Teil I

1

Schon beim Erwachen war Eleonora an diesem Morgen von einem Gefühl prickelnder Erwartung erfüllt. Aber es dauerte ein Weilchen, ehe ihr wieder einfiel, warum sie so aufgeregt war.

Nach wochenlangen Proben sollte heute Abend endlich die Aufführung von Orpheus und Eurydike stattfinden. Auf der eigens für diesen Abend errichteten kleinen Freilichtbühne mitten im Park von Neu-Prewitz. Dass man ausgerechnet ihr die Hauptrolle in Christoph Willibald Glucks Orpheus und Eurydike anvertraute! Eleonora konnte es bis heute noch nicht so ganz begreifen. Welch eine Ehre, aber auch was für eine Herausforderung! Eine große Bewährungsprobe für die blutjunge Sängerin. Natürlich hatte sie diese Besetzung auch der Protektion ihrer Gönnerin Gräfin Dorothea zu verdanken.

»Aber nicht ausschließlich, nicht ausschließlich, mein Kind«, betonte diese ihr gegenüber stets. »Glaubst du wirklich, der Maestro hätte sich darauf eingelassen, wenn er nicht von deiner Stimme überzeugt wäre. So, wie wir alle von deiner Stimme und deiner Begabung überzeugt sind.«

Eleonora wusste, dass ihrer Musikalität und außergewöhnlichen Stimme vieles, wenn nicht alles zu verdanken war. So auch das Solo der Kantate, das sie damals in der Nikolaikirche zu Potsdam gesungen hatte. Hingerissen von der Interpretation einer zwölfjährigen Sängerin, bestand Gräfin Dorothea darauf, die kleine Solistin persönlich kennenzulernen. Nur sehr unwillig hatte der Vater seine Eleonora zum Palais Prewitz begleitet, wohin sie die Gräfin eingeladen hatte, besser gesagt, dem Veteranen des Koalitionskrieges und seiner Tochter eine Audienz gewährte. Noch unwilliger hatte der Vater auf den Vorschlag reagiert, dieser Dame des preußischen Hochadels seine Tochter zur Erziehung zu überlassen.

»Bedenken Sie, welche Entfaltungsmöglichkeiten sie bei Ihnen hat und was ich ihr für eine Zukunft bieten könnte«, hatte ihn die Gräfin zu überzeugen versucht. »Wir beide wissen, dass Ihre Tochter über eine außergewöhnliche Begabung verfügt, mit der sie den jetzigen Primadonnen eines Tages den Rang streitig machen könnte. Unter der Voraussetzung, dass Eleonora fortan entsprechend geschult wird. Sie hingegen können sich doch noch nicht einmal einen vernünftigen Gesangslehrer für sie leisten. Sie wissen doch selbst, dass Sie Ihr eigenes Pulver längst verschossen haben.«

Harsche Worte.

Gräfin Dorothea von Prewitz zu Kirchhagen war schon mehr berüchtigt als berühmt dafür, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Bei Hofe hatte es ihr schon häufig Ärger eingetragen. Aber darum scherte sie sich nicht. Ihr lag sowieso nichts an dieser verlogenen Gesellschaft. Nur zu den offiziellen Terminen, bei denen ihre Anwesenheit als Angehörige des hohen Adels obligatorisch war, konnte man sie in großer Robe im Berliner Stadtschloss zwischen den Reihen der alten preußischen Familien entdecken. Auch das Prewitzsche Palais in der preußischen Hauptstadt gehörte nicht zu ihren bevorzugten Aufenthaltsorten. Am liebsten residierte Gräfin Dorothea auf dem Sophienhof in Neu-Prewitz, einem Landsitz der Familie, südlich von Potsdam an einem der Havelseen gelegen.

Das kleine Barockschloss war schon vom Verfall bedroht, als Friedrich der Große es ihrem Vater für seine Verdienste im Schlesischen Krieg als Geschenk überließ. Der kümmerte sich jedoch niemals darum, da er als alter Haudegen lieber in die nächste Schlacht zog. Seine Tochter hingegen bewahrte das Anwesen vor dem endgültigen Verfall. Sie betraute den genialen jungen Architekten Friedrich Gilly mit der Rettung dieses architektonischen Kleinods. Sie überließ ihm auch die Inneneinrichtung des Schlösschens und die Gestaltung der kleinen Freilichtbühne im Park, der nach englischem Vorbild angelegt war. Einer der ersten Landschaftsparks überhaupt im ganzen Königreich Preußen.

Mittlerweile hatte sich der Sophienhof zu einem Anziehungspunkt ganz eigener Art entwickelt. Besonders im Sommer logierte man sich gerne für ein paar Tage im Schloss ein, um den Charme des ruhigen Landlebens zu genießen. Es war gar nicht so einfach, Zugang zu diesem exklusiven Zirkel zu finden. Eine Einladung nach Neu-Prewitz war eine Auszeichnung, die Gräfin Dorothea von Prewitz zu Kirchhagen erst nach sorgfältiger Prüfung der Kandidaten und langen Erwägungen aussprach. Nach welchen Kriterien ihre Entscheidungen erfolgten, blieb ihr persönliches Geheimnis. Das Prinzip des alten Königs, »jeder nach seiner Façon«, war ihr heilig, Standesdünkel ihr ein Greuel. Dabei war die Gräfin eine hervorragende Gastgeberin. Mit diplomatischem Geschick verstand sie, Menschen verschiedenster Herkunft, Charaktere, Eigenschaften, Religionen, Anschauungen und Nationalitäten zusammenzuführen.

»Vor Gott sind alle Menschen gleich, warum dann nicht auch schon auf Erden?«, lautete ihre rhetorische Frage, eine fast ketzerische Infragestellung des herrschenden Ständestaates. Gräfin Dorothea liebte es geradezu, sich über dessen Konventionen hinwegzusetzen. Eine Folge daraus war, vor wenigen Jahren die blutjunge Eleonora Prohaska in ihrem Haushalt aufzunehmen. Nein, nicht als Scheuermagd, Dienstmädchen oder künftige Zofe, sondern als gleichaltrige Gesellschafterin für ihre beiden Enkelinnen. Zum Entsetzen ihrer Schwiegertochter ließ die Gräfin der kleinen Potsdamerin die gleiche Erziehung angedeihen wie den jungen Komtessen.

Charlotte und Sophie hatten ihre neue Gefährtin selbstverständlich akzeptiert, während ihre Mutter Elisabeth sich auch nach Jahren immer noch nicht mit der ständigen Anwesenheit einer »Person nicht standesgemäßer Herkunft« abgefunden hatte. Schließlich war sie doch nur die Tochter eines einfachen Unteroffiziers. Entsprechend pikiert war sie natürlich, als Maestro Farini Eleonora die Rolle der Eurydike überließ.

»Je suis désolé, Madame, Ihre beiden Töchter haben entzückende Stimmen, deren Umfang aber nicht für diese Partie ausreicht«, hatte der Hofkapellmeister seine Entscheidung höflich, aber bestimmt Gräfin Elisabeth gegenüber begründet.

Trotz persönlicher Eitelkeiten verfügte diese glücklicherweise über die Einsicht, selbst überhaupt nicht für diese Partie in Frage zu kommen. Gräfin Elisabeth war absolut unmusikalisch. Jahrzehnte nach der Einheirat in die hochmusikalische Sippe der Prewitzens gestaltete sich dies für sie noch immer quälend.

Ganz im Gegensatz zu Eleonora. Mit zwölf Jahren, auf der Schwelle vom Kind zum jungen Mädchen, war sie im Hause Prewitz aufgenommen worden. Nach einer dreitägigen Bedenkzeit hatte sich ihr Vater tatsächlich zu der Erkenntnis durchgerungen, die Zukunft seiner begabten Tochter nicht mit einem Veto verbauen zu dürfen. Die Gräfin hatte recht, er konnte Eleonora nichts mehr beibringen. Nachdem er sie aus dem Potsdamer Waisenhaus zurück nach Hause geholt hatte, erteilte er ihr einige Monate Flötenunterricht. Aber erst der Kantor der Nikolaikirche hatte Eleonoras außergewöhnliche Stimme entdeckt und ihr den Solopart einer Bachkantate zugesprochen.

Gräfin Dorothea sorgte dafür, dass sich Prohaska und seine Tochter auch weiterhin regelmäßig sahen. In den Wintermonaten, die sie meist im Berliner Palais in der Nähe des Berliner Stadtschlosses verbrachten, bot sich ihnen genügend Zeit und Gelegenheit, einander nicht fremd zu werden.

So war Prohaska selbstverständlich zu der heutigen Aufführung eingeladen. Da einer der Trompeter des Hoforchesters sich den Mittelfinger brach, hatte ihn Maestro Farini kurzerhand als Ersatz angeheuert. Der temperamentvolle alte Herr hatte sogar einige lobende Worte für den Kriegsveteranen übrig, Balsam auf die Seele eines verhinderten Künstlers, der seit Jahr und Tag sein kärgliches Dasein mit schlecht bezahltem Musikunterricht fristete.

Wie gerne wäre auch Vater ein richtiger Künstler geworden, hätte er doch niemals in den Krieg ziehen müssen, dachte Eleonora an diesem Morgen. Er wird genauso aufgeregt sein wie ich. Mit behender Leichtigkeit schwang sie ihre Beine über die Bettkante. Sie bewohnte eines der Zimmer im ersten Stock, deren hohe Sprossenfenster direkt auf die großflächige Terrasse vor dem mittleren Schlossflügel zeigten. Dahinter erstreckte sich der Park von Schloss Neu-Prewitz, der in einem welligen Waldgelände endete. Eleonora reckte sich, streckte die Arme weit von sich, erhob sich auf die Zehenspitzen und atmete durch. Ganz tief, genau so, wie es sie Maestro Farini gelehrt hatte.

Eleonora liebte den kleinen alten Italiener, dessen Temperament ihn zu unberechenbaren Wutausbrüchen hinreißen konnte. Sie liebte auch ihre beiden »Seelenschwestern«, wie sich Sophie und Charlotte mit der romantischen Überschwenglichkeit ihrer jungen Jahre nannten. Aber am meisten liebte sie wohl die Gräfin, nein, Gräfin Dorothea liebte sie nicht nur, diese verehrte, ja, vergötterte sie. Ihrer hochmütigen Schwiegertochter Elisabeth hatte sie im Lauf der Jahre gelernt aus dem Weg zu gehen. Die bemühte sich ohnehin, sie zu ignorieren. Ein schier unmögliches Unterfangen, hallte doch der Klang von Eleonoras glockenklarer Stimme seit Jahr und Tag durch die hohen Gemächer des Berliner Stadtpalais oder von Schloss Sophienhof.

Zu den männlichen Mitgliedern der Familie hatte Eleonora kaum eine Beziehung entwickelt. Wie einst sein Schwiegervater zog auch Graf Ludovic die Gesellschaft seiner Offiziere und Soldaten vor, anstatt an der Seite seiner musisch interessierten Gattin zu weilen. Alexander August war gleichfalls für die militärische Laufbahn bestimmt. Ob er nach dem Vater schlug?

Wie überrascht war Eleonora gewesen, als ihr der Maestro vor zwei Wochen eröffnete, dass der junge Graf die Partie des unglücklichen Orpheus singen würde. Da bislang kein einziger Sänger für »la Signorina Nora« gut genug gewesen war, hatte sich Farini wochenlang mehr oder minder mit ihr durch die Glucksche Partitur gekrächzt. Sehr zur heimlichen Verzweiflung seiner jungen Partnerin.

Farini liebte seine »Signorina Nora« heiß und innig. Unauffällig hatte er die verunsicherte Zwölfjährige die ersten Wochen und Monate nach ihrer Ankunft durch die Klippen und Unabwägbarkeiten ihres neuen Lebens auf Neu-Prewitz geleitet. Das würde Eleonora ihm niemals vergessen. So akzeptierte sie unwidersprochen seine Autorität und damit auch seinen schrecklichen Gesang.

Eleonora reckte und streckte sich noch einmal, band ihre auf die Schultern fallenden blonden Locken mit einem seidenen Band zusammen, trat an die hohe Fensterfront und schob die Vorhänge beiseite. Gleißendes Sonnenlicht füllte den Raum. Sie stieß die beiden Fensterflügel auf und lehnte sich weit hinaus. Was für ein wunderschöner Tag. Wie geschaffen für eine Theateraufführung unter freiem Himmel. Hinter einer hohen Hecke am Ende des Parks schien das Orchester bereits auf der Freilichtbühne zu proben. Nur verzerrt drangen die barocken Melodiefolgen bis zu ihr durch. Aber dann erkannte Eleonora ihr Motiv. Spontan summte sie mit, zunächst verhalten, schließlich mit der ganzen Kraft ihrer Stimme.

»Brava, brava«, ertönte begeistertes Lob zu ihr empor. Aber es kam nicht von Maestro Farini. Es dauerte ein bisschen, bis Eleonora den jungen Graf zu ihren Füßen entdeckte. Seit Tagen machte dieser sich einen Spaß daraus, Akzent und Gebaren des kleinen Italieners zu imitieren. Sehr zum Vergnügen seiner jüngeren Schwestern und natürlich auch Eleonoras. Jetzt stand Alexander unten auf der Terrasse, legte die Hand schützend vor die Augen und schaute lächelnd zu ihr empor. »Cara Signorina Nora, que bella voce, una voce italiana!«, rief er nach oben.

Jemanden einer italienischen Stimme zu rühmen war das größte Kompliment, das Maestro Farini zu vergeben hatte. Bei Eleonora tat er es gerne und immer wieder.

»Grazie, grazie«, bedankte sich diese und knickste. Der junge Graf grinste und machte einen altmodischen Kratzfuß. Übermütig warf er ihr einen Handkuss zu. Eleonora schoss das Blut in die Wangen.

Obwohl er es aus dieser Entfernung gar nicht mitbekommen konnte, zog sie sich rasch vom Fenster zurück. Warum war sie auf einmal so verlegen? Warum klopfte ihr Herz plötzlich so viel schneller als sonst? Seit Tagen irritierten ungewohnte Regungen und unbekannte Gefühle sie. Lag es an der Anwesenheit des jungen Grafen?

Wie ein Wirbelwind war der Sohn des Hauses vor zwei Wochen in das geruhsame Leben des Sophienhofs eingebrochen. Als junger preußischer Offizier hatte er im Heer der befreundeten Österreicher an der Schlacht von Marengo teilgenommen. Im Februar 1801 waren im Frieden von Lunéville die zuvor getroffenen Vereinbarungen des Friedens von Campo Formio endgültig bekräftigt worden. Unbarmherzig lauteten sie: Abtretung des gesamten linksrheinischen Gebietes an Frankreich. Eine Folge, mit der sich der junge Graf nicht abfinden konnte und schon gar nicht abfinden wollte. Aus dieser seiner Meinung machte er auch kein Hehl, im Gegenteil. Tagelang verwickelte er sich in erhitzten Debatten mit seinen Eltern und seiner Großmutter, steigerte sich immer wieder in einen Furor der Erregung und erging sich in nicht enden wollenden Tiraden gegen Napoleon Bonaparte, »diesen Diktator in seiner lächerlichen Konsulrobe«, bis ihm die Gräfin schließlich das Wort entzog.

»Mein lieber Alexander, du hast dich die letzten Tage nun genügend echauffiert. Es wird Zeit, dass du an etwas anderes denkst und dich einer neuen Herausforderung stellst. Ich denke, unser Maestro hat da die richtige Aufgabe für dich«, wies sie ihren Enkel energisch an der abendlichen Tafel zurecht. »Du wirst morgen an den Proben für unsere sommerliche Opernaufführung teilnehmen. Die Partie des Orpheus liegt dir ausgesprochen gut. Du hast dich deshalb morgen früh um sechs Uhr bei Maestro Farini zum Einsingen im Musikpavillon einzufinden.«

Wenn Gräfin Dorothea so sprach, war es wie ein Befehl, dem sich kein Mensch zu widersetzen wagte, auch nicht ihr temperamentvoller Enkel.

Nun ging Eleonora auf, dass die Entscheidung für die Besetzung ihres Bühnenpartners ein lange zwischen der Gräfin und dem Maestro abgekartetes Spiel darstellte. Der Besuch des jungen Grafen hatte bereits seit Monaten festgestanden. Erst jetzt verstand sie, warum der Maestro niemals ernsthaft nach einem geeigneten Sänger des Orpheus Ausschau gehalten hatte.

Die energischen Worte von Gräfin Dorothea bekräftigte Maestro Farini mit einem bestätigenden Kopfnicken. »Spero, Sie haben nicht dimenticato troppo«, sagte er und verneigte sich vor dem jungen Grafen.

Dieser lachte. »Wie werde ich Ihre Lektionen vergessen können, Maestro? Nach dem jahrelangen Säbelrasseln tut mir das Singen sogar ganz gut«, räumte er überraschend bereitwillig ein. Wie seine Schwestern hatte auch Alexander von Kind auf regelmäßigen Musikunterricht erhalten und wie diese immer viel und gerne gesungen.

Pünktlich erschien er am nächsten Morgen zu den Proben im Musikpavillon, wo der große Flügel des Maestro stand.

Welch ein Unterschied, welch eine Umstellung für Eleonora, beim Singen nicht mehr die weiße, verrutschte Perücke, die der Maestro, in hartnäckiger Verbundenheit zum Ancien Régime, noch immer trug, anstarren zu müssen. Ihr reichte der kleine Neapolitaner gerade mal bis zur Schulter. Ganz anders hingegen Alexander, zu dem Eleonora trotz ihres hohen Wuchses immer noch aufschauen musste.

Als sie zum ersten Mal sein flehendes »Eurydike« vernahm, schnitt es ihr tief ins Herz.

Alexander ging voll in seiner Rolle auf. Seine Stimme war nicht groß, aber angenehm, von einem samtigen Klang, der in Eleonoras Innerem eine Saite zum Schwingen brachte, von der sie bislang nichts ahnte. Die Unvollkommenheit seiner Stimme verstand der junge Graf mit erstaunlich schauspielerischem Können hervorragend auszugleichen. Er spielte nicht den tragischen griechischen Helden, sondern er verkörperte Orpheus mit Leib und Seele. Schon bei den Proben rührte er seine Schwestern, ja, sogar den alten Maestro zu Tränen. Auch Eleonora fühlte sich innerlich von seiner Darstellung zutiefst aufgewühlt und erschöpft zugleich. Dieser Abend hatte alles von ihr verlangt, was eine Sechzehnjährige zu geben vermochte. Am liebsten hätte sie sich nach der fünften Zugabe und der letzten Verneigung auf der Bühne auf ihr Zimmer zurückgezogen. Aber nach der Aufführung hatte es ein aufwendiges Dinner gegeben, dem sich jetzt noch der Mitternachtsball anschließen würde.

Gräfin Dorothea war nach der letzten Zugabe persönlich in der provisorischen Künstlergarderobe des Gartenpavillons aufgetaucht, um Eleonora zu ihrer gelungenen Leistung zu beglückwünschen. Als besondere Überraschung hatte sie ihr ein wunderschönes cremefarbenes Ballkleid mitgebracht. Eigenhändig half sie Eleonora dabei, sich einzukleiden.

»Nach dem neuesten Pariser Schnitt von einer jungen französischen Schneiderin angefertigt«, erzählte sie begeistert. Behutsam zupfte sie den weich fallenden Mousselinestoff zurecht. »Jetzt noch ein Band in die Haare geschlungen, und du könntest Königin Luise Konkurrenz machen«, schmeichelte sie ihrem Schützling und trat bewundernd einen Schritt zurück. »Weißt du eigentlich, wie schön du bist, Eleonora?«

»Jetzt übertreiben Sie aber, Madame«, wehrte Eleonora errötend ab. Die junge schöne Königin Luise war eine der wenigen hohen Damen, die vor den kritischen Augen der Gräfin Bestand zu halten vermochte.

An diesem Abend schien jedoch ihr Schützling der jungen preußischen Königin den Rang abzulaufen. Sie bestand darauf, dass Eleonora den Ehrenplatz an ihrer Seite erhielt. Prompt runzelte ihre Schwiegertochter verärgert die Stirn. Gräfin Dorothea ignorierte wie üblich Gräfin Elisabeths Verärgerung. Immer wieder nötigte sie Eleonora, doch etwas zu essen, ließ es sich nicht nehmen, ihr die leckersten Bissen persönlich auf dem Teller vorzulegen.

Aber Eleonora war immer noch zu aufgewühlt, um mit gewohnt gesundem Appetit diese Delikatessen zu genießen. Irgendwie gelang es ihr schließlich, im Getümmel der sich auflösenden Tafel zu entschlüpfen. Sie wollte allein sein. Es war alles zu viel für sie gewesen, die anstrengenden Proben der letzten Wochen, die überraschende Ankunft des jungen Grafen, die aufregende Generalprobe, bei der alles schiefgegangen war, und heute Abend die lang ersehnte, aber genauso gefürchtete Aufführung.

Eleonora wusste, dass sie nicht nur gut, sondern hervorragend gesungen hatte. Ein rauschender Erfolg, wie auch die zahlreichen Da-capo-Rufe des anspruchsvollen Publikums ihr bewiesen.

»Du hast eine große Zukunft vor dir«, hatte Gräfin Dorothea zu ihr gesagt. Neben ihr stand Alexander und lächelte bestätigend zu den Worten von »grand-mère«. Natürlich hatte Eleonora später bemerkt, wie er während des Essens immer wieder zu ihr hingeschaut hatte. Auch vermeinte sie immer noch die Berührung seiner Hand, als sie sich vor dem tobenden Publikum verneigten, auf ihrer Haut zu spüren.

Orpheus’ wehes Klagen, als er Eurydike für immer verloren hatte, klang noch in ihr nach.

Fröstelnd zog Eleonora die Stola, die sie sich rasch beim Verlassen des Speisesaals übergeworfen hatte, fester um die Schultern. Der Park von Schloss Sophienhof war festlich illuminiert, eine verwunschene Märchenlandschaft, die ihr das Geschehen der letzten Stunden noch unwirklicher erscheinen ließ. Sie wusste selbst nicht, wohin sie ihre Schritte lenkte. Erst als sie im Schatten einer dunklen Hecke stand, bemerkte sie, dass es sie wie magisch zurück zur Bühne gezogen hatte.

Die Stühle des Orchesters waren verlassen. Die Musiker ließen es sich bei Essen und Trinken in dem eigens für sie errichteten Zeltpavillon schon längst gutgehen. Eine einsame Fackel loderte noch auf der Bühne. Sonst war ringsumher alles dunkel.

Keine drei Stunden war es her, dass sie Hand in Hand mit ihrem Orpheus dort oben gestanden hatte. Mit tiefen Verneigungen nahmen sie beide die Ovationen des Publikums entgegen. War es wirklich so geschehen oder alles nur ein Traum? Eleonora seufzte vor Erleichterung, alles so gut hinter sich gebracht zu haben. Warum war sie aber dann von so einer unbestimmten Traurigkeit erfüllt, die sie sich nicht erklären konnte?

»Eleonora«, rief es leise hinter ihr. Sie erkannte seine Stimme sofort.

»Ja«, erwiderte sie kaum vernehmbar. Langsam drehte sie sich um. Sie zitterte am ganzen Körper.

»Eleonora«, wiederholte Alexander und trat aus dem Dunkel der Nacht.

»Sie haben mich erschreckt«, sagte Eleonora.

»Das wollte ich nicht«, entschuldigte er sich sofort. »Du zitterst ja. Ist dir so kalt?«

»Ja, ich friere«, gab sie zu und versuchte vergeblich ihr Zittern zu unterdrücken.

»Oder hast du Angst vor mir?«, erkundigte er sich lächelnd.

»Warum sollte ich Angst vor Ihnen haben«, protestierte sie schwach.

Alexander trat einen weiteren Schritt auf sie zu. »Das frage ich mich auch.« Jetzt stand er unmittelbar vor ihr. Mit jeder Faser ihres Körpers war sich Eleonora seiner Gegenwart bewusst. Eine magische Anziehung ging von ihm aus. Sie musste schlucken. »Meine Eurydike«, sagte er zärtlich. Er streckte die Hand aus und umfasste behutsam ihr Kinn. Sachte hob er ihr Gesicht zu sich empor. Er betrachtete sie konzentriert. »Wie schön du bist!«, stellte er fest.

Wie gebannt schaute Eleonora zu ihm empor. Was für einen sinnlichen Mund er hatte. Und diese großen Augen, in deren glänzender Tiefe sie sich zu verlieren drohte. Sie zitterte noch mehr. Alexander neigte sich über sie.

»Bitte nicht«, flehte sie. Da hatten seine Lippen schon die ihren berührt. Erst durchfuhr es sie wie ein Blitzschlag. Als sie sich dem sanften Druck seiner Lippen öffnete, durchströmte sie ein heißes Gefühl, angenehm und brennend zugleich, ein Feuerstrahl, in dem sie zu verglühen drohte. Das unbeherrschbare Zittern war vorbei. Eleonora hob sich auf die Zehenspitzen. Mit beiden Armen umschlang sie Alexander und erwiderte seinen Kuss mit ungekannter Leidenschaft. Zeit und Raum versanken um das junge Paar. Wie lange dauerte dieser Kuss? Eine selige Ewigkeit.

»Eleonora, wo bist du?«, war plötzlich schwach aus der Ferne zu vernehmen.

Eleonora zuckte zusammen. »Das muss mein Vater sein«, sagte sie erschrocken.

Behutsam löste sich Alexander aus ihrer Umarmung. »Antworte ihm«, befahl er ihr. »Nein, warte, bis ich mich versteckt habe, dann antworte erst.«

Verwundert schaute sie ihn an. Im flackernden Licht der einsam brennenden Bühnenfackel wirkte sein Gesichtsausdruck fast drohend, hatte sein Verhalten etwas ausgesprochen Dramatisches.

»Man darf uns hier nicht zusammen sehen. Das wäre verhängnisvoll für dich. Ich kann und will dich auf keinen Fall kompromittieren«, erklärte er hastig. »Ich werde jetzt verschwinden, dann gehst du zurück Richtung Terrasse. Wenn man dich fragt, wo du warst, sagst du, du hättest noch einmal die Stätte deines heutigen Triumphs besuchen wollen. Niemand darf wissen, dass wir uns hier begegnet sind und sogar geküsst haben.« Alexander ergriff sie an beiden Schultern und schüttelte sie sacht. »Hast du verstanden, Eleonora?« Eindringlich schaute er sie an.

Sie nickte betäubt.

»Es muss unser Geheimnis bleiben, Eleonora«, beschwor er sie. »Nicht um meiner, sondern um deiner willen, verstehst du mich?«

Wieder nickte sie stumm. Alexander atmete auf. Er küsste sie nochmals auf die Stirn.

»Leb wohl, meine süße Eurydike, und hüte unser Geheimnis«, befahl er ihr ein letztes Mal und war im Dunkel der Nacht verschwunden. Sein leises zärtliches Lachen würde sie niemals vergessen. Eleonora warf den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und lauschte dem Geräusch des knirschenden Kieses unter seinen Schritten nach.

»Eleonora, wo bist du?« Ja, es war der Vater, der nach ihr rief. In seiner Stimme mischten sich Besorgnis und Ärger.

Eleonora zog die Stola wieder um ihre bloßen Schultern, senkte den Kopf und huschte durch das dichte Gebüsch über den Kiesweg Richtung Schlossterrasse.

»Hier bin ich, Vater!«, rief sie, als sie schließlich das Rasenrondell unmittelbar vor der Terrassentreppe erreicht hatte.

»Wo treibst du dich denn herum? Die Gräfin hat sogar schon die Diener ausgeschickt, um nach dir Ausschau zu halten«, schimpfte Prohaska aufgebracht.

Mit wenigen Schritten war Eleonora bei ihm. Mit ungewohnt vertraulicher Geste hakte sie ihn unter und zog ihn sachte, aber unnachgiebig wieder Richtung Ballsaal, wo sich die festliche Gesellschaft immer noch im Tanze tummelte.

»Wo warst du?«, insistierte Prohaska.

»Mon cher papa, ich konnte nicht widerstehen und bin zurück durch den Park zur Bühne gegangen, um noch einmal alleine die Stätte meines heutigen Triumphs zu erleben«, erklärte Eleonora und hielt sich getreulich an Alexanders Worte. Prohaska brummelte unwillig. So richtig schien ihn diese Erklärung nicht zu befriedigen.

»Und wo ist Graf Alexander, der wird nämlich gleichfalls von seiner Großmutter vermisst?«, erkundigte er sich misstrauisch. Eleonora biss sich auf die Lippe und senkte den Kopf. »Eleonora, warst du mit dem jungen Grafen da draußen in der Nacht?« Wie schneidend Vaters Stimme klingen konnte.

»Ich weiß nicht, wo Graf Alexander ist«, log Eleonora.

»Eleonora!« Schmerz und Wut ihres Vaters trafen sie wie ein Peitschenhieb.

»Monsieur, der junge Graf ist von seinem Burschen in den Stall gerufen worden.« Aus der dunklen Silhouette des Schlosses löste sich die Gestalt eines Dieners und trat vor Vater und Tochter. »Die Lieblingsstute des jungen Herrn soll heute Nacht fohlen, und es haben sich Komplikationen bei der …« Er hob die Hand an den Mund und hüstelte diskret. In Gegenwart einer jungen Dame war es eigentlich nicht comme il faut, sich in den Details eines solch biologischen Vorgangs zu ergehen.

Eleonora atmete auf. Alexander hatte seine Dienerschaft wirklich gut im Griff. Wie schnell es ihm gelungen war, den alten Jean zu informieren und ihn mit dieser Notlüge zu beauftragen.

»Der junge Herr bat mich, ihn bei der Gesellschaft zu entschuldigen, er wird den Rest der Nacht wohl im Stall …« Wieder die Hand zum Mund und ein diskretes Hüsteln.

Eleonora suchte den Blick des alten Dieners, der ihr väterlich zublinzelte. Wie gut, dass dieser dem jungen Grafen und auch ihr so wohlgesinnt war. So war Eleonora sich sicher, dass er niemals ein Sterbenswörtchen über diese kleine Kabale verlieren würde. Loyalität zu seinen Herrschaften ging diesem Faktotum tausendmal über das Vergnügen eines saftigen Küchentratsches im Souterrain von Schloss Sophienhof. Ein tiefer Seufzer der Erleichterung entwich ihr.

»Soso, na ja«, brummelte Prohaska, immer noch nicht so ganz zufrieden.

»Es ist seine Lieblingsstute, aus einem ganz edlen Arabergestüt«, setzte Jean noch einen drauf. Er verbeugte sich beflissen. »Entschuldigen Sie mich, ich habe versprochen, dem jungen Grafen einen kleinen Imbiss und einen Stärkungstrunk in die Stallungen bringen zu lassen.«

Er verzog sich, und Prohaska schien endlich überzeugt. Widerstandslos ließ er sich nun von Eleonora in Richtung des Festsaals ziehen.

»Carissima, da sind Sie ja. Ich habe Sie ja so vermisst«, kam Eleonora der Maestro entgegengestürzt. »Madonna mia, wie können Sie es wagen, Ihren alten Maestro so lange Ihrer entzückenden Gegenwart zu berauben.«

Eleonora lachte hellauf. Diesem alten Charmeur war einfach nicht zu widerstehen. Wie oft hatte er sie in den vergangenen Jahren gequält, getriezt mit endlosen Tonleitern, gepiesackt mit langwierigen Übungen. Er hatte sich nicht mal gescheut, ihr mit dem Taktstock eins über die Wange zu ziehen oder gar mit spitzem Finger in ihr Zwerchfell zu piksen. »Da sitzt der Ton, von da unten musst du singen!« Aber heute Abend war er ganz »Cavaliere«, bestand darauf, mit seinem Schützling »la Signorina Nora« einen Extratanz zu wagen. Er war stolz auf sie. Es war kaum auszumachen, wer an diesem Abend stolzer auf das schöne junge Mädchen, Tochter eines Kriegsveteranen aus Potsdam und begnadete Sängerin, nach dieser Premiere war, der eigene Vater, Maestro Farini oder Gräfin Dorothea.

Und Alexander? Hatte dieser nicht auch vor Stolz und Bewunderung gestrahlt, als er sich neben ihr auf der Bühne verbeugte?