Beatrix Gurian: Wie du ihm, so ich dir
Lina
Rache ist ein sehr hässliches Wort. Wenn ich es wütend ausspreche, bleibt das »ach« fast in meiner Kehle stecken. Bisher habe ich gedacht, dass Rache nur etwas für schmutzige Männer mit struppigen Bärten auf schwitzenden Pferden ist, die mit ihren rauchenden Colts in den Weiten Amerikas herumballern. Oder für Mädchen, die von ihrem Liebsten mit ihrer besten Freundin betrogen werden.
Nie, wirklich niemals hätte ich gedacht, dass ich an den Punkt kommen würde, an dem es nur noch diese eine Lösung gibt: Rache.
Aber Maries grausame Tat muss gesühnt werden, weil es himmelschreiendes Unrecht wäre, wenn sie ohne Strafe davonkäme. Immerhin hat sie meinen Bruder auf dem Gewissen.
Heute werde ich es ihr zurückzahlen. Ich habe Marie hierher gelockt, indem ich behauptet habe, Luis hätte mir kurz vor seinem »Unfall« etwas Wichtiges für sie gegeben, etwas, das er sich nicht getraut hat, ihr selbst zu geben. Und dass ich ihr das gerne zeigen würde. Ich hatte ziemlichen Bammel, weil ich dachte, sie würde dieses Manöver gleich durchschauen und es dann ablehnen herzukommen. Doch Marie hat mich nur mit ihren unschuldigen Augen angeblinkert und tatsächlich gesagt, sie käme gern! Gerade so, als hätte sie nur darauf gewartet, dass ich sie anspreche.
Mit einem unangenehmen Grummeln im Bauch gehe ich in unser Schwimmbad im Keller und mir ist ziemlich flau bei dem Gedanken an das, was ich mir vorgenommen habe.
Als wir noch kleiner waren, hat Luis hier unten immer versucht, mir Kopfsprünge beizubringen, was ihm aber nie gelungen ist, weil ich es einfach nicht über mich gebracht habe, mit dem Kopf voran ins Wasser zu springen. Und wenn ich dann rumgeheult habe, weil ich zu feige für einen Kopfsprung war, hat er mir die merkwürdigsten Arschbomben und Bauchplatscher vorgeführt und ich musste raten, wen er darstellt: Heidi Klum mit Blähungen, Stefan Raab beschwipst am Piranhabecken, Superman unglücklich verliebt …
Der Chlorgestank ist jedes Mal ein Schlag ins Gesicht, unwillkürlich schnappe ich nach Luft. Unser kleines Schwimmbad hat keine Fenster, nur eine mäßig gut funktionierende Lüftung. An der langen Seite des Pools befindet sich eine Fototapete mit einem karibischen Strand, davor stehen zwei Plastikpalmen, zwei Chairdecks, wie Mama diese klapprigen Liegestühle nennt, und zwei Tischchen. Die Wände sind in einem hellen Türkisgrün gestrichen und gekachelt. Man hat das Gefühl, als würde man in einem Ganzkörper-Pfefferminzbonbon stecken.
Ich lasse mich auf einen Liegestuhl fallen und meine Augen schweifen über den Pool. Hier werde ich es Marie-Amelie heimzahlen. Es ist nur gerecht, wenn sie das Gleiche durchmachen muss wie Luis. Auch wenn mein Herz allein bei dem Gedanken daran, dass ich sie unter Wasser drücken werde, sofort anfängt, wie verrückt zu pochen. Ob ich stark genug bin, sie so lange unten zu halten, wie es nötig ist? Und was ist, wenn sie rumheult und irgendwas von Reue stammelt?
Diesen Gedanken schiebe ich schnell von mir. Ich bin zwar alles andere als ein eiskalter Racheengel, doch ich brauche nur an Luis zu denken, wie er hilflos daliegt, verkabelt und mit Schläuchen im Mund und Kanülen in den Armen …
Das Ganze muss wie ein Unfall aussehen. Neulich habe ich in einem Tatort gesehen, wie in einem Internat ein Schüler ertränkt wurde. Das war sehr gruselig, weil die beiden Mörder ihn erst betäubt und dann in einem Bettbezug wie eine räudige Katze ertränkt haben. So einen hinterhältigen Mord könnte ich nie begehen.
Ich werde Luis rächen – Auge in Auge. Marie-Amelie soll wissen, wie es sich anfühlt, wenn man langsam das Bewusstsein verliert …
Unglaublich, dass ein Mädchen, das derart bösartig ist, einen so schönen Namen haben kann. Zwei meiner Puppen hießen so; die blonde mit den Zöpfen war Marie, die glatzköpfige Baby Born war Amelie. Die beiden sitzen heute noch ganz oben in meinem Bücherregal und erinnern mich an eine der wenigen Prügeleien, die ich jemals mit Luis hatte. Er hatte Amelie mit einem wasserfesten Filzstift ein Tattoo auf die Glatze gemalt, einen Delfin.
Die echte Marie-Amelie hat natürlich keine Glatze, sondern langes wuscheliges Haar in einem gähnend langweiligen Graublond. Eigentlich passt es perfekt zu ihrem Typ: grau und öde.
Wir waren mal zusammen in einer Klasse, aber sie ist sitzen geblieben und dann in Luis’ Klasse gelandet. Ich erinnere mich kaum an Marie, sie war immer sehr still, ziemlich moppelig und ungefähr so schillernd wie ein Sack Mehl.
Wie konnte sich Luis nur in sie verlieben? Was fand er nur an ihr?
Ich stehe auf und gehe um das Becken. Zuerst hatte ich überlegt, sie einfach reinzuschubsen; aber am einfachsten wäre es natürlich, wenn ich sie dazu kriege, mit mir schwimmen zu gehen. Ich werde ihr vorher eine Cola anbieten, in die ich Wodka reinmische, was sie hoffentlich etwas unvorsichtiger machen wird. Das ist wichtig, weil sie kräftiger ist als ich – und schließlich muss ich sie lange genug unter Wasser halten können, bis sie das Bewusstsein verliert …
Ich werfe noch einen letzten Blick auf die spiegelglatte Wasseroberfläche, dann gehe ich wieder nach oben in die Küche und hole die Wodkaflasche aus dem Eisfach. Ich fülle die Hälfte in eine halb leere Colaflasche und stelle diese wieder in den Kühlschrank. Ich merke, dass meine Hände zittern. Nein, Lina, du darfst jetzt nicht schwach werden, du musst das jetzt durchziehen. Denk einfach nur daran, was dieses Miststück deinem Bruder angetan hat!
Ich nutze die halbe Stunde, bis Marie kommt, um mir diese unglaubliche Geschichte noch einmal vor Augen zu führen, um nachher nicht im letzten Moment noch weich zu werden.
Fast hätte Marie-Amelie es ja geschafft, nicht aufzufliegen, denn alle waren sich darin einig, dass es ein schrecklicher, tragischer Unfall gewesen sei.
Drei Tage ist es nun her, dass die Polizei an unserer Tür geklingelt hat. Ich bin aus dem Schlaf hochgeschreckt und war gleichzeitig mit meinen Eltern an der Wohnungstür.
»Ihr Sohn hatte einen Autounfall«, hat der eine Polizist gesagt und dabei nicht uns, sondern seinen Kollegen angesehen.
Luis hatte sich das Auto meiner Eltern genommen und war auf einem Waldweg gegen einen Baum gefahren.
Ein Unfall. Das sagten sie alle. Die Polizei, meine Eltern. Natürlich verstehe ich, dass unsere Eltern eher sterben würden, als zu akzeptieren, dass ihr Sohn Selbstmord begehen wollte. Sogar ich habe einen kurzen Moment geglaubt, es wäre tatsächlich ein Unfall gewesen, weil ich mir nicht vorstellen wollte, mein kleiner Bruder wäre absichtlich gegen den Baum gefahren.
Aber dann habe ich mich gefragt, was Luis eigentlich mit Papas Auto mitten in der Nacht auf diesem Waldweg zu suchen hatte. Und nachdem ich erst einmal angefangen hatte, darüber nachzudenken, wurde mir klar, dass Luis eben niemals »einfach so« Papas Auto nehmen würde.
So etwas würde sich vielleicht Nils trauen, aber Luis – no way! Schließlich haben Nils und ich schon mehrfach versucht, Luis auf abgelegenen Ackerstraßen das Fahren beizubringen, und dabei ist Luis jedes Mal vor Angst beinahe gestorben. Er hätte das Auto definitiv niemals nur zum Spaß genommen. Und alle, die ihn kennen, hätten das eigentlich wissen müssen. Aber niemand außer mir schien sich für Luis’ Gründe zu interessieren.
Für mich ist mein Bruder der wichtigste Mensch auf der Welt. Mama hat mal gesagt, wenn sie es nicht besser wüsste, dann würde sie sogar denken, wir wären Zwillinge. Was natürlich völliger Quatsch ist, denn Luis ist knapp zwei Jahre jünger und ganz anders als ich.
Schon allein, wie wir aussehen: Luis ist klein, dunkelhaarig und hat zurzeit ziemlich viel Speck auf den Hüften. Ich dagegen sehe aus wie ein Gartenschlauch mit Haaren dran.
Und auch sonst unterscheiden wir uns total. Ich hasse es, im Meer zu schwimmen, all diese schleimigen Aale und Fische, die wabbeligen Quallen und hinterhältigen Seeigel, die unter der Oberfläche lauern – uäh! Luis hat schon lange einen Tauchschein.
Mein Brüderchen liebt grünen Wackelpudding, ich finde, der schmeckt wie billiges Parfüm. Ich mag kalte Thunfisch-Pizza mit erstarrtem Käse drauf, Luis muss sich allein bei dem Gedanken daran schon übergeben.
Na ja und dann liebe ich Nils, den Luis nicht ausstehen kann. Aber das ist schon okay, schließlich sind die beiden wie Feuer und Wasser. Wenn ich sie als Tiere malen müsste, dann wäre Luis eine Mischung aus Schildkröte und wuseligem Streifenhörnchen und Nils ein Adler.
Luis würde mir jetzt grinsend widersprechen und sagen: »Verstehe, dass du bei Nils auf Vogel kommst, weil er hat mindestens einen … Aber ich denke bei ihm an alles andere als an einen Adler. Ein Pfau trifft’s wohl eher …«
Oh Mann, jetzt mache ich das schon wieder, ich bilde mir ein, Luis wäre in meiner Nähe und würde so wie sonst mit mir reden. Das passiert mir ständig, aber ich behalte es für mich, weil es keinen etwas angeht. Auch nicht die Psychologin, Klara-Luise Brönner-Schönlein, zu der mich Mama schon einen Tag nach dem »Unfall« geschleppt hat, damit ich diese »traumatische Erfahrung« gut verarbeite. Dort sollte ich Bilder zeichnen. Meine schwarzen Quallen auf schwarzem Hintergrund gefielen ihr nicht und über Luis’ Unfall reden wollte ich nicht. Das hat Frau Brönner-Schönlein, die mich an einen nervösen Tapir erinnert hat, mächtig geärgert.
Schade, dass Luis nicht dabei war, der hätte bestimmt eine komische Nummer daraus gemacht. Eins der wenigen Dinge, über die wir uns einig sind, ist nämlich, dass er mal ein großer Komiker wird, wenn …
Ich muss mich kurz schnäuzen, also nicht wenn, sondern dann, wenn er wieder aus dem Koma aufwacht. Luis hat das Talent, immer den komischen Aspekt einer Sache zu entdecken. Aber dabei bleibt er todernst und das bringt mich dann zum Lachen. Er würde bestimmt gruselige Witze darüber reißen, wie er mit all diesen Schläuchen aussieht. »Hey, bei mir piepst es«, würde er vielleicht sagen. Verdammt, jetzt mache ich das ja schon wieder.
Ich besuche Luis jeden Tag auf der Intensivstation und lese ihm schlechte Uralt-Witze aus einem zerfledderten Witzebuch vor. Ich hoffe, dass er meine Stimme hört und sich so über diese miesen Witze aufregt, dass er nur allein deshalb aufwacht, um mir einen besseren zu erzählen. Aber ich bin nach drei Tagen schon halb durch und bei den Blondinenwitzen angekommen und er reagiert überhaupt nicht.
Nils findet das übertrieben von mir, aber Nils hat auch keine Geschwister. Außerdem nervt es ihn, weil es so lange dauert, bis ich vom Kreiskrankenhaus wieder zurück bin und wir uns dann weniger lange sehen können. Ich glaube, er ist ein bisschen eifersüchtig.
Mama und Papa hingegen sind sehr froh, dass wenigstens ich so lange bei Luis bleiben kann. Die beiden zerreißen sich fast, weil sie bei Luis sein wollen, aber wegen ihrer Werbeagentur ständig zu irgendwelchen Terminen müssen.
Manchmal, wenn ich mich an Luis’ Bett setze, bilde ich mir ein, dass ein Duft von Maiglöckchen in der Luft liegt. Vielleicht riechen die Desinfektionsmittel im Krankenhaus neuerdings nicht mehr nach Zitrone, sondern nach Maiglöckchen.
In der Schule wollten sie mich nicht vom Nachmittagsunterricht befreien. Aber das war mir egal, ich besuche meinen Bruder trotzdem. Sollen sie mich doch bestrafen! Tatsächlich hat der Direx etwas davon gemurmelt, dass dieser Unfall ja sehr tragisch sei, aber mein Leben trotzdem weitergehen müsse. Aber wenn Luis stirbt, dann geht mein Leben nicht weiter, dann fahre ich auch mit Vollgas mit Papas Cayenne gegen einen Baum.
Und genau das ist der Grund, weshalb Maries Leben nicht einfach so weiterlaufen darf, als wäre nichts passiert!
Marie … Ich laufe zum Küchenfenster und schaue hinaus. Noch zwanzig Minuten, dann müsste sie kommen. Dann wird sie für ihre Gemeinheiten bezahlen.
Als Papa der Polizei gesagt hat, er glaubt, das mit dem Auto sei einfach ein Dummejungenstreich gewesen, bin ich beinahe umgefallen. So einen Schwachsinn würde Luis nie machen, wollte ich mich einmischen. Aber dann habe ich mir vorgestellt, wie Papa darauf reagieren würde. Wie es sich für Mama und Papa anfühlen würde zu wissen, dass Luis gegen einen Baum hatte fahren wollen. Es würde für unsere Eltern alles nur noch grauenvoller machen, als es ohnehin schon ist.
Außerdem musste ich ja erst einmal herausfinden, warum Luis hatte sterben wollen. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, dass Luis Geheimnise vor mir gehabt hat, aber Nils meinte, es wäre ja wohl normal, dass mein Bruder mir nicht alles anvertrauen würde. Dabei hat er mich vielsagend angegrinst.
In dieser Nacht habe ich mich endlos lange hin und her gewälzt, weil ich darüber nachgedacht habe, ob Nils vielleicht recht haben könnte; versuchte, mich daran zu erinnern, ob an dem Abend vor dem Unfall irgendetwas anders gewesen war als sonst.
Wir hatten Berge von feuchtem Laub zusammenrechen müssen. Luis war übermütig wie immer gewesen, hat das Laub herumgeworfen wie Konfetti und dann aus den nassen Blättern eine liegende Laubfrau mit riesigem Busen gebaut, die sogar Nils komisch fand.
Dann bin ich mit Nils reingegangen, wir wollten für die Physikschulaufgabe lernen, haben uns aber dann vor allem auf die Gesetze der … ähh … Anziehungskraft konzentriert, während Luis im Garten allein weitergerecht hat.
Als Nils nach Hause musste, war es schon dunkel gewesen und Luis hatte schlechte Laune gehabt. Ich hatte mich mies gefühlt, weil er die ganze Arbeit allein zu Ende gebracht hatte. Aber anstatt mich bei ihm zu bedanken oder zu entschuldigen, war ich auch noch grantig zu ihm gewesen. Weil Mama und Papa mit Kunden zum Essen waren, hatten wir uns eine Thunfisch- und eine Hawaii-Pizza aufgetaut, die wir beim DVD-Gucken gegessen haben. Im Nachhinein ist mir dann aufgefallen, dass Luis auffallend wenig über die Southpark-DVD gelacht hat, die wir uns angeschaut haben.
Nach dieser schlaflosen Nacht, in der ich endlos vor mich hin gegrübelt hatte, habe ich Luis’ Computer durchsucht, weil ich dachte, dass ich vielleicht etwas finden würde – einen Abschiedsbrief oder irgendetwas sonst, das mir Luis’ »Unfall« erklären könnte.
Normalerweise würde ich nie in seinen Sachen herumwühlen, aber wenn jemand im Koma liegt, ist nichts mehr normal.
Sein Passwort war kein Problem, das weiß ich schon lange und er kennt auch meins. Heinz007, nach Heinz Erhard.
Luis ist ein Fan von gelben Notizzetteln. Es gibt davon jede Menge auf seiner Schreibtischoberfläche: der Anfang einer Comedynummer, eine Literaturliste für ein Deutschreferat, eine Telefonnummer, Zitate von Komikern. Aber da war nichts Brauchbares dabei. Also habe ich auf seinem Rechner weitergesucht, in der Hoffnung, den entscheidenden Hinweis darauf zu finden, was ihn dazu getrieben hat, nachts mit Papas Auto gegen den Baum zu fahren.
Und dann bin ich fündig geworden. In einer Datei namens Lächer-Ich.doc hab ich Mails gefunden.
Alle waren an Marie gerichtet. Manchmal waren es nur kurze Mitteilungen, manchmal längere Briefe, manchmal sogar so etwas wie Gedichte. Neugierig fing ich an zu lesen, doch nach dem zweiten Gedicht konnte ich kaum noch atmen, geschweige denn weiterlesen. Es tat weh zu erkennen, wie sehr Luis Marie angeschmachtet hatte. Es war, als könnte ich sein Herz bluten hören.
Ich war völlig starr vor Enttäuschung. Warum hatte er mir nie von seinen Gefühlen für Marie erzählt?
Als ich mich in Nils verliebt habe, war Luis der Einzige, dem ich alles haarklein erzählt habe, und das, obwohl Luis’ erster Kommentar nicht gerade ermutigend gewesen war: »Nils? Nein, bloß nicht! Du meinst doch nicht etwa den blonden Typen aus der Oberstufe, der sich für Brad Pitt hält, aber leider wie Otto aussieht?«
Was so natürlich nicht stimmt, denn Nils ist viel größer als Otto und hat auch mehr Haare. Aber er kann so lachen wie Otto.
Jede noch so winzige Kleinigkeit habe ich Luis erzählt: Wie oft mich Nils heute wieder mit seinen blaugrauen Augen angelächelt hat, was er genau gesagt hat – zum Beispiel »Hallo« – und was die Stimmlage dabei wohl signalisieren sollte oder was er anhatte. Habe versucht, Luis zu erklären, warum ich es so großartig fand, als Nils dann wirklich angefangen hatte, mich anzubaggern. Schließlich war Nils der Basketballstar der Schule; alle Mädchen, die älter waren als fünfzehn, wollten mit ihm gehen!
Ich habe es nie aufgegeben, Luis zu erklären, was so toll an Nils war, auch wenn Luis immer nur an ihm rummäkelte. Nils wusste einfach, wo’s langgeht. Er hat Entscheidungen getroffen, wo andere ewig rumgelabert haben. »Lina, wir gehen heute Abend ins Stars and friends Billard spielen, dann schauen wir uns den neuen James Bond an, alles klar?« Bisher musste nämlich immer ich die Vorschläge machen, egal, ob ich mit Luis oder mit meinen Freundinnen unterwegs war. Und ich hätte Luis sogar erzählt, wie sich Nils’ Küsse anfühlen, aber Luis hat sich die Ohren zugehalten und gemeint, das würde an Folter grenzen.
Also warum um alles in der Welt hat er mir Marie verschwiegen? Ich habe es schließlich ja auch ausgehalten, dass er Nils blöd fand!
Die Antwort auf diese Frage fand ich einige Sekunden später. Nachdem ich einige Mails von Marie entdeckt hatte, wusste ich, warum er mir nichts erzählt hatte. Meinem kleinen Bruder war klar, was ich dazu gesagt hätte!
Hey, Luis, danke für deine letzte Mail. Sorry, wenn ich in der Schule so tun muss, als hätte ich sie nie gelesen. Ich habe meine Gründe dafür, mich so zu verhalten. Aber ich kann es dir noch nicht sagen; bitte vertrau mir.
Oder
Bleib cool, Luis, es hat keinen Sinn, sich aufzuregen. Ich muss momentan so reagieren. Aber glaub mir, ich liebe deine Mails und ich bitte dich: Schreib mir auch weiterhin. Schon bald kann ich dir das alles erklären, okay?
Ich hätte ihm natürlich gesagt, dass er die Finger von Marie lassen soll. Das war ja wohl so was von offensichtlich, dass sie irgendwelche miesen Spielchen mit ihm trieb.
Aber das konnte einfach nicht alles sein, irgendwas musste da noch passiert sein. Luis ist ja nicht so ein Sensibelchen, das nur wegen ein paar blöder Mails gleich gegen einen Baum fährt. Leider hat Luis nie Tagebuch geführt, so etwas fand er immer schon ziemlich lächerlich, genauso wie Blogs – geistiges Rumgepupse, Hirnfurze waren das für ihn.
Blieb also nur Marie als Informationsquelle, und weil ich nicht einmal mehr genau wusste, wie seine angebetete Marie überhaupt aussah, habe ich im Internet erst bei Facebook und dann bei den Lokalisten nach ihr gesucht und dort tatsächlich eine Seite von ihr gefunden.
Und danach war mir alles sonnenklar.
Sie schreibt nämlich Tagebuch und sie war sich nicht zu blöd, ihre geistigen Ergüsse bei den Lokalisten reinzustellen. Die ersten Texte waren schrecklich langweilig, aber dann stieß ich plötzlich auf Einträge, die sich auf seine Gedichte bezogen und sehr verliebt klangen. So als wäre Marie-Amelie absolut hingerissen von Luis, als könnte sie es kaum erwarten, seine nächsten Mails zu bekommen. Da bin ich irgendwie stutzig geworden. Wenn sie ihn so toll und witzig fand und das sogar ins Netz stellte, wo jeder es lesen kann, warum schrieb sie ihm dann privat etwas anderes? Nämlich, dass sie in der Schule so tun muss, als wäre nichts zwischen ihnen?
Und dann kam ich zu diesem Eintrag:
Ich hätte so gern ein Foto von dir, eins, auf dem man nackte Tatsachen sehen kann. Es wäre für mich der ultimative Vertrauensbeweis! Erst dann kann ich sicher sein, dass du mich wirklich liebst. Und das wird der Anfang sein, der Anfang von UNS.
Am liebsten hätte ich auf den Monitor gespuckt. Was für ein kranker Scheiß war das denn? Luis hatte ihr hoffentlich nicht wirklich ein Nacktfoto von sich geschickt … Ich habe daraufhin sofort ihr Fotoalbum angeklickt – das war natürlich auch für alle zugänglich.
Mein Bruder grinste mir gleich vom ersten Bild splitternackt entgegen. Man sah alles, jede Speckfalte, seinen Pimmel, Haare, Hoden – einfach alles. Ein megamieses Foto. Im Hintergrund die Fototapete von unserem Pool.
Und Marie hatte es nicht nur für jeden sichtbar gemacht, sondern auch noch allen erlaubt, Kommentare abzugeben:
»Mit der Lupe sieht dein Pimmel echt stark aus«, von jaypuck.
tensisi schrieb: »Wenn Fett glücklich macht, bist du Buddha« – »Wow, Luis, das ist ja mal echt komisch«, von peacebrother. »Lass dir ›Schlappschwanz‹ auf den Bauch tätowieren«, schlug miamara vor.
So ging das über Seiten. Und das Allerschlimmste war: Es gab keinen Kopierschutz, jeder konnte sich die Bilder auf seinen Rechner rüberziehen; damit war dieses Foto von Luis für immer im Internet unterwegs!
In diesem Moment war mir sonnenklar, warum Luis gegen den Baum gefahren war. Wie hatte mein kleiner romantischer Bruder nur glauben können, sein Foto würde irgendwas an Maries Gefühlen ändern? Marie hatte ihn einfach nur verarscht; erst hingehalten und dann gnadenlos der Lächerlichkeit preisgegeben. So war Luis nicht komisch, sondern hatte sich einfach nur schrecklich lächerlich gemacht.
Nur noch ein paar Minuten. Marie sollte jeden Moment hier sein. Ich bin jetzt doch etwas nervös und gehe vor dem Küchenfenster hin und her. Noch niemand zu sehen. Als ich heute Morgen noch mal auf Maries Seite bei den Lokalisten war, um mich für meine Rache in die richtige Stimmung zu bringen, gab es dort keine Person namens Marie-Amelie mehr. Dieses miese Stück hatte nach dem »Unfall« wohl doch das Flattern gekriegt und schnell ihre Seite bei den Lokalisten gelöscht. Wenn das nicht ein klarer Beweis dafür ist, dass sie sich schuldig fühlt! Es gibt also keinen Grund, sie zu schonen.
Da, endlich tut sich was im Vorgarten! Marie-Amelie sperrt ihr Rad ab, sie schaut sich dabei ständig um, als ob sie nervös wäre. Fast ein bisschen so, als würde sie lieber wieder wegfahren. Ganz sicher ist das ihr schlechtes Gewissen, das sich da rührt. Die Angst davor, sich mir zu stellen.
Zu spät, Marie, zu spät.
Luis liegt im Koma und jetzt bist du dran, Pechmarie!
Ich gehe zur Haustür, um sie reinzulassen.
Marie-Amelie
Noch bevor Marie überhaupt auf die Klingel drücken konnte, wurde die Tür schon aufgerissen. Marie zuckte zusammen. Lina stand vor ihr, sah aus wie ein halb verhungertes Kätzchen, dessen Mutter gerade gestorben ist, und damit sah sie genau so aus, wie Marie sich gerade fühlte: Elend.
Unwillkürlich zog Marie den Bauch ein, der gerade mal wieder über den Bund ihrer Jeans quoll. Wenn die Welt gerecht wäre, dann würde nicht ich, sondern Lina wie ein Elefant aussehen, dachte sie. Denn Lina war ihrer Meinung nach genau das: so sensibel wie der berühmte Elefant im Porzellanladen.
Aber es gab keine Gerechtigkeit.
Sie hätte nicht kommen sollen, doch ihre Neugier und ihre Schuldgefühle hatten sie hergetrieben. In dem Moment, als Lina ihr gesagt hatte, es gäbe da etwas von Luis für sie, war sie so überrascht gewesen, dass sie einfach genickt hatte. Außerdem musste sie Lina endlich alles erzählen, bevor sie es von jemand anderem hören würde. So beliebt, wie Lina an der Schule war, bekam sie immer alles mit …
»Schön, dass du da bist, komm doch rein«, sagte Lina.
Marie zwang sich, nicht in bewundernde Kommentare auszubrechen, als sie den gewaltigen Flur aus rotem Marmor betrat. »Wie geht es deinem Bruder?«, fragte sie stattdessen, zog ihren Daunenmantel aus und reichte ihn Lina, die ihn achtlos über einen durchsichtigen rosa Plastikstuhl warf.
»Meinem Bruder? Tja, er liegt leider immer noch im Koma, weißt du?« Lina starrte Marie direkt in die Augen. »Ich weiß ja, dass du mit ihm in einer Klasse bist – aber du interessierst dich wohl mehr für ihn?«
Kein Zweifel, Lina wusste es. Dann war jetzt der richtige Moment. Los, Marie, rede, befahl sie sich, doch weil ihr nicht klar war, wie oder wo sie anfangen sollte, blieb sie stumm.
Ja, ich liebe ihn, hätte Marie am liebsten in diese Halle geschrien. Ich liebe Luis. Sie räusperte sich. Verdammt, warum war es so schwer anzufangen?
Wie hatte sie nur auf die Idee kommen können, dass ausgerechnet eine wie Lina sie verstehen könnte? Die toughe Lina, die immer ganz genau wusste, was richtig und falsch war. Lina, die überall den Ton angab und die das beliebteste Mädchen der Schule war. Die sich den Schwarm aller Mädchen als Freund geangelt hatte. Lina, die Marie damals, als sie noch zusammen in einer Klasse gewesen waren, einfach ignoriert hatte. Lina war nie gemein zu ihr gewesen, nein, das nicht. Marie war ganz einfach unsichtbar für sie gewesen. Als würde sie gar nicht existieren.
»Na, da können wir ja später noch drüber reden. Wie wär’s erst mal mit einer Cola?«
Marie nickte erleichtert und folgte Lina dann in eine offene Küche mit einem Wohnraum, der größer war als die ganze Wohnung von Maries Eltern. Sie setzte sich an den Tresen aus schwarzem Granit, der die Küche vom Wohnraum abtrennte.
Lina nahm eine Cola und Eiswürfel aus dem Edelstahlkühlschrank und goss alles in Gläser.
»Prost!«, sagte Lina, rührte ihr Glas dann aber nicht an, sondern beobachtete Marie beim Trinken.
Die Cola schmeckte irgendwie merkwürdig und Marie setzte ihr Glas wieder ab. »Was ist es denn, das Luis dir für mich gegeben hat?«, fragte sie unbehaglich.
»Es ist unten in unserem Schwimmbad. Weißt du, wir haben nämlich einen Pool im Keller. Wir können ja gleich mal nach unten gehen. Du hast doch hoffentlich ein bisschen Zeit, oder?« Lina strich sich ihren Pony nach hinten, als ob sie nervös wäre.
Marie wischte sich den Colaschaum von den Lippen. Hoffentlich kam Lina nicht auf die Idee, sie zum Schwimmen einzuladen. Abgesehen davon, dass Marie sonst niemanden kannte, der einen Pool im Haus hatte, verspürte sie einen Anflug von Panik, als sie sich vorstellte, dass sie sich vor Lina ausziehen sollte. Hastig nahm sie noch einen Schluck von der Cola. »Was für eine Cola ist das denn, die schmeckt total merkwürdig, so bitter«, sagte sie dann schnell.
»Cherrycola, die Lieblingscola von Luis, die trinkt ja jetzt keiner mehr.« Lina seufzte demonstrativ.
»Aber er wird doch bestimmt bald wieder gesund, oder?« Marie fand, ihre Stimme klang wie ein heiserer Hamster, unendlich leise und schwach, geradezu eine Einladung für Lina zum Drübertröten. »Ob er gesund wird, das geht nur die Menschen etwas an, die ihn lieben«, sagte sie laut und sehr bestimmt.
Maries Wangen wurden heiß von dem ganzen Blut, das ihr in den Kopf schoss. Luis war also nicht aus dem Koma erwacht und hatte auch nicht nach ihr gefragt, sondern Lina hatte die Seite bei den Lokalisten entdeckt, obwohl doch alles sofort gelöscht worden war. Jetzt musste sie Lina die Wahrheit sagen. Die ganze abscheuliche, peinliche Wahrheit.
»Trink doch, dann können wir endlich ins Schwimmbad runtergehen.« Lina starrte Marie dabei so streng ins Gesicht, dass Marie ihr Glas in einem Zug austrank.
Danach fühlte sie sich besser, fast sogar beschwingt. Jetzt würde sie es hinkriegen! Sie stellte das leere Glas mit einem Knall ab und zog die Schulterblätter zusammen.
»Lina, ich muss dir etwas erklären.«
Linas Augen blitzten auf. »Ich glaube nicht, dass das nötig ist.«
»Da täuschst du dich.« Marie spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. Lina hatte doch überhaupt keine Ahnung! Sie konnte sich nicht mal in ihren kühnsten Träumen ausmalen, was wirklich passiert war. Marie stieg vom Barhocker, um sie herum drehte sich alles, im letzten Moment hielt sie sich am Tresen fest, kniff sich in den Arm, um wieder klarer denken zu können.
»Ist dir nicht gut?«, fragte Lina und kam näher.
»Geht schon«, flüsterte Marie. Typisch, dass ihr jetzt schwindelig wurde. Wie feige.
»Komm, gehen wir doch nach unten, dort ist auch Luis’ … ähh … Geschenk für dich. Und es gibt Liegestühle, dort kannst du dich ein bisschen hinlegen.«
»Okay. Gehen wir«, sagte Marie und hatte Mühe, Lina zu folgen, die schon im Flur war und dann durch das rotbraune Holztreppenhaus in den Keller hinunterlief. Vor ihren Augen verschwammen die vielen Türen zu einer großen Drehtür. Konzentrier dich, befahl sie sich. Du brauchst gar keine Angst zu haben, denn du hast nichts Schlimmes getan. Trotzdem wusste Marie, dass Lina sie verachten würde.
Lina schob die Schiebetür auf, die den Pool von einem Umkleideraum abtrennte. »Hier rein!«
Es roch stark nach Chlor, doch Marie atmete tief ein, hatte den Eindruck, als würde dieser scharfe Geruch ihren Verstand wieder beruhigen. Sie setzte sich auf einen der Liegestühle. Was wollte Lina eigentlich wirklich von ihr? Wenn sie von der Sache wusste, warum hatte sie sie dann nicht sofort damit konfrontiert?
Lina zog Jeans und Sweatshirt aus, sie trug einen grün gemusterten Badeanzug darunter. Nein, keinen Badeanzug, einen Bikini, dessen Ober- und Unterteil nur mit einem riesigen Metallring verbunden war. Der Ring bewegte sich schnell vor und zurück. Warum atmete Lina denn so heftig?
»Ich habe in der Umkleide Badesachen und ein Handtuch für dich hingelegt. Wir können ja erst eine Runde schwimmen und dann geb ich dir Luis’ Geschenk, ja?« Lina stieg an der Leiter ins Becken und winkte Marie. »Nun komm schon!«
Was sollte das denn jetzt? Warum rückte Lina nicht endlich damit raus, was Luis für sie hatte? Marie überlegte, ob sie einfach gehen oder gute Miene zum bösen Spiel machen sollte. Doch schließlich war sie hier, weil sie etwas aufzuklären hatte. Sie würde bleiben, aber sie würde sich nie im Leben vor Lina ausziehen. Aber das würde Lina nie verstehen, so cool wie sie war. Auf ihrer letzten Klassenfahrt – bevor Marie dann die vier Fünfen im Zeugnis gehabt hatte – hatten Lina, sie und noch vier andere Mädchen sich einen Schlafraum mit einem Badezimmer geteilt.
Lina hatte sich an- und aus- und umgezogen, ganz egal, wer gerade in der Nähe war. Lina schien ihren Körper gar nicht zu bemerken, auch nicht den von anderen. Sie machte sich jedenfalls nie über jemanden lustig. Ganz im Gegensatz zu den Mädchen, die jetzt in Maries Klasse waren, Mädchen wie … Vanessa.
Auf der Klassenfahrt war Lina einmal aus dem Badezimmer gekommen und hatte mit einem blutbefleckten Höschen herumgewedelt und ganz lässig nachgefragt, wer denn dieses Ding vergessen hätte. Marie hatte ihr hellblaues Panty mit den Flecken angestarrt, sich am Bett festgehalten und gebetet, dass keiner auf die Idee kommen würde, es wäre ihres. Dabei hatte sie es extra sorgfältig in ihr Handtuch eingewickelt, damit es ja niemand zu Gesicht bekam.
Hätte Vanessa diesen Fund gemacht, hätte sie keine Ruhe gegeben, bis sie herausgefunden hätte, wem es wirklich gehört. Hätte es mit ihrem Handy fotografiert, bei den Lokalisten reingestellt und Kommentare dazu abgelassen.
So war Lina nicht. Für Lina war Marie gar nicht da, so wie das berühmte rostige Fahrrad in China.
Damals hatte sie Lina gehasst.
Marie lächelte bitter. Das war noch, bevor sie zu Luis in die Klasse gekommen war und dort zwangsweise Bekanntschaft mit Vanessa und deren Gang schließen musste.
Marie hatte angenommen, Luis würde genauso über sie hinwegsehen, wie seine Schwester es getan hatte.
Es war jedoch Vanessa, die gleich am ersten Schultag allen klargemacht hatte, dass Marie nicht mehr länger übersehen werden durfte. Vanessa sorgte dafür, dass Maries Hosengröße diskutiert wurde. Vanessa ließ zwei rote Linsen rumgehen, von denen sie behauptete, das seien Gipsabdrücke von Maries Busen. Unter Maries Tisch fanden sich Artikel über Schönheits-OPs mit dem Hinweis, dass bei ihr selbst das nichts mehr nutzen würde.
Marie hatte versucht, alles einfach wegzustecken, hatte sich gesagt, dass es irgendwann aufhören würde. Aufhören müsste. Hatte sich zusammengerissen und so getan, als wäre ihr das alles egal.
Und dann war das mit Luis passiert.
Marie hatte sich wieder mal zu den hinteren Radständern geflüchtet, um sich zu beruhigen. Zusammengekauert zählte sie neben einem schlammverkrusteten Mountainbike rückwärts von hundert bis null. Tränen strömten ihr übers Gesicht, während ihr Körper von harten Schluchzern geschüttelt wurde. Die warme Hand auf ihrer Schulter kam völlig unerwartet. Sie wurde starr, wagte kaum zu atmen, hatte Angst, dass es eine von Vanessas Sklavinnen war.
»Marie, wein doch nicht«, sagte eine leise Jungenstimme. »Diese blöden Hühner sind doch so was von bescheuert! Niemand mag sie wirklich. Hey und Vanessa ist schlimmer als die Pest, sie ist wie … wie …«
Marie hatte gespannt gewartet, während Luis theatralisch nach Worten rang. »Vanessa ist wie starke Cellulitis.«
Marie musste lachen und drehte sich um. Luis stand vor ihr und sein Grinsen war so ansteckend, dass es Marie auf einmal nicht mehr peinlich war, beim Heulen erwischt worden zu sein.
»Stell dir Vanessa ab sofort einfach als sprechenden, fetten, schwabbeligen Oberschenkel mit Augen drin vor – so wie Bernd das Brot oder Spongebob.«
»Und du glaubst, das hilft?«
»Na klar, probier’s wenigstens mal aus, okay?«
Marie versprach es, erwartete aber nicht, dass es auch funktionieren würde. Doch noch am selben Tag knöpfte sich Vanessa zusammen mit ihrer Gang Marie wieder vor. Diesmal ging es darum, warum wohl so eine Loserin wie Marie nicht bei den Lokalisten war: weil sie schließlich keine Freunde hatte und auch niemals welche finden würde …
Marie wollte gerade wieder den Kopf senken und alles über sich ergehen lassen, als sie plötzlich ein Stück weiter weg Luis stehen sah, der ihr zuzwinkerte. Das half ihr ungemein dabei, Vanessas hübsches Gesicht in einen schwabbelnden Oberschenkel zu verwandeln, ja, es gelang ihr sogar so gut, dass sie grinsen musste.
Und von diesem Moment an schaffte sie es jedes Mal immer besser. Schließlich prallten Vanessas Gemeinheiten an Marie ab, als wäre sie von einem unsichtbaren Schutz umhüllt. Die Vorstellung von dem wabbelnden Schenkel wirkte wie ein Zauberspruch, der ihre Ohren komplett abdichtete.
Ich hätte wissen müssen, dass Vanessa diese Schmach nicht auf sich sitzen lassen wird, dachte Marie. Aber wie hätte ich jemals darauf kommen sollen, dass jemand mein Ich stehlen und anderen in meinem Namen damit Schmerz zufügen könnte?
»Und, was ist denn jetzt?«, fragte Lina, die plötzlich tropfnass vor Marie stand und sich vor ihr schüttelte. »Kommst du jetzt auch endlich rein oder was? Eigentlich müsstest du dich doch hier sehr wohlfühlen.«
Was sollte das denn jetzt wieder heißen?
»Dieses Bild müsste dir doch sehr bekannt vorkommen, oder?« Lina zeigte auf die Fototapete und strich ihre klitschnassen Haare zurück.
»Ich habe keine Ahnung, was du damit meinst, aber wir müssen unbedingt über deinen Bruder sprechen.« Marie gab sich Mühe, energisch zu klingen.
Sie hätte es merken müssen. Hätte merken müssen, dass irgendwas nicht stimmte – vor allem als Luis anfing, Blickkontakt mit ihr zu suchen. Hätte stärker darauf achten müssen, wie die anderen bei ihrem Anblick reagierten. Sie hätte Luis ganz konkret fragen sollen, warum er sie so komisch von der Seite anguckte. Stattdessen hatte sie wie immer einfach den Kopf in den Sand gesteckt. Und wenn sie nicht mal wieder heulend auf dem Mädchenklo gesessen hätte, würde sie bis heute nicht wissen, was für ein superfieses Spiel Vanessa da mit ihr und Luis getrieben hat. Die kichernden, schadenfrohen Stimmen von Vanessa und ihrer Gang verursachten ihr noch immer Übelkeit, wenn sie nur daran dachte.
»Ich find’s gut, wenn wir über meinen Bruder reden, aber jetzt komm mit ins Wasser, das ist doch wesentlich entspannter.« Lina stieg wieder in den Pool und schwamm ein paar Züge, dann winkte sie Marie. »Hey, Trauerkloß, komm schon rein.«
Marie überlegte. Würde Lina ihr besser zuhören, wenn sie ihrer Bitte nachgeben würde, oder sollte sie lieber hier warten, bis Lina es satthatte, allein zu schwimmen?
Was auch immer, sie musste endlich den Mut finden, mit ihr zu reden, auch deshalb war sie hergekommen. Sie setzte sich auf. Mist, ihr war noch immer ziemlich schwindelig, die Palmen und die Sonnenschirme auf dem Foto begannen, sich sofort um sie herumzudrehen. »Ich möchte aber nicht.«
»Luis liebt tauchen!«, sagte Lina und ihre Augen glitzerten begeistert.
»Luis wird bald wieder aufwachen, oder?«
»Jetzt nerv nicht und komm schon rein.« Lina patschte neben sich auf die Wasseroberfläche.
»Ich hab keine Lust auf Schwimmen, aber ich kann mich ja an den Rand setzen.« Marie krempelte ihre Jeans hoch bis zu den Knien und tapste zum Becken. Hauptsache, Lina würde endlich aufhören, sie zu nerven und ihr zuhören. Unsicher setzte Marie einen Fuß vor den anderen, konzentrierte sich auf die Uhr an der Wand gegenüber, um den Schwindel abzustellen. Vorsichtig setzte sie sich schließlich an den Rand des Pools und tauchte ihre Füße ins Becken.
Samtweich und warm umhüllte das Wasser ihre Beine und machte sie schwerelos. Plötzlich sah sie Luis vor sich, mit all den Geräten und Kanülen, und fragte sich, ob es sich so anfühlte, wenn man im Koma lag, als ob man dauernd im Wasser schweben würde. Bei ihrem letzten heimlichen Besuch im Krankenhaus hatte sie den Eindruck gehabt, Luis würde auf ihre Stimme reagieren. Seine Augen hatten sich unter den Lidern hin und her bewegt. Als sie das dem Pfleger erzählt hatte, meinte er, die Chance, dass Luis bald aufwachen würde, stünde sehr gut.
»Was glaubst eigentlich du, warum Luis gegen den Baum gefahren ist?«, fragte Marie.
Lina schwamm zu ihr und baute sich vor ihr auf. »Wegen dir natürlich, nur wegen dir. Ist doch klar.« Sie kam noch ein Stückchen näher. »Du hast ihn auf dem Gewissen, wegen dir wollte er sterben.«
Marie zuckte zurück und versuchte wegzurutschen. Zu spät. Lina hatte sie schon an ihren Unterschenkeln gepackt und zog. Marie knallte mit dem Kopf nach hinten auf die Fliesen, der Schmerz nahm ihr die Luft, ihr war schwarz vor Augen. Doch Lina zerrte unbarmherzig weiter, Marie klatschte ins Wasser, strampelte, um wieder nach oben zu kommen, in ihren Ohren blubberte es, ihre Haare schwammen vor ihren Augen wie Seetang. Sie durchbrach die Wasseroberfläche und schnappte nach Luft. Ihre Jeans und das Sweatshirt klebten nass und schwer an ihr, zogen sie wie bleierne Fesseln nach unten. In ihrem Schädel hämmerten Schlagbohrer im Akkord.
»Lina, hör auf damit! Ich habe deinem Bruder nichts getan!«, schrie Marie panisch und schlug wild um sich.
Wutschnaubend stürzte sich Lina wieder auf Marie, griff nach ihren Armen, sie entglitten ihr, sie packte stärker zu und drehte sie nach hinten. »Ich habe nichts anderes von dir erwartet! Wer jemanden so reinlegt, ist einfach nur feige.«
Marie zappelte, drehte ihren schmerzenden Kopf, versuchte, in Linas Arm zu beißen, aber Lina schüttelte sie hin und her, wie einen Lappen.
»Lina«, keuchte Marie, »hör mir zu. Das war alles ganz anders, als du denkst.«
»Jaja, das sagen alle, die sich schuldig gemacht haben. Du hast Luis auf dem Gewissen – warum solltest du weiterleben?«
»Weil …« Weiter kam Marie nicht, weil Lina sie jetzt mit aller Kraft nach unten zog.
Marie trat um sich, rammte ihre Ellenbogen in Linas Körper, die zuckte zurück, gab kurz nach. Marie nutzte ihre Chance, kämpfte sich nach oben, trat nach Lina, als diese schon wieder an ihrem Fuß zerrte, tauchte auf, schnappte nach Luft, hustete das verschluckte Wasser aus, schüttelte sich. Schleppte sich zum Beckenrand, zog sich hoch, aber ihre vollgesaugten Klamotten wogen Tonnen. Mit letzter Kraft stemmte sie sich aus dem Wasser, platschte auf die Fliesen, atmete stoßweise.
»Lina, hör auf! Nicht nur Luis wurde reingelegt, sondern auch ich. Bitte …« Entsetzt sah Marie, wie Lina sich leichtfüßig aus dem Wasser schwang, der Metallring blitzte scharf im Neonlicht. Lina rannte auf Marie zu, packte sie an den Haaren, zog sie zu sich hin, zwang Marie, ihr in die Augen zu sehen.
»Das Foto – war das wirklich auch noch nötig, ihn so bloßzustellen?«, keuchte Lina. Sie schniefte. »Du widerst mich an!« Tränen liefen über Linas Gesicht.
»Ich war das nicht!« Marie stieß Lina von sich, rappelte sich auf, schrie endlich, brüllte noch mal: »Ich war das nicht!«
Sie machte ein paar Schritte weg vom Becken, aber der ganze Boden war voll Wasser, war unheimlich glitschig und vor Maries Augen drehten sich Palmen, Liegestühle, Wasserpfützen. Ich muss hier raus! Am Becken vorbei, einfach nur raus hier, dachte sie. Man kann nicht mit ihr reden, Lina ist verrückt geworden!
Ein harter Stoß in den Rücken, Maries Füße verloren den Halt, sie stürzte, schlidderte über die Fliesen bis zum Beckenrand, versuchte, sich festzuhalten. Nein, bloß nicht wieder in den Pool. Aber da war Lina auch schon neben ihr, trat sie ins Wasser wie einen toten Seehund.
Marie kam wieder hoch, rang nach Luft. »Lina, ich liebe deinen Bruder!« Doch die letzten Worte ertranken in einem schrecklichen Gurgeln.
Lina war schon wieder hinter ihr.
»Zu spät, Marie!« Lina drückte Marie mit all ihrer Kraft unter Wasser, und sosehr sich Marie auch wehrte, sie schaffte es nicht mehr an die Oberfläche.
Luis
Es riecht nach … ich schwebe, bin eine Wolke, jeder Atemzug macht mich schwerer, zieht mich zurück zur Erde, riecht nach Maiglöckchen. Ich will nicht atmen, schweben ist schöner … mir ist kalt. Höre Stimmen. Will lieber wegfliegen.
Hand. Nicht atmen. Meine Hand, es piepst. Kalt. Augendeckelschwer. Aufmachen, aufwachen, lärmenlahmkalthand.
Ich schlage meine Augen auf. Jemand sitzt neben meinem Bett. Ich kenne sie. Meine Lider fallen wieder zu. Verdammt anstrengend. Jemand drückt meine Hand, warum? Lasst mich schlafen.
Meine Hand wird so stark gedrückt, na gut, ich mache meine Augen wieder auf. Die da am Bett sitzt, hat Wasser im Gesicht.
Neben ihr stehen grüne Monster, die mich anschreien.
Ob ich sie höre. Ha. Klar höre ich die. Nicken kann ich nicht, geht nicht, mein Kopf ist festgeschraubt. Meine Zunge ist aufgedunsen, gequollen, verstopft mir den Mund, ich drücke die Hand. Das geht. Ziemlich anstrengend. Kalt ist mir. Nur in der Höhle ihrer Hand ist es warm. Ich drücke wieder und versuche, diese Sargdeckel von meinen Augen zu schieben.
Noch mehr Monster. Einer zerquetscht meine rechte Fußzehe und will wissen, ob ich etwas spüre.
Du spinnst wohl, würde ich gern sagen, aber raus kommt nur ein »Aua!«.
Die Monster klatschen in die Hände.
»Laut!«, stoße ich hervor und verfluche meine Zunge, die sich anfühlt wie Watte. Es würgt mich. Die Sargdeckel fallen wieder runter.
Jemand schiebt mir so ein Ding in den Mund, egal, ich trinke. Meine Hand wird fast zerquetscht.
»Es sieht gut aus«, höre ich, »sogar sehr gut, er versteht, reagiert, keine Lähmungen.«
Ich versuche zu erkennen, welches Monster das gesagt hat, aber als ich es geschafft habe, die Lider zu heben, sind alle weg, nur sie ist noch da.
»Hey«, sagt sie und streichelt meinen Arm. »Du hast uns ziemliche Angst eingejagt.«
Angst!
Ich tauche weg, wie ein Pinsel voll schwarzer Farbe, werde in klares Wasser getunkt, werde zu wolkigem Schwarz, zu wabernden Schlieren, die sich ausbreiten und schließlich alles im Grau ertränken.
Als ich das nächste Mal zu mir komme, gehen meine Augen wie von selbst auf und zu. Ich entscheide mich für auflassen. Sie sitzt neben meinem Bett.
»Wie fühlst du dich?«, fragt sie.
»Komisch!«, antworte ich und es geht ganz einfach. Keine Schneckenzunge mehr im Mund. Trotzdem schaut sie mich an, als hätte ich etwas Falsches gesagt. »Was ist hier eigentlich los?«
Sie starrt mich an, als hätte ich den Verstand verloren.
»Ich meine, was mache ich hier?«
»Du warst drei Tage im Koma.«
Koma. Drei Tage. Ich möchte schlafen, aber sie drückt meine Hand.
»Sprich mit mir. Die Ärzte sagen, das ist wichtig.«
Ich glaube, sie lügt. Irgendwas stimmt hier nicht. Ich glaube, ich habe etwas Schreckliches getan. Koma? Ich will nicht reden, ich will schlafen.
Klebriges Laub an meinen Händen, Lachen und lautes Schmatzen von Blättern, als wären es Tiere, die sich gegenseitig auffressen. Da liegt es.
Der böse Schatz.
Nimm ihn nicht.
Lass ihn liegen.
Ein Reh warnt mich. Sagt, schau mir in die Augen, braune Augen, schön wie Maries Augen. Werden immer größer, werden zu Seen aus geschmolzener Schokolade, fließen um mich, schrumpfen dann zurück zu einem klar begrenzten See, werden wärmer, beginnen zu brodeln. Und dann steigen sie auf wie erstarrte Fontänen, zwei Gestalten umhüllt von braunem Sumpf.
Ich möchte fliehen und bleibe doch wie angewurzelt stehen. Sehe meinen Atem in kleinen Wölkchen von mir wegrennen. Laub, es riecht nach modrigem Laub. Ich will wissen, wer das ist, und will es nicht wissen. Da dreht sich die linke Gestalt um und ich kann ihr Gesicht sehen.
Mama sitzt auf meinem Bett, streicht über meine Stirn und murmelt: »Schsch, es wird alles wieder gut werden …«, und ich fühle mich wie ein Baby.
Ich schlage die Augen auf. Träume ich das hier nur oder war der Schokoladensumpf ein Traum? Ich taste nach ihrer Hand und drücke sie. Das fühlt sich echt an. Aber das Reh und der See haben sich auch real angefühlt, so als hätte ich das wirklich erlebt.
Mama lächelt mich beruhigend an. »Luis, du warst sehr unruhig und hast geschrien. Hattest du einen Albtraum?« Sie hält meine Hand, rückt aber ein Stückchen weg und mustert mich.
»Albträume«, flüstere ich. Aber ich war da, ich, da. Direkt dort, gar nicht wie in einem Traum, und es war auch so, als wüsste ich schon, was als Nächstes passieren wird.
»Die Ärzte sagen, das ist völlig normal.« Mama nickt mir aufmunternd zu. »Die meisten Menschen, die aus einem Koma aufwachen, haben beängstigende Träume.«
Ich weiß, sie meint das jetzt als Aufforderung, sie möchte, dass ich ihr sage, was ich geträumt habe, aber das kann ich nicht. Solange ich nicht weiß, was es zu bedeuten hat. Außerdem hat sie schwarze Ringe unter den Augen, und wenn sie lächelt, sieht sie nicht glücklich, sondern unendlich müde aus. Sie hat sich bestimmt endlos viele Sorgen gemacht, ob ich wieder gesund werde, also überlege ich, was ich erzählen könnte, um sie aufzuheitern.
»Da bin ich aber froh, dass das normal ist. Weißt du, ich habe geträumt, dass ich eine eigene Fernsehshow bei ProSieben habe, zusammen mit einem sprechenden Orang-Utan.«
Sie lächelt ein bisschen fröhlicher. »Mir scheint, du bist auf dem Weg der Besserung. Das ist gut, denn jetzt kommt gleich ein Physiotherapeut, der ein bisschen mit dir herumgehen wird.«
»Aber ich bin viel zu müde.«
»Das ist auch normal. Ich finde es natürlich wunderbar, dass du schon wieder Witze machen kannst. Tatsächlich ist es so, dass deine Erinnerungen auch als Träume zurückkommen können. Auf alle Fälle habe ich mich um eine Psychologin gekümmert, mit der du dich darüber unterhalten kannst, wenn du willst.«
Und bevor ich protestieren kann, steht ein junger Typ vor uns, behauptet, er wäre der Physiotherapeut, grinst mich an und redet davon, dass wir einen Spaziergang machen. Wir!
Mama verabschiedet sich, um uns nicht zu stören.
Es schockt mich ziemlich, wie schlapp und wacklig ich in den paar Tagen geworden bin. Außerdem ist der Gips, der mein komplettes rechtes Bein umhüllt, verdammt schwer. Nach ein paar Schritten bin ich schweißgebadet, will nur noch zurück in mein Bett.
Und sobald ich das Kissen unter meinem Kopf spüre, fallen mir die Augen zu.
Aber ich schlafe nicht, sondern sitze am Steuer eines Autos. Fahre durch die Dunkelheit, wundere mich, wo wohl der Lichtschalter ist, suche überall den Lichtschalter, gerate in Panik, man braucht Licht zum Fahren, schrecke zusammen, weil ich statt des Lichts die Scheibenwischanlage in Gang gesetzt habe. Wasser strömt über die Windschutzscheibe. Verdammt, wo geht das wieder aus? Das Wasser auf den Scheiben wird zu Tröpfchen, die Tröpfchen werden zu einem Umriss, werden zu Marie, die in wassergetränkten Kleidern dasteht und sich schüttelt wie ein nasser Hund und so wieder neue Tröpfchen auf die Autoscheibe spritzt. Ihre Augen sind weit offen vor Entsetzen.
Ich muss das Licht finden und die Scheibenwischer abschalten! Endlich habe ich es geschafft, die Scheinwerfer leuchten auf und Marie ist verschwunden.
Bösartig starren mich die kahlen Bäume an, die Sträucher sehen aus wie struppige Verbrecher, die nur auf einen Befehl warten, um sich auf mich zu stürzen und mich mit ihren Ästen zu zerfleischen. Weg mit dem Licht.
Ich bin auf dem Waldparkplatz am See. Da sind sie.
»Hey!«
Ich brauche die Augen nicht aufzumachen, ich weiß auch so, wer das ist. Diesen Duft nach Labello und Heu, nach Bleistiften und Vanille, den verströmt nur Lina. Die beste Schwester des Universums.
Ich öffne die Augen und starre sie an, als hätte ich sie noch nie gesehen. »Wer sind Sie?«, frage ich mit schleppender Stimme.
Sie schaut mich so traurig an, als wäre sie fünf Jahre alt und hätte gerade entdeckt, dass ich die Glatze ihrer Puppe Amelie tätowiert habe.
Das halte ich nicht aus.
Also grinse ich sie an. »Sind Sie nicht diese berühmte … Heidi Klumpfuß?«
Lina atmet erleichtert auf und macht Anstalten, mir einen freundschaftlichen Knuff zu geben, hält aber mitten in der Bewegung inne, als wäre ihr gerade eingefallen, dass ich aus kostbarem chinesischem Porzellan sei.
»Depp, elendiger!«, sagt sie und holt sich den Besucherstuhl ans Bett. »Dann geht’s dir also besser, ja?«
»Ich träume so wirres Zeug, von dem ich mir dann einbilde, ich hätte es echt erlebt.«
Ich erzähle ihr von meiner Autofahrt, denn ich bin sicher, das wird sie zum Lachen bringen, schließlich weiß sie ja, wie viel Schiss ich vorm Autofahren habe.
Aber Lina lacht nicht, sondern sie wird blass und erklärt mir dann, dass ich wirklich Papas Auto genommen habe und damit rumgefahren bin.
»Aber warum sollte ich so etwas machen?«
Sie zupft an der Bettdecke rum, und als sie aufschaut, bin ich mir sicher, sie weiß, warum, will es mir aber nicht sagen. Schon früher hat sie immer, wenn sie mir etwas nicht sagen wollte, ihre Lippen leicht zusammengepresst, als wollte sie verhindern, dass etwas Verräterisches herausschlüpft.
Aber da ist noch etwas anderes in ihren Augen, etwas, das mir Angst macht. Habe ich ihr etwas angetan?
»Also Lina, warum habe ich das Auto genommen?«
Sie zögert einen Moment, dann nimmt sie meine Hand. »Na, wegen dem Foto.« Beißt sich sofort fest auf die Unterlippe.
»Was denn für ein Foto? Ich habe keine Ahnung, wovon du redest, und wenn ich gerade eines nicht brauchen kann, dann sind das Rätsel. Es würde mir viel mehr helfen, wenn du mir erzählen könntest, was wir getan haben, bevor ich das Auto genommen habe.«
Lina scheint erleichtert zu sein und tut mir den Gefallen. »Das Laub im Garten … wir haben Laub gerecht.«
Dann war das mit der Laubfrau also gar kein Traum, es hat sie wirklich gegeben. Und diese Gewissheit lässt plötzlich auch noch andere Bilder in mir aufsteigen. Der Schatz, der dort lag, ist das Handy, das ich gefunden habe, ich erinnere mich. Und das Reh, das Reh mit Maries Augen?
»Und Marie?«, frage ich.
»Was hat Marie denn damit zu tun?« Auf Linas Wangen sind plötzlich zwei kreisrunde knallrote Flecken.
»Ich weiß es auch nicht so genau. Kannst du sie fragen, ob sie mich besuchen kommen will?«
Lina ist aufgestanden. Ihre Augen schimmern so nass, als ob sie gleich weinen würde.
»Was ist denn los?«
Sie schiebt den Stuhl zum Tisch hinüber und geht zur Tür.
»Hey, was soll das denn, rede mit mir!«
»Das kann ich nicht!« Ich kann Linas Worte kaum verstehen, weil ihre Stimme nur noch ein heiseres Flüstern ist.
Dann ist sie weg.
Wie unfair! Ich liege hier und versuche, mich zu erinnern, versuche, mein Leben wieder zusammenzupuzzeln, und meine Schwester rennt einfach weg.
Die verschweigen mir doch alle etwas. Plötzlich wird mir schlagartig heiß. Was ist, wenn ich jemanden totgefahren habe?
Marie, warum sehe ich dauernd Marie vor mir? Ist Marie tot, habe ich etwas damit zu tun? Nein, unmöglich, das kann gar nicht sein. Niemals! Aber warum besucht sie mich nicht?
Warum weint Lina, wenn ich nach Marie frage? Ich habe ihr doch nie etwas erzählt. Wie auch, Lina würde nie kapieren, was mir an Marie gefällt. Die beiden sind einfach zu verschieden. Wären die beiden Blumen, wäre Lina eine prächtige feuerrote Gladiole und Marie ein Maiglöckchen. Wenn Lina das hören könnte, würde sie sicher meckern und behaupten, sie wäre eine Rose und Marie ein Kaktus. Lina ist laut, Marie ist leise, Lina weiß alles, Marie ist klug. Lieben tu ich sie beide, aber jede anders natürlich.
Je länger ich über Linas Flucht nachdenke, desto mulmiger wird mir. Ich muss mich verdammt noch mal besser erinnern. All diese Erinnerungsfetzen in die richtige Reihenfolge bringen.
Doch bevor ich damit auch nur anfangen kann, steht Mamas Psychologin vor mir, Klara-Luise Brönner-Schönlein, und will mit mir über alles reden. Am liebsten würde ich sie anschreien: »Was alles? Was, verdammt noch mal, meinen Sie mit alles?« Stattdessen schweige ich.
Sie ist gekränkt wegen meiner »Verweigerungshaltung« und ich wünschte, Lina wäre da, weil ich mit ihr herrliche Witze über diesen beleidigten Gesichtsausdruck machen könnte. Aber Lina ist ja einfach abgehauen, hat mich allein gelassen.
Und dann muss ich essen, was mir schwerfällt, weil mein Hals noch ganz wund ist von den Kanülen, die sie mir reingeschoben haben. Aber wenn ich nicht esse, gibt es wieder eine Standpauke der blonden Stationsschwester. Sie spricht mit polnischem Akzent, heißt Jana und könnte sofort als Supermodel arbeiten. Das klingt toll, aber wenn man so elend hier rumliegt, ist es einfach nur peinlich, wenn sie bei mir Fieber misst oder mich wäscht.
Also würge ich etwas Suppe hinunter und bin froh, als ich endlich offiziell schlafen darf.
Aber ich kann nicht schlafen, deshalb nehme ich einen Stift aus meinem Nachttisch und mangels Papier schreibe ich in das Buch, das hier herumliegt. Ein merkwürdiges altes Witzebuch.
Ich werde jetzt alles aufschreiben, was mir einfällt, und ich bin sicher, dann werde ich mich erinnern.
Als ich mir am nächsten Morgen mein wildes Gekritzel anschaue, muss ich enttäuscht feststellen, dass es nicht funktioniert hat. Den ganzen Tag muss ich zu irgendwelchen Untersuchungen, muss andauernd Fragen beantworten und bin einfach nur müde, als Lina mich besuchen kommt. Und sie hat Besuch mitgebracht, aber leider nicht Marie.
Nils.
Seine blaugrauen Augen glotzen mich hemmungslos an, als wäre ich in einem Kuriositätenkabinett ausgestellt, als Mann ohne Kopf oder Zwerg Nase. Ich will nicht, dass er näher kommt, er soll wieder gehen.
»Lina, kann ich dich mal kurz alleine sprechen?«
Lina zuckt mit den Schultern, Nils verdreht seine Augen und geht nach draußen auf den Gang.
»Nils soll verschwinden!«
»Aber warum denn?«
»Weil …« Jetzt hätte ich beinahe gesagt, weil er böse ist, aber aus welchem Teil meines lädierten Hirns kommt das denn plötzlich? »Weil …« Was sage ich denn jetzt, was sich einigermaßen vernünftig anhört? »… ich nicht will, dass mich dein cooler Freund hier so rumliegen sieht, wie einen Haufen Scheiße, verstehst du?«
»Jetzt stell dich nicht so an, du siehst doch ganz okay aus.«
Nils schaut durch die obere Glassscheibe der Tür herein und ich bilde mir ein, er würde grinsen.
Nils. Da arbeitet was in meinem Hirn.
Vielleicht sollte ich das ausnutzen, vielleicht bringt es etwas in Gang.
»Na gut, aber bleibt nicht zu lange, okay?«
Lina winkt Nils rein, der bringt einen Stuhl für Lina und bleibt an meinem Bettende stehen. Es nervt tierisch, wenn man seinen Blick nach oben richten muss, um jemanden anzuschauen.
Nils.
»Und, Alter … wie läuft’s hier drin so?« Nils macht mit dem Zeigefinger eine kreisende Bewegung vor seinem Gesicht und tippt sich dann an die Stirn.
Ich hasse es, wenn Nils »Alter« zu mir sagt, als wären wir die dicksten Kumpel.
»Immer besser. Ich kann schon wieder bis drei zählen.«
Nils lacht übertrieben laut. Lina tut auch so, als hätte ich einen Witz gemacht.
»Und, Alter, wie läuft’s so mit den Krankenschwestern?« Nils zwinkert mir zu, damit ich auch wirklich kapiere, was er meint.
»Spitze! Ein Pfleger schöner als der andere, interessiert?«
Während ich antworte, blitzt etwas in meinem Schädel auf, will mir was sagen, lenkt mich ab.
Handy. Sagt mein Hirn. Es war Nils’ Handy, das ich im Laub gefunden habe. Musste ihm beim Laubrechen rausgefallen sein. Damit fing alles andere an.
Und plötzlich ist alles wieder da, läuft ab wie ein Film im Breitwandformat, bunt, laut und ich kann nichts anderes tun, als meine Augen zu schließen und ihn anzuschauen.
Ich höre noch, wie Lina mit mir redet und Nils erklärt, so sei das eben mit Leuten, die im Koma waren, und dann bin ich mittendrin.
Es dämmert schon. Lina und Nils verziehen sich kichernd nach drinnen und lassen mich draußen stehen. Wütend reche ich weiter klebrig nasses Laub zusammen. Zwischen Daumen und Zeigefinger meiner rechten Hand hat sich schon eine dicke Blase gebildet, die ziemlich wehtut. Aber wenn wir das nicht fertig machen, gibt es Ärger mit Papa. Also reche ich zähneknirschend weiter. Plötzlich macht der Rechen ein hässliches Geräusch. Metallisch kratzend. Ich beuge mich hinunter und sehe ein Handy aufblitzen.
Nils’ Handy.
Ich zögere keine Sekunde, nehme es in die Hand und bin entzückt, als ich feststelle, dass es an ist. Einer Eingebung folgend drücke ich mich im Menü zu seinen SMS-Nachrichten vor. Überfliege die Absender- und Empfängernamen. Eine Menge gehen auf das Konto seiner Basketballfreunde, mindestens genauso viele sind von irgendwelchen Mädchen. Besonders häufig taucht der Name Nessie auf.
Ich werfe den Rechen zur Seite und gehe mit dem Handy rein aufs Klo, weil ich mir das Ganze ungestört ansehen möchte. Mit klopfendem Herzen ziehe ich die Badezimmertür hinter mir zu; aus Linas Zimmer ist lautes Kichern zu hören.
Die SMS von Nessie sind ganz eindeutig, da geht es ziemlich zur Sache. Und das sind keine alten Textnachrichten, sondern topaktuelle SMS. Ich schaue mir die letzten von heute an:
Wann sehen wir uns? HASE (Habe Sehnsucht)
Hol dich um
23 ab, dann zum Steinsee, wie immer. vDs
(vermisse Dich sehr)
Geht’s nicht früher? ildüaidw (ichliebdichüberallesinderwelt)
Nein, bis später.:-x+Z (Küsschen mit Zunge)
Widerlich. Das ist so verdammt widerlich! Übelkeit und blinde Wut steigen in mir auf. Nils schmust hier gerade mit meiner Schwester rum und schreibt sich mit dieser Nessie solche SMS! Angewidert drücke ich die Kurzmitteilungen auf Nils’ Handy weg, will nicht noch mehr davon lesen. Und es ist noch nicht mal eine Genugtuung zu erfahren, dass ich mit meiner Einschätzung von diesem Proleten genau richtig gelegen habe.
Am liebsten würde ich sofort in Linas Zimmer stürmen und ihm das Handy vor die Füße werfen, aber das wäre wahrscheinlich nicht sonderlich klug. Er würde sich bestimmt irgendwie rausreden. Darin ist er groß. Aber das Schlimmste an der ganzen Sache ist, dass Linas Herz brechen würde. Meine große Schwester liebt diesen Idioten leider wirklich über alles.
Trotzdem muss ich was tun. Ich will nicht, dass Nils meine Schwester noch länger so hintergeht. Ich brauche Beweise. Handfeste Beweise.
Es gibt nur eine Möglichkeit. Ich muss die zwei erwischen und dabei fotografieren. Dann wird Lina mir glauben und mich zum Dank dafür hassen. Aber ich kann doch nicht zulassen, dass dieser Typ sie dermaßen verarscht und sie so zum Narren hält. Aber jetzt bringe ich erst mal Nils’ Handy zurück und tue so, als wäre nichts.
Hier springt der Film in meinem Kopf und ich sehe als Nächstes, wie ich in Papas Auto sitze und zum Steinsee fahre. Ich spüre, wie mir der Angstschweiß kalt den Rücken runterströmt, obwohl ich versuche, so langsam wie möglich zu fahren. Zum Glück ist der Weg zum Steinsee nicht weit und führt einen holprigen Waldweg lang, wo um diese Uhrzeit niemand mehr rumläuft. Die Wahrscheinlichkeit, jemanden totzufahren, geht also gegen null. Das jedenfalls murmle ich immer wieder vor mich hin.
Ich mache das nur wegen Lina … Nein, gar nicht wahr, ich finde es irgendwie cool, dass ich mich trotz meiner Riesenangst getraut habe, das Auto zu nehmen. Aber das Allerbeste daran ist, dass ich das Autofahren Nils zu verdanken habe, denn er wollte die ganze Zeit, dass ich mir von ihm zeigen lasse, wie es geht. Wahrscheinlich, um damit Lina zu imponieren.
Ich stelle das Auto ein Stück vom See entfernt ab und schleiche mich an den Bäumen entlang zu dem Parkplatz, auf dem tatsächlich Nils’ Auto steht. In mir steigt wieder diese unbändige Wut auf. Dieses miese Schwein!
Im Mondlicht sieht alles ganz romantisch aus. Der See, der nur als Gerümpel- und Müll-Abladeplatz dient, der klapprige alte Golf von Nils. Alles liegt im silberweißen Mondlicht da, wie in einem alten Gemälde. Nils und diese Nessie hocken auf der Motorhaube, mit Blick auf den See und knutschen.
Ich bin schon so nah, dass ich das gierige Schmatzen ihrer Lippen hören kann. Das macht mich dermaßen wütend, dass ich mich zu hastig bewege und nicht darauf achte, wo ich hintrete. Es knackst laut.
Nessie richtet sich auf und dreht sich zu mir um.
Ich drücke mein Gesicht an einen Baumstamm und hoffe, dass meine schwarzen Klamotten mich ausreichend tarnen. Doch dieser kurze Moment hat gereicht, um zu erkennen, wer Nessie wirklich ist, und das macht mich noch wütender.
Jemand rüttelt unsanft an meinem Arm.
»Hey, Luis, mach hier nicht den toten Mann, rede mit uns.«
Meine Schwester.
»Ich dachte, ihr wärt gegangen!«
Nils thront immer noch am Bettende und ich frage mich, ob er weiß, was ich da gerade gesehen habe. Ob er weiß, was ich über ihn weiß. Auf sein Gesicht schleicht sich sein selbstgefälliges Grinsen und er streichelt meiner Schwester über den Arm.
Und da passiert es. Ich kann es nicht mehr zurückhalten. »Lina, weißt du eigentlich, was für ein mieses, mieses Schwein dein Freund ist?«
Sie zuckt zusammen, als hätte ich ihr eine Ohrfeige gegeben. Sogar ihre Wangen werden knallrot. »Luis, sag mal, spinnst du oder was?« Hektisch dreht sie sich zu Nils. »Er meint das nicht so …« Unsicher schaut sie kurz zu mir, dann wieder zu ihm. »Sein Hirn …«
Nils grinst, als würde er verstehen.
»Doch, der meint das genau so.« Ich versuche, meine Stimme fest und klar klingen zu lassen. »Du hast dich sicher gefragt, warum ich das Auto genommen habe. Ich wollte Nils hinterherspionieren und ich habe es auch geschafft, nur war ich nach allem, was ich gesehen habe, dann beim Rückweg so durch den Wind, dass ich ein Reh übersehen habe, und beim Ausweichen bin ich dann wohl am Baum gelandet.«
Lina wird so blass, dass die roten Kreise auf ihren Wangen wie aufgemalt aussehen. »Was sagst du da? Du hast was … du bist wegen mir …?«
»Dein kleiner Bruder will sich doch nur wichtig machen. Diesen Scheiß brauche ich mir nicht länger anzuhören.« Nils wendet sich zur Tür.
»Warte!«, ruft Lina, die völlig verstört wirkt. »Wenn nichts dran ist an dem, was Luis da sagt, können wir es uns doch genauso gut anhören?« Ihre Stimme zittert.
Ich würde Lina so gerne beschützen, aber ich weiß nicht, wie. Ich hätte es anders machen sollen. Sie sieht jetzt schon aus wie ein Gespenst. Nils hat sich betont gelangweilt wieder an mein Bettende gestellt.
Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.
»Das ist typisch für so kleine Kläffer, wie du einer bist.« Nils wackelt verächtlich mit dem Kopf. »Laut bellen, aber nichts dahinter.«
Und dann erzähle ich Lina, dass Nils nicht nur was mit ihr, sondern auch mit Vanessa aus meiner Klasse hat, und zwar schon länger.
Nils verzieht sein Gesicht, als würden ihm üble Gerüche in die Nase steigen, die er nur um seiner Erziehung willen kommentarlos erträgt.
Lina starrt ihn an, ihre Unterlippe zuckt, sie wirkt wie versteinert. Dann versucht sie, etwas zu sagen, es klingt nur wie ein heiseres Krächzen, dann räuspert sie sich und endlich kommen die Worte über ihre Lippen: »Stimmt das, was Luis hier erzählt? Ist es wirklich wahr?«
Nils starrt sie an, die coole Lässigkeit, die er sonst immer an den Tag legt, scheint zu bröckeln. Doch er bleibt stumm.
Linas Stimme wird lauter. »Du streitest es also nicht ab?« Nils sagt noch immer kein Wort.
Nun überschlägt sich die Stimme meiner Schwester fast: »Warum? Warum hast du mir das angetan? Und warum ausgerechnet Vanessa? Du bist so ein mieses Schwein!«
»Das geht dich eigentlich gar nichts an«, antwortet Nils und es wundert mich, dass er es nicht einfach abstreitet. »Aber wenn du es genau wissen willst: Vanessa ist echt der Hammer; es hat unglaublich viel Spaß gemacht, mit ihr zusammen deinen Bruder zu verarschen und übrigens: Sie küsst viel besser als du.«
Ich will nach Linas Hand greifen, um sie zu trösten. Aber sie ballt ihre Fäuste und geht auf Nils zu, trommelt ihm gegen die Brust.
»Und warum machst du dann nicht einfach Schluss?«, brüllt sie jetzt. »Geht doch ganz einfach, sogar per SMS!«
Er betrachtet sie amüsiert, wie ein Bluthund dem Angriff einer Ameise zuschauen würde.
Wenn ich nicht diesen Gips hätte, würde ich sofort aufstehen und ihn eigenhändig verprügeln.
»Warum sollte ich Schluss machen?«, antwortet Nils. »Zwei Mädels sind besser als eins … und außerdem …«, er schubst sie weg, dreht sich schon zum Gehen, »… warst du ganz gut für mein Image. Ich meine, deine Eltern haben ein fettes Haus und ’ne Menge Kohle. Abgesehen davon bist du ganz vorzeigbar – von deinem blöden Bruder natürlich mal ganz abgesehen.« Und schon fällt die Tür mit einem lauten Knall, der über den gesamten Krankenhausflur zu hören sein muss, hinter ihm ins Schloss.
»Lina, komm her!«, flehe ich sie von meinem Bett aus an.
Aber sie steht da wie betäubt.
»Er lügt, ganz bestimmt war er sehr in dich verliebt. Und Vanessa hat sich an ihn rangemacht.« Meine Worte klingen genauso verzweifelt, wie ich mich fühle.
Langsam schlurft Lina zu dem Besucherstuhl und lässt sich darauf fallen.
Mir fällt nichts ein, was ich sagen könnte, nicht mal ein blöder Witz.
»Weißt du, ich habe das Gefühl, ich kapiere überhaupt nichts mehr. Alles ist ganz anders, als ich denke, dass es ist.«
Lina klingt gar nicht mehr wie meine große Schwester, sondern wie eine Fremde. Ihre Stimme ist nur noch ein raues Flüstern.
»Hallo! Darf ich reinkommen?«, fragt plötzlich eine andere Stimme zaghaft von der Tür.
»Marie!«
»Lina hat gesagt, du würdest mich gern sehen.« Marie lächelt mich an, und weil ich mich an ihrem Lächeln gar nicht sattsehen kann und sie anstarre, entdecke ich sofort den blauen Fleck über ihrem rechten Auge.
Lina ist aufgesprungen und besteht darauf, dass Marie sich auf den Stuhl setzen soll. »Ich wollte mir eh gerade einen Kaffee holen, willst du auch einen, Marie?«
»Gerne, mit Milch und viel Zucker.«
Lina stürmt davon, als wären die Furien hinter ihr her. Ich bin sicher, sie schließt sich im Klo ein und weint. Das hat sie früher auch immer so gemacht und keiner durfte sie trösten. Und wenn sie wieder rauskam, musste ich so tun, als wäre nichts gewesen. Es tut mir leid, dass ich sie so verletzen musste. Aber auch wenn die Wahrheit manchmal wahnsinnig wehtut, ich bin mir sicher, dass es so besser für sie ist.
Als Marie sich zu mir setzt, steigt ein leichter Duft nach Maiglöckchen in meine Nase.
»Hat dir Lina schon alles erzählt?«
»Was denn?« Das mit Nils kann Marie doch gar nicht wissen, also wovon redet sie?
»Na, wegen dem Foto.« Maries braune Augen schauen mich besorgt an, dann senkt sie schnell den Blick. Und mir fällt wieder ein, dass Lina auch irgendwas von wegen Foto gesagt hat.
»Nein, noch nicht, schieß los.«
»Aber du erinnerst dich an das Foto, das du mir geschickt hast?«, fragt Marie mit leiser Stimme und schaut an meinem Gesicht vorbei.
Mir wird ziemlich warm unter der Decke. Damals hatte ich gedacht, es wäre cool, so ein Foto von mir an Marie zu schicken. Was gab es da auch schon zu verbergen? So sah ich eben aus. Aber jetzt denke ich, das hätte ich besser nicht tun sollen. Vielleicht habe ich sie damit erschreckt oder abgestoßen.
»Du musst wissen, dass du in Wirklichkeit nicht mir geschrieben hast, sondern Vanessa und ihrer Gang. Ich war noch nie bei den Lokalisten, Netzwerkcommunitys langweilen mich.« Marie zieht ihre Augenbrauen hoch und verfällt in eine Art schrille Babysprache: »Willst du mein Freund sein, dann bin ich dein Freund, hey, schau mal, die bliblablu hat schon tausend Kontakte, ist das nicht tooollll?« Ihre Stimme wird wieder normal. Sie rutscht unbehaglich auf dem Stuhl hin und her, als hätte sie Schmerzen beim Sitzen.
»Als Vanessa gemerkt hat, dass ich nicht bei den Lokalisten bin, hat sie das schamlos ausgenutzt. Sie hat einfach meinen Namen und ein Foto von mir benutzt und eine Fake-Marie ins Netz gestellt. Du kannst dir bestimmt vorstellen, wie entzückt sie war, als du angefangen hast, mir – oder besser dieser gefakten Marie – Mails zu schreiben. All deine Antworten sind bei ihr gelandet und letztendlich hat sie dich mit ihren Mails dazu gebracht, dass du ihr das Nacktfoto geschickt hast. – Und das hat sie natürlich nur allzu gerne gepostet.« Marie räuspert sich. Man merkt ihr förmlich an, wie schwer es ihr fällt, darüber zu sprechen. »Wenn ich nicht zufällig gehört hätte, wie Vanessa und ihre Gang auf der Toilette mit ihren Heldentaten geprahlt haben, wäre ich wahrscheinlich immer noch ahnungslos. Natürlich wollte ich es dir gleich am nächsten Tag sagen, aber du …«, Marie blickt mich an und senkt dann schnell wieder ihren Blick, »na ja, ich meine, das war der Tag, nachdem du den Unfall hattest. Und dann hat deine Schwester das Ganze entdeckt und gedacht, du bist deshalb gegen den Baum gefahren …«
Ich fühle mich, als hätte jemand mit einem großen Holzhammer auf meinen Schädel geschlagen. Meine Hände sind eiskalt und trotzdem schweißnass. Da habe ich gerade gedacht, ich wüsste jetzt alles und muss nun feststellen, dass ich gar nichts weiß. Das hat Nils also vorhin gemeint, als er gesagt hat, dass es ihm Spaß gemacht hat, mich zusammen mit Vanessa zu verarschen.
»Aber … du hast mir doch geantwortet …«
Marie rutscht näher. Zu den Maiglöckchen mischt sich jetzt auch noch der Duft von Erdbeersahnejoghurt. »Nie im Leben hätte ich so einen Müll geschrieben. Hast du dich denn nie darüber gewundert? Hast du wirklich gedacht, ich wäre so eine falsche Schlange und würde dich in der Schule völlig ignorieren, aber heimlich deine Briefe lesen?«
»Jetzt, wenn du das so sagst, komme ich mir saudämlich vor.« Tatsächlich fühle ich mich gerade wie der größte Vollidiot, der auf Gottes Erdboden wandelt. War ich denn wirklich so blind gewesen? »Aber andererseits – warum hätte ich je daran zweifeln sollen? Da war dein Bild, deine Adresse und ich wusste ja, dass du sehr schüchtern bist …«
Marie beugt sich näher zu mir. Ihr Duft ist so intensiv, ich kann ihren Atem in meinem Gesicht spüren. Ein Schauer läuft über meinen Körper. Ob sie mich tatsächlich küssen würde?
»Marie …«, fange ich an, klinge ein bisschen heiser, finde ich, und sage etwas fester: »Marie!«
»Hier ist der Kaffee!«
Meine Schwester ist zurück.
»Wie konntest du nur glauben, ich würde mich wegen eines lächerlichen Fotos umbringen?« Ich versuche, meine Stimme böse klingen zu lassen. Muss sie ausgerechnet jetzt auftauchen?
Marie legt ihre Hand auf meinen Arm und lächelt Lina an. »Ich kann Lina gut verstehen! Wenn ich mir vorstelle, ich hätte rausgefunden, dass jemand meinem Bruder so was angetan hat … Da kann man schon auf solche Gedanken kommen.«
Lina lächelt zurück, sie nicken sich zu.
Was ist das denn, die große Mädchenverschwörung? Irgendwie kommt mir das Ganze komisch vor. Ausgerechnet Marie und Lina …
»So schlimm findet ihr also mein Bild?«, frage ich in gespieltem Ernst.
»Nein, nein«, versichern beide wie aus der Pistole geschossen.
»Also doch.« Ich muss lachen. »Na gut, vielleicht sollte ich etwas mehr Sport machen, bevor ich mein nächstes Porträt um die Welt schicke … Und was passiert jetzt mit Vanessa?«
»Die Fakeseite wurde komplett gelöscht. Vanessa ist gesperrt und darf nie mehr mitmachen bei den Lokalisten.«
»Aber das ist doch keine Strafe!« Ich haue mit der Faust auf mein Bett. »Ich finde, wir sollten uns eine richtig gemeine Rache für Vanessa ausdenken!«
Lina wird bleich. »Auf gar keinen Fall.« Sie wirft Marie einen aufmunternden Blick zu. Marie rutscht wieder unbehaglich auf dem Stuhl hin und her. »Nein, das sollten wir unter gar keinen Umständen tun.«
»Aber ich hätte schon eine gute Idee, also …«
Aber da unterbricht mich Lina. »Rache ist ein hässliches Wort, nur etwas für schmutzige Männer mit struppigen Bärten auf schwitzenden Pferden, die mit ihren rauchenden Colts rumballern«, sagt sie und irgendwie klingt ihre Stimme so gar nicht nach meiner großen toughen Schwester. »Ich gehe dann jetzt mal nach Hause. Macht’s gut, ihr zwei.« Sie verlässt das Zimmer, ohne mir einen Kuss auf die Stirn zu geben wie sonst.
»Was sollte das denn?«, frage ich Marie. Sie zuckt mit den Schultern, stoppt aber mitten in der Bewegung, als ob es ihr wehtun würde.
»Lass uns jetzt mal über etwas anderes reden, ja?«, sagt sie.
»Okay. Ich habe da auch einen Vorschlag«, fange ich an, »wenn du mir verrätst, wie du zu deinem blauen Fleck gekommen bist, dann darfst du mich zur Belohnung küssen!«
»Oh!« Marie sieht einen Moment lang so aus, als könnte sie sich nicht zwischen Weinen und Lachen entscheiden, aber schließlich lächelt sie mich an. »Das, ja das war nur so ein kleiner Badeunfall …«
Und dann kommt sie ganz nah und drückt ihre Lippen auf meine. Und das bringt mich noch sehr viel mehr durcheinander als dieses Reh neulich nachts.