Krystyna Kuhn: Bittersüßes oder Saures

Das Haus lag direkt am See. Am Wochenende waren hier die Lifestyle-Yuppies auf ihren schicken Booten unterwegs. Bei jedem Sonnenstrahl konnte man sie beobachten, wie sie auf dem Deck lagen und ihre Luxuskörper der Sonne entgegenstreckten. Irgendwie total strange!

Die Villa, in die ich vor ein paar Wochen eingezogen war, war nigelnagelneu und einfach perfekt. Gepflegter Garten, Designer-Fußabtreter vor der Tür, Gardinen hinter den Fenstern. Innen alles auf edel gemacht. Wie in einem Hochglanz-Magazin, dachte ich, als ich das Haus zum ersten Mal betrat. Kim würde jedenfalls beim Anblick meines Zimmers die Sprache wegbleiben. Es war so groß wie unsere gesamte frühere Wohnung. Früher … Dabei war es noch gar nicht lange her.

Mein Blick streifte über das Bett mit den knallbunten Kissen darauf, wanderte dann zur Kommode, zu dem riesigen Kleiderschrank, der meine wenigen Klamotten einfach so verschluckte, und blieb schließlich am Schreibtisch hängen, auf dem ein neuer Laptop stand. Nur für mich! Wie in einem Märchenschloss.

Irgendwie beunruhigend, nicht wirklich real. Nein, ich war noch nicht wirklich angekommen …

»Was Schönes her, sonst hexen wir!«, gellten die Stimmen der Kinder aus der Nachbarschaft an mein Ohr, die heute an Halloween oder »Kürbisfasching«, wie Kim es nannte, durch die Straßen zogen. »Trick or treat. Was Schönes her, sonst hexen wir …«, wiederholten sie immer wieder, bis ihre Stimmen schwächer wurden und schließlich die Dunkelheit sie verschluckte.

Für einen Moment wurde es so still im Zimmer, man hätte die Fische draußen im See rülpsen hören können.

Würde Kim sagen.

Manche Leute finden Ruhe ja erholsam. Ich dagegen hasste diese Stille. Sie war beängstigend. Denn dann musste ich an Mami denken. Ich malte mir aus, wie sie allein in der dunklen Wohnung lag, während ich mich amüsierte. Keinen Gedanken hatte ich an sie verschwendet. Keinen einzigen …

Laura wandte sich vom Fenster ab, setzte sich auf den Drehstuhl, stieß sich am Schreibtisch ab und drehte sich mehrfach im Kreis. »Wie sehe ich aus?«

»Gut!«

Laura war ein sehr hübsches Mädchen und sah Stephanie, ihrer Mutter, unglaublich ähnlich. Alles an ihr war klein und zierlich, außer ihren Augen, die unglaublich groß und von einem hellen Blau waren. Sie hatte wellige blonde Haare, eine hohe Stirn und perfekt geschwungene Augenbrauen. Für die Halloweenparty trug sie eine Tüllschleife im Haar, der schwarze Seidenrock rauschte bei jedem Schritt und die hohen Lackstiefel glänzten metallisch. Außerdem hatte sie die Fingernägel schwarz lackiert.

»Du hast Papas Augen«, stellte sie fest.

»Grün wie Wackelpudding«, murmelte ich.

»Wackelpudding?« Sie runzelte die Stirn. »Ach so, das grüne Zeug? Ihh, das ist so glibberig.«

»Wie Froschlaich!«

»Genau!«

Wir lachten – etwas verlegen, aber es war ein Anfang.

Im nächsten Moment langweilte sie sich bereits wieder, sprang vom Drehstuhl und bückte sich zu den Pappkartons hinunter, die sich seit meinem Einzug noch immer hinter der Tür stapelten: der ganze Krempel aus meinem früheren Leben.

»Soll ich dir nicht mit den Kisten helfen?« Sie sah mich herausfordernd an, geradezu lauernd.

Ich schüttelte den Kopf. »Lass die Finger von meinem Kram.«

»Willst du sie überhaupt nicht auspacken?«

»Irgendwann vielleicht, aber nicht heute.«

Ich zuckte zusammen, als sie neben mir aufs Bett sprang: »Mann, dir fehlt wirklich nur noch der Besen zum Herumwirbeln.«

»Papa musste eure Wohnung auflösen. Er hat gesagt, deine Mutter hat seit Wochen keine Miete mehr bezahlt. Und du hast echt keinen Plan gehabt, dass sie so krank war?« Laura starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an.

»NEIN! Das hast du mich schon hundert Mal gefragt.«

Sie spielte an meinem alten Kassettenrekorder herum, der auf dem Nachttischkästchen stand. »Sie haben das Zimmer extra neu für dich eingerichtet.«

Ich musste an die alte Wohnung denken, in der ich mit meiner Mutter gelebt hatte. Sie schlief immer auf der Couch im Wohnzimmer, während ich mein eigenes Zimmer hatte. Na ja, ich sollte wohl eher Kabuff sagen! Eine Matratze auf dem Boden (mein Bett), ein paar Holzbretter auf Ziegelsteinen (das Bücherregal) und ein Campingtisch, den Mami bei eBay für fünf Euro und dreiunddreißig Cent ersteigert hatte und der mir als Schreibtisch diente.

Und nun saß ich hier, in dieser Nobelhütte, in einem Luxuszimmer, das … ganz ehrlich! … verdächtig einem Büro ähnelte. Doch ich war nicht zum Arbeiten hergekommen, sondern um zu überleben – und das bedeutete: auf keinen Fall zurück ins Heim!

»Hast du den Laptop schon ausprobiert? Ein Superhammergerät! Mit DVD-Brenner und Webcam. Nur keine Games, aber wenn du Jo bittest, dann spielt er dir vielleicht Gothic 3 drauf …«

»Ich hasse Computerspiele«, unterbrach ich Laura genervt.

»Ich nicht.« Sie drehte sich auf die Seite, stützte den Kopf auf und sah mich eindringlich an. Die Smokey Eyes, die ich ihr geschminkt hatte, wirkten auf ihrer blassen Porzellanhaut wie Katzenaugen. »Findest du es nicht aufregend, eine neue Schwester und einen neuen Bruder zu haben? Obwohl, ein Bruder ist einfach nicht dasselbe und Jo ist …«

»Was?« Ich sah sie abwartend an.

»›Anstrengend‹, sagt Mama. Jo weiß immer alles besser. Er mischt sich in alles ein. Wirst du noch merken. Oh, manchmal ist er einfach so gemein!« Sie seufzte.

»Na ja, Gott sei Dank, mein Bruder ist er ja nicht.«

»Und deine Mutter hat echt von uns gewusst? Wie wir heißen, wie alt wir sind, wo wir wohnen?« Laura kniff beim Reden die Lippen zusammen; ein vergeblicher Versuch, ihre Zahnspange zu verbergen. »Und trotzdem hat sie nie über uns gesprochen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Also, als Mama von dir erfahren hat, war erst mal die Hölle los. ›Wer weiß, wo DIE herkommt und welche Probleme DIE mitbringt.‹« Laura verfiel in ihr Hexengekicher. »›Und DIE ist garantiert asozial.‹«

Kaltes orangefarbenes Licht flackerte vor dem Fenster und erleuchtete das Halbdunkel des Zimmers. Als ob Geister draußen durch die Straßen schlichen und flüsterten: »Trick or treat. Trick or treat. Was Schönes her, sonst hexen wir …«

»Ich habe gelauscht«, flüsterte nun auch Laura, »als sie sich abends unterhalten haben. Ich habe es Jo erzählt und er meinte, wo du herkommst, sei jeder Zweite ein Assi.«

Jo (18) war der älteste Sohn von Stephanie. Ich (15) war die älteste Tochter meines Vaters und Laura (13) war sowohl dessen als auch Stephanies Tochter. Ja, es war ziemlich kompliziert. Ehrlich gesagt hatte ich mich immer noch nicht daran gewöhnt. Aber ich wusste ja auch erst seit Kurzem, dass ich überhaupt eine Familie hatte.

Laura sprang auf, ging zum Schrank, öffnete ihn, ohne zu fragen, holte meine Lederjacke heraus und zog sie über. Die Jacke stand ihr gut.

»Ich bin vielleicht assi, aber ich öffne nicht einfach fremde Schränke«, murmelte ich.

»Aber die ist sooo cool! Bitte, bitte, darf ich sie heute Abend anziehen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, die gehört mir nicht.«

»Wem denn?«

»Einem Freund.«

»Aha.« Sie grinste anzüglich. »Und wer ist eigentlich Kim? Eine Freundin?«

»Na ja«, murmelte ich, »wir sind befreundet, seit ich überhaupt denken kann.« Woher wusste sie von Kim? Ich hatte den Namen ihr gegenüber nie erwähnt – überhaupt wusste hier niemand von Kim.

Laura zog die Jacke aus und ließ sie einfach zu Boden fallen. Erneut setzte sie sich neben mich aufs Bett und nahm meinen geliebten alten Teddy in die Hand.

Stopp! Es wurde höchste Zeit, dass ich sie loswurde. Kleine Schwestern waren offenbar nicht nur in Büchern lästig, sondern auch in der Realität.

»Weißt du, Fabienne, meine Freundin, wo ich heute Abend feiere, sie sagt, dass du …«

Sie brach ab, denn in diesem Moment steckte Stephanie den Kopf zur Tür herein.

»Laura, wir müssen los!« Sie wandte sich zu mir, konnte mir aber – wie immer, seit ich hier wohnte – nicht in die Augen sehen. Also hob sie stattdessen die Lederjacke vom Boden auf und strich sie glatt, wobei sie einen missbilligenden Seufzer ausstieß. Stephanie war den ganzen Tag damit beschäftigt, durchs Haus zu rennen und zu seufzen. Und wenn sie nicht seufzte, schwirrte sie herum, fuhr mit den Fingern über die Möbel, jammerte über die schmutzigen Fenster und saugte Staub.

Mir lag schon auf der Zunge »Das war nicht ich, sondern Laura!«, aber ich schwieg, denn da, wo ich herkomme, steht auf Verrat so etwas Ähnliches wie die Todesstrafe.

»Und du möchtest wirklich nicht mit mir auf die Halloweenparty?« Laura sah mich bittend, ja schon fast flehend, an.

»Nein!« Ich hatte echt keine Lust, mit Dreizehnjährigen Apfelsaft zu trinken, Topfschlagen zu spielen und Gruselgeschichten zu hören. Außerdem, Halloween – da ging es um Knochen, Totenschädel, Geister, Skelette. Ehrlich, mir war nicht danach, ein Totenfest zu feiern, nach allem, was passiert war.

»Schade«, sie verzog das Gesicht. »Fabienne plant etwas richtig Gruseliges. Wenn ich nicht komme, ist sie ewig sauer auf mich! Und sie will unbedingt meine große Schwester kennenlernen. Fabienne … sie ist meine allerallerbeste Freundin.«

»Wenn du mich fragst, sie ist ein Monster«, hörte ich Jo, der ebenfalls den Kopf zur Tür hereinstreckte.

»Und du bist so gemein!« Laura streckte ihrem großen Bruder die Zunge heraus.

Happy family!

»Laura schläft bei Fabienne, aber ich bin spätestens um elf zurück«, erklärte Stephanie ungeduldig, mit Blick auf die Uhr. »Jo bleibt hier. Ich habe beim Lieferservice angerufen und euch eine Pizza bestellt. Dein Vater kommt erst morgen früh wieder von seiner Geschäftsreise zurück.«

Komisch, obwohl ich meinen Vater fünfzehn Jahre lang überhaupt nicht gekannt hatte, vermisste ich ihn jetzt.

Nach und nach verklangen die Stimmen im Haus und dann fiel die Tür ins Schloss.

Als sie weg waren, kam wieder diese Stille, die dieses Haus verhexte.

Ich griff nach der Lederjacke und vergrub mein Gesicht darin. Mein Herz klopfte wie verrückt vor Sehnsucht. Ich schloss die Augen und ließ die Tränen einfach kommen.

Meine Erinnerung an diesen schrecklichen Tag war so lebendig. Ich konnte mich bis in alle Einzelheiten erinnern. Kims Mutter hatte uns bereits am Hauptbahnhof erwartet. Das war seltsam gewesen. Wir brauchten schließlich schon seit der zweiten Klasse keinen Aufpasser mehr, sondern bewegten uns überall in der Stadt, als befänden wir uns in unserem eigenen Kiez.

»Du kommst erst mal zu uns«, blaffte Conni zusammen mit einer Schnapsfahne in meine Richtung. Dem Geruch nach tippte ich auf Wodka Gorbatschow.

»Warum?«, fragte ich verwirrt, aber Kim stieß mir den rechten Ellbogen in die Seite und zischte fast lautlos: »Frag nicht so blöd, Lena, sonst überlegt sie es sich anders.«

Kim und ich hatten immer fest zusammengehalten, waren verbunden durch – wie Kim es nannte – dieselbe Erwachsenenscheiße im Leben, denn wir hatten beide alleinerziehende Mütter und in der Spalte Vater stand in der Geburtsurkunde: UNBEKANNT!

Als ich Conni so vor mir sah, in ihrer gelben Jogginghose, ihren grünen Gummistiefeln und einem orangefarbenen T-Shirt von Kim, ahnte ich bereits, dass etwas nicht stimmte. Sie ging so gut wie nie aus dem Haus, außer um ihre Alkoholvorräte aufzufüllen. Aber ich wollte es gar nicht so genau wissen. Verdammt! Ich kam schließlich gerade von einer Klassenfahrt zurück, die mein Leben verändert hatte. Ich wollte einfach nicht, dass irgendjemand mir einen Strich durch die Rechnung machte.

In der U-Bahn sprach Conni die ganze Zeit über kein einziges Wort. Sie wischte sich nur immer wieder über den Mund. Kim und ich warfen uns jedes Mal einen besorgten Blick zu. Sie brauchte einen Drink und wir hofften, sie würde durchhalten, bis wir zu Hause wären. Kim quatschte ununterbrochen, um sie abzulenken. Connis Blicke wurden immer trüber und wirkten so feucht, als hätte sie eine Augenentzündung. Ihr Verhalten wurde noch eigentümlicher, als wir den Wohnblock erreichten. Sie schloss die Haustür auf und nahm mir – total strange! – die Reisetasche ab! Ausgerechnet Conni! Der trugen doch sogar die alten Omas aus der Nachbarschaft die Tasche mit den Flaschen hoch, weil sie selbst es nicht schaffte.

»Vielleicht sollte ich doch erst mal nach Hause …«, überlegte ich, doch Conni schüttelte heftig den Kopf.

Spätestens in diesem Moment war mir klar: Irgendetwas stimmte nicht.

Nur was?

Im Wohnzimmer ließ Conni sich völlig fertig auf das alte Sofa plumpsen, dessen Sitzfläche so durchgesessen war, dass sie sich im Grunde auch gleich auf den Boden hätte setzen können. Sie goss sich ein Glas Wodka ein, rülpste und fing von einer Sekunde zur anderen zu weinen an. Kim und ich standen in der Tür und starrten sie entsetzt an. Aus unterschiedlichen Gründen: Kim, weil eine Mutter, die rülpst und gleichzeitig weint, verdammt peinlich ist. Ich, weil das Kribbeln um meine Herzgegend zu einem Ring wurde, der sich fester und fester zog.

»Mann«, murmelte Kim. »Die heult. Das kann nur bedeuten, dass deine Mutter total in der Scheiße sitzt!«

Conni aber konnte mir nicht in die Augen sehen, als sie sagte: »Du wirst gleich abgeholt.« Ihre Stimme, vom Rauchen und Trinken heiser, klang noch kratziger als sonst. »Das Jugendamt bringt dich ins Heim. Ich habe deinen Koffer schon gepackt. Deine Mutter …« Hier brach sie ab, nahm einen weiteren Schluck und putzte sich die Nase.

So hatte ich erfahren, dass Mami tot war. Conni hatte sie gefunden, den Krankenwagen gerufen, aber es war zu spät. Ich habe Mami nicht wiedergesehen. Nicht lebendig, ja nicht einmal tot.

Und an jenem Abend im Heim habe ich zum ersten Mal inständig gebetet, der liebe Gott möge mir meinen unbekannten Vater schicken.

Ich lag auf dem Bett und übertönte das Schweigen mit der Rapmusik, die Kim mir auf Kassette aufgenommen hatte. Papa hatte mir zwar einen iPod geschenkt, aber ich hatte das Ding noch nie benutzt – genauso wenig wie den Laptop. Ich war noch nicht so weit. Draußen war es stockdunkel. Der Vollmond war hinter der Wolkendecke verschwunden. Die Nacht wurde einzig und allein vom boshaften Grinsen der Kürbisse vor den Haustüren erleuchtet. Immer noch zogen Kinder durch die Straße und riefen »Trick or treat. Trick or treat. Was Schönes her, sonst hexen wir!«.

Wie lange ich so lag? Keine Ahnung. Vielleicht war ich auch eingeschlafen. Ich glaubte, draußen im Flur Schritte zu hören, und hielt den Atem an. War das Jo? Würde er in mein Zimmer kommen? Nein. Das Geräusch war verschwunden. Gott sei Dank versuchte wenigstens er, nicht mit mir zu reden! Er hatte etwas an sich, was mich verunsicherte. Auf der einen Seite der große Schweiger, dann wieder kommentierte er alles mit spöttischem Grinsen. Auch Papa störte das, so viel hatte ich schon mitbekommen. Irgendwie tat er mir leid. Nicht nur Jo als Stiefsohn, sondern jetzt auch noch mich, das Kuckuckskind. Nur ein Satz von Mami vor sechzehn Jahren und alles wäre anders gelaufen. Wie es wohl gewesen wäre, in einer normalen Familie aufzuwachsen? Papa, Mami und ich? Nein, ich wollte nicht an Mami denken und an all das, was gewesen war. Oder eben nicht gewesen war. Entschlossen schüttelte ich den Kopf und beschloss, mir vor dem Abendessen noch eine heiße Dusche zu gönnen.

Im Badezimmer war es genauso warm, wie ich es mir bei dem Wort Sauna vorstellte. Ich zog mich aus, legte meine Kleider ordentlich über den Wäschekorb. Dann zog ich die Tür zur Duschkabine auf, stieg hinein und drehte den Regler bis zum Anschlag, also kurz vor den Siedepunkt. Von dem heißen Wasser brannten die Narben am Arm und leuchteten rot.

Ich schloss die Augen und hielt mein Gesicht unter den dampfenden Wasserstrahl. Mit dem Wasser schienen auch all meine Sorgen von mir abzufließen. So schlecht läuft es gar nicht, beruhigte ich mich, du hättest auch im Heim landen können. Stattdessen bist du jetzt stolzer Besitzer eines Vaters, der jede Menge Kohle verdient. Und das war im Vergleich zur Vergangenheit echt das totale Kontrastprogramm.

Papa kümmerte sich wirklich um mich, er gab sich tierisch viel Mühe – und ich konnte ihn ehrlich gesagt ganz gut leiden. Okay, aus Stephanie wurde ich noch nicht schlau. Sie war ziemlich nervös, aber konnte ich ihr das verdenken? Immerhin hatte sie erfahren müssen, dass ihr Mann bereits ein Kind mit einer anderen Frau hatte. Und dieses Kind zog nun einfach bei ihr ein …

Laura – in Überdosis eine Nervensäge – mochte mich.

Blieb also nur noch als unkalkulierbarer Faktor Jo.

Ich hätte ewig unter dem Wasserstrahl stehen bleiben können, mein Körper hatte bereits angefangen zu dampfen. Die Glasverkleidung der Duschkabine war total beschlagen. Ich spülte Seife und Shampooreste ab und drehte den Wasserhahn zu.

Im selben Augenblick hörte ich etwas. Als ob die Tür zum Badezimmer geöffnet wurde. Dann spürte ich einen Luftzug im Rücken. Eine plötzliche Kälte fegte über mich hinweg, die mich frösteln ließ.

War noch jemand außer mir im Raum?

Ich lauschte angestrengt nach verdächtigen Geräuschen.

Nein, nur das aufdringliche Tropfen des Duschkopfes.

Ich wischte die beschlagenen Scheiben mit der Hand sauber, kniff die Augen zusammen, doch ich konnte nur die Umrisse der Möbel erkennen.

»Jo, bist du das?«

Keine Antwort.

Alles schien normal, wäre nur nicht das Gefühl von Angst gewesen, das mich plötzlich überfiel. Mein Herz setzte für einen Moment aus und in der nächsten Sekunde raste es plötzlich los.

Ich versuchte, die Tür der Duschkabine aufzustoßen. Sie klemmte. Ich warf mich dagegen – und fiel.

Einige Sekunden – zwei, drei? – saß ich am Boden und versuchte, mich zu beruhigen.

HIER IST NIEMAND!

Doch die Angst, seit Wochen mein bester Freund, ging einfach nicht weg. Während ich noch immer dasaß, völlig unfähig, mich zu bewegen, hörte ich von Weitem das Telefon laut schrillen.

Ich wartete darauf, Jos Schritte zu hören, und rechnete fest damit, dass er abnahm. Doch nichts passierte und das Telefon hörte nicht auf zu klingeln.

Vielleicht war es ja Papa. Wie gerne ich gerade seine Stimme hören würde! Ich musste mich beeilen, wollte nach meinen Kleidern greifen, aber … sie waren verschwunden.

Ein kalter Luftzug streifte meinen nassen Körper – da bemerkte ich, dass die Tür einen Spaltbreit offen stand. Ich war mir ganz sicher, dass ich sie vorhin hinter mir zugemacht hatte. Mein Blick kehrte zum Wäschekorb zurück. Ich hatte mich doch hier ausgezogen, hatte die Klamotten dort abgelegt! Sie mussten hier sein! Panisch schaute ich mich im Bad um. Nichts. Ich schlang ein Badetuch um mich und rannte in mein Zimmer.

Das Telefon schrillte weiter.

Nichts. Weder auf dem Bett noch auf dem Schreibtischstuhl – meine Kleidung war nirgends zu sehen. Drehte ich total durch? Hatte das heiße Wasser irgendwie meinen Verstand vernebelt? Zurück im Badezimmer stellte ich fest: Die Kleider hatten sich in Luft aufgelöst. Jeans, T-Shirt, Jacke, Strümpfe, Slip, BH. Alles weg. Und das Klingeln hörte nicht auf. Ich rannte die Treppe hinunter. Von Jo war nichts zu sehen. Keine Spur von ihm.

»Hallo?«

Niemand antwortete.

»Hallo«, wiederholte ich keuchend, völlig außer Atem vom Rennen.

Aber das Telefon blieb stumm. Dabei war ich mir fast sicher, dass am anderen Ende jemand war.

Mein Blick fiel auf die Fotos auf der Kommode. Mir war noch nie aufgefallen, dass auch eines von mir dort stand. Von mir und Mami. Ich wandte rasch den Blick ab, ignorierte das heftige Klopfen in meiner Brust. Der Hörer fiel zu Boden.

In diesem Moment hörte ich einen Schlüssel im Schloss. Die Haustür öffnete sich und Jo stand vor mir.

Fassungslos starrte ich ihn an.

»Was ist los? Hast du ein Gespenst gesehen?«, fragte er.

»WO warst du?«

»Pizza holen. Ist das verboten?«

»Aber …«

Er hatte tatsächlich zwei Pizzakartons in den Händen.

Komisch, hatte Stephanie nicht irgendetwas von Lieferservice gesagt?

Ich war total durcheinander. Eine Pfütze aus Wasser, das aus meinen Haaren tropfte, hinterließ einen hässlichen Fleck auf dem hellen Holzfußboden.

»Bei uns rennt man jedenfalls nicht nackt durchs Haus.« Er ging an mir vorbei. »Wir können jetzt essen oder hast du keinen Hunger?«

»Doch … aber meine Kleider …«, stammelte ich.

»Was ist damit?«

»Nichts!« Ich wandte mich um und stolperte die Marmorstufen nach oben. Das Erste, was mir ins Auge fiel, als ich die Badezimmertür aufriss, waren meine Jeans. Und zwar genau dort, wo ich sie hingelegt hatte. Auf dem Wäschekorb und darauf die frische Unterwäsche. Ich zitterte am ganzen Körper, als ich mich anzog. Was war nur los mit mir? War ich total durchgeknallt? Hatte Mamis Tod mich doch mehr aus der Bahn geworfen, als ich mir bislang eingestehen wollte?

Ich musste endlich aufhören, so viel über die Vergangenheit nachzudenken. Mein Leben fand nun hier statt, in diesem Haus, mit meiner neuen Familie. Tapfer schluckte ich gegen den Kloß in meinem Hals an. Ich warf einen Blick in den Spiegel, klatschte kaltes Wasser in mein bleiches Gesicht und sagte mir: Nur nichts anmerken lassen, Lena. Reiß dich zusammen!

Der Tisch war bereits gedeckt, als ich wenige Minuten später nach unten kam. Weingläser funkelten im Kerzenlicht und auf den Tellern lagen orangefarbene Servietten mit kitschigen Gespenstern drauf. Jo hatte sich mächtig ins Zeug gelegt.

»Du auch?« Er präsentierte mir eine Flasche Rotwein. Unter dem Bund seiner Jeans schauten Boxershorts mit einem Totenkopfmuster hervor. Die Haare, wie bei Schweinsteiger eine Mischung aus Irokesenschnitt und Wasserstoffblond, ragten in die Luft.

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. Kim und ich hatten uns versprochen, die Finger vom Alkohol zu lassen. Nicht gerade cool, aber wir hatten schließlich jahrelang Connis Verfall miterleben müssen.

»Cola?«

Ich nickte.

»Ananas oder Pilze?«

»Was?«

»Ananas oder Pilze?«

»Ach so! Ananas!«

Jo setzte sich, öffnete einen der Kartons, riss ein Stück von der Pizza ab und schob den zweiten Karton in meine Richtung: »Also, was ist, hast du keinen Hunger? Fang an!«

Ich griff nach dem Messer, als Jo sagte: »Kein Blutbad bitte!«

»Was?«

»Ich hoffe, du richtest kein Blutbad an.«

Jo beobachtete mich unter halb geschlossenen Lidern.

Wie vom Donner gerührt saß ich da. Weshalb sagte Jo so etwas?

Anscheinend wusste er Bescheid. Aber wer hatte es ihm erzählt?

»Zeig doch mal die Narben!« Er fixierte meinen Unterarm.

Das Blut rauschte mir in den Ohren – ich riss den Blick von Jo los und starrte ebenfalls auf meinen Arm. Der linke Ärmel des Pullovers war nach hinten gerutscht und das rote Linienmuster stach ins Auge. Aber es war vorbei – ich hatte es geschworen!

»He, die Narben sind ja perfekt«, sagte Jo im Plauderton.

Eine Sekunde herrschte Schweigen.

Ich glaubte schon fast, ich hätte mich verhört, als er fortfuhr. »Damit hättest du heute Abend auf jeder Halloweenparty den ersten Preis gewinnen können.«

Seine Stimme klang ungerührt und irgendwie – kalt? Ich wurde einfach nicht schlau aus ihm. Irgendwie schaffte er es immer wieder, mich zu verunsichern. Als ob er etwas über mich wusste, wovon ich keinen blassen Schimmer hatte.

Schnell zog ich den Bund meines Pullovers über die Narben und starrte auf die Pizza. Jo war so … Ich schaffte es einfach nicht, ihn zu durchschauen. Meistens behandelte er mich wie Laura – wie eine kleine Schwester eben und dann wieder wie einen Fremdkörper in diesem Haus, einen Störenfried …

»Sie haben gesagt, wir sollen ganz normal mit dir umgehen und uns bloß nichts anmerken lassen«, bemerkte er.

Der Wind draußen legte an Geschwindigkeit zu. Ich hörte die Wellen gegen das Ufer schlagen, Regen prasselte mit voller Wucht an die Scheiben der Küchenfenster. Auch in mir begann es langsam zu toben. Wütend hob ich den Kopf und schaute Jo direkt ins Gesicht, aber er hörte nicht auf.

»Bei mir ist auch eine in der Klasse, die sich ritzt. Die nimmt aber kein Messer, sondern Rasierklingen. Gilette Kontur – Präzisionsklingen«, verkündete er. »Sie schwört sogar darauf – und wie ist das so bei dir?«

Ich umklammerte das Messer und riss mich zusammen: »Kannst mir ja das nächste Mal Plastikbesteck herlegen, wenn du Schiss hast«, sagte ich mit ruhiger Stimme.

Er lachte. »Warum machst du nur so eine Scheiße?«

In dem Viertel, in dem ich aufgewachsen war, bauten ziemlich viele Leute ziemlich viel Scheiße – aus harmloseren Gründen als ich. Ehrlich, als ich mich an jenem Abend im Heim zum ersten Mal ritzte, weiß der Teufel, was da in mir vorging. Es war einfach eine Art geistiger Kurzschluss, der sich noch ein paar Mal wiederholte. Ich war, so nennt man das wohl, traumatisiert. Mann, meine Mutter war tot, ich hatte kein Zuhause mehr, womöglich musste ich Jahre im Heim verbringen.

Ich vermisste Kim ganz schrecklich. Das Gefühl von Angst – echt, das war total gespenstisch. Als ob sich ein Alien in meinem Körper festgesetzt hatte, mein Herz in der Hand hielt und es ganz langsam, ganz fest, geradezu heimtückisch zwischen den Fingern zerquetschte.

Meine erste Reaktion war Wut. Auf alles, auf alle: meine Mutter, die anderen, mich selbst, auf diesen Zombie in mir. Mann – ich hätte Amok laufen können. Und mal ehrlich: Besser ich ging mit dem Messer auf mich los als zum Beispiel auf Jana, meine neugierige Zimmernachbarin im Heim!

Niemand bemerkte die Schnitte an meinem linken Arm, bis mich am Morgen der Beerdigung ausgerechnet Jana erwischte, als ich mit einer Nagelschere Totenkreuze in meinen Unterarm ritzte. Klar floss Blut. Was war so schlimm daran? Und überhaupt, hatte ich Kim geschrieben, warum pissen sich eigentlich alle so auf, schließlich sind die paar Kratzer nicht mit dem zu vergleichen, was Mami durchgemacht hat.

Aber Jana, diese elende Verräterin, hatte mich sofort bei der Heimleiterin verpetzt. Die Folge waren die totale Kontrolle und Gespräche mit einer Psychologin. Diese furchtbare Frau war hinter meinen Geheimnissen her wie Conni hinter ihrem Wodka Gorbatschow. Aber ich schwieg eisern, während mein Vater versuchte, das Sorgerecht für mich zu bekommen. Das dauerte ewig. Das lag vermutlich an Stephanie, die das Ganze verzögerte. Ich musste schließlich einen Vertrag unterschreiben, den die Psychotante entworfen hatte, dass ich es nie wieder tun würde. Seitdem hatte ich mich im Griff, was in jedem Fall besser war, als ständig kontrolliert zu werden.

»Ich hab dich was gefragt! Hörst du nicht zu?« Jo hatte bereits seine ganze Pizza gegessen, während meine noch vollständig vor mir lag.

»Was?«

»Ob schon jemand mit dir über den Schulwechsel gesprochen hat?«

Hörte ich da einen triumphierenden Unterton in seiner Stimme?

»Schulwechsel?«

»Sie wollen, dass du auf Lauras Schule gehst.«

Gänsehaut breitete sich auf meiner Haut aus. Angstpickel nannte Kim sie. Unter einem Mikroskop würde ich aussehen wie ein Streuselkuchen.

»Ich werde nicht auf eine andere Schule gehen.«

»Wart’s nur ab.« Er machte eine kurze Pause. »Sie bringen dich schon so weit.«

»Das werden wir ja sehen!«, erwiderte ich.

Immer cool bleiben, wenn dir jemand zu nahe kommt. Genau das lernte man da, wo ich herkam.

»Du behauptest, es würde dir nichts ausmachen, aber ich seh doch, was los ist. Da drinnen«, er deutete mit dem Messer auf meine Brust, »da zieht gerade ein Hurrikan auf.«

»Lass mich einfach in Ruhe!«

»Es ist keine Lösung, den Kopf in den Sand zu stecken: Augen zu, nichts sehen, nichts hören …«

»Klugscheißer!«

Jo war wirklich unberechenbar; gerade noch hatte er mich wegen meiner Ritzerei aufgezogen, dann wieder machte er einen auf verständnisvoll.

Eine Weile sagte keiner von uns etwas.

»Hast du eigentlich gewusst, dass du einen Vater hast?«

»Na ja, es ist nicht so, dass ich dachte, ich wäre aus dem Ei gekrochen …«

Er grinste.

»… oder im Labor entstanden. Es war mir schon klar, dass ich einen biologischen Vater habe.« Ich riss ein Stück Pizza ab. Scheiß auf Messer und Gabel!

Er lachte, was sich wider Erwarten nett anhörte. Zum Teufel, nie wusste ich, was er wirklich dachte.

»Ich meine, ob man ihn kennt oder nicht, eines ist sicher: Jeder hat einen Vater, und wenn er nicht gestorben ist, lebt er irgendwo und dann stellt man ihn sich vor, wie er aussieht, wie er lebt …«

Ich quatschte, als stünde ich unter Drogen.

»Und wie hast du ihn dir vorgestellt?«

»Single, Mietwohnung, Kühlschrank leer, überall Bierflaschen.«

»Und jetzt bist du enttäuscht?«

»Na ja, irgendwie war ich schon der Meinung, dass er nichts Besseres verdient hat. Sie – also – …«

»Deine Mutter?«

Ich nickte. »Sie hat gesagt, er habe damals auf einer Abtreibung bestanden.«

Plötzlich fühlte ich mich etwas besser. Vielleicht war Jo doch ganz nett. Vielleicht war es gut, einen Bruder zu haben, mit dem man reden konnte. Und die Pizza schmeckte gar nicht mal so schlecht.

»Weißt du, dass sie ihm geschrieben hat, kurz vor ihrem Tod?« Jo sah mich mit lauerndem Blick an.

Wieder hörte ich das Blut in meinen Ohren rauschen. Warum nur hatte sie ihm geschrieben und nicht mir? Und warum musste Jo mich mit seinen Fragen so quälen?

Ich brauchte frische Luft. Ich musste hier raus.

Das Messer fiel mir aus der Hand, als ich aufsprang. Ich rannte in den Flur, riss die Haustür auf und stolperte hinaus ins Freie. Eine starke Windbö erfasste mich und Regen peitschte in mein Gesicht. Ich setzte mich auf die nasse, kalte Treppe vor dem Haus. Hinter mir ging im Flur das Licht aus. Ein ausgehöhlter Kürbis glotzte mich an, hinter dessen gezacktem, breit grinsendem Mund eine Kerze flackerte. So saß ich da, ohne mich zu bewegen, starrte hinaus in die hundert Millionen Tonnen schwere Nacht, diese riesige Finsternis, in der nichts zu hören war als das harte Prasseln des Regens, das Rauschen des Sees.

Vor meinen Blick schoben sich die Bilder des Morgens, an dem meine Mutter beerdigt worden war. Plötzlich hatte ein Mann in schwarzem Anzug und Krawatte vor mir gestanden und behauptet, er sei mein Vater. Und ich hatte ihm geglaubt. Denn er sah aus wie ich. Ich sah aus wie er. Und – er hatte den Brief bei sich, von dem Jo gesprochen hatte. Der Brief, in dem Mami ihm von mir erzählte und dass sie sterben würde. Sie hatte alles perfekt geplant. Sogar das Begräbnis war schon bezahlt. Das Begräbnis und die Klassenfahrt. Ihre ganzen Ersparnisse waren dafür draufgegangen …

Ich schnappte nach Luft. Dachte, ich müsste ersticken vor lauter Erinnerungen. Jo hatte mit seinen Fragen die Vergangenheit aufgewühlt. Ich schob den linken Ärmel zurück und betrachtete die roten Linien.

»Weißt du, was du deinem Körper damit antust?«, hörte ich die Stimme dieser Psychotante im Heim. Na ja, Psychozwerg war wohl der treffendere Ausdruck. Sie sah aus wie ein Playmobilmännchen, was vor allem an ihrem Make-up lag, das sie sich ins Gesicht schmierte nach dem Motto: Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Mondgesicht. Und so jemand behandelte mich, als sei ich auf dem geistigen Niveau eines Kindergartenkindes, sagte Sätze wie: »Du verletzt dich selbst. Du kannst eine Infektion bekommen. Die Wunden können sich entzünden. Die Narben werden nie wieder verschwinden.«

Ehrlich gesagt fand ich das Ganze halb so schlimm. Wen störten schon die paar Kratzer auf meinen Armen? Richtig ätzend sah es hingegen in meinem Inneren aus. Aber so etwas sahen Erwachsene nie, nicht einmal diese Zwergin, dabei wäre es ihr Job gewesen.

Mami … Erst seit sie tot war, nannte ich sie wieder so. Im letzten Jahr hatte ich nie Mami zu ihr gesagt. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich sie angesprochen habe. Vielleicht nur he … oder du? Bescheuert, oder? Jedenfalls höre ich manchmal nachts ihre Stimme, Mamis Stimme, ohne sie jedoch zu sehen.

Mann, ich musste endlich aufhören, so viel nachzudenken. Ich zwang mich, die ganzen Bilder von mir wegzuschieben. Außerdem wurde mir langsam kalt, mein Hintern war nass von der feuchten Treppe und ich entschloss mich, zurück ins Haus zu gehen. Ich erhob mich, wandte mich um und – stieß gegen Jo. Wie ein Geist war er plötzlich aus der Dunkelheit aufgetaucht. Oder hatte er die ganze Zeit über hier gestanden?

»Gott, hast du mich erschreckt!«

»Sorry, aber ich wohne hier!«

Er hatte sich zum Ausgehen angezogen. Die Hand spielte mit den Autoschlüsseln.

Meine Stimme zitterte leicht: »Fährst du weg?«

»Brauchst du einen Babysitter oder was?« Er grinste.

»Quatsch!«

»Dann ist es ja gut.« Er ging die Stufen hinunter.

»Wo gehst du hin?«

»Ich hab was vor«, rief er, ohne sich umzublicken.

Ich sah ihm nach, wie er das Auto aufschloss, einstieg und ohne ein weiteres Wort losfuhr. Dann verschluckte ihn die Nacht und ich blieb zurück – mutterseelenallein.

Mann, war das still hier. Zu still. In der Plattenbau-Wohnung hatte man immer Geräusche gehört. Ständig klapperte der altersschwache Aufzug hoch und runter, Wohnungstüren schlugen zu, Nachbarn brüllten sich an, Kinder plärrten. Unten im Hof betranken sich Jugendliche; Flaschen schepperten, wenn sie aufeinander losgingen. Dazu kam das Gemurmel in den Abflüssen, Musik von unten, Getrippel von oben, der Wasserhahn tropfte, die Heizung summte, der Wecker tickte.

Kurz: Jeden Pups konnte man hören. Und das war auch gut so! Schließlich konnte man sich sicher sein, dass jemand im Haus war – was man hier nicht gerade behaupten konnte. Ich war es einfach nicht gewohnt, alleine zu sein.

Schnell verkroch ich mich im Wohnzimmer, kuschelte mich aufs Sofa und wollte mir die Decke über den Kopf ziehen, als erneut das Telefon klingelte.

Als ich das Gespräch annahm, rauschte es ganz fürchterlich und jemand fragte: »Anna-Lena?«

Die Stimme klang, als sei sie ganz weit weg.

»Anna-Lena?«

Ein Stich in meiner Brust. Die Stimme war mir so vertraut.

»Ja«, flüsterte ich.

»Anna-Lena?«

In der Leitung rauschte es seltsam. Immer wieder dieses Knacken und dann: »Ich hab dich so lieb!«

Wie viele Leute gab es, die diese Nummer kannten?

»Ich hab dich so lieb!«

Wer wusste, dass ich hier wohnte? Wer nannte mich als Einziger bei meinem vollen Namen?

»Ich hab dich so lieb!«

»Mami, bist du das?«

Doch die Verbindung wurde erneut unterbrochen, dann war nur noch Tuten zu hören. Zitternd legte ich auf. Ich war wie erstarrt, konnte mich keinen Zentimeter mehr bewegen.

War das eben wirklich ihre Stimme gewesen? Konnte doch sein, oder? Hatte ich je geglaubt, dass sie wirklich tot war?

Immer wieder rief ich mir ins Gedächtnis zurück, wie sie mich vor der Klassenfahrt verabschiedet hatte.

»Du musst nicht mit zur Bahn kommen«, hatte ich gesagt und dabei nur einen Gedanken im Kopf: Dass ich mit IHM fünf Tage zusammen wäre. FÜNF TAGE! Tag und Nacht!

Sie hatte mich so traurig angesehen. »Bist du sicher?«

»Ich weiß gar nicht, warum du dich wie eine Glucke aufführst. Es sind doch nur fünf Tage.«

»Ja, das ist nicht lange.«

Ich hatte schnell weggeschaut, als ich die Tränen in ihren Augen bemerkte. Hatte es nicht verstanden, wollte es nicht verstehen, bin einfach gegangen. Habe mich nicht einmal mehr umgedreht, obwohl ich wusste, dass sie dort oben am Fenster stand und mir nachsah. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen hatte.

Was soll ich sagen?

Ich hatte sie verraten.

Und warum?

Weil ich unbedingt auf diese Klassenfahrt mitwollte. Unbedingt! Mir doch egal, ob sie sich die Fahrt überhaupt leisten konnte. Mir doch egal, wie krank sie war.

Mann, ich war verliebt! Total verknallt!

Ich spürte, wie ich bei der Erinnerung daran erstarrte, wie ich immer schwerer wurde, dann gab der Boden unter meinen Füßen nach. Er wurde zu einer weichen, wabbeligen Masse. Wie die Wackelpuddings, die Kim tonnenweise in sich hineinschaufelte. Ich versank darin, schon waren meine Knie verschwunden, meine Hüften und bald steckte ich bis zum Hals darin, bald würde der grün geflieste Boden, der grüne Wackelpudding in meinen Mund hineinlaufen …

Ich bekam keine Luft mehr, wagte nicht zu atmen. Im nächsten Moment rannte ich in die Küche und hustete, spuckte, kurz: Ich kotzte die Ananaspizza in die Spüle. Seltsamerweise war alles, was ich von mir gab, grün – giftgrün wie Wackelpudding.

Ich wusch mir den Mund mit Wasser aus, säuberte das Spülbecken, wischte den grünen Wackelpuddingfußboden.

Erschöpft griff ich nach dem Telefon und wählte Mamis Nummer. Es kam mir vor, als hätte ich zu schnell akzeptiert, dass sie tot sein sollte. Schließlich hatte ich sie nie tot gesehen. Warum war ich noch nicht auf die Idee gekommen, sie anzurufen?

Ich lauschte, wartete ungeduldig auf das vertraute Tuten und begriff nur sehr langsam, dass die Stille sich nicht veränderte. Ich presste das Telefon fest ans Ohr.

Nicht einmal ein Rauschen war zu hören, allenfalls ein Knistern … nein, auch das nicht. Ich stellte mir für einen Moment vor, wie das Handy in Mamis Sarg klingelte – ich war kurz davor abzudriften. Jo hatte recht: Ich war total durchgeknallt! Ich musste dringend mit jemandem reden, der mich zurück in die Wirklichkeit brachte.

Kims Nummer tutete. Wir hatten uns seit der Beerdigung nicht mehr gesehen. Wohnten einfach zu weit entfernt voneinander und ich war nicht fähig zu reden. Über Mami, die Klassenfahrt und mein neues Leben. Ich schob einfach alles nach ganz nach hinten in meinem Kopf. Dahin, wo das Gehirn endet – kurz über dem Nacken, wenn da überhaupt noch Gehirnmasse ist. Ich kenne mich da nicht so aus. Wie auch. Da wo ich herkomme, wussten die meisten gerade mal so, dass im Kopf überhaupt so etwas wie ein Gehirn ist. Und das, meinte Kim, war schon für die meisten schwer zu begreifen.

»Hi.«

»Lena.«

Ich dachte, Kim würde aufschreien vor Freude und Angst, stattdessen hörte ich ein Schmatzen.

»Isst du gerade?«

»Wackelpudding.«

»Magst das Zeug immer noch, was?«

Kim murmelte: »Wie geht’s dir denn so, in deiner neuen Familie?«

»Es klappt ganz gut.«

»Er hat einfach eure Wohnung ausgeräumt und deine Sachen abgeholt.«

»Ich weiß.«

»Total getunt, dein Alter.«

»Er ist okay, wirklich.«

»Was denn, geben sie dir Pillen zum Frühstück, dass du mehr Funktionen hast? Seit wann lieben wir Väter, die sich nie um uns gekümmert haben?«

»Er wusste nichts von mir, ehrlich!«

»Na klar, sie wollen nie etwas von uns wissen. Und wie ist der Rest?«

»Nett!«

»Das ging ja schnell mit der Heiligen Familie …«

Was war nur los? Kim war so verändert, klang einerseits gelangweilt, dann wieder spöttisch. »Sie adoptieren dich, hat dein Super-Daddy gesagt. Mit allem Drum und Dran! Fernseher im Zimmer, Laptop, iPod und dann noch einen kleinen Smart zum Achtzehnten. Du lebst jetzt auf der anderen Seite des Planeten, verstehst du! Ich bin ein Ghettokid und du bist zur Gucci-Fraktion übergewechselt.«

»Red keinen Scheiß«, wollte ich sagen, und »Ich muss mit dir reden – über meinen Vater, über Mami, über die Klassenfahrt, über die Sache mit der Liebe« – aber dann fiel mir der Laptop im Zimmer ein und der Smart, mit dem Jo weggefahren war.

»Kim …«

Ich hörte Kim schmatzen. »Hmm?«

»Gerade ist etwas Seltsames passiert.«

»Was denn?«

»Da war ein Anruf … und ich glaube … ich glaube, es war Mami«, brach es aus mir heraus.

Schweigen am anderen Ende.

Hatte Kim mich verstanden?

»Lena, deine Mutter ist tot!«

»Ich weiß, dass sie tot ist. Aber es war ihre Stimme! Sie hat meinen Namen gesagt! Es klang ganz echt! Kim, kannst du kommen? Ich brauche deine Hilfe!«

»Mann, bis zu dir raus, das kann ich mir nicht leisten, das sind mindestens sechs Zonen …«

Ein Knacken in der Leitung!

»Hallo? Kim? Bist du noch dran?«

Doch statt einer Antwort kam nur ein Rauschen.

»Kim?«

Meine Stimme drohte wegzukippen. Sie schien nur noch mit einer Faser an meinen Stimmbändern zu hängen.
War das Telefon tot?

Hatte der Wind die Leitung zerstört?

Oder hatte jemand die Leitung durchgeschnitten?

Ich hatte das schon unzählige Male in Filmen oder im Fernsehen gesehen, aber nie geglaubt, dass so etwas im wirklichen Leben allzu oft vorkam.

Nein, Kim hatte aufgelegt. So musste es sein!

Ich starrte aus dem Fenster, wo der Wind den Regen in dicken schwarzen Linien über den Himmel trieb.

Ich hatte lange nicht daran gedacht.

Aber jetzt wollte ich das Messer spüren. Fühlen, wie es in die Haut eindrang.

Nein, denk an etwas anderes, Lena!

Die Stille im Haus – ich hatte das Gefühl, sie zu hören. Ist natürlich Schwachsinn, aber ja, sie knisterte. Absurde Gedanken jagten durch meinen Kopf. Ich wollte mich damit ablenken, glaube ich.

Ist Weiß eine Farbe?

Kann man Dunkelheit sehen?

Kann man Wasser schmecken?

Kann man Stille hören?

Können Taube Stille hören?

Wenn ich mir solche Fragen stellte, sagte Kim immer: »Mann, du hast vielleicht Probleme.«

Kim hatte recht, oder?

Aber ich ahnte: Von der Stille konnte man verrückt werden und offenbar war ich auf dem besten Weg dorthin. Doch es kam noch schlimmer: Nach der Ruhe vor dem Sturm wurde es nun laut. Ein Orchester von seltsamen Geräuschen begann so etwas wie eine Sinfonie. Na ja, eigentlich war es ein großes, beängstigendes Durcheinander seltsamer Geräusche, die aus den Wänden eines Geisterhauses zu kommen schienen. Ich glaubte, über mir Getrippel zu hören wie von Mäusen. Und dann ein Schleifen, als würde etwas über den Boden gezogen. Dann brach das Geräusch ab.

Ich wartete. Mein Herz schlug schnell und laut.

Bumm. Bumm. Bumm.

Etwas rasselte.

Ein dumpfer Schlag.

Ich rannte von der Küche in den Flur – und blieb abrupt stehen.

Die Haustür stand offen.

Der Wind blies durch das Haus und trieb den Regen herein. Tote Blätter wirbelten über den Flur. Ich glaubte, den Wind sehen zu können. Er hatte die Farbe von Nebel. Leichenweiß. Der Boden lag voller Glasscherben.

Die Bilder auf der Kommode waren umgekippt und eines hatte es heruntergeweht. Es lag mit der Vorderseite auf dem Boden. Ich wusste sofort, um welches Foto es sich handelte, bückte mich und drehte es um. Im nächsten Moment zuckte ich zusammen und spürte Blut die Hand hinunterlaufen. Die Glasscheibe war herausgesprungen, bis auf die Ecke, die links unten aus dem Goldrahmen ragte und an der ich mir den Daumen aufgeschlitzt hatte. Der Schnitt reichte bis zum Handgelenk. Doch ich spürte keinen Schmerz.

Unter dem Foto lag ein Messer.

Wer hatte Fenster und Türen geöffnet?

Wer hatte das Messer hierher gelegt?

Wer kannte mich so gut, dass er meine Gedanken lesen konnte?

Kurz: Wer war im Haus?

Auf dem Boden bildete sich ein roter Fleck. Ich begriff erst nicht, dass es mein Blut war, stellte mir vor, es käme aus den Ritzen des Parketts. Bald würde der ganze Flur voller Blut stehen, das aus meinem Körper floss. Meine Zähne schlugen aufeinander. Ich zitterte am ganzen Körper, Gänsehaut überzog Arme und Beine und meine Zähne schlugen laut aufeinander. Ich konnte nichts dagegen tun.

Noch immer trieb der Wind Blätter und Regen ins Haus. Ich musste Türen und Fenster schließen, aber ich konnte mich nicht rühren. Wie angewurzelt stand ich im Flur und starrte durch die offene Tür hinaus in die Finsternis. Ich spielte mit dem Gedanken, einfach davonzulaufen, hinaus in die Nacht. Einfach nur weg und zurück nach Hause.

Nach Hause? Ein Zuhause gab es nicht mehr. Stattdessen lebte ich nun hier in diesem Monsterhaus.

Wir sind jetzt deine Familie, Lena, hatte mein Vater gesagt, du bist jetzt meine Tochter.

Wieder dachte ich, ich würde oben Schritte hören. Ich war halb wahnsinnig vor Angst. Ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Dann fiel mein Blick erneut auf das Messer. Ich würde jetzt nach oben gehen, egal, was dort auf mich wartete. Ich bückte mich, hob zögernd das Messer auf, hielt es fest umklammert.

Angst ist nur Chemie, die verrückt spielt, sagte ich mir, und das Schlimmste ist die Angst vor der Angst. Ich zwang mich, ein paar Mal tief durchzuatmen. Mein Herz schlug gleichmäßiger, mein Atem wurde ruhiger. Und mit mir schien auch der Wind zur Ruhe zu kommen. Doch dieser Zustand dauerte nicht lange. Ich stand noch immer im Flur, als eine Stimme erklang.

Wieder war sie es. Die Stimme meiner Mutter. Sie rief meinen Namen.

Lena, hörte ich sie laut und deutlich, wenn du mich jetzt hörst, egal, wo du bist, dann musst du wissen, dass ich dich sehr, sehr lieb habe.

Ich will das nicht hören, dachte ich, sei still. Aber ich schaffte es nicht, mir die Ohren zuzuhalten.

Mein Herz schlug so heftig gegen meine Brust, dass ich das Gefühl hatte, die Haut darüber würde heiß, ja, sie brannte geradezu.

Wie die Tränen in meinen Augen.

Ich hatte nicht geweint, als Mami gestorben war. Ich war wie erstarrt gewesen. Doch nun konnte ich sie nicht zurückhalten.

Wo kam nur diese Stimme her? War ich wirklich verrückt geworden? Aber ich konnte sie doch hören – es war Mamis Stimme!

Ich habe dich belogen, was deinen Vater betrifft … Aber wir waren noch so jung.

Nein, Lena, das kann nicht sein. Reiß dich zusammen …

… ich habe ihn wirklich geliebt, aber er sollte nicht nur bei mir bleiben, weil ich schwanger war.

Ich hielt den Atem an. Der Wind heulte draußen, es war, als wehte er Mamis Worte herein. Nein, die Stimme kam eindeutig aus dem oberen Stockwerk, oder?

… er ahnte nichts von dir. Was ich gesagt habe, das mit der Abtreibung, es war gelogen.

Ich schloss die Augen und hoffte einfach, es würde vorübergehen.

Wie lange ich so im Flur stand, weiß ich nicht. Ich spürte nur, dass mein Körper völlig steif war vor Angst und vor Kälte. Und je länger ich so verharrte, desto absurder schien mir das Ganze. Ich konnte nicht mehr unterscheiden zwischen Realität und Traum.

Langsam ging ich die Treppen hoch. Stufe für Stufe. Das Messer hielt ich dabei fest umschlossen in meiner Hand.

Oben im Flur machte ich halt.

Ich habe dir nicht erzählt, wie krank ich war, weil ich dich nicht belasten wollte …

Die Stimme kam eindeutig aus meinem Zimmer.

Meine Hand legte sich auf den Türgriff. Zögernd bewegte ich ihn nach unten. Die Tür öffnete sich langsam. Schwaches Licht war zu erkennen. Nun klang die Stimme lauter und ich registrierte, dass sie seltsam klang, irgendwie unnatürlich.

Aber ich habe ihm geschrieben und kann nun sterben in der Gewissheit, dass er sich kümmern wird. Du hast jetzt eine richtige Familie, die dich lieben wird, Geschwister …

Ich stieß die Tür endgültig auf.

So seltsam, so verdammt strange.

Ich spreche das auf Tonband, damit du meine Stimme nicht vergisst.

Die Kisten mit den Sachen, die mein Vater aus unserer Wohnung geholt hatte, standen mitten im Raum und waren geöffnet. Wie von Ferne erkannte ich Dinge, Gegenstände, Kleidungsstücke, die zu meinem alten Leben gehört hatten. Der pinkfarbene Schal, den Mami gestrickt hatte. Ein Foto von Kim und mir. Und unzählige Kassetten, die wild durcheinanderlagen. Mami – sie hatte mir nie Zettel geschrieben, ihre Nachrichten immer auf Band gesprochen. Damit du meine Stimme hörst, wenn ich nicht da bin.

Ich horchte, sprachlos, auf den Klang ihrer Stimme. Starrte, gelähmt, auf die kleinen Rädchen des Kassettenrekorders, wie sie sich drehten. Deshalb, dachte ich, gibt es keinen Abschiedsbrief an mich. Mami hatte mir ihre letzte Nachricht auf Band gesprochen.

In diesem Moment schaltete sich das Gerät mit lautem Knacken ab. Ich schüttelte mich unwillkürlich, und als ob ich aufwachte, sah ich plötzlich ein Mädchen vor mir stehen.

Wer war sie?

Sie trug einen schwarzen Anzug, auf den mit weißem Garn ein Skelett gestickt war.

Ich starrte sie entsetzt an. »Wer bist du?«

Das Mädchen lachte. Es klang gruselig, vor allem in Verbindung mit dem Kostüm. Als ob der Tod persönlich lachte. »Du hast dich wirklich gefürchtet, nicht wahr?«

»Wer zum Teufel bist du? Was hast du hier in meinem Zimmer zu suchen?« Die ganze Angst fiel schlagartig von mir ab und machte einer glühenden Wut Platz.

Der Blick des Mädchens flog über meine Schulter in Richtung Tür.

Alarmiert wandte ich mich um.

Laura! Sie stand in der Tür, ein Handy in der Hand.

»Weshalb seid ihr hier? Und wer hat euch erlaubt, in meinen Sachen rumzuschnüffeln?«, schrie ich wütend.

Laura sagte kein Wort. Sie sah ängstlich aus.

Und dann verstand ich.

»Du bist also Fabienne«, sagte ich zu dem Mädchen mit dem Skelettanzug.

Sie hob angriffslustig den Kopf. »Wir wissen alles über dich.«

Mein Blick folgte ihrem. Vor ihren Füßen lag mein Tagebuch.

Ich bückte mich danach, doch schnell stellte sie ihren Fuß darauf. Ein spöttisches Lächeln erschien auf ihren Lippen. Dann hob sie theatralisch die Stimme und säuselte: »Oh, ich liebe ihn so sehr. Und dieses Gefühl, als er mich küsste. Seine Lippen auf meinen. Wir können fünf ganze Tage zusammen sein. Tag und Nacht.«

Genau das hatte ich am Abend vor der Abreise in mein Tagebuch geschrieben …

»Und dass es deiner Mutter dreckig ging, das war dir wohl egal, davon steht nichts in deinem Tagebuch!« Mit blitzenden Augen schaute Fabienne mich an.

Die Spitze des Messers bohrte sich nun in meine Hand, aber ich fühlte keinen Schmerz. Am Abend vor der Klassenfahrt hatte Mami sich im Bad übergeben, aber ich hatte mir die Ohren zugehalten und mich weit weg geträumt.

»Das geht dich überhaupt nichts an«, sagte ich ganz ruhig zu Fabienne. Für einen kurzen Moment klang die Panik ab. Ich war hier niemandem Rechenschaft schuldig. Dann drehte ich mich zu Laura um, die mich mit bleichem Gesicht anstarrte. »Ich dachte, du magst mich«, sagte ich.

»Ich dachte, du magst mich«, äffte Fabienne mich nach und dann lachte sie: »Mann, war das gruselig, oder, Laura? Die Stimme einer toten Mutter am Telefon.«

Mir reichte es. »Hör auf! Hör sofort auf!«, schrie ich.

Fabienne stand vor mir in diesem Skelettkostüm und lachte sich tot. »Das war das Beste, was ich an Halloween je erlebt habe. Ich hab dich soooo lieeeb«, imitierte sie erneut den sanften Tonfall meiner Mutter.

Laura kam nun zu uns und stellte sich direkt vor den Schreibtisch, als wolle sie etwas verbergen. Ich stieß sie zur Seite. Und konnte kaum glauben, was ich dann sah. Ein Mädchen, das Gesicht weiß wie die Wand, dünn, frierend, die Augen weit aufgerissen. In der Hand ein Messer … Kurz: Ich erkannte mich!

Die beiden hatten meinen Laptop eingeschaltet und ließen die Webcam laufen. Sie zeichneten das Ganze auf – ihren makaberen Scherz gab es nun als Videoclip. Sie würden ihren Freunden zeigen, wie gut sie sich an Halloween amüsiert hatten. Welche Streiche sie mir gespielt hatten. Trick or treat, trick or treat, was Schönes her, sonst hexen wir!

Ich deutete auf den Bildschirm. »Meinetwegen könnt ihr das an alle eure Freunde verschicken! Mir doch egal!«

»Werden wir auch!«

Im nächsten Moment kam Fabienne dicht an mich heran, griff mein Handgelenk und bog es herum. »Na los!«, zischte sie. »Ritz dich doch! Da stehst du doch drauf!«

Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Ruckartig zog ich meine Hand aus ihrer Umklammerung. Lauras und Jos Worte hallten in meinem Kopf: »Wer weiß, welche Probleme DIE mitbringt … DIE ist garantiert asozial … Sie haben gesagt, wir sollen ganz normal mit dir umgehen …«

Laura hatte es also nicht für sich behalten können, wie ihre neue Schwester so tickte, und hatte es gleich ihrer Freundin erzählt.

»Du bist ganz schön assi!« Fabienne spuckte mir ihre Worte förmlich ins Gesicht.

Fassungslos sah ich Laura an – meine kleine Schwester – und hoffte auf ihre Unterstützung. Doch sie schaute nur verlegen weg.

»Na los, füg deinen hübschen, zarten Unterarmen noch ein paar nette rote Linien hinzu«, hörte ich wieder die Stimme.

Das Messer schwebte über meinem Arm. Vielleicht sollte ich es tun. Und diesmal richtig – nicht nur ein bisschen ritzen … Vielleicht wäre das das Beste.

Zu kapieren, dass Mami tot war, das war echt hart gewesen und war es immer noch. Aber ich war vor allem wütend auf sie, habe sie gehasst. Ein bisschen wenigstens. Ich kam mir betrogen vor. Warum hatte sie verschwiegen, wie krank sie war? Es nie ausgesprochen. Immer nur behauptet, sie sei einfach müde. Und sie hatte gelogen, was meinen Vater betraf. Er hatte ganz in meiner Nähe gelebt, doch sie hatte ihm nichts von mir erzählt und mir nichts von ihm. Ich hatte einen Bruder, eine Schwester. Das konnte und wollte ich ihr nicht verzeihen. In mir war so viel Wut.

Aber andererseits waren da diese Schuldgefühle, die an mir nagten. Hatte ich wirklich nicht geahnt, wie schlecht es ihr ging? Sie magerte immer mehr ab, musste sich nach der Chemo ständig übergeben, ihr Gesicht wirkte grau und müde. Und ich schaute weg, tat so, als würde ich es nicht bemerken. Na ja, die Wahrheit war, ich hatte sie im Stich gelassen.

Von der Klassenfahrt aus hatte ich zu Hause angerufen, doch sie hatte nicht abgenommen. Seltsam, hatte ich gedacht, aber vielleicht war sie nur einkaufen. Einkaufen? Wo sie zum Schluss kaum noch alleine gehen konnte? Im Prinzip war ich einfach nur verdammt erleichtert gewesen, dass sie nicht da war. Weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. Denn sie war allein zu Hause, während ich nur an die Schmetterlinge in meinem Bauch dachte.

Ich wusste, wenn ich jetzt mit dem Messer zustach, würde ich mich besser fühlen. Ich würde mich nicht länger schuldig fühlen.

In diesem Moment rief Laura: »Mach das nicht, Lena. Bitte! Du musst mir glauben, ich wollte das nicht!«

Es waren die Schritte unten im Flur, die mich zögern ließen. Als ob ich aufwachte. Erst war es nur der Wind, dann hörte ich jemanden fluchen: »Verdammt, was ist denn hier los? Warum steht die Haustür offen und wie sieht es hier überhaupt aus?«

Jo war zurück. Gott sei Dank!

Dann eine andere Stimme, die besorgt klang: »Lena?«

Ich erstarrte.

Die Stimme … Das war doch nicht möglich!

»Wer ist das?«, fragte Laura verwundert.

»Lena, wo bist du? Geht es dir gut?«

Ich ließ das Messer fallen, rannte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter, durch den Flur und landete direkt in seinen Armen.

Arme, in denen ich mich sicher fühlte.

Kim.

Er hielt mich fest. Er küsste mich. Nichts anderes mehr zählte. Sein Körper vertraut nahe an meinem … Alles andere verschwand ganz einfach ins Nirgendwo. Alles war gut.

Seine Arme waren der Ort, wo ich sein wollte.

»Was machst du hier?«

»Na ja, ich hatte das Gefühl, du solltest nicht alleine sein, wenn du Stimmen hörst, außerdem wird es Zeit, dass ich mir meine Lederjacke hole.«

»Aber wie bist du so schnell … Und warum warst du vorhin am Telefon so komisch?«

Er wandte sich um und deutete hinter sich.

Jo stand in der Tür: »Trick or treat – ich habe mich für treat entschieden. Du hast vorhin echt gewirkt, als ob du durch den Wind bist, und dann hat Kim mich angerufen …«

»Kim hat dich angerufen?«

»Na, die Überraschung ist uns gelungen, was?« Kim lachte.

Jo stimmte ein und erklärte. »Wir haben uns kennengelernt, als wir eure Wohnung ausgeräumt haben. Ich musste ihm versprechen, dass ich ihn abhole, sobald du dich hier ins gemachte Nest …« Von einer Sekunde zur anderen brach er ab und starrte an mir vorbei.

Ich wandte mich um. Oben an der Treppe stand Laura.

»Laura? Wieso bist du schon wieder zu Hause? Ist die Party schon vorbei?«

Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie schluchzte. »Ich wollte das nicht, ehrlich, ich wollte es nicht.«

»Was denn? Hat es keinen Spaß gemacht?«, fragte Jo.

»Nein, es hat keinen Spaß gemacht.«

»Warum denn nicht?«

Laura starrte mich jetzt an, ihre Augen baten mich, sie zu verstehen. Ihre Lippen bewegten sich nicht, aber ich wusste, was sie mir mitteilen wollte.

Sag nichts. Bitte sag nichts.

Was du gemacht hast, war gemein und gefühllos, gab ich stumm zurück.

Es tut mir leid.

Für die beiden anderen mochte es aussehen, als ob wir uns nur ansahen, aber wir beide sprachen ohne Worte miteinander.

Du hast mich zu Tode erschreckt.

Bitte verrate mich nicht. Ich bin doch deine Schwester.

Fabienne tauchte auf. Sie hatte ihren Mantel übergezogen und ging an Laura vorbei die Treppe hinunter.

»Was machst du denn hier?«, hörte ich Jo verwundert fragen.

»Hab nur Laura nach Hause begleitet – und außerdem wollte ich unbedingt ihre neue Schwester kennenlernen.«

Als sie unten bei mir ankam, hob sie kurz die Hand. »Tschüss, Lena, war nett, dich kennenzulernen. Du bist soo süß! Laura kann echt froh sein, dich als Schwester zu haben.«

Ich starrte ihr nach. Im nächsten Moment war sie durch die Tür verschwunden.

»Ist alles in Ordnung?«, hörte ich Kim fragen.

Ich holte ganz tief Luft.

Es war Halloween und … na ja … da wo ich herkam, war Verrat so etwas wie eine Todsünde.

»Ja«, sagte ich mit fester Stimme, »oder was meinst du, Laura?«

Ihre Stimme war so dünn, als sie murmelte: »Ja, alles in Ordnung.«