Dorothea folgte.
Eleonora kannte die kleinen Zwiste und Rituale dieses Dauerkonflikts nun bereits seit Jahr und Tag, und sie liebte sie.
Sie erhob sich von ihrem Bett und trat an das Fenster. Es war ein stürmischer kalter Abend im Spätherbst. Tagsüber hatten die Wolken sehr tief gehangen, so dass der Kutscher bereits den ersten Schneefall verkündet hatte.
»Oh, dann können wir ja wieder Schlitten fahren«, hatte Charlotte gejubelt und war aufgesprungen. »Dann will ich aber ganz schnell noch einmal ausreiten, ehe die Wege vereisen.«
Inzwischen war es ganz dunkel geworden. Der Sturm rüttelte an den Fensterläden des Schlosses. Eleonora lehnte die Stirn an die Kühle des Fensterglases und schaute hinaus. In der Ferne war nur umrisshaft die Silhouette der Stallgebäude erkennbar. Aber aus den winzigen Fenstern der Stallungen leuchtete es in einem hellen, warmen Gelb. Eleonora wusste, dass die zahlreichen Knechte und Burschen im Lichte der Stalllaternen jetzt ihre Arbeit verrichteten, die Pferde putzten und striegelten, deren Hufe auskratzten und das Sattelzeug polierten. Vielleicht war einer von ihnen sogar bereits dabei, die Kufen des großen Winterschlittens zu schleifen. So still der Gebäudekomplex auch in der Dunkelheit stand, schien aus seinem Innern etwas von einer verheißungsvollen Betriebsamkeit auszugehen. Die winterlichen Festtage standen unmittelbar bevor. Vielleicht würde Gräfin Dorothea ja zu Neujahr wieder ein Schlittenrennen veranstalten?
Ein tiefer Gong ertönte durch das Schloss. Er rief zur Abendtafel.
Zwischen den kahlen Ästen einer entlaubten Eichenkrone stieg über dem Dachfirst der Stallungen die silberne Sichel des Mondes auf. Ein zweiter Gongschlag ertönte. Eleonora löste sich vom Anblick des winterlichen Stilllebens. Sie fröstelte unwillkürlich und trat an ihre Kommode. Irgendwo musste in einer der Schubladen doch noch ihre Stola liegen.