23. Kapitel

Nachdem Violetta und Bernadette die Wohnung verlassen haben, reiße ich alle Fenster und Türen weit auf. Unruhig tigere ich durch das Apartment und kann nirgends bleiben. Es ist, als würde mein Kopf Achterbahn fahren, während meine Beine Bodenhaftung behalten müssen. Am liebsten würde ich sofort meine E-Mails überprüfen, ob jemand Fremdes sie gelesen hat. Doch ich habe keine Ahnung, wie man herausfinden kann, wie oft die Mails geöffnet wurden. Außerdem habe ich insgeheim Angst davor, was ich noch so alles in meinem Postfach finden könnte. Schließlich rufe ich Tabea an, aber es meldet sich niemand auf ihrem Handy. Auch bei Papa versuche ich es noch einmal. Als ich wieder keinen Anschluss bekomme, probiere ich es bei der Charterfirma, bei der er angestellt ist, und sie finden für mich heraus, dass sein Schiff tatsächlich durch einen Sturm ohne Funkverbindung ist. Wenn es um Leben oder Tod ginge, könnte man eine Nachricht übermitteln, bietet die freundliche Dame am anderen Ende an, und als sie das sagt, muss ich mich schwer zusammenreißen. Sie weiß gar nicht, wie recht sie hat. Aber natürlich lehne ich ihr Angebot ab, was soll ich auch anderes tun. Nachdem ich aufgelegt habe, halte ich es in der Wohnung nicht länger aus. Ich packe mein Handy und meine Umhängetasche. Kaum bin ich aus der Tür getreten, höre ich aus dem Garten hinter dem Haus ein herzzerreißendes Schluchzen, so ein Schluchzen, bei dem man nicht mehr atmet, sondern nur noch weint und dann so plötzlich nach Luft schnappen muss, dass es einen schüttelt.

Vorsichtig schaue ich um die Ecke. Das ist Brigitte, denke ich schuldbewusst. Brigitte, die endlich richtig um ihren Mann trauert, jetzt, wo die Beerdigung vorbei ist und der ganze Stress von ihr abfällt. Doch ich täusche mich. An den Baumstamm der dicken Linde gelehnt sitzt Nico. Sein Gesicht ist vom Weinen geschwollen und rot. Ich überlege gerade, ob ich zu ihm gehen soll, da kommt Bernadette mit einem Glas um die Ecke. Sie beugt sich zu ihm und redet so lange auf ihn ein, bis er etwas davon getrunken hat und ruhiger wird. Ich komme mir vor wie ein Voyeur und schleiche mich, so leise es geht, wieder hoch. Weil ich nicht weiß, was ich mit mir anfangen soll, setze ich mich auf die Dachterrasse und beobachte den Sonnenuntergang oder vielmehr das, was man von ihm erspähen kann. Wenn ich mich weit über die Brüstung beuge, sehe ich, wie sich hinter der Bavaria der Himmel rot verfärbt. Der Himmel wird ständig dunkler, sodass die Wolken aussehen wie große Auberginen, und ich frage mich, wie wohl der Sturmhimmel über Papas Schiff aussieht. Merkwürdig eigentlich, dass ich mich fühle, als wäre ich hilflos einem Sturm ausgesetzt. Dabei ist das Wetter sonnig und heiß und Papa, der weit weg von all dem Chaos ist, kämpft sich durch einen Sturm. »Kai«, flüstere ich. Obwohl ich inzwischen so viel mehr über ihn weiß, vermisse ich ihn furchtbar. Sein Humor, sein kluger Blick, sein Prinzenlächeln, das ist etwas, das mir niemand nehmen oder kaputt machen kann, nicht die Erinnerung daran. Jetzt blitzen erste Sterne auf und ich wünsche mir, ich wäre noch ein kleines Mädchen, wie damals als meine Mutter gestorben ist und Papa so getan hat, als würde Mama diese Sternenbeleuchtung für mich anzünden, einzig und allein, damit ich mich im Dunkeln nicht fürchten muss.

Aber ich bin fast siebzehn Jahre alt und weiß, dass viele Sterne tot und erloschen sind, lange bevor wir ihr Licht aufschimmern sehen. Ich gehe in die Küche, fülle die Gießkanne mit Wasser und gieße die müde herabhängenden Balkonblumen. Das Wasser rinnt über die steinhart ausgetrocknete Erde, läuft über den Kasten und tropft an beiden Seiten herunter und da, ich weiß nicht, warum, in diesem Moment halte ich das alles nicht mehr aus, setze die Kanne ab und renne doch an meinen Computer, beseelt nur noch von einem einzigen Wunsch, wenigstens in den Mails Kai noch ein letzes Mal nahe zu sein. Ich fahre den Laptop hoch und klicke den Ordner »Vereinsabrechnungen« an, dort habe ich alle Mails von »Dein Prinz« gespeichert, und suche Kais erste, die allererste, die ich von ihm bekommen habe. Die hat er damals noch unter seinem richtigen Namen geschickt. Da ist sie, das Allerwunderschönste, was ich je gelesen habe. Die Vorstellung, wie Kai sich wohl diese Worte ausgedacht hat, nachdem wir uns das erste Mal gesehen haben, bringt mein Herz immer noch dazu, schneller zu schlagen, dabei habe ich sie schon so oft angeschaut, dass ich den Text beinahe auswendig kann. Er hat sie mir noch in der Nacht meines Einzuges geschickt:

Lissie, ich schreibe dir, was mir durch den Kopf ging, nachdem wir uns heute im Treppenhaus getroffen haben, gleich nachdem du fortgerannt bist. Ich hoffe, du findest es nicht zu kitschig:

Der heutige Tag war ein voller Becher, der heutige Tag war die gewaltige Welle, heute, das war die ganze Erde. Heute hob das stürmische Meer in einem Kuss uns so hoch, dass wir erzitterten im Licht des Blitzes und aneinandergefesselt abwärtsschossen, um unterzugehen, ohne uns loszulassen. Zwischen Du und ich ging eine Türe auf...

Bitte, Lissie. Ich möchte dich wiedersehen, einfach nur, um ein Eis zusammen zu essen oder zu reden. Es wird nichts passieren, das du nicht willst...Ich verspreche es. Kai.

Wenn ich das lese, sehne ich mich so nach ihm, dass mir das Atmen wehtut. Ich sehe sein lachendes Gesicht vor mir, fühle seine Hände an meinem Gesicht, seine warmen Lippen auf meinem Mund und plötzlich weiß ich wieder, dass es nicht ganz unrecht war, was wir getan haben. Jeder von uns allein hat zwar funktioniert, vielleicht so wie Wasserhähne funktionieren, aber wir beide zusammen waren mehr, ein ganzer Strom, zusammen waren wir lebendig. Tränen steigen mir in die Augen, aber diesmal weine ich nicht nur, weil Kai tot ist, sondern weil mir jetzt erst klar wird, was das bedeutet. Es gibt keinen Wasserfall mehr, nur ein Rinnsal, ohne ihn bin ich nur eine Pfütze, die nach und nach vertrocknen wird. Ein Nichts. Ich brauche seinen Kimono, muss mich wenigstens in seinen Duft einhüllen, sofort. Doch den, fällt mir ein, habe ich in die Waschmaschine gestopft, nachdem ich ihn der Diddlmaus ausgezogen habe. Ich stehe auf, um ins Bad hinüberzugehen, da sehe ich aus den Augenwinkeln heraus etwas Merkwürdiges in Kais Mail. Ich wische meine Augen trocken, vielleicht war es nur eine Spiegelung, dann beuge ich mich über den Computerbildschirm. Da steht noch etwas! Habe ich das all die Male, die ich seine Mails in mich aufgesogen habe, etwa übersehen? Nie im Leben! Ich setze mich und scrolle herunter.

Da ist es! Jemand hat etwas hinzugefügt in einer anderen Schrift, damit ich es auch ja nicht übersehen kann:

Kai hätte dir sagen sollen, dass das Gedicht noch weitergeht, das er so ungeniert von Pablo Neruda geklaut hat.

Und jemand, noch ohne Gesicht, stand da und erwartete uns. Heute dehnten sich unsere Körper aus, wuchsen bis an die Grenzen der Welt und rollten, verschmelzend, fort in einem einzigen Tropfen Wachs, einem einzigen Meteor.

Lissie, lies genau: Jemand ohne Gesicht stand da und erwartete uns. Dieser Jemand bin ich. Kai habe ich schon getroffen. Jetzt erwarte ich dich.

PS: Auch der nächste Schmonzes mit dem Lachen war von Neruda geklaut und auch da hat er dir die – mich sehr stark inspirierende – interessante mittlere Strophe vorenthalten:

Meine Liebe auch in der dunkelsten Stunde lass dein Lachen aufsprühn, und siehst du plötzlich mein Blut als Pfütze auf den Steinen der Straße, so lache, denn dein Lachen wird meinen Händen wie ein frisch erglänzendes Schwert sein.

Ich lese noch mal und noch mal und noch mal. Und noch einmal. Es ist, als ob ich in dem Moment gefangen bin, einfach erstarrt, kann mich nicht rühren, nur meine Augen bewegen sich noch. Unfassbar, so unfassbar. Ich spüre nichts, nicht mal Angst, nur dieses Gefühl, als sei ich plötzlich zu Stein geworden. Das ist alles nicht wahr. Komischerweise ist es nicht die unverhüllte Drohung am Ende der Mail, die mich bis ins Mark trifft, nein, es ist diese Gemeinheit, mit der mir Kais Worte genommen werden, sie als mieser Bluff, nein nicht Bluff, sondern als Betrug entlarvt werden. Das ist durchtränkt von Gift und soll auch das Letzte zerstören, das mir geblieben ist. Ich versuche aufzustehen, ich fühle mich ganz wackelig, gehe zu meinem Festnetz-Telefon, um Papa anzurufen. Mit bebenden Fingern tippe ich die Nummer des Schiffes ein und lausche. Die gleiche Ansage wie vorhin. Zurzeit ist leider keine Verbindung möglich. Ich lasse mich auf den Boden sinken und rufe Nonna in Padua an, ich muss einfach ihre freundliche Stimme hören, irgendjemand, bei dem die Welt noch in Ordnung ist. Das Telefon wird sofort abgenommen, aber es ist nicht Oma, die dran ist, sondern ihre Schwester Stella, meine Großtante, die es eilig hat, weil sie ins Krankenhaus muss. Oma ist beim Hühnerfüttern gestolpert, vor drei Tagen schon, und hat sich den Oberschenkelhalsknochen gebrochen. In ihrem schnellen, aufgeregten Italienisch fragt mich Tante Stella, warum ich erst jetzt zurückrufe, wo sie doch schon dreimal auf meinen Anrufbeantworter gesprochen hat.

Ich stammele ein paar Ausreden, verspreche, sofort bei Non- na im Krankenhaus anzurufen, und schaffe es gerade noch, den Hörer aufzulegen. Auf meinem Anrufbeantworter war keine Nachricht. Mir ist kalt, obwohl im Zimmer bestimmt fünfundzwanzig Grad sind. So kalt. Ich schleppe mich in das Badezimmer, um den Kimono aus der Maschine zu holen, vielleicht weil ich Wärme brauche oder vielleicht weil es das Letzte ist, was mir von Kai geblieben ist. Als der Deckel des Topladers aufspringt, riecht es merkwürdig, dann, als ich die innere Trommel öffne, schlägt mir ein metallisch süßlicher Geruch entgegen. Ich halte mich an der Maschine fest und schaue hinein.

Und siehst du plötzlich mein Blut als Pfütze...

Der Toplader ist bis oben hin mit einer roten, klebrigen Flüssigkeit gefüllt. Und mittendrin schwimmt Kais Kimono.

Ich muss ihn retten. Das ist alles, woran ich in diesem Moment denken kann. Wenigstens den Kimono muss ich retten, wenn ich Kai schon nicht helfen konnte. Ich greife in die eklige rote Masse, die in der Waschmaschine schwimmt, und zerre den Kimono heraus. Es riecht so, dass es mich würgt, Tränen laufen mir übers Gesicht, ich zittere am ganzen Körper. Der Kimono ist viel schwerer, als ich dachte, er rutscht mir aus der Hand, platscht auf die weißen Fliesen, rot, so rot. Ich sehe Kai vor mir, wie er über dem Rand der Badewanne gelegen hat, da war nirgends Blut und jetzt ist hier so viel davon.

Wo kommt all das Blut her? Eine Sekunde lange denke ich daran, mir den Kimono, so wie er ist, anzuziehen, gerade erst recht, niemand, niemand wird mir auch noch das nehmen. Doch schon als ich die Ärmel packe, muss ich wieder derart würgen, dass ich es kaum zum Klo schaffe, aber es kommt nichts, nur saure Galle. Flüchtig schießt mir durch den Kopf, dass ich kaum etwas gegessen habe, seit Kai tot ist, ich habe einfach keinen Hunger mehr. Ich drücke die Spülung, dann erst sehe ich, was ich getan habe. Überall sind Blutspuren, von meinen Händen tropft das Blut, auf meinem Shirt sind Blutspritzer, alles so, als wäre ich eine Mörderin. Ich sinke auf den Fliesenboden und kauere mich zusammen, starre den blutigen Klumpen an, der mal Kais Kimono war, und mein einziger Gedanke ist: raus hier. Doch ich kann nicht aufstehen, mein Körper ist wie Gummi, das Einzige, was unerbittlich funktioniert, ist mein Herz. Der Puls wummert gegen meine Schläfen und hält mich bei Bewusstsein, dabei würde ich am liebsten ohnmächtig werden und erst wieder zu mir kommen, wenn dieser Albtraum vorbei ist. Plötzlich klingt es so, als würde sich unter das Wummern noch ein anderes Geräusch legen, ganz leise. Ich halte den Atem an, um besser hören zu können, da ist es wieder, jemand schleicht durch die Wohnung. Ich bleibe sitzen. Kai ist tot. Ich bin am Ende. Was kann denn noch Schlimmeres passieren?

Prinzentod
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